Die Traumfängerin - Constanze Beck - E-Book

Die Traumfängerin E-Book

Constanze Beck

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Beschreibung

"In diesem Moment ist ein Traum geboren. Er leuchtet in meinem Inneren so klar, dass kein Zweifel besteht. Ich bereise die Welt. Erlebe ihre Vielfältigkeit hautnah, werde berührt von ihrer Schönheit und der Warmherzigkeit ihrer Menschen. Immer auf der Suche nach dem Wesentlichen, weil nichts anderes zählt. Ich sitze mitten in der Fremde und erlebe, wie diese zu meiner Heimat wird. Und ich werde darüber schreiben. Über all die Wunder, die geschehen, wenn man sein Herz dem Unbekannten öffnet." Eine wahre Geschichte über Träume, die Wirklichkeit werden - vier Wochen Abenteuer im ägyptischen Sinai.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Constanze Beck wurde 2001 in Wuppertal geboren und reiste nach dem Abitur durch Marokko und Südeuropa. Ein Jahr des Ethnologie Studiums in Leipzig bestärkten sie darin, die Welt hautnah statt in Hörsälen erfahren zu wollen, weshalb sie das zweite Semester des Studiums für das Schreiben dieses Buches nutzte und Richtung Spanien aufbrach.

Alle Wege führen nach Hause.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

11.01.2022

Dahab I

19.02.2022

Nuweiba I

21.02.2022

24.02.2022

25.02.2022

Dahab II

Nuweiba II

04.03.2022

07.03.2022

07.03.2022

Die Wüste

Die erste Nacht

Die zweite Nacht

Dahab III

11.03.22

Nachts

13.03.22

Nuweiba III

Rückflug

Epilog

16.03.22

Nachwort

Prolog

Rosarötlich schimmernde Bergspitzen vor hellblauem Himmel segnen mein inneres Auge, als ich diese Nacht träume.

In mir regt sich kein einziger Gedanke, während ich zu ihnen in die Ferne blicke; allein das Genießen dieses Augenblicks an einem mir so fremden und doch tief vertrauten Ort erfüllt die Stille des Moments.

Ich erwarte einen Bus, der mich abholt; habe nirgendwo anders zu sein, als hier.

Da spüre ich die sanfte Brise der Liebe im Rücken, ich drehe mich um und empfange eine Umarmung, die sich so nah und wirklich anfühlt, dass mich die Wärme in meinem Herzen den ganzen Tag darauf begleitet; mich ahnen lässt, dass die Welt der Träume manchmal echter und dem wahren Leben näher zu sein scheint als der Moment, in dem wir unsere Augen wieder zu öffnen glauben.

11.01.2022

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so sehr auf etwas gefreut habe wie auf Ägypten. Wenn ich daran denke, wie ich in einem Monat dort landen werde, füllt sich jede Zelle meines Körpers mit Glück. Es fühlt sich jetzt schon an, als würde dieser Ort ein ganz besonderer in meinem Leben werden. Als würde ich dort Momente erleben, die mich für immer mit Liebe nähren. Und ich weiß das, weil sie mein Herz schon jetzt erreichen und erwärmen. Weil das Universum für genau diese Momente existiert.

Jeden grauen Tag in Deutschland überlebe ich, weil mein Herz schon jetzt die Strahlen der ägyptischen Sonne empfängt.

Und unbeschreiblich schönes ahnt.

Dahab I

Als mich der Taxifahrer mitten auf der Straße in Dahab absetzt, weiß ich nicht, wo ich bin - und liebe es.

Grinsend beobachte ich das lebendige Treiben um mich herum – hupende Autos, die sich an angeschobenen Obstwagen, spielenden Kindern und vor sich her trottenden Hunden entlang schlängeln. Lachende Menschen, farbenfrohe Läden, ein wildes Chaos, auf das die Sonne beständig und gutmütig hinab scheint.

