Die träge Masse - Armin Nassehi - E-Book

Die träge Masse E-Book

Armin Nassehi

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Beschreibung

Soziale Konflikte sind Konflikte um Verteilungsfragen. Seit vielen Jahren bestimmen sie den demokratischen Streit. Politische Machtkonflikte haben sich um zwei Achsen geordnet – einmal um den Ausgleich zwischen (ökonomischer) Freiheit und (sozialer) Sicherheit; zweitens um ein progressives oder konservatives Verhältnis zu Liberalisierung und Pluralisierung. Das Kursbuch 215 kreist um diese Konflikte. In seinem Beitrag geht Armin Nassehi der These nach, inwiefern die gegenwärtigen sozialen Veränderungs- und Transformationsprozesse eine besondere Herausforderung für konservative Politikformen sind. Er unternimmt den Versuch, ein konservatives Bezugsproblem herauszuarbeiten, das weit über als konservativ geltende politische Akteure hinausgeht.

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Inhalt

Armin NassehiDie träge MasseÜber die Unterschätzung konservativer Bezugsprobleme

Der Autor

Impressum

Armin NassehiDie träge MasseÜber die Unterschätzung konservativer Bezugsprobleme

In den europäischen Parteiensystemen sind es vor allem die konservativen Parteien, an denen sich der Wandel sozialer Konfliktlagen beobachten lässt. An die Democrazia Christiana in Italien kann sich kaum mehr jemand erinnern, das spanische Parteiensystem hat sich erheblich gewandelt, in Frankreich spielt eine rechtsgerichtete Bewegung eine größere Rolle als eine klassische konservative Partei, überall geraten konservative Parteien von rechts unter Druck oder explizit rechte Parteien treten an deren Stelle, die GOP in den USA nimmt inzwischen revolutionäre Züge an und talibanisiert sich in einigen Regionen.

Nur in Deutschland schien es, dass eine stabile Mitte-rechts-Partei ihre Funktion weiterhin erfüllen kann: einerseits Volkspartei zu sein oder wenigstens den Anspruch darauf zu erheben, andererseits auch konservative Wählerschichten anzusprechen. Doch auch diese letzte verbliebene europäische Mitte-rechts-Volkspartei muss sich einer Konkurrenz von rechts erwehren, die ihr laut Wahlanalysen zwar nicht direkt Wähler abgreift, sondern eher das Nichtwählerpotenzial mobilisiert. Üblicherweise werden diese Entwicklungen Rechtsruck genannt, was sie auch ohne Zweifel sind. Aber damit ist noch lange nicht beschrieben, warum die Musik derzeit eher auf der rechten Seite der Mitte spielt. Einfachere Zeitgenossen führen es in Deutschland auf einen angeblichen Linksruck einer weitgehend rot-grünen Regierungspolitik und auf »woke« Bewegungen zurück. Der Rechtsruck gerät dann zu einer Geste der Notwehr.

Für konservative politische Semantiken ist das eine echte Herausforderung, denn es gelingt ihnen nur schwer, ein eigenes Profil zu entwickeln, ohne in das Fahrwasser rechter und rechtsradikaler Provokationen zu geraten – Formen, die alles Mögliche beanspruchen können, aber gerade nicht, konservativ zu sein. Diese merkwürdige Gemengelage verweist darauf, dass es offensichtlich konservative Bezugsprobleme sind, die politische Öffentlichkeiten nicht nur in Deutschland beschäftigen. Es sieht so aus, als sei die Bearbeitung solcher konservativer Bezugsprobleme die derzeit sichtbarste soziale Konfliktzone.

Es soll in diesem Beitrag die Frage beantwortet werden, warum man einerseits ein wirklich relevantes, legitimes, geradezu notwendiges konservatives Bezugsproblem bestimmen kann, andererseits es aber konservativen Sprechern nur sehr schwer gelingt, dafür Formen zu finden, die mehr zu bieten haben, als sich grüne und woke Hauptgegner zu imaginieren. Ich vermute, dass es einen strategischen kommunikativen Nachteil des konservativen Sprechens gibt – diesem soll hier nachgespürt werden.

Es ist sicher der unstreitige Veränderungsdruck der gegenwärtigen multiplen Krisen, die eher konservative Bezugsprobleme aufrufen. Auch deshalb kommen die gegenwärtigen Konflikte, die zu Kulturkämpfen aufgerundet, als Spaltungen markiert und mit ideologischer Verve geführt werden, derzeit eher von der konservativen Seite – ohne dass man in Deutschland ernsthaft von einer Spaltung der Gesellschaft sprechen kann, so gerne manche das auch hätten.1 Die Behauptung einer gesellschaftlichen Spaltung und eines wütenden Volkszorns, den die empirische Sozialforschung gar nicht hergibt, ist womöglich eine Ersatzsemantik dafür, das dahinterliegende konservative Bezugsproblem nicht produktiv wenden zu können.