Wo liegt der Westen? - Armin Nassehi - E-Book

Wo liegt der Westen? E-Book

Armin Nassehi

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Beschreibung

Der Westen protzt. Der Westen stellt sich in Frage. Einerseits EU-Schulterschluss im Angesicht des Ukrainekrieges. Selbstzweifel, Selbstkritik und Selbstdementierung auf der anderen Seite. Zur europäisch-nordamerikanisch-westlichen Praxis gehört eben nicht nur die Erfindung der Demokratie und der Menschenrechte, nicht nur die Idee der Gleichheit der Menschen und die Idee pluralistischer Ordnungen, der Gewaltenteilung und des vernünftigen Interessenausgleichs, sondern auch seine radikale Dementierung. Kolonialismus, Faschismus und Nationalsozialismus, Imperialismus und Rassismus sind ohne Zweifel keine nicht-westlichen, keine nicht-modernen Erscheinungen. Sie gehören konstitutiv zur westlichen Moderne dazu. Das Kursbuch 211 stellt sich dieser Ambivalenz auf vielfältigste Weise. Armin Nassehi rekonstruiert in seinem Beitrag die postkoloniale Kritik des Westens als eine Kritik, die nicht unbeeindruckt ist von den normativen Formen dessen, was der Gegenstand der Kritik ist. Das führt zu der Frage, dass der »Westen« womöglich nicht mehr im Westen liegt, sondern womöglich im Senegal – und selbstverständlich bräuchte es dafür einen anderen Begriff.

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Inhalt

Armin NassehiWo liegt der Westen?Eine Standortbestimmung in unübersichtlicher Zeit

Der Autor

Impressum

Armin NassehiWo liegt der Westen?Eine Standortbestimmung in unübersichtlicher Zeit

Am besten fangen wir mit den harten Sätzen an, mit denen, die immer als mehr oder weniger blinder Fleck mitlaufen, wenn man unvermittelt über den »Westen« spricht. Denn wer über den Westen spricht, muss unterscheiden – semantisch vom »Osten« oder wenigstens von etwas, das nicht als »der Westen« bezeichnet werden kann. Deshalb ist es auch riskant, über den Westen zu schreiben. Zumindest in bestimmten Milieus, in den kritischen linken Milieus, löst der Rekurs auf den Westen sofort Hinweise auf dessen Dementierung aus. Der Westen korrumpiere sich stets selbst, der Universalismus seines Anspruchs sei verlogen, die »westlichen« Menschenrechte gälten nur für weiße Menschen, bis vor Kurzem sogar nicht einmal für Frauen, und unsere Bilder des anderen seien stereotyp und vereinfachend, abwertend und diskriminierend. Wer über den Westen redet, muss sich das um die Ohren hauen lassen – wenn nicht mehr gemeint ist als eine geografische Standortbestimmung. Aber für China ist schon Russland im Westen und für Berliner Köln.

Also, die harten Sätze, die, auch wenn sie 200 Jahre alt sind, kaum aktueller sein könnten – nicht im Sinne einer angemessenen Theorie des Westens, sondern in dem Sinne, dass schon der Begriff genau dies mit aufscheinen lässt:

»Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sind sie es nicht; sie wissen nur, daß Einer frei ist, aber ebendarum ist solche Freiheit nur Willkür, Wildheit, Dumpfheit der Leidenschaft oder auch eine Milde, Zahmheit derselben, die selbst nur ein Naturzufall oder eine Willkür ist. Dieser Eine ist darum nur ein Despot, nicht ein freier Mann.«

Solche Sätze sind nicht sagbar, nicht mehr sagbar – und doch kann man kaum anders, als zu bemerken: Das hört sich gerade ziemlich aktuell an. Wenn es stimmt, dass der wahrlich terroristische Krieg Russlands gegen die Ukraine auch eine Inszenierung eines Kriegs gegen den »Westen« ist, gegen die Demokratie und den Pluralismus, gegen das Kleinhäckseln aller despotischen Macht zu einer unübersichtlichen Form der Gewaltenteilung, gegen das, was wir heute »offene Gesellschaften« nennen, in denen man Ergebnisoffenheit voraussetzt und damit Kontrollverluste imaginiert – wenn das stimmt, dann ist man nicht weit weg von einer despotischen Idee des Nicht-Westlichen gegenüber einer westlichen Idee, in der »der Geist oder der Mensch an sich frei« ist.

Ob wir wollen oder nicht – die Bezeichnung des »Westens« bewegt sich geradewegs auf eine Dichotomie zu, die einen langen Atem hat, vor allem einen historisch langen Atem – hier im Unterschied zwischen der griechischen Demokratie und dem orientalischen Despotismus.

»Nur die demokratische Verfassung war für diesen Geist und für diesen Staat geeignet. Wir haben den Despotismus im Orient in glänzender Ausbildung als eine dem Morgenland entsprechende Gestaltung gesehen; nicht minder ist die demokratische Form in Griechenland die welthistorische Bestimmung. In Griechenland ist nämlich die Freiheit des Individuums vorhanden, aber sie ist noch nicht zu der Abstraktion gekommen, daß das Subjekt schlechthin vom Substantiellen, dem Staate als solchem, abhängt, sondern in ihr ist der individuelle Wille in seiner ganzen Lebendigkeit frei und nach seiner Besonderheit die Betätigung des Substantiellen.«

Die griechische Demokratie kannte also schon die Freiheit des Individuums als Idee, freilich noch nicht in der Abstraktion, dass diese Freiheit im Staat realisiert werden kann – das sollte erst historisch später möglich sein. Die harten Sätze stammen natürlich von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aus seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte 1. Diese geschichtsphilosophische und systematische Gegenüberstellung bildet ein Muster ab, das sich auch in der Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren wiederfindet, in der Trennung des byzantinisch-oströmischen vom römischen Reich und im Kirchenschisma zwischen den östlichen Rechtgläubigen (Orthodoxen) und den westlichen lateinischen Häretikern.2

Die Unterscheidung des Westens vom Osten war keineswegs immer eine vom Westen her pejorativ gedachte Unterscheidung. »Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident«, heißt es in Goethes West-östlicher Diwan