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Der Engel Caylen wird damit betraut, Eliya zurück auf die Pfade des Lichts zu führen, doch als sein Auftrag für beendet erklärt wird, nimmt sie sich aus Verzweiflung das Leben. Er verkraftet den Tod seines Schützlings nicht und sucht verzweifelt nach einem Weg, sie wiederzubeleben. Hierbei stößt er auf den Heiligen Gral, der seine unglaubliche Macht in Verbindung mit Einhornblut zu offenbaren scheint. Miriel, Caylens Schwester, wird wegen ihrer Gabe, die Zukunft vorhersehen zu können, damit beauftragt, den Gral zurückzubringen, den dieser gestohlen hat. Unterstützung findet sie in dem Magier Sirion. Eine abenteuerliche Reise voller Gefahren beginnt, denn es steht weitaus mehr auf dem Spiel, als es zu Beginn den Anschein hat … Stephanie Rose ist es gelungen, eine fantastische Welt zu schaffen, die fesselt und begeistert. Seite um Seite baut sich ein Spannungsbogen auf, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Mit Mystik und Dramatik schafft die Autorin eine zunehmend dichte Atmosphäre, die sich in einem überraschenden Ende entlädt. Wird es Miriel gelingen, ihren Auftrag zu erfüllen?
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
EPILOG
DIE TRÄNEN DER EINHÖRNER I
DIE VERSUCHUNG
Stephanie Rose
Copyright © 2018 – Searose Fantasy
Searose Fantasy | Raiffeisenstr. 4, 74360 Ilsfeld, Deutschland | www.searose-fantasy.de
Auflage: Oktober 2018
Cover: Juliane Schneeweiss | www.juliane-schneeweiss.de
Autor: Stephanie Rose
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In meinen Träumen …
Viele Male habe ich sie besucht … diese Welt, in der das Licht zu Hause ist … Deine Welt … Und ich werde sie wieder besuchen, bis ich dich gefunden habe …
„Ich bin wieder an diesem wundervollen Ort gelandet … Seltsam …“
Verwundert sah sich Eliya um und sog die frische, reine Luft tief in ihre Lungen ein.
Die Ebene, die vor ihr lag, reichte soweit das Auge sehen konnte und schien dort in der Ferne mit graublauen Bergen zu verschmelzen.
Unter ihren nackten Füßen konnte sie das weiche grüne Gras fühlen, das ihr mit jeder Bewegung sanft über die Fußsohlen streichelte.
Eliya sank zu Boden und ließ sich auf dem Gras zurückfallen, die Augen geschlossen.
Der sanfte, süße Duft von Blumen drang an ihre Nase und ließ sie lächeln.
Sie blieb einige Augenblicke reglos liegen und genoss das angenehm beruhigende Gefühl, das sie durchfloss und das wärmende Streicheln der Sonne auf ihrer Haut.
„Obwohl es nur ein Traum ist, erscheint alles so real. Ich wünschte, ich könnte für immer an diesem Ort bleiben. Hier fühle ich mich zu Hause, hier möchte ich leben …“, murmelte sie schließlich und blickte in den tiefblauen Himmel hinauf. Keine einzige Wolke war an ihm zu erkennen. Ein sanfter Wind wehte ihr entgegen und trug das leise beruhigende Rauschen von Wasser an ihre Ohren. Woher kam dieses Rauschen? Eliya wollte es wissen und diesen Ort besuchen.
Wieder schloss sie die Augen und stellte sich vor, über die weite grüne Ebene, die vor ihr lag, zu wandeln um dort in der Ferne der Quelle des Rauschens, die sie anzog, zu begegnen.
Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie daran dachte, dort vielleicht die Person anzutreffen, die sie immer wieder an diesen Ort brachte.
Der Wind frischte schließlich auf und Eliya öffnete verwundert die Augen. Wollte ihr der Wind etwas sagen? Sie runzelte die Stirn und dachte nach, doch ihr kam nichts in den Sinn.
Langsam schloss sie wieder die Augen. Ihre Gedanken glitten letztlich erneut davon und durchwanderten diese wundervolle Welt, die sie umgab. Jetzt besuchte ihr Geist die hohen grauen Berge in der Ferne, deren Spitzen mit Schnee bedeckt schienen, und den einsamen Wasserfall, der dort in die Tiefe donnerte. Sein Wasser verlor sich schließlich in einem kleinen, klaren Fluss, der am Horizont verschwand.
Wohin Eliya auch blickte, herrschte Leben. Das grüne Gras zu ihren Füßen und die bunten Blumen, die sich über dieses erhoben, strotzten nur so vor Lebensenergie und trieben ein sanftes Lächeln auf ihre Lippen. So stellte sie sich das Paradies vor.
Seltsame verschwommene Schatten tanzten plötzlich über dem Fluss auf und ab und jagten Eliya einen Schauder über den Rücken. Ihr Herz begann zu rasen.
Wer waren sie, diese Schatten?
