Die Toten vom Dartmoor - Paul Marten - E-Book

Die Toten vom Dartmoor E-Book

Paul Marten

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Beschreibung

Bei der Verlegung eines Sarges auf einem Friedhof im Dartmoor werden zwei Kinderskelette gefunden. Es handelt sich um die vor zwanzig Jahren verschwundenen Schwestern Sophie und Charlotte. Craig McPherson und Tyler Leighton übernehmen den Fall, arbeiten die alten Akten auf, stoßen auf Ungereimtheiten. Bahnt sich hier ein Polizeiskandal an? Als Craig Indizien gegen seinen Chef findet, sitzt er in der Zwickmühle. Da er an Keens Unschuld glaubt, bleibt ihm nur eins: Er muss schnellstens den Täter finden ...

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Seitenzahl: 351

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Über dieses Buch

Bei der Verlegung eines Sarges auf einem Friedhof im Dartmoor werden zwei Kinderskelette gefunden. Es handelt sich um die vor zwanzig Jahren verschwundenen Schwestern Sophie und Charlotte. Craig Mc-Pherson und Tyler Leighton übernehmen den Fall, arbeiten die alten Akten auf, stoßen auf Ungereimtheiten. Bahnt sich hier ein Polizeiskandal an? Als Craig Indizien gegen seinen Chef findet, sitzt er in der Zwickmühle. Da er an Keens Unschuld glaubt, bleibt ihm nur eins: Er muss schnellstens den Täter finden …

Über den Autor

Paul Marten ist in Deutschland geboren und aufgewachsen – und er ist anglophil. Viel Zeit verbrachte er an Englands wunderschöner Südküste, vor allem in Exeter und Umgebung. Den Schreibtisch eines Journalisten hat er bereits vor vielen Jahren mit dem Schreibtisch eines Schriftstellers getauscht.

Paul Marten

Die Toten vom Dartmoor

Kriminalroman

BASTEI ENTERTAINMENT

Originalausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Justin Foulkes/HUBER IMAGES

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-404-17722-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

TAG 1

1

»Mr. McPherson!«

Craig hörte die Stimme von Olivia Stone und kehrte zurück in den Besprechungsraum seiner Drogenberaterin. Noch drei Monate musste er alle vierzehn Tage hier antanzen, das war der Deal gewesen, der ihn vor dem Rausschmiss aus der Polizei bewahrt hatte.

Vier Shrinks hatte Craig bisher verschlissen. Er hatte die meiste Zeit geschwiegen, die Shrinks hatten versucht, ihn zum Reden zu bringen. Wenn Craig dann etwas gesagt hatte, war es nicht das gewesen, was die Shrinks hatten hören wollen, sondern er hatte die Methodik der Shrinks angegriffen. Mit leisen Tönen. Hatte sie in Fachdiskussionen verwickelt. Schließlich hatte er Psychologie studiert, Fachrichtung therapeutische Verfahren. Entnervt über seine Beratungsresistenz hatten sie hingeschmissen. Aber eigentlich waren sie nur hilflos gewesen und unfähig. Sie hatten nicht im Ansatz begriffen, was bei Craig im Argen lag. Und es lag einiges im Argen.

Olivia Stone hatte er dagegen nicht aus der Ruhe bringen können. Sie besaß eine scheinbar unendliche Geduld und hatte es geschafft, genauso beharrlich zu schweigen wie er, hatte nicht versucht, ihre Methoden zu verteidigen. Irgendwann hatte er aufgegeben, ihre Kompetenzen in Zweifel zu ziehen, und sie gefragt, wie sie das mache. Sie hatte gelächelt und gesagt, das sei ihr Berufsgeheimnis. Natürlich wusste er, wie es funktionierte. Sie war in der Lage, nichts von dem, was Craig von sich gab, persönlich zu nehmen. Sie war durch und durch Profi. Von dem Moment an hatte er sie respektiert und sich zwar nicht geöffnet, aber zumindest mit ihr geredet.

»Sie waren gerade weit weg, tief in Gedanken. Ich habe Sie angesprochen, aber Sie haben nicht reagiert. Wissen Sie noch, wo Ihre Gedanken Sie hingeführt haben?«

Craig betrachtete Olivia Stone. Sie war genauso alt wie er, vierzig, aber er fühlte sich zehn Jahre älter. Ob das etwas mit seinem Beruf zu tun hatte? Alterten Detectives der Mordkommission schneller als andere Menschen?

»Ich habe an nichts gedacht. Wie lange …«

»Zehn Minuten.«

»Zehn Minuten?« Craig war überrascht und erschreckt zugleich. »Es hat sich angefühlt wie zwei Sekunden.«

»War dieser Zustand angenehm?«

Craig fühlte in sich hinein. Als Olivia Stone ihn gebeten hatte, sich zu entspannen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, hatte er sich tatsächlich fallen lassen, hatte seine Schutzschilde gesenkt und war in einer Art Trance versunken. Ein Bild von Mary war aufgetaucht, wie sie in ihrem strahlend weißen Hochzeitskleid an seiner Seite die Stufen zur Kirche hinaufgestiegen war. Mary hatte sich eine traditionelle Hochzeit in der Kirche gewünscht, und obwohl Craig bekennender Atheist war, hatte er zugestimmt. Und er hatte die Zeremonie genossen. Sie war ernsthaft, feierlich und voller Wärme gewesen. Nie zuvor hatte er seine Liebe zu Mary so schmerzhaft gespürt wie in diesem Moment. Es war paradox gewesen, Liebe und Schmerz im selben Moment, und bis heute wusste er nicht, was in diesen Minuten in ihm vorgegangen war. Sie wechselten die Ringe, gaben sich das Ja-Wort. Erst dann sprach der Priester von der Ehe, auch das hatte sich Mary so gewünscht. Sie wollte zuerst Ja sagen und dann der Predigt lauschen. Die Worte, die der Priester über die Ehe sagte, zeugten von Weisheit und Lebenserfahrung.

Die Hochzeitsbilder verblassten, und der Tag, den Craig am liebsten ungeschehen machen würde, war wie ein Dämon vor ihm aus dem Nebel aufgetaucht. Sosehr er sich bemühte, er wusste nicht mehr, was in der Nacht vom 31. Dezember 2014 auf den 1. Januar 2015 geschehen war. Er wusste nur, dass sie gestritten hatten, dass er sich besinnungslos betrunken hatte und Mary spurlos verschwunden war, als er reumütig nach Hause gekommen war. Sie hatte nichts mitgenommen, außer ihrer Handtasche. Sie hatte sich in Luft aufgelöst.

Sein Arm vibrierte, ihm wurde übel. Er verscheuchte die Erinnerungen. Craig beabsichtigte nicht, Olivia Stone in sein Geheimnis einzuweihen. So nahe standen sie sich noch lange nicht. Niemand stand ihm in Exeter so nahe, als dass er die schwarzen Teile seiner Seele offenbart hätte. In Edinburgh sah das ganz anders aus. Aber er war aus Edinburgh verbannt worden, und es war seine Schuld.