Mit jedem neuen Eindruck seufzt mein Herz vor Erleichterung, endlich die Sehnsucht nach Ferne und Freiheit erfüllt zu ahnen. Dem Rauschen des Meeres folgend biege ich in eine kleine Seitenstraße ein, in der sich die Cafés an der Küste entlang aneinanderreihen.

Der tiefblaue Ozean zieht mich nahezu magisch an; ich entdecke ein kleines Stück Strand, an das ich mein Gepäck und mich selbst absetze und in tiefen Zügen im Rhythmus der Wellen atme. Unweigerlich muss ich lächeln, als ich realisiere, dass ich nun irgendwo in Ägypten gelandet bin, wo mich keiner kennt, wo ich keinen kenne – und am liebsten würde ich jetzt nach meinem Handy greifen und es hinaus in die tanzenden Wellen und den tobenden Wind werfen, unerreichbar und unbezwingbar werden, um für immer in diesem Gefühl der Freiheit, nichts tun zu müssen, einfach sein zu dürfen, bleiben zu können.

Ich liebe es, nicht zu wissen, was im nächsten Moment passiert, und dafür auch keine Verantwortung zu haben. Der natürlichen Entfaltung des Lebens nicht im Weg zu stehen.

Auf Reisen lässt sich dieser wundersame Fluss des Lebens hautnah erfahren – was passiert, wenn ich mein Bedürfnis, die Zukunft zu kontrollieren, ablege und mich in den natürlichen Lauf der Dinge fallen lasse, mich jeden Moment aufs Neue erwartungsfrei dem hingebe, was ist?

Werde ich anfangen zu finden, wenn ich aufhöre zu suchen?

Im Routine gesteuerten Leben, das ich aus Deutschland kenne, gibt es kaum Platz mehr für die Kreativität des Universums.

Nahezu alles ist erwartbar, alles Ungewisse wird zu kontrollieren versucht – als könnten wir die unendliche Kraft des Lebens bändigen. Nein, ich bin nicht auf diese Erde gekommen, um mich in meinen vier Wänden bequem einzumauern und brav das zu tun, was schon alle vor mir getan haben, die nun bequem in ihren vier Wänden eingemauert sitzen und sich trotz aller Mühe mit jedem Tag unsicherer zu fühlen scheinen.

Meine Welt braucht keine Wände; ich brauche mich nicht vor dem Leben zu beschützen, das ich selbst bin. Ich möchte mich mit Haut und Haaren hineinwerfen, spüren, dass mein Herz nicht umsonst schlägt, mich rückhaltlos hineinfallen lassen – denn wenn es keinen Boden gibt, wird Fallen zu Fliegen. Und den Boden im Universum muss mir erst noch jemand zeigen.

Nach zeitlosen Momenten der angenehmen Selbstvergessenheit und dem widerwilligen Entschluss, mein Handy lieber doch erst einmal zu behalten, mache ich mich auf die Suche nach der Unterkunft, in der ich meine Freunde Hanna und Sean wiedersehen werde. Die beiden hatte ich im Sommer letzten Jahres in Portugal kennengelernt und ab dem ersten Moment in mein Herz geschlossen. Mein Wunsch, sie wiederzusehen, wurde erfüllt, und so landeten wir alle zur gleichen Zeit in Dahab, einem Küstendorf im Süden der Sinai Halbinsel.

Während ich im Zimmer des Hostels, in dem wir die nächsten Tage verbringen werden, auf die Ankunft der beiden warte, spüre ich mein Herz rasen vor Nervosität.

Manchen Menschen kann man so viel Bedeutung verleihen, dass es einem Angst macht. Besonders, wenn man sich selbst nicht dieselbe Menge an Bedeutung zugesteht. Mit tiefen Atemzügen versuche ich, mein rasendes Herz zu besänftigen und die Nervosität in Vorfreude umzudeuten, am Grund meiner Angst die Liebe zu entdecken.

Als ich vor der Tür dumpfe Stimmen vernehme, die sich ganz nach denen anhören, die ich so lange so sehr vermisst hatte, werde ich aus dem Gedankenkarussell zurück in die Wirklichkeit gerissen und öffne strahlend die Tür, falle Hanna und Sean ohne große Worte in die Arme. Und plötzlich spielt es gar keine so große Rolle mehr, was ich fühle und warum; ich bin einfach nur froh, hier zu sein.