Ihr Blick schweifte in die Ferne, als sie nun eine leise vertraute Stimme vernahm, die nach ihr zu rufen schien.
Eliya warf einen letzten Blick zu den Schatten hinüber, dann setzte sie ihre Reise fort und folgte dem Lauf des Flusses in die Ferne. Vielleicht konnte sie ja dort die Person finden, die nach ihr gerufen und sie an diesen Ort gebracht hatte.
„Wo bist du?“, flüsterte sie schließlich kaum hörbar und schlug die Augen auf. Sie war wieder zurück auf der weiten, grünen Ebene, wo sie ihre Reise durch diese Welt begonnen hatte.
Eliya setzte sich auf und sah sich um.
„Ich fühle deine Präsenz doch kann ich dich noch immer nicht sehen … Wer bist du nur?“, murmelte Eliya und setzte sich auf.
Jene Präsenz hatte sie schon bei ihren letzten Besuchen in dieser Welt in ihrer Nähe verspürt, doch diesmal schien sie ihr noch näher; sie schien fast greifbar zu sein.
„Bitte … zeig dich mir …“, bat sie traurig, doch blieb ihr Wunsch unerfüllt.
Oder war dieser Gedanke nur ein Produkt ihrer Fantasie, in der Hoffnung, ihrer Einsamkeit irgendwie zu entfliehen?
Ein leiser Seufzer entwich ihrer Kehle, als sie schließlich daran dachte, dass es wohl bald an der Zeit sein musste, wieder zu erwachen und dem trüben Alltag aufs Neue entgegen zu sehen und all dem Leid, das dieser für sie bereithielt.
„Ich will nicht fort von hier …“, sagte sie betrübt, wohl wissend, dass ihr letztlich doch nichts anderes übrigbleiben würde.
Wann immer sie jenen magischen Ort in ihren Träumen aufsuchte, fühlte sie sich seltsam unbeschwert und völlig frei. Ein Gefühl, das sie in der wirklichen Welt – ihrer Welt – vermisste und Kummer und Schmerz in ihrem Herzen keimen ließ.
Plötzlich konnte sie fühlen, wie eine große Kraft in ihrem Innern erneut nach ihr zu rufen begann. Eine zerstörerische Kraft …
Es war dunkel, als Eliya nach Hause kam, und es regnete.
Ihre langen, hellbraunen Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht und verdeckten ihr die Sicht, doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, es war gut so, denn so konnte sie die Blessuren verstecken, die ihr Gesicht zierten.
Sie zog den Hausschlüssel aus ihrer Hosentasche und öffnete vorsichtig die Tür; doch statt einzutreten und der Kälte zu entfliehen, drehte sie sich ein letztes Mal um.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie hielt entgeistert den Atem an, als sie eine dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite hinter einem Baum bemerkte. Doch statt Angst empfand sie plötzlich eine unbeschreibliche Wärme, die sogar die Kälte in ihren Gliedern vertrieb. Sie erschauderte und schüttelte den Kopf.
Als sie den Blick noch einmal in Richtung der Gestalt wandte, war diese verschwunden. Hatte sie sich die Gestalt nur eingebildet? Sie runzelte die Stirn und sah die Straße auf und ab. Nichts.
Langsam ging sie schließlich ins Haus und schloss die Tür so leise sie konnte. Sie wollte keinen Laut von sich geben oder gar ihre Anwesenheit verraten, denn ihren Eltern war es in der Zwischenzeit egal geworden, ob und wann sie nach Hause kam. Manchmal sogar glaubte sie, dass es ihnen lieber war, sie würde gar nicht zurückkehren.
Diese Erkenntnis trieb ihr jedes Mal aufs Neue die Tränen in die Augen.
Und doch flüsterte sie Tag ein Tag aus – wie auch heute – ein leises Hallo!, wenn sie das Haus betrat, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort; dabei war sie sich sicher, dass man sie gehört hatte, denn für einen Moment war Stille eingekehrt im Wohnzimmer. Keine zwei Sekunden später wurde das Gespräch allerdings in weitaus lauterem Ton fortgesetzt, um alle Geräusche außerhalb des Zimmers zu übertönen.
Das unsägliche Gefühl der Einsamkeit, das sich in ihrem Herzen breitmachte, wurde von Tag zu Tag stärker, und es schien nichts auf der Welt zu geben, das ihr diese Einsamkeit nehmen konnte.
‚Ich hätte wissen müssen, dass es eine Falle ist …‘, dachte sie schließlich resigniert und ging die Stufen hinauf auf ihr Zimmer.
Sie stellte sich vor ihren Spiegel und strich sich die feuchten, langen Haare aus dem Gesicht.
Ein langer Schnitt zog sich über die linke Hälfte ihres Gesichts bis hinunter zum Kinn. Es blutete zwar nicht mehr, doch konnte sie noch immer das Pochen ihres Herzens in dieser Wunde spüren.