»Was immer es ist, es bereitet Ihnen große Probleme.«

»Es ist der Geruch.«

Craig schämte sich ein wenig, Olivia Stone auf die falsche Fährte zu schicken, sie zu belügen.

»Der Geruch von was? Können Sie ihn beschreiben?«

»Der Leichengeruch.«

Olivia Stone nickte.

Sie war gut, aber nicht gut genug, um Craigs Lüge zu durchschauen.

Sie schwieg.

»Die meisten Menschen glauben, dass Leichen immer widerlich faulig riechen, so wie verdorbenes Fleisch. Aber das ist bei den wenigsten der Fall, nur bei denen, die bereits ins Stadium der Verwesung übergegangen sind. Die meisten Mordopfer finden wir relativ kurz nach ihrem Tod. Dann sind alle Muskeln erschlafft. Auch der Schließmuskel. Der Darminhalt wird freigegeben, die Blase entleert sich. Es sind die Fäkalien, die meine Nase malträtieren, es ist der muffige Körpergeruch des Todes. Alter Urin. Schwer zu ertragen.«

»Ich habe gelesen, dass immer mehr alte Menschen in ihren Wohnungen sterben und wochenlang nicht entdeckt werden?«

»Das ist korrekt. In solchen Fällen übernimmt zuerst der Coroner die Ermittlung, und wenn der kein Fremdverschulden feststellt, haben wir nichts zu tun. Die ›garen‹ Leichen, also die, die bereits verwesen, kommen beim Coroner routinemäßig auf den Tisch, weil man per Augenschein nicht feststellen kann, was die Todesursache ist. Selbst wenn der Kopf abgetrennt ist, kann das postmortal geschehen sein.«

»Wie kommen Sie mit dem Coroner klar?«

»Sie meinen Sienna Fly?«

»Ja. Sie ist ja die erste Frau in diesem Amt in Devon, wenn ich richtig informiert bin.«

»Sie sind richtig informiert. Wir haben nicht so oft miteinander zu tun, aber wenn, dann arbeiten wir bestens zusammen.«

Wenn ich nicht gerade mit dem Kopf durch die Wand will, dachte Craig, und Mord sehe, wo keiner ist.

»Sie müssen ihr zuarbeiten, sie ist quasi Ihre Vorgesetzte, solange die Voruntersuchung läuft, ist das korrekt?«

Craig war ein wenig enttäuscht. Olivia Stone versuchte ihn aus der Reserve zu locken, indem sie ihm indirekt ein Problem mit weiblichen Autoritäten unterstellte. Das war ungeschickt und zeigte, dass sie ihn falsch einschätzte. Was aber nicht an ihr lag, sondern an seiner Strategie zu reden, ohne etwas zu sagen, und ihr damit einen großen Interpretationsspielraum eröffnete. Sie musste ihn ja irgendwie abklopfen.

»Das ist korrekt. Ich schätze sie sehr, denn sie ist kompetent, integer und eine sehr gute Chefin. Ihre Art zu führen ist von Ermutigung geprägt, sie ist nicht nachtragend, immer zielführend, und dabei verbreitet sie auch noch gute Laune.«

Craig konnte bei Stone keine Enttäuschung über seine Antwort erkennen.

»Wir sind etwas vom Thema abgekommen.« Sie beugte sich vor. »Mr. McPherson. Ich habe ebenfalls ein Problem. Können Sie sich denken, welches?«

»Nein.«

»Sie lügen mich an. Leichengeruch macht Ihnen keine Probleme. Zumindest nicht solche, die Sie für zehn Minuten aus diesem Universum verschwinden lassen.«

Aus Craigs Jacketttasche ertönte die inoffizielle schottische Nationalhymne, »Scots Wha Hae«, das Lied der Schotten über Freiheit, Stolz und Mut, über William Wallace und Robert Bruce: »Lasst uns für die Freiheit kämpfen oder sterben.«

Olivia Stone schürzte die Lippen. Das hieß: Ich möchte nicht, dass Sie ans Telefon gehen.

»Sorry«, sagte Craig, zog das Handy heraus und sah die Nummer seines obersten Chefs, Superintendent Arthur Keen.

Wenn Keen, der Craig aus tiefster Seele hasste, anrief, stellten sich regelmäßig Craigs Nackenhaare auf, denn ein Anruf von Keen bedeutete immer Ungemach. Entweder hatte Craig etwas versäumt oder jemanden zu hart angefasst, oder Keen hatte Verdauungsstörungen und musste das an irgendjemandem auslassen. Und wer war dafür besser geeignet als Braveheart, der schottische Freiheitskämpfer, in einem zutiefst hörigen und noch dazu englischen Polizeiapparat? Diesmal dankte Craig seinem Boss. Er hatte ihn vor Stone und ihrer Scharfsinnigkeit gerettet.

Craig ging ran, Keens Bass röhrte: »Craig! Wo sind Sie? Im Präsidium sind Sie auf jeden Fall nicht.«

»Guten Tag, Mr. Keen. Ich bin bei Olivia Stone.«

»Verdammt! Dann tue ich Ihnen ja glatt einen Gefallen, wenn ich Sie ins Dartmoor schicke. Princetown. Church of St. Michael. Sie wissen, wo das ist?«

»Einen Steinwurf vom Her Majestys Prison Dartmoor entfernt.«

»Beeilen Sie sich. Vor Ort mehr.«

Keen legte auf. Das war seine spezielle Art, Craig zu quälen. Er spannte ihn auf die Folter. Wenn Keen zu einem Tatort kam, war etwas im Busch, und zwar etwas Großes. Und wenn Keen Craig dabeihaben wollte, dann war es etwas sehr Großes, sehr Unangenehmes, etwas, das Craig Scherereien bereiten würde.

Craig steckte das Handy in sein Jackett zurück. »Ich bin untröstlich, Mrs. Stone, aber wenn Superintendent Keen ruft, muss selbst das interessanteste Gespräch warten.« Craig stand auf, verbeugte sich. »Wir sehen uns in zwei Wochen. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute.«

Olivia Stone hielt Craig im Sitzen ihre feingliedrige Hand entgegen. »Geben Sie auf sich acht, Mr. McPherson.«

Craig nahm die Hand, sie erwiderte seinen Händedruck wie immer mit großer Kraft, doch dann ließ sie ein wenig nach und zog ihre Hand langsam zurück, ihre Finger schienen seine Haut erkunden zu wollen.

Er ließ sie los, wandte sich zur Tür, verließ das Sprechzimmer ohne ein weiteres Wort.

Wie sollte er das anstellen, auf sich zu achten?