Zu Abend essen wir Pizza und Pasta inmitten der vor Leben sprühenden Straßen Dahabs, die mit dem Einbruch der Nacht erst wirklich aufzuwachen scheinen; doch uns allen fallen bald die Augen zu, und so gleite ich selig lächelnd in einen tiefen Schlaf. Warm zugedeckt von den Klängen Clair de Lunes, Seans ruhigen Atemzügen, Hannas gedankenverlorenem Summen und der Erleichterung, sich nach langer Zeit wieder am richtigen Ort zu wissen.

Am nächsten Morgen werde ich geweckt von Hundebellen, Vogelzwitschern, einer Brise Wind, die sich durch die angelehnte Tür ihren Weg zu mir bahnt und mich sachte einlädt, ihr in die Morgensonne zu folgen. Widerstandslos folge ich ihr hinaus vor die Tür, nehme das von Sonne und Schatten umspielte Blätterdach über mir mit noch verschlafenen Augen wahr wie im Traum.

Ein paar Meter weiter entdecke ich Hanna, wie sie über ihren Ordner gebeugt zu lernen versucht. Ihre Augen wandern immer wieder zum Meer.

Ich setze mich zu ihr und spüre die Nervosität sich wieder wie einen schweren Schatten um mein Herz legen. Ein Schatten, der aus Deutschland mit mir mitgereist ist, den ich noch nicht richtig benennen kann.

Der Graben zwischen dem, wie ich mich fühle, und dem, wie ich mich meiner Meinung nach fühlen sollte – der Widerstand gegen den Moment, den ich mir selbst schaffe - ist mir so unerträglich, dass ich durch das Aussprechen meiner Gedanken eine Brücke darüber zu schlagen versuche:

„So froh und dankbar ich auch darüber bin, hier zu sein – irgendwie kann ich es noch nicht genießen, mich nicht fallen lassen. Die vertrauensvolle Reise-Conni ist noch nicht in mir angekommen, ich stecke noch total in meinem Kopf“ Schon bevor Hanna die nächsten Worte ausspricht, werde ich von ihrer erfrischend unbekümmerten Art beruhigt, in ihrer Leichtigkeit verlieren meine Gedanken an Ernsthaftigkeit:

„Weißt du, Conni… das Schöne hier an Dahab ist, dass du nichts planen musst, nichts machen... alles kommt hier ganz von selbst zu dir. Alles, was du brauchst.“

Sie tauscht ihren Lernordner gegen ihr Tagebuch aus, in dem sie an einer Skizze weiterzuzeichnen beginnt. In geschwungenen Buchstaben breiten sich die Worte „48% nur fürs Nachdenken“ über die Seite aus.

„Was bedeutet das? 48% nur fürs Nachdenken?“, frage ich nach.

„Das meinte der Tauchlehrer von meinem Free Diving Kurs.

Dass 48% des Sauerstoffs, der deinem Gehirn unter Wasser zur Verfügung steht, nur fürs Denken verbraucht wird. Das hat man auch total gespürt. Sobald du über das, was du tust, nachdenkst, sobald du innehältst und zögerst – gerätst du in Panik, geht dir die Luft aus. Wenn du nicht denkst, sondern einfach machst, ist es ganz einfach.“

Da macht etwas in mir Klick, und in meinem Kopf entspannt es sich. Die 48% lassen sich wesentlich besser nutzen als für zielloses Grübeln.