Sie strich mit ihrer linken Hand über die Wunde und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz diese bei ihrer Berührung durchfuhr.
„Dummkopf“, murmelte sie leise. Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen, das mehr einer Grimasse glich. Dann kamen ihr die Tränen.
„Ich weine? Wieso?“, fragte sie ihr Spiegelbild verwundert und blinzelte, doch eine Antwort erhielt sie nicht. Also starrte sie schweigend das Mädchen im Spiegel an, das nicht daran zu denken schien, die Tränen aufhalten zu wollen; es ließ sie einfach gewähren.
Eliya schüttelte den Kopf.
„Was soll das? Tränen machen keinen Unterschied, das weißt du doch! Hör endlich auf!“, befahl sie ihrem Spiegelbild, doch statt zu gehorchen, weinte es nur noch mehr.
Etwas Glänzendes stach ihr plötzlich ins Auge und sie wandte den Blick von dem Mädchen im Spiegel ab, um zu sehen, was es war, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Spiegel lag ein Rasiermesser.
Eliya dachte kurz nach, wie es in ihr Zimmer gelangt war.
Dann fiel es ihr wieder ein.
Es lag nun schon seit gut einer Woche an eben diesem Platz. Sie hatte es aus dem Bad ihrer Eltern mitgehen lassen, in der Hoffnung, ihr Vater würde es nicht bemerken. Immerhin wollte er sich einen Bart wachsen lassen, da brauchte er es nicht mehr.
Und ihr Vater hatte es wirklich nicht bemerkt, aber zu allem Übel ihre Mutter. Zu ihrer Überraschung hatte ihr Vater allerdings gesagt, er habe es weggeworfen und ihre Mutter hatte es dabei belassen.
‚Ist ja auch egal …‘, dachte sie traurig und griff nach dem Rasiermesser. Ein seltsamer Gedanke machte sich in ihr breit.
„Es wäre gleich vorbei …“, flüsterte sie kaum hörbar und ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie überlegte, wie es sich wohl anfühlen musste zu sterben. „Aber ich habe Angst … große Angst …“
Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen, als sie langsam und vorsichtig über das scharfe Ende der Klinge strich.
„Was kommt danach? Endet alles oder beginnt der Schmerz von Neuem … das wüsste ich zu gerne …“ Sie führte das Rasiermesser an ihr Handgelenk, zuckte dann aber erschrocken zurück. „Ich kann nicht …“, murmelte sie von sich selbst enttäuscht und fing wieder an zu weinen.
Sie ließ das Rasiermesser fallen und zuckte, als es mit einem lauten Kliiing! zu Boden fiel, zusammen.
Erschrocken hielt sie den Atem an und wagte es nicht, sich zu rühren.
Doch vor ihrem Zimmer blieb es still. Keine schnellen Schritte, keine besorgten Seufzer, nichts.
„Was habe ich auch erwartet?“, flüsterte sie mit einem gequälten Lachen. „Dass Ma gerannt kommt und mich besorgt ansieht?“ Eliya schüttelte den Kopf und seufzte resigniert. ‚Was denke ich nur? Sie kann unmöglich etwas gehört haben! … Doch selbst wenn … würde es sie überhaupt kümmern?‘
Traurig kniete sie neben dem Rasiermesser nieder und betrachtete seine im Licht glänzende Klinge.
Da war etwas Rotes an der Spitze der Klinge.
Neugierig hob sie das Rasiermesser auf und betrachtete es eingehend. Erst jetzt bemerkte sie die kleinen roten Tropfen, die neben dem Messer auf dem Boden waren.
Woher kamen sie?
‚Das ist doch … Blut!‘, dachte sie überrascht und ihr Blick glitt zu ihrem Arm.
Ein dünner, roter Strich zog sich über ihren Unterarm. Blut quoll hervor.
Ihr Atem stockte. „Aber wie kann das sein?“, fragte sie sich verwundert. „Ich habe doch gar nichts gespürt … nichts … keinen Schmerz. Seltsam …“ Vorsichtig strich sie über die Wunde und betrachtete sie eingehend. Das Blut, das der Wunde entwich, war noch immer warm und ein schwacher metallischer Geruch breitete sich aus. ‚So riecht also mein Blut … Das ist mir vorher noch nie aufgefallen, dabei ist es doch schon so viele Male passiert … so viele Wunden, so viele Schmerzen … und nie habe ich es bemerkt?‘
Eliya kniff die Augen zusammen und zuckte schließlich die Schultern. Wieder blickte sie das Rasiermesser in ihrer Hand an und runzelte die Stirn. Dann wischte das Blut vom Boden weg und tupfte mit einem sauberen Tuch vorsichtig über den Schnitt an ihrem Arm.
Als es Augenblicke später aufhörte zu bluten, wandte sie sich wieder dem Rasiermesser zu und säuberte die Klinge.
Sie beschloss, es zu behalten und versteckte es an einem sicheren Ort. Vielleicht konnte es ihr noch einmal nützlich sein.