2

Craig stieg in seinen Spitfire, blieb einen Moment reglos hinter dem Lenkrad sitzen und vermied es, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Er wusste ja, was er darin sehen würde. Die Ringe unter seinen Augen waren in den letzten Monaten bedenklich dunkel geworden, obwohl er sich inzwischen ausreichend ausgewogen ernährte, fast jede Nacht mehr als vier Stunden schlief und sich der Stress auf der Arbeit in Grenzen hielt, solange Keen ihn nicht in den Senkel stellte. Es war ganz normaler Polizeialltag, alle zwei Tage eine Leiche, drei Morde, die innerhalb weniger Tage aufgeklärt waren, allesamt Beziehungstaten. Umso mehr Zeit hatte Craig, um über sich selbst nachzudenken und über Mary. Allein der Gedanke an sie schickte Hitzewellen durch seinen Körper.

Olivia Stone hatte ihn diesmal fast erwischt. Die zehn Minuten, die er wie weggetreten gewesen war, beunruhigten Craig. So etwas durfte ihm nicht noch einmal passieren. Er musste sich besser kontrollieren, musste Situationen vermeiden, in denen er zu tief in seinen Erinnerungen versank. Natürlich wusste er, dass das auf Dauer nicht helfen würde, seine Seele würde ihm irgendwann die rote Karte zeigen, die gelbe hatte sie ja bereits heute gezogen. Und vielleicht konnte Stone ihm ja tatsächlich helfen?! Er konnte ihr aber einfach nicht ganz trauen; sie arbeitete schließlich für seinen Arbeitgeber als Psychologin und Gutachterin, Spezialistin für Glaubwürdigkeitsgutachten und das False-Memory-Syndrom bei Zeugen. Dennoch: Sie hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, und er hatte es nicht kommen sehen.

Craig ließ den Motor an, der vor sich hin blubberte und ihn beruhigte wie sanfte Musik.

Er würde sie auf die Probe stellen und dann entscheiden, ob sie die Richtige war, um das schwarze Loch in seinem Gedächtnis zu erhellen.

Die Behörden hatten die Suche nach Mary schon lange eingestellt. Es gab keinerlei Anzeichen eines Verbrechens, es gab keine Leiche und keine Zeugen. Das Ermittlungsverfahren gegen Craig wurde eingestellt, und Craigs ehemaliger Chef in Edinburgh, Gordon Brodie, hatte die ganze Sache fein säuberlich vor den Medien verborgen. Als Craig einen vermeintlichen Zeugen zu hart angefasst hatte, hatte Brodie Craig einen Deal angeboten: Alkoholentzug und Versetzung nach Exeter oder Rauswurf.

Craig nahm die A38, um den Touristenströmen auf den engen Straßen durch das Dartmoor zu entgehen, die das schöne Wetter aus jedem Cottage und jedem Bed and Breakfast im Umkreis von hundert Kilometern gelockt hatte: Der Oktober wartete mit spektakulärem Sonnenschein auf, der bis ins zentrale Dartmoor reichte und die Landschaft geradezu lieblich erscheinen ließ. Üblicherweise wechselte sich hier Starkregen mit kaltem Wind und Schnee ab, zu fast jeder Jahreszeit. Diese Wetterkapriolen verbanden Schottland mit dem Dartmoor. In Edinburgh, Craigs Heimatstadt, hieß es: »Gefällt dir das Wetter nicht, warte einfach eine halbe Stunde.«

Die Touris schlichen mit ihren Leihwagen und gezückter Kamera durch das Dartmoor, hielten plötzlich, wenn sie ein Pferd sahen oder ein Schaf oder eine Kuh, als gäbe es diese Tiere nur im Dartmoor. Craig musste zugeben, dass es tatsächlich einige nette Eckchen gab, aber bei allen Vorfahren der McPhersons: Schottland bestand nur aus netten Ecken, abgesehen von ein paar Stadtteilen von Edinburgh.

Craig bog von der A38 rechts ab Richtung Poundsgate und musste mehrmals halten, weil schießwütige Touris die Straße blockierten. Besonders selbstvergessen waren die Asiaten. Wie die kleinen Kinder hüpften sie umher, grinsten, dass es in den Mundwinkeln weh tun musste, und trugen Kameras um den Hals, die mindestens tausend Pfund kosteten. Craig ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern bat die Blockierer freundlich, die Straße freizugeben. Peinlich berührt kamen die Fahrer seiner Bitte eiligst nach und entschuldigten sich überschwänglich. Craig verstand kein Wort, vor allem, wenn die Touristen versuchten, Englisch zu sprechen.

Two Bridges kam in Sicht, von dort aus waren es nur noch wenige Autominuten bis Princetown. Etwas mehr als eine Stunde hatte Craig für die Strecke benötigt, ein guter Schnitt. Von der Two Bridges Road aus konnte Craig das Dartmoor-Gefängnis sehen, eins der verrufensten in ganz England. Es würde bald geschlossen werden, aber bis dahin würden sich die Missstände wohl nicht mehr ändern: Gewalt, Drogen und Banden. Craig schauderte bei dem Gedanken, dort sein Leben verbringen zu müssen, gleich, ob als Wärter oder Gefangener. Sein Gefängnis, sein Exil, war zumindest eine Stadt, in der er sich frei bewegen konnte. Exeter lag zwar im äußersten Süden der Insel, aber es hätte schlimmer kommen können. Die Orkneys oder die Shetlands. Craig bezweifelte, dass er eine solche Isolationshaft lange ohne Alkohol ertragen hätte.

Craig bog in die Tavistock Road ein. Der Verkehr wurde ab dem Postamt über einen Feldweg umgeleitet. Wunderbarerweise gab es keinen Rückstau. Ein Constable wedelte heftig mit den Armen, die Autofahrer verstanden und fuhren zügig weiter. Niemand gaffte, niemand versuchte, mit überlangen Zoomobjektiven einen Blick auf den Grund der Absperrung zu erhaschen. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn die St. Michael and All Angels Church lag dreihundert Meter hinter der Umleitung, verborgen von Bäumen und Gebäuden und Sichtblenden der Devon and Cornwall Police. Der Constable warf einen flüchtigen Blick auf Craigs Ausweis und winkte ihn durch.

Craig sah sich um. Jetzt erkannte er, was ihn irritiert hatte. Es waren keine Journalisten zu sehen. Wenn Keen eine Nachrichtensperre verhängt hatte und sie tatsächlich funktionierte, dann musste wirklich etwas Großes im Gange sein. War in der Kirche ein Sprengstofflager von Terroristen entdeckt worden? Oder verbarg sich unter der Soutane des Priesters ein Schläfer? Aber nein, Terror machte London, Craig hatte keinen Schimmer von den Netzwerken und Methoden der Terroristen. Es musste also etwas anderes sein.

Auf der linken Seite kam die Kirche in Sicht, die komplett von Sichtblenden umringt war, inklusive des vorderen Teils des Friedhofs. Sechs Streifen sperrten die Straße in jede Richtung ab, blaues Flatterband zog sich in wirren Mustern quer über die Straße, an den Gärten der Anwohner vorbei und wieder zurück. Zwei Dutzend Constables bewachten die Absperrung, als wäre die Queen persönlich anwesend und müsste geschützt werden. Die Kirche war von einer brusthohen Bruchsteinmauer umgeben, der Eingang bestand aus drei Durchgängen, in der Mitte ein breiter, an den Seiten jeweils schmalere. Die schmiedeeisernen Tore standen offen. Auf dem Friedhof erhob sich ein weißes Tatortzelt, eins von den großen mit einer Grundfläche von mehr als dreißig Quadratmetern.

Sienna Fly war bereits hier, das erkannte Craig an ihrem Defender, der vor dem Tor parkte.

Craig parkte hinter Siennas Wagen, stieg aus, hielt seinen Ausweis hoch und betrat den Friedhof durch das rechte kleine Tor. Er blieb einen Moment stehen. Bis auf das Zelt war der Friedhof nichts Besonderes. Alte Grabsteine standen auf einer Wiese herum, manche schief, manche beschädigt, und wie es üblich war, gab es keine Abgrenzungen zwischen den einzelnen Grabstellen. Craig hatte mal Urlaub in Deutschland gemacht und sich über den Totenkult dort gewundert. Alle Gräber in Reih und Glied, ständig frische Blumen, manche Menschen, so schien es Craig, verbrachten mehr Zeit auf dem Friedhof als zu Hause. Er hatte nichts dagegen, die Erinnerungen an die Toten lebendig zu halten. Aber war es nicht besser, sie im Herzen zu tragen? Waren die gepflegten Gräber nicht eher eine Art Abwehr, um sich nicht dem Unvermeidlichen stellen und sich damit abfinden zu müssen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war? Für ihn jedenfalls war das so. Während seines Psychologiestudiums hatte er mit diesem Thema immer wieder spannende Diskussionen ausgelöst, und er war zu dem Schluss gekommen, dass der Umgang mit dem Tod von Mensch zu Mensch so unterschiedlich war wie die Fingerabdrücke.

Auch vor dem Zelteingang standen zwei Constables.

Dass Keen anwesend war, konnte jeder hören, der mindestens ein halbwegs gesundes Ohr hatte. Sein Bass drang aus dem Zelt, im Umkreis von zehn Metern konnte jeder mitschreiben, was er von sich gab.

»Wo, verdammt und zugenäht, bleibt McPherson? Sonst ist er doch schneller! Will er sich drücken?«

Der Constable begutachtete Craigs Ausweis, verzog das Gesicht und schob die Plane zur Seite.

Keen stand mit dem Rücken zu ihm, er trug seine Uniform, Sienna stand seitlich, sie trug ebenfalls ihre Arbeitskleidung, einen hellblauen Overall.

Sie drehte sich zu Craig hin, grinste und sagte: »Wenn man vom Schotten spricht …« Sie reichte ihm die Hand.

Craig machte einen Schritt ins Zelt und griff zu. »Hallo Sienna!«

»Schön, Sie mit an Bord zu haben, Craig. Wie war die Fahrt?«

»Ungewöhnlich reibungslos. Was ist los? Keine Medien, riesige Absperrung, riesiges Aufgebot.«

Ein halbes Dutzend Männer und Frauen in Hellblau wuselten im Zelt herum.

»Das hat einen Grund.« Sie zeigte auf Keen, ließ seine Hand dafür los.

Craig musste sich eingestehen, dass er sie gerne noch etwas gehalten hätte. Sienna gab ihm das Gefühl, ein Mensch zu sein, willkommen zu sein. Auch Craig brauchte von Zeit zu Zeit ein wenig Zuneigung, und er schämte sich, dass er sie sich auf diesem Wege schnorrte.

»Okay, McPherson«, röhrte Keen ohne eine Begrüßung los. »Hören Sie zu.«

Craig verbiss sich die Bemerkung, dass er wohl keine Wahl hatte.

»Ich wollte Sie gar nicht dabeihaben. Der Fall verlangt äußerste Diskretion und ein Vorgehen mit Samthandschuhen. Beides liegt nicht in Ihrer Natur.«

Wo Keen recht hatte, hatte er recht. Craig ließ sich von niemandem auf der Nase herumtanzen, egal, wer es war, aber er war auch kein Schlagdraufundschluss.

»Erzählen Sie mir was Neues, DSI Keen, Sir.«

Keen setzte an, verschluckte aber den Satz, den er auf der Zunge liegen hatte.

Sienna Fly hob eine Hand. »Meine Herren, wenn ich Sie bitten dürfte, zur Sache zu kommen. Fakt ist: DCI McPherson wird die Ermittlungen leiten, auch wenn Ihnen das gegen den Strich geht, Arthur. Und Sie, Craig, werden sicherlich nichts tun, um die Ermittlungen zu gefährden.«

Craig lächelte verbindlich. »Wenn ich wüsste, worum es geht, fiele es mir leichter, das zu beurteilen, Sienna. Da Sie mich als Leiter der Ermittlungen bezeichnen, schließe ich messerscharf, dass wir es mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben?«

»Ihr scharfer Verstand ist beeindruckend, Craig. So ist es.«

»Hat es mal wieder ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft erwischt? Irgendeinen Wohltäter der Nation? Oder einen Heiligen?«

Siennas Miene wurde todernst. »Das wäre mir fast lieber gewesen.« Sie nahm Craig am Arm und zog ihn zu einer Grube, neben der ein kleiner Berg an Aushub lag.

Auf der anderen Seite der Grube stand ein Zinksarg. Durch ein Fenster erkannte Craig einen Schädel.

»Ist wohl undicht geworden?«, fragte er.

»Sieht so aus. Ansonsten müsste das Gesicht noch gut zu erkennen sein«, grummelte Keen.

»Jeffrey?«, rief Sienna.

Aus der Grube tauchte der Kopf von Siennas Mitarbeiter auf. Jeffrey Caine war wie Sienna forensischer Pathologe, der in seiner Freizeit Doktortitel sammelte. Auch seine Miene verhieß nichts Gutes. Er winkte Craig, dann stieg er aus der Grube heraus und schob ihn an den Rand.

In der Grube saß noch ein Forensiker in Hellblau.

»Jimmy, gibst du mal den Blick frei für DCI McPherson?«

»Jimmy und Jeffrey?«, fragte Craig. »Gibt das keine Verwechslungen?«

Jeffrey war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Sehen Sie hin!«, knurrte er.