Dann entledigte sie sich ihrer Kleidung, die, wie sie erst jetzt bemerkte, völlig durchnässt war. Ihr selbst war seltsamerweise überhaupt nicht kalt, auch wenn sich ihre Haut eisig anfühlte.
Lange war sie nicht mehr so froh gewesen, ein eigenes Bad in ihrem Zimmer zu haben und ganz für sich allein zu sein.
Sie stieg in die kleine Dusche und drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf.
Als das kalte Wasser endlich warm und schließlich heiß wurde, durchfloss sie ein Gefühl der tiefen Ruhe und des Friedens. Ein Gefühl, das ihr im Laufe der Zeit fremd geworden war.
Eliya duschte lange und ausgiebig, um die Strapazen des vergangenen Tages so gut es ging zu vergessen; und für einen Moment gelang ihr dies auch. Doch sobald sie sich im Spiegel betrachtete, war alles wieder da, denn die Wunde, die ihr Gesicht zierte, erinnerte sie aufs Neue daran, was man ihr angetan hatte.
Und sie würde sich ein Leben lang daran erinnern müssen, denn eine Narbe würde zurückbleiben, da war sie sich sicher.
Gedankenverloren verließ sie die Dusche wieder, trocknete sich ab und zog ihren Schlafanzug über.
Ehe sie allerdings in ihr warmes, weiches Bett kroch, warf sie einen letzten Blick nach draußen.
Und da war sie wieder, diese Gestalt hinter dem Baum und ihr Blick schien Eliyas genau zu treffen. Sie zuckte erschrocken zusammen und wich zurück.
Dass man sie immer noch verfolgte und beobachtete, machte ihr Angst. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie schluckte hart.
Sie zog die Vorhänge zu und legte sich aufs Bett. Tränen rannen ihre Wangen hinab und sie schluchzte leise.
War es ihr denn nicht vergönnt in Frieden zu leben?
Da war ein Licht. Ein helles, warmes Licht.
Eliya öffnete die Augen und blickte in das wunderschöne Gesicht eines Mannes. Er lächelte sie an und flüsterte etwas, das sie nicht hören konnte.
Der Mann schien von innen heraus zu leuchten und das Licht, das ihn umgab, strahlte warm und hell, selbst in die dunkelsten Winkel ihres Herzens. Alles war erleuchtet und von Licht durchflutet.
Eliya setzte sich auf und betrachtete den Mann eingehender.
Er hatte Flügel. Schneeweiße Flügel, die ebenso strahlten wie der Mann selbst. Seine langen goldenen Haare tanzten im sanften Wind, von dem Eliya nicht wusste, woher er kam. Sie hatte ihr Fenster geschlossen.
„Bist du … ein Engel?“, fragte Eliya zögerlich und genoss das wohlig warme Gefühl, das seine Gegenwart in ihr auslöste.
Wieder flüsterte der Mann etwas und wieder konnte sie seine Worte nicht hören.
„Ich … ich kann dich nicht verstehen …“, murmelte sie traurig und senkte schließlich betrübt den Blick. Tränen brannten in ihren Augen und sie wollte nicht, dass er sie sah.
Der Mann setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Dort, wo er sie berührte, durchströmte sie eine unglaubliche Wärme und Frieden machte sich in ihr breit. Die Tränen verschwanden und einen Moment später wusste sie nicht mehr, warum sie geweint hatte.
Und plötzlich konnte sie ihn hören. Es waren keine Worte, mit denen er sprach, es war sein Herz, das zu dem ihren sprach.
Jetzt, da sie sich wieder beruhigt hatte und der Aufruhr in ihrem Herzen zur Ruhe gekommen war, konnte sie ihn verstehen und wieder fragte sie: „Bist du ein Engel?“, doch statt zu antworten, lächelte der Mann nur und strich über ihr Gesicht.
Einen Moment später konnte Eliya fühlen, wie sich etwas an ihr veränderte. Die Wärme, die seine Berührung mit sich brachte, ließ sie erschaudern und gab ihr gleichzeitig das Gefühl, das sie all die Jahre vermisst hatte: Geborgenheit.
Sie wollte diesen Moment für immer festhalten und hoffte inständig, die Zeit würde stehen bleiben. Doch ehe sie sich versah, war der Engel verschwunden und eine unglaubliche Müdigkeit legte sich über sie …
Am nächsten Morgen war alles wieder beim Alten.
Eliya stand im Morgengrauen auf und bereitete sich auf die Schule vor.
Ihre Hausaufgaben erledigte sie grundsätzlich erst am Morgen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als in aller Frühe aufzustehen.
Als sie diese beendet hatte, blickte sie argwöhnisch aus dem Fenster. Etwas sagte ihr, dass sie beobachtet wurde.