Jimmy stieg aus der Grube. Craig sah hin, rieb sich die Augen. Sah noch mal hin. Aber das Bild veränderte sich nicht. Er musste kein Pathologe sein, um zu erkennen, was er da vor sich hatte. Es waren die Skelette zweier Kinder, die übereinanderlagen.

3

»Wann wurde der Sarg …«

»Vor ziemlich genau zwanzig Jahren, Craig.«

Jetzt verstand Craig, warum Keen nichts nach außen dringen lassen wollte.

»Es sind Mädchen, nicht wahr?«

»Nicht schlecht, Craig.«

»Das hat nichts mit meinem Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede von Skeletten zu tun. Der Fall war Bestandteil meiner Ausbildung.«

»Charlotte und Sophie Jefferson.«

»Spurlos verschwunden. Vor zwanzig Jahren. 1997. Für tot erklärt im Jahr 2007.«

»Wir müssen natürlich noch …«

»… das Ergebnis der Obduktion abwarten.«

Sienna nickte.

»Und warum gibt es schon eine Mordkommission?«

»Das Zungenbein des oberen Skeletts ist zerquetscht.«

»Wann …«

»So schnell es irgend geht.«

Craig betrachtete die Skelette. »Seit wann graben Sie?«

»Seit zwei Stunden«, antwortete Sienna.

»Und die Skelette waren nur mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt, ansonsten hätte man sie übersehen.«

»Sie lagen direkt unter dem Zinksarg, keine fünf Zentimeter Erde darüber. Der Bestatter hat den Sarg mit einem Stahlseil an den Ösen an der Oberseite angehoben. Eine Wurzel hat sich in einem der seitlichen Griffe verheddert und einen Knochen mit hochgezogen. Der Bestatter hat die Arbeiten eingestellt und die Archäologen von der Uni angerufen. Er dachte, es wären Skelette aus einem früheren Grab. Gott sei Dank haben die Kollegen sofort geschaltet. Anhand der Färbung der Knochen war ihnen sofort klar, dass sie nicht alt sein konnten.«

Craig blies die Backen auf und ließ die Luft entweichen. »Da hat es jemand eilig gehabt, vor zwanzig Jahren. Und er ist ein enorm hohes Risiko eingegangen. Es hätte nur regnen müssen, dann wären die Leichen freigespült worden.«

Dazu sagte Sienna nichts.

»Okay. Ich mach mich an die Arbeit, Sienna. Danke für den warmen Empfang.«

Auch dazu sagte Sienna nichts.

Craig wandte sich an Keen, der ihm mit seinem massigen Schädel zu verstehen gab, dass er ihn unter vier Augen sprechen wollte.

Craig grüßte in die Runde, verließ das Zelt, folgte Keen zwischen die uralten Grabsteine.

Haily Corralson stand auf einem. Geboren 1873, gestorben 1890. Siebzehn Jahre jung. Craig hatte bereits deutlich mehr als das Doppelte geschafft. Dank moderner Medizin und überwiegend gesunder Ernährung. Wenn er dazu kam. Im Moment versorgte er sich mit Astronautennahrung. Sehr praktisch, sehr preiswert und wissenschaftlich belegbar ausgewogen.

Keen blieb stehen. »Ich hasse Sie nach wie vor, McPherson, und ich sehne den Tag herbei, an dem Sie einen Fehler machen, der Ihnen das Genick bricht.«

»Das weiß ich, DSI Keen, Sir.«

»Und verflucht noch mal, nennen Sie mich nicht ›Sir‹.«

»Ich werde mir Mühe geben.«

Craig durfte den Bogen nicht überspannen. Keen hasste ihn aus gutem Grund, und nur seiner Grundehrlichkeit war es zu verdanken, dass Keen Craig noch nicht in eine Falle gelockt hatte.

»Wenn es nicht mit dem Teufel zugeht, jagen wir einen Sexualstraftäter der übelsten Sorte. Ich sehe das so: Der Dreckskerl hat sie eingesackt, sich an ihnen vergangen und sie in dem Grab entsorgt. Und seit zwanzig Jahren läuft er frei herum und hat vielleicht noch ein Dutzend andere Kinder ermordet oder ihre Seelen zerstört. Ich will dieses Schwein haben, denn, auch wenn Sie sich das nicht vorstellen können, dieses Schwein hasse ich doppelt so sehr wie Sie.«

Das war eine klare Ansage.

»Und trotzdem soll ich mit Gummisohlen laufen?«

»Ich will den richtigen. Ich will keine Hexenjagd und keine Schnellschüsse. Es sind zwanzig Jahre vergangen. Da kommt es auf eine Woche oder einen Monat nicht an. Gehen Sie langsam und konzentriert vor. Sobald die Medien davon Wind bekommen, gibt es einen Riesenauftrieb. Den werden wir aussitzen, denn das Interesse wird bald wieder abflauen. Die Sache ist nicht nur ein Cold Case. Es ist ein Ice Case. Die Ermittlungen sind damals allesamt im Sand verlaufen. Die meisten glauben, dass es der Vater war.«

»Ich glaube gar nichts«, sagte Craig, »solang ich die Akte nicht gesehen habe. Wie groß fahren wir?«

»Sie, Tyler und Moorcraft.«

»Drei Hanseln? Für so ein Ding? Wir brauchen allein zwei Monate, um die Akten zu sichten.«

»Brauchen Sie nicht. Außerdem kennen Sie ja Heather Moorcraft.«

Craig kannte sie. Heather hatte ihm bereits unschätzbare Dienste erwiesen. Sie war die beste Aktenführerin der Exeter Police, das stand fest. Auf sie konnte er sich verlassen. Sie vergaß nichts und machte erst Feierabend, wenn das letzte Detail eingepflegt war. Und das hieß unter Umständen zwei oder drei Nächte durcharbeiten, bis es nicht mehr ging.

Mit Tyler arbeitete er jetzt seit knapp einem halben Jahr zusammen. Tyler hatte versucht, ihn auszubooten, um an eine Stelle bei der Bundespolizei heranzukommen. Das war schiefgegangen, und nur weil Tyler ihm unter Einsatz des eigenen das Leben gerettet hatte, hatte Craig ihn nicht zur Schlachtbank geführt. Seitdem war Craig vorsichtig, aber Tyler hatte sich nichts mehr zuschulden kommen lassen – und er war brillant. Ein wandelndes Lexikon und ein hervorragender Analytiker.

»Die Medien werden Sie in der Luft zerreißen, Mr. Keen.«

»Das können sie gerne versuchen, ich werde standhalten.«

»Wer wollte mich …«

»Vergessen Sie es, McPherson.« Er zog sein Handy raus und schaute drauf. »Ich muss los. Die Akten warten im Büro auf Sie. Leighton und Moorcraft ebenfalls. Jeden Abend einen Bericht per Mail. Nur kurz. Wie gesagt. Keine Eile. Noch Fragen?«

Craig schüttelte den Kopf.

Keen stampfte ohne ein weiteres Wort davon.

Craig ging zurück zum Zelt, winkte Sienna Fly, die zu ihm herüberkam.

»Wann war die Beerdigung genau?«

»Am Sonntag, dem 12. Oktober 1997. Der Priester, der die Beerdigung zelebriert hat, ist seit vier Jahren tot.«

»Warum wurde der Sarg ausgegraben?«

»Der Tote soll nach Schottland überführt werden. Es handelt sich um einen gewissen Groover McKintock.«

»Zurück in heimatliche Erde … Aber warum so spät?«

»Das müssen Sie die Angehörigen fragen. Und was die Mädchenskelette angeht, ist für mich die Sache klar. Es liegt ein Gewaltverbrechen vor.«

Craig schüttelte Sienna die Hand. »Vielen Dank, Coroner.«

»Wollen Sie bei der Obduktion dabei sein, Craig?«

»Ich glaube, das ist nicht nötig.«

»Na dann …«

Fly ging zurück ins Zelt, Craig zum Kirchenportal.

Es war in einem kleinen Anbau untergebracht, der an der Seite der Kirche ein wenig deplatziert wirkte. Er schob den kleinen, aber massiven Flügel auf und ging bis zum Mittelgang. Rechts von ihm stand der Altar.

»Ist hier jemand?«, rief er in die Kirche hinein.

Der Hall warf seine Stimme von den nackten Wänden zurück. Niemand reagierte. Es roch nach Bohnerwachs und Weihrauch. An der Rückwand der Kirche fiel die Sonne durch ein halbrundes Bleiglasfenster mit bunten religiösen Motiven.

Ein Scharnier knarzte, Craig drehte sich um. Eine Frau Mitte dreißig kam auf ihn zu, ein warmes Lächeln im Gesicht.

»Danica O’Grady, ich bin die Vikarin. Da Sie hier ungehindert eintreten konnten, nehme ich an, Sie gehören zur Polizei. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Wache blaue Augen und ein scharfer Verstand.

Craig zückte seinen Ausweis.

Sie streckte eine Hand aus. »Darf ich?«

Craig gab ihr den Ausweis. Sie studierte ihn sorgfältig, gab ihn zurück.

»Sie wissen, dass ich noch nicht in der Gemeinde war, als die Mädchen hier unter dem Sarg von McKintock«, sie stockte, »nun ja, beerdigt ist wohl das falsche Wort? Sie wurden einfach in das ausgehobene Grab gelegt. Wie furchtbar.«

Von einer Beerdigung konnte man wirklich nicht sprechen. Es war eine Entsorgung gewesen.

»Sie wissen doch sicherlich, wo Ihr Vorgänger ist?«

»Er liegt neben seinen Kollegen, im Ostteil des Friedhofs, nicht weit von der Fundstelle der Mädchen entfernt.«

»Das ist bedauerlich. Wie hieß er?«

»John Fisherman.«

»Einen besseren Namen kann es für einen Mann Gottes kaum geben.«

O’Grady verzog die Lippen zu einem schrägen Grinsen. Diesen schlechten Scherz hatte sie sicherlich schon hundertfach gehört.

»Ich habe ihn nie kennengelernt, aber die Meinung der Gemeinde ist eindeutig. Sie haben ihn verehrt. Es ist nicht leicht, in seine Fußstapfen zu treten.«

»Konkret?«

»Fisherman hat den Menschen Hoffnung gegeben. Sicherheit. Ein spirituelles Zuhause. Auch denen, die nicht an Gott glauben. Er war Christ, aber er war nicht dogmatisch. Sein Credo war: Es gibt einen Gott, und jeder, der an etwas glaubt, das über dem Menschen steht, der glaubt an Gott.«

»Auch Wikinger?«

»Aber ja. Die hatten hunderte Bezeichnungen für ein und dasselbe. Alle Götter sind letztlich einer.«

»Was ist Ihre Meinung, Vikarin O’Grady?«

»Ich sehe das ähnlich. Meine Aufgabe muss es sein, den Menschen zu dienen. Nur dann diene ich Gott. Seien wir ehrlich: Wenn Gott unsere Dienste benötigte, dann wäre er kein Gott.«

»Das ist eine interessante Ansicht, Vikarin. Sehen Ihre Gemeindemitglieder das ebenso?«

Sie seufzte. »Vor Fisherman sind viele Menschen hier alleingelassen worden. Ich muss nur an die arme Lucy denken. Sie ist von ihrem Mann zu Tode geprügelt worden. Fishermans Vorgänger verweigerte ihr eine Bestattung in geweihter Erde, weil sie ihren Mann betrogen hatte. Fisherman hat mir ein Buch hinterlassen, in dem all diese Geschichten stehen.«

»Kann ich das Buch haben?«

»Aber sicher. Vielleicht hilft es Ihnen.«

»Ein Durchsuchungsteam müsste sich hier umsehen. Und ich brauche eine Liste von Ihnen. Von allen Ihren Gemeindemitgliedern. Von allen Grabverlegungen des Jahrs 1997. Und einen Nachweis des Einkommens Ihrer Kirchengemeinde von 1990 bis heute. Vielleicht hat sich jemand etwas dazuverdient, indem er ein Grab vermietet hat.«

»Alles, was Sie wollen.«

»Ich danke für Ihre Hilfe, Vikarin.«

»Das versteht sich von selbst. Wer immer die beiden Mädchen dort begraben hat, muss sich dafür verantworten.«

»Könnten Sie einem solchen Menschen vergeben?«

O’Grady lächelte. »Die Gewissensfrage.« Sie hob ihren Blick zum Kreuzgewölbe der Kirche, schaute dann wieder Craig an. »Ich sehe eine gequälte Seele, eine zerstörte Seele, die Furchtbares getan hat. Und ich kenne das Wort Gottes, der von uns verlangt, die andere Wange hinzuhalten. Der von uns verlangt, dem Sünder zu vergeben. Wenn er Reue zeigt. Ich müsste mit dem Menschen reden. Dann könnte ich Ihnen sagen, ob ich ihm vergeben würde.«

»Er müsste Reue zeigen?«

»Ja. Das würde genügen. So ist Gott.«

Craig schluckte. Sein Hals war trocken. Würde er jemanden brauchen, der ihm vergab, wenn er sein eigenes Geheimnis gelüftet hatte? Die Vikarin würde ihm vergeben, denn was auch immer er getan haben mochte, er bereute so sehr, dass er sein Leben für Marys geben würde.

»Ich danke Ihnen für die offenen Worte, Vikarin.«

»Besuchen Sie doch mal eine Messe.«

»Verzeihen Sie, Vikarin, aber ich glaube, das ist nichts für mich.«

»Sie sind jederzeit willkommen.«

Er schüttelte ihr die Hand, trat vor die Tür, zückte sein Handy und funkte die Zentrale an. Zu seiner Überraschung ging Morrison an den Apparat. Es war noch viel zu früh für die Nachtschicht, und Morrison alias Dracu arbeitete normalerweise nur nachts.