Sie blickte zu dem Baum hinüber, an dem sie jene dunkle Gestalt am vergangenen Abend gesehen hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand zu sehen war. Das Gefühl beobachtet zu werden, wurde sie allerdings nicht los und sie runzelte nachdenklich die Stirn. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich?
Ein wenig nervös ging sie schließlich ins Bad, um sich zu waschen.
Als ihr Blick allerdings in den Spiegel ging, zuckte sie erschrocken zusammen und ein erstickter Laut entwich ihrer Kehle.
Die Wunde, die man ihr am vergangenen Abend zugefügt hatte, war verschwunden und nichts schien darauf hinzudeuten, dass sie jemals verletzt worden war.
Sie hielt den Atem an. „Was … wie kann das sein? Ich hab‘ mir das doch nicht alles nur eingebildet? Aber der Schmerz fühlte sich so echt an … es hat weh getan.“ Langsam strich sie sich über die Wange.
Eliyas Herz schlug höher und die Angst, als ihr der Gedanke, verrückt zu werden in den Kopf schoss, ließ sie erschaudern. „Was passiert mit mir …“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Lag es an ihrer kaputten Familie und ihrer Umgebung, dass ihre Wahrnehmung anfing, ihr nun Streiche zu spielen?
Es dauerte eine Zeit lang, bis Eliya wieder klar denken konnte und sich einigermaßen beruhigt hatte.
Und dann erinnerte sie sich an den Traum.
„War dieser Engel Wirklichkeit? Hat er mich geheilt?“ Sie versuchte sich an sein Gesicht zu erinnern, aber alles, was ihr in den Sinn kam, war das warme Licht, das von ihm ausging und das Gefühl der Geborgenheit. Es war lange her, dass Eliya dieses Gefühl verspürt hatte und beinahe hätte sie vergessen, wie es sich anfühlte.
Dieser Engel hatte ihr tatsächlich das Gefühl gegeben, geliebt zu werden und eine sanfte Röte legte sich auf ihre Wangen.
Sie dachte wieder und wieder darüber nach, während sie sich wusch und sich die Zähne putzte. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass ihr Traum doch real gewesen sein musste, auch wenn sie es immer noch nicht glauben konnte. Eliya konnte nicht glauben, dass es so etwas wie Engel wirklich gab und schon gar nicht, dass es einen Gott gab. Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen, als sie daran dachte. Hatte sie sich geirrt?
Sie seufzte schließlich und starrte ihr Spiegelbild an, als sie sich das Gesicht abtrocknete.
‚Ich möchte ihn wiedersehen …‘, dachte sie dann und ein verträumtes Lächeln ging über ihre Lippen.
Sie wandte den Blick von ihrem Spiegelbild ab und sah zu der kleinen runden Uhr hinüber, die an ihrer Wand hing und leise tickend die Sekunden zählte. Allmählich wurde es Zeit zu gehen, bemerkte sie.
Als sie ihr Zimmer wieder betrat, um sich anzuziehen, warf sie noch einmal einen forschenden Blick nach draußen und wieder stellte sie erleichtert fest, dass niemand zu sehen war.
Eliya packte ihre Schulsachen zusammen und verließ das Zimmer.
In der Küche richtete sie sich noch schnell ein Brot, das sie auf dem Schulweg essen wollte.
Ihre Eltern schienen noch zu schlafen, als sie das Haus verließ.
Wie immer warf sie einen traurigen Blick zurück. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass ihre Mutter des Morgens an der Haustüre stand und sie verabschiedete.
Unterwegs begegnete sie ihren Klassenkameraden, die sich, wie jeden Morgen, am Supermarkt verabredet hatten, um den Schulweg gemeinsam zu gehen. So sehr sie auch dazugehören wollte, es blieb ihr verwehrt.
Ein einziges Mal hatte sie es versucht und sich der kleinen Gruppe genähert, doch mehr als ein abwertendes Schnauben und die Worte: Geh weg, so was wie dich brauchen wir hier nicht!, hatten sie davon abgehalten, es wieder zu versuchen.
Es stimmte, sie war anders als ihre Klassenkameraden – anders als alle, die sie kannte – und das wusste sie, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was es war, das sie von ihnen unterschied. Sie wusste nur, dass es da war und sie auf andere irgendwie abstoßend wirken ließ.
Als die kleine Gruppe sie bemerkte, wandten sie sich ab und begannen leise miteinander zu tuscheln.
Eliya war diese Reaktion bereits gewohnt, trotzdem traf es sie jedes Mal aufs Neue und sie seufzte enttäuscht.
Und wieder fragte sie sich, was es war, das sie so sehr von ihnen unterschied. Was es war, das sie dazu veranlasste, sie zu ignorieren und zu demütigen. Den Mut, sie danach zu fragen, hatte sie aber auch nicht.
Sie warf einen letzten traurigen Blick zurück, als sie die Gruppe passierte, und setzte ihren Weg dann alleine in Richtung Schule fort.