»Hi Scotsman, was steht an?«

»Was machst du um diese Zeit im Präsidium? Wie bist du unbeschadet durchs Tageslicht gekommen?«

»Ephraim hat mich auf Knien angefleht, seine Schicht zu übernehmen. Er hatte vergessen, dass heute sein Hochzeitstag ist.«

»Dracu, du hast eine Katastrophe verhindert! Melissa hätte ihn gegrillt.«

»Definitiv. Also, du Schwatzkopf, was brauchst du?«

»Schick mir ein Durchsuchungsteam. Sie sollen einen Beschluss mitbringen für St. Michael, Princetown. Der Beschluss ist Formsache, die Vikarin kooperiert. Sie ist wirklich ungewöhnlich.«

»Höre ich da ein wenig Bewunderung heraus? Hat die Vikarin dich bekehrt? Braveheart, Braveheart, was soll nur aus dir werden? Ein Prediger bist du ja schon.«

»Träum weiter. Und schick die Jungs los.«

Im Hintergrund hörte Craig das Piepen von Dracus Telefonanlage.

»Bis dann, Morrison.«

»Yep.«

Die Leitung war tot.

Craig blickte zum Kirchenportal. O’Grady hatte etwas in ihm ausgelöst. Er wusste nur noch nicht, was.

4

Craig gesellte sich zu Sienna und ihren Kollegen, die gerade eine Pause machten.

Sienna deutete auf die Kirche. »Erkenntnisse?«

»Noch nicht. Die Vikarin stellt uns alles zur Verfügung, was wir brauchen.«

»Wunderbar«, sagte Caine. »Und da Sie gerade da sind … Beide Skelette sind unbekleidet. An beiden haben wir mehrere Knochenbrüche feststellen können. Sehr frische Brüche. Also kurz vor oder kurz nach ihrem Tod. Wie bei einem Verkehrsunfall. Einen Sturz aus großer Höhe können wir schon jetzt anhand des Bruchbildes ausschließen.«

»Sie wurden also eventuell mit einem Auto hierhergefahren, das in einen Unfall verwickelt war. Aber nicht so heftig, als dass die Fahrt nicht mehr zu Ende geführt werden konnte«, folgerte Craig. Er grub in seinem Gedächtnis nach, was er über den Fall noch wusste. »Der Wagen der Jeffersons ist in dieser Nacht gestohlen worden. Ein Honda CRX. Grünmetallic.«

»Nicht gerade eine Familienkutsche, eher ein Rennwagen. Deswegen wurde ja der Vater der beiden verdächtigt«, sagte Sienna. »Man warf ihm vor, sie getötet und zusammen mit der Kiste irgendwo versenkt zu haben. Aber der Wagen wurde nie gefunden.«

»Und dem Vater konnte nichts nachgewiesen werden«, sagte Craig. »Als er sich dann umgebracht hat, wurde das allgemein als Schuldeingeständnis gewertet. Und die Akte wurde geschlossen?«

»Nicht ganz. Es gab ja kein Gerichtsurteil. Sie wurde, ich sage mal, tiefgekühlt, also aus den Revisionen für Cold Cases herausgenommen.«

»Achtzehn Jahre Dornröschenschlaf. Und kein Prinz mit scharfem Schwert in Sicht, um die Dornenhecke zu zerschneiden, sondern nur ein Detective mit einer stumpfen Gartenschere«, sagte Craig.

Fly riss die Augen in gespieltem Entsetzen auf. »Holla, das kann ja heiter werden. Stumpfe Gartenscheren hinterlassen hässliche Wunden, Craig. Also immer schön vorsichtig.« Sie lachte leise und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nichts für ungut, Craig.«

»Sie haben ja recht, Sienna …«

Ein Constable sprach Craig an. »Die Vikarin möchte Ihnen noch etwas zeigen.«

Craig verneigte sich vor Sienna und Caine und ging zurück in die Kirche. O’Grady kniete vor dem Altar und betete. Craig wartete, bis sie fertig war.

»Vielen Dank, dass Sie gewartet haben, Detective. Im Gebet finde ich immer Trost. Das nimmt mich alles sehr mit. Die Mädchen, die Polizei – und die Medien werden sich auf mich und meine Gemeinde stürzen.«

O’Grady führte ihn in einen Raum, der im Turm lag. Dort war ihr winziges Büro. Auf einem alten verschnörkelten Sekretär stand ein Mac der neuesten Generation, daneben lagen zwei externe Festplatten.

»Hier ist alles gespeichert, was Sie benötigen. Alles, was in vordigitaler Zeit an Informationen angefallen ist, habe ich digitalisiert. Mein Archiv umfasst die Sterbebücher der letzten hundert Jahre.«

»Das war eine Menge Arbeit, Frau Vikarin, alle Achtung.«

O’Grady lächelte. »Meine Gemeinde ist nicht sehr groß, ich habe viel Zeit, mich um solche Dinge zu kümmern. Soll ich Ihnen den ganzen Kram mailen?«

Craig reichte ihr seine Karte.

Sie tippte seine Dienstadresse ein und betrachtete die Festplatten. »Es sind zu viele Daten.« Sie trennte eine vom Mac und reichte sie Craig. »Jetzt wissen Sie alles über St. Michael and All Angels.«

»Das wage ich zu bezweifeln«, antwortete Craig.

O’Grady schmunzelte. »Brauchen Sie mich noch?«

O’Grady schlurfte mit einer Sohle über den Steinboden, der wie gewienert glänzte.

»Ich danke Ihnen vielmals. Ich werde die Daten sichten.«

O’Grady schwieg, sah ihn mit einer Mischung aus Zweifel und Mitleid an. Durchschaute sie ihn? So wie Stone?

Craig drehte sich um, verließ die Kirche, bevor die Bilder seiner Hochzeit ihn einholen konnten.

5

Craig parkte den Spitfire auf dem Parkplatz des Headquarters neben zwei schwarzen, überbreiten SUVs, die den Eindruck von Wichtigkeit vermittelten.

Morrison begrüßte ihn mit einer schlappen Geste, Craig ließ sich nicht auf ein Gespräch ein, sondern eilte zu seinem Büro. Die Tür stand offen, Craig hörte Leightons Stimme.

»Stell die Ordner einfach unter den Tisch.«

Jemand ächzte.

»Okay, danke«, sagte Leighton.

Ein junger Mann kam durch die Tür, ignorierte Craig und eilte davon. Craig trat ein und erstarrte. Das ganze Büro war voll mit Ordnern.

Leighton winkte ihm mit einer Hand zu. »Willkommen in der Hölle. Die haben nichts ausgelassen vor zwanzig Jahren. Haben jeden Stein umgedreht und halb Devon vernommen. Nicht nur einmal. Heather müsste gleich da sein. Sie ist beim Propheten und lässt sich mehr Speicher einrichten. Und sie hat einen automatischen Scanner geordert.«

Craig spürte ein Kribbeln in der Nase und musste heftig niesen.

»Das ist der Staub. Ich habe schon jede Menge Taschentücher gekauft.«

»Wie viele Seiten …«

»Ich schätze zehn- bis fünfzehntausend. Das eine oder andere liegt digital vor, der Prophet versucht gerade, unser System zu überreden, die Daten zu erkennen.«

»Gibt es eine Timeline? Einen Spurenindex?«

Leighton stöhnte. »Heather müsste das wissen. Ich habe mich bemüht, die Reihenfolge beim Stapeln nicht durcheinanderzubringen.« Leighton kletterte über einen Berg Ordner. »Treffer! Hier sind der Index der Hauptakte und die Zusammenfassung.« Leighton zog einen braunen, prall gefüllten Ordner heraus und reichte ihn Craig.

Er nahm ihn entgegen, schob vorsichtig einen recht instabil wirkenden Berg Papier auf seinem Schreibtisch ein wenig nach links und setzte sich. Er brachte Leighton auf den neuesten Stand. Dann spitzte er einen Bleistift, legte sich einen Block zurecht und schlug den Deckel des Ordners auf.

Das Deckblatt hatte an den Rändern vergilbte Streifen, da, wo Licht eingedrungen war. Quer über der Vermisstenanzeige prangte ein dicker Schriftzug: Verbleib der Vermissten nicht ermittelbar. Die Anzeige war von Charlottes und Sophies Eltern am 12.10.1997 um 15:47 Uhr bei der Central Police Station in Exeter erstattet worden. Ruth und Albert Jefferson waren vollkommen aufgelöst gewesen, sie hatten beide geweint, ihr Sohn Joseph hatte zunächst überhaupt nicht begriffen, worum es ging, und musste später psychologisch betreut werden. Freunde hatten sie nach Exeter gebracht, denn zu allem Überfluss war auch ihr Auto gestohlen worden. Craig entzifferte den Namen des diensthabenden Constables, der die Anzeige aufgenommen hatte. Sieh an. Es war Oscar Pettigrew, der jetzt, zwanzig Jahre später, Leiter der Exeter Central Police Station war.

»Sir?«

Craig schaute auf. Heather Moorcraft stand vor ihm. Er lächelte sie an, sie strahlte.

»Schön, dass wir wieder ein Team sind, Heather.«

Craig hielt ihr die Hand hin, sie schlug kräftig ein.

»Geht mir genauso, Sir.«

»Eins müssen wir mal klarstellen: Ich bin Craig.«

Sie wurde puterrot. »Äh, ja, okay, Craig. Ich bin Heather.«

»Haben Sie, was Sie brauchen?«

»Ja, S… äh, Craig.«

Craig kannte Heather ein wenig, gut genug, um zu wissen, dass ihr normalerweise nicht die Worte fehlten. Sie war schlagfertig, und so mancher Schleimbeutel hatte seine zweideutigen Komplimente aufgrund ihres guten Aussehens bereut. Heather war der Elfentyp, zierlich, große Augen, langgliedrige Finger, ausgeglichene Proportionen.

Er drückte ihr die Festplatte in die Hand. »Da ist alles über St. Michael drauf.«

»Danke, Craig. Jamili, also der Prophet, ja, er, äh, ich glaube, ich habe alles.«

»Scanner?«

»Steht bereit.«

»Speicherplatz?«

»Zehn Terabyte, bei Bedarf das Doppelte.«

»Brauchen Sie meine Hand noch?«, fragte Craig.

»Oh mein Gott, Sir, äh, Craig, nein, entschuldigen Sie.«

»Kein Problem, Heather.«

Sie ließ los und stürmte aus dem Büro.

Leighton ging zur Tür, spähte in den Flur. »Jesus Christus, die ist komplett verknallt in Sie. Wenn das mal keinen Ärger gibt.«

»Fein beobachtet, Tyler. Aber keine Sorge. Es wird keine Probleme geben. Sie ist tough, und ich bin nicht auf der Balz.«

»Ich hoffe, sie weiß das.« Leighton musterte Craig. »Ein bisschen Bewunderung kann ja nichts schaden.«

»Ich gebe zu, von einer Frau wie Heather angehimmelt zu werden ist eine Ehre für mich. Ich bin also doch kein durch und durch gefühlloser Mensch.«

Leighton wollte protestieren, aber das Telefon rettete Craig vor einer scharfzüngigen Bemerkung. Es war die Nummer von Sienna Fly.

»Sienna. Was gibt’s? Ich stelle auf laut, damit Tyler mithören kann.« Craig drückte die Mithörtaste.

»Grüße Sie, Mr. Leighton. Wir haben die beiden mit Sicherheit identifiziert. Charlotte wurde erwürgt oder erdrosselt. Bei Sophie haben wir noch keine Todesursache feststellen können. Wir werden bei den beiden nichts auslassen.«

»Das heißt, ich kann die Angehörigen informieren?«

»Sie haben meinen Segen. Viel Glück.«

Fly unterbrach die Verbindung.

»Ruth Jefferson«, sagte Leighton. »Sie wohnt am Friars’ Gate. Winzige Wohnung. Ein Zimmer, Nasszelle, Kochecke. Lebt vom Sozialamt. Hat wegen ihrer Vergangenheit so was wie einen Freifahrtschein. Wird anständig gepampert. Hat auch eine umfangreiche Polizeiakte. Nichts Schlimmes. Renitenz vor allem. Hat jahrelang behauptet, die Polizei würde ihren Job nicht machen und ihre Töchter würden noch leben. Irgendwann hat sie aufgegeben.« Leighton überlegte einen Moment. »Ziemlich genau vor zehn Jahren. Seitdem hält sie still.«

»Noch jemand aus der Familie?«

»Der Sohn. Joseph Jefferson. Der hat sich gemacht. Ist dreiunddreißig, Professor für Mathematik und Informatik in Oxford.«

Craig pfiff durch die Zähne.

»Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Sechs und sieben Jahre alt. Alles bestens.«

»Tyler, sind Sie sicher, dass wir einen Computer brauchen? Ich finde, wir sollten Sie hier anketten, bei Wasser und Brot, dann lesen Sie in drei Tagen die Akten und fertig.«

»Normale Hintergrundrecherche für den Anfang.«

»Gut gemacht! Auf geht’s. Und weil Sie so fleißig waren, sage ich der Mutter die bittere Wahrheit.«

Da Keen größtmögliches Feingefühl angemahnt hatte, lud sich Craig neben der Kontaktbeamtin noch eine Psychologin ins Auto. Kostete extra, aber Keen wollte es ja so.

6