Wenn sie so darüber nachdachte, brauchte sie niemanden. Sie war ihr ganzes Leben lang allein gewesen und hatte es überlebt, warum also nicht auch jetzt? Doch etwas veränderte sich in ihr, sie konnte es fühlen.
‚Was soll‘s, ich kann mein Leben sehr gut alleine leben. Ich brauche niemanden!‘, dachte sie trotzig und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Einen Augenblick später ließ sie allerdings den Kopf wieder hängen und blinzelte sich die Tränen aus den Augen, denn tief in ihrem Unterbewusstsein wusste sie, dass sie es nicht konnte.
Der Schrei nach Liebe und Geborgenheit war all die Jahre auf taube Ohren gestoßen und Eliya hatte ihn letztlich in die hintersten Winkel ihrer Seele verbannt. Doch er war noch immer da, und nach dem wundersamen Ereignis vergangene Nacht war er erneut an die Oberfläche getrieben.
Eliya blieb stehen und blickte gen Himmel.
Gedankenverloren sah sie die wenigen Wolken an, die über ihren Kopf hinweg zogen, und seufzte innerlich.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und sie wusste, sie musste sich beeilen.
„Aber wozu eigentlich …“, murmelte sie dann betrübt und kam wieder zum Stehen. „Es macht ja doch keinen Unterschied, ob ich hingehe oder nicht …“
„Dürfte ich bitte mal vorbei?“, fragte eine genervt klingende Frauenstimme vor ihr und riss Eliya aus ihren Gedankengängen.
Eliya sah sie verwundert an.
Die Frau trug ein Kind auf ihren Armen, das sie fröhlich anlächelte. Als Eliya allerdings das Lächeln erwidern wollte, drehte die Frau den Kopf des Kindes zur Seite, so dass es sie nicht mehr sehen konnte.
„Also? Darf ich nun vorbei?“
Erst jetzt bemerkte Eliya, dass sie mitten auf dem Gehweg stand und zu ihrer Rechten ein dunkelblaues Auto parkte, das den Rest des Gehwegs blockierte.
„Oh, ja. Tut mir leid.“ Eliya lächelte verlegen und ging einige Schritte zurück, um den Weg freizumachen. „Bitte.“
„Tut mir wirklich leid …“, flüsterte sie noch einmal, als die Frau sich in Bewegung setzte.
„Statt in Gedanken zu sein, solltest du lieber auf die Menschen um dich herum achten und ihnen nicht im Weg sein“, meinte die Frau in einem scharfen Ton und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei.
Die Frau würdigte sie keines Blickes mehr und auch kein Wort des Dankes kam über ihre Lippen.
Eliya sah ihr traurig nach.
Das Kind erhaschte noch einen letzten Blick auf Eliya und wieder lächelte es voller Freude.
‚Danke …‘, dachte sie mit Tränen in den Augen. Warum schenkte ihr dieses kleine Kind ein Lächeln, wo sie doch alle anderen so abwertend behandelten?
Die Schulglocke riss Eliya schließlich aus ihren düsteren Gedanken.
Sie hielt erschrocken den Atem an und riss die Augen weit auf. Für einen Moment schien es ihr, als würde die Zeit stehen bleiben, bis sie schließlich realisierte, was die Schulglocke zu bedeuten hatte. „Verdammt, ich werde schon wieder zu spät kommen!“, rief sie entgeistert und rannte los, wusste allerdings, dass sie es niemals rechtzeitig schaffen würde.
Als sie das Schulgebäude endlich betrat, hatte der Unterricht bereits begonnen.
‚Verdammt …‘, dachte sie verzweifelt. ‚Mein Lehrer wird mich lynchen, wenn ich jetzt ins Klassenzimmer platze. Und die anderen werden wieder auf mir rumhacken …‘
Eliya blieb einige Minuten vor ihrer Klassenzimmertüre stehen und lauschte dem Unterricht. Sie wusste nicht, ob sie nun anklopfen oder einfach warten sollte, bis die Stunde zu Ende war.
„Am besten, ich gehe wieder. Bringt ja doch nichts …“
Gerade als sie sich zum Gehen wenden wollte, öffnete sich die Tür und ließ Eliya erschrocken nach Luft schnappen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Du bist schon wieder zu spät?“
Eliya blieb wie angewurzelt stehen und es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie sich schließlich der Person zuwandte, die sie angesprochen hatte.
„Ehm … ja … t-tut mir leid …“, stammelte sie und senkte den Kopf. „Na, schon gut. Jetzt komm schon rein, bevor ich‘s mir anders überlege.“ Er zwinkerte und trat einen Schritt zur Seite, so dass sie ihn passieren konnte. „D-Danke … Herr K-Kira.“
Eliya huschte mit hochrotem Kopf an ihm vorbei ins Klassenzimmer und setzte sich eilends auf ihren Platz.
Von ihren Mitschülern erntete sie nur kalte Blicke, als sich diese zu ihr umwandten, um zu zeigen, dass sie noch immer nicht willkommen war.
„Konntest du nicht früher kommen?“, fauchte ihre Sitznachbarin sie so leise an, dass es außer ihr keiner hören konnte. „Wegen dir hab‘ ich die Hausaufgaben nicht abschreiben können! Was glaubst du eigentlich, warum ich sonst neben dir sitze? Ich kann dich nicht ausstehen!“
Eliya senkte traurig den Kopf und wandte dann den Blick aus dem Fenster.
Es war immer dasselbe. Sie wusste sehr wohl, dass Nelli sich nur deshalb neben sie gesetzt hatte und trotzdem freute es Eliya jedes Mal aufs Neue, wenn sie ihren Klassenkameraden helfen konnte. Auch wenn es ihr niemand dankte.
Ein leiser Seufzer entwich ihren Lippen.
Je mehr sie sich wünschte dazuzugehören, desto mehr schien alles ins Gegenteil umzuschlagen. Manchmal glaubte Eliya sogar, dass man sie mit einem Fluch belegt hatte, der es ihr unmöglich machte, jemals von irgendeinem Menschen geliebt zu werden.
Oder hatte sie in einem früheren Leben etwas getan, dass sie dies als Strafe erdulden musste?
‚Wenn … wenn ich das nur wüsste, wäre alles einfacher zu ertragen … aber vielleicht gehört auch das zu meiner Strafe? Es muss einen Grund für all das geben …‘
Aber würde Gott die Menschen in einem späteren Leben für vergangene Dinge bestrafen?
Je mehr Eliya darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass Gott so etwas nicht tun würde. Immerhin erzählte man ihnen doch im Religionsunterricht, dass Gott in unendlicher Gnade über sie richten würde. Aber was wusste ihr Lehrer schon davon. Wenn sie ehrlich war, konnte doch kein Mensch wissen, was Gott nun wirklich für ein Wesen war und ob er überhaupt existierte.
‚Genau, Gott würde diese Ungerechtigkeiten und Kriege auf dieser Erde niemals gutheißen oder gar dulden …‘, dachte Eliya und nickte bestätigend. ‚Also gibt es keinen Gott. Da ist nichts, nur wir, die wir uns gegenseitig vernichten und verzweifelt an einen Glauben klammern, um unser Tun zu rechtfertigen. Und wenn wir sterben, verschwinden wir einfach. Wir hören auf zu existieren.‘
„Ja … als hätte es einen nie gegeben …“
„Wenn du schon zu spät kommst, dann pass wenigstens auf!“, fuhr Herr Kira sie an und ließ sie erschrocken zusammenzucken. „Deine Gedankengänge kannst du dir für die Pausen aufheben.“
Eliya nickte schuldbewusst und hielt den Kopf gesenkt.
Der Unterricht war so langweilig, dass sie es kaum schaffte, den Worten ihres Lehrers zu folgen, geschweige denn, sie sich zu merken. Im Moment gab es so viele Dinge, die sie beschäftigten; über die sie nachdenken wollte.
Als die Schulglocke zum Ende des Unterrichts läutete und sich Eliya langsam daran machte, ihre Bücher zusammenzupacken, baute sich plötzlich eine Gestalt vor ihr auf.
Eliya legte ihre Schulbücher fein säuberlich übereinander gestapelt vor sich auf den Tisch. Erst jetzt sah sie auf.
„Was bist du, ein Monster?“, fragte sie das Mädchen wütend, das sich vor ihr aufgebaut hatte. Hinter ihr hatte sich ihre gesamte Clique in einem Kreis um die beiden aufgestellt, um das nun folgende Schauspiel zur Genüge verfolgen zu können.
Leises Gelächter war zu hören, doch Eliya machte keine Anstalten, etwas zu erwidern.
Sie wusste, worauf sie anspielen wollte, denn sie war es gewesen, die sie am vergangenen Tag so zugerichtet hatte.
„Ich rede mir dir!“, rief sie nun etwas lauter und schlug wütend mit der Handfläche auf den Tisch.
„Ich habe dir nichts zu sagen, Liana“, meinte Eliya ruhig und wandte sich wieder ihren Büchern zu, die sie nun in ihre Tasche steckte.
„Was fällt dir eigentlich ein?“, fuhr diese sie zornig an. „Was hast du mit deinem Gesicht gemacht? Ich hab‘ dich entstellt, das weiß ich ganz genau!“ Ein Hauch von Furcht schwang in Lianas Stimme mit.
Eliya lächelte und lachte schließlich laut auf, woraufhin Liana erschrocken zurückwich.
„Ich bin eine Hexe und wenn du nicht aufpasst, verwandle ich dich in einen Frosch!“, rief sie mit funkelnden Augen.
Sie erhob sich, nahm ihre Tasche und bahnte sich einen Weg durch die Mädchen, die ihr eiligst versuchten, aus dem Weg zu gehen.
Mit einem triumphierenden Lächeln verließ Eliya das Klassenzimmer, doch wusste sie, dass sie einen großen Fehler begangen hatte, den sie in naher Zukunft würde büßen müssen. Ein leiser Seufzer entrann ihrer Kehle, als sie daran dachte, welche Gemeinheiten sie nun im Gegenzug wieder über sich ergehen lassen musste.
Sie blieb einen Moment an der Schwelle der Außentür stehen und blickte in den Himmel, ehe sie sich auf den Heimweg machte.
Es wurde Frühling, bemerkte Eliya, denn die Blüten der Bäume begannen allmählich aus ihren Knospen hervorzubrechen.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und sie beschloss, einen Umweg zu gehen, der sie durch den nahen Wald führen würde.
Eliya fühlte sich von der Natur angezogen, seit sie denken konnte.
Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas oder jemand, den sie nicht sehen konnte, sie zu rufen schien und jedes Mal, wenn sie jenem Ruf Folge leistete, fand sie sich in den Wäldern außerhalb ihrer Stadt wieder und der Ruf verstummte.
Manchmal fragte sie sich, ob ihr Verstand ihr nur einen Streich spielte, um so die Einsamkeit in ihrem Herzen zu vertreiben.
Sie hatte niemanden. Niemanden an ihrer Seite, dem sie vertrauen konnte; niemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte oder der ihr tröstende Worte spendete.
Sie war allein.
Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen.
„Warum zerbreche ich mir darüber immer wieder den Kopf?“, murmelte sie kaum hörbar und runzelte die Stirn. „Ich sollte mich lieber freuen und die Momente des Friedens genießen …“
Sie nickte, um ihre Worte zu bekräftigen und setzte ihren Weg durch den blühenden und nach Blüten duftenden Wald fort.
Das leise Rauschen der Blätter im Wind und das helle Sonnenlicht, das zwischen den dichten Bäumen vereinzelt den Erdboden erreichte, gaben Eliya das Gefühl, in eine andere Welt abzutauchen. Der sich ihr bietende Anblick hatte etwas Magisches an sich, fand sie und je mehr sich ihre Gedanken bei diesem wundervollen Bild verloren, umso befreiter fühlte sie sich. Sie sog die süße Frühlingsluft tief in ihre Lungen und atmete sie langsam wieder aus.
Ihr Blick ging gen Himmel und ein erfülltes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Langsam drehte sie sich im Kreis und genoss das unbeschreiblich befreiende Gefühl, das sie durchströmte.
‚Ich bin zu Hause‘, dachte sie verträumt und schloss die Augen.
Kein anderer Ort, den sie kannte, gab ihr so sehr das Gefühl willkommen zu sein als dieser Wald und sie wünschte, ewig dort verweilen zu können. Fern der Zivilisation, fern allen Kummers.
Doch als es schließlich zu dämmern begann, beschloss Eliya schweren Herzens nach Hause zu gehen. Sie hatte ja doch keine andere Wahl. Wohin sollte sie sonst gehen?
Sie schluckte schwer und ließ den Kopf hängen.
Je mehr sie an ihre Zukunft dachte, umso weniger wusste sie, wie sie in dieser ihr feindlich gesinnten Welt alleine überleben sollte. Sie dachte angestrengt nach, doch dann schüttelte sie nur den Kopf und lächelte gequält. Jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken.
Die Sonne verschwand langsam hinter dem fernen Horizont und schickte einen letzten Lichtstrahl in ihre Richtung. Vor ihr stand das kleine, weiße Haus mit dem bunten Blumenmeer in seinem Vorgarten, in dem sie mit ihren Eltern lebte und das darauf wartete, dass sie näherkam und schließlich eintrat. Auch wenn ihre Eltern sie nie willkommen hießen oder verabschiedeten, wenn sie des morgens zur Schule ging, das kleine Häuschen tat es, spürte Eliya.
Wie jeden Tag öffnete sie also die Haustür, warf einen letzten Blick die Straße entlang, ehe sie eintrat und schloss die Tür dann so leise sie konnte.
Sie horchte auf und runzelte die Stirn. Zu ihrer Überraschung schien niemand zu Hause zu sein.
Neugierig schritt Eliya Richtung Wohnzimmer. Ihre Schultasche ließ sie am Treppenabsatz zurück.
Vorsichtig spähte sie durch den schmalen Türschlitz ins Wohnzimmer hinein.
Nichts rührte sich und niemand war zu sehen. Eliya legte fragend den Kopf schief. Dann öffnete sie die Tür und trat ein.
Wo waren ihre Eltern, die sonst jeden Abend, wenn sie nach Hause kam, im Wohnzimmer saßen und sich unterhielten, abgeblieben?
Sie setzte ihre Suche fort.
In der Küche angelangt, fand sie einen kleinen Zettel auf dem Tisch vor und sie blinzelte verwundert.
Wir sind für ein paar Tage verreist.
Sieh zu, dass du kein Chaos anrichtest und alles in Ordnung hältst.