In diesem Moment taucht Sean mit zwei großen Orangen und einem Messer auf. Während wir uns die Orangen in der Sonne schmecken lassen, packt es mich. Das Meer, die Berge, das Geheimnis noch unentdeckter Wege. „Ich bin in fünf bis zehn Minuten zurück…“, sage ich und erhebe mich von meinem Strohstuhl, „… ich schaue mal, wohin die Straße hier führt“ Und je mehr ich mich vom Camp entferne, desto mehr zieht sich auch die Anspannung in mir zurück, löst sich auf in den vielen neuen Eindrücke dieses fremden Ortes, die sich mir offenbaren. Die verschiedenen Blautöne des Meeres zu meiner rechten, bunte Strandhäuser zu meiner linken, die verträumte Erhabenheit der rötlichen Berge des Sinai Gebirges in undefinierbarer Nähe oder Ferne, der sandfarbene, sonnengebleichte Boden unter meinen Füßen, die mich mit jedem Schritt ein Stück mehr aus meinem Kopf hinaus in die Wirklichkeit tragen. Die von solch einer Schönheit und Intelligenz durchdrungen scheint, dass jegliche Sorge zurück in ihre Substanzlosigkeit zerfließt.

Der Anblick von lachenden Kindern, die sich Autoreifen hin und her rollen, erfüllt mich durch seine Einfachheit und Echtheit mit einem tiefem Frieden.

Ich setze mich in den Sand, kraule das warme Fell eines Hundes, der auf mich zugetrottet kommt, und als die Kinder plötzlich die Reifen fallen lassen und völlig gebannt einen Vogel über ihnen beobachten, der das Kunststück, mit Hilfe des Windes bewegungslos mit ausgebreiteten Flügeln an derselben Stelle zu verharren, vorführt, mache ich ein inneres Foto von diesem Augenblick, der so reich an purem, präsenten Leben ist.

Erfreut vernehme ich helle Gitarrenklänge, die der Wind aus der Ferne zu mir trägt. Wie kleine Tropfen tanzen die gezupften Töne zu mir herüber, ich lasse mich von ihrem Spiel verlocken und blicke mich suchend um, bis ich einige Meter weiter im Sand den Ursprung der Musik ausmache. Zwei Menschen sitzen im Schatten einer provisorisch zusammengebauten Steinwand, und als ich zu ihnen stoße, strahlt mich der Musiker mit einem „You’re welcome!“ an, ohne sein Spiel dabei zu unterbrechen. Sein gitarrenähnliches Instrument ist mir unbekannt, und als ich ihn gerade danach fragen will, weil er sein Lied beendet hat, sagt er in brüchigem Englisch: „Das ist eine Ud, die Gitarre der Beduinen. Und ich bin Salim, nice to meet you!“

Salim erzählt mir, dass er die Ud schon spielt, seit er ein Kind ist, und in seinem unbeschwerten Tanz über die Saiten schwingen Geschichten alter Wüstennomaden mit, die keiner Worte bedarfen. Welchen schöneren Weg gibt es, eine Kultur kennenzulernen, als über die zeitlose Kraft ihrer Musik?

Darum dauert es nicht lange, bis ich selbst die Ud in meinen Händen halte und Salim mir eine kurze Tonabfolge beibringt, die beinahe schon klingt wie ein Lied. In solchen Momenten stelle ich mir mein Leben gerne aus der Vogelperspektive vor – wie ich hier von Bergen und Meer umrandet im Schneidersitz im Sand sitze und ein Instrument spiele, das ich vor einigen Minuten noch nicht einmal kannte, beigebracht von einem der hier lebenden Wüstennomaden, über deren Leben ich noch so vieles herausfinden möchte. Ihre Musik gibt mir bereits einen ersten Einblick in die Freiheit und Ursprünglichkeit ihrer Seelen, Salims selbstverständliche Offenheit mir gegenüber in die Großzügigkeit ihrer Herzen.

Als ich mich dazu entscheide, mich langsam wieder auf den Rückweg zum Camp zu machen, bietet Dolba, der dritte unserer Runde, mir an, mich zu fahren. In Aussicht auf weitere unbekannte Straßen, die ich auf diesem Weg entdecken würde, nehme ich sein Angebot dankend an und lasse mich auf den Beifahrersitz seines Pick Ups fallen.

Auf der Fahrt erzählt mir Dolba mehr über den Stamm der hier im Sinai lebenden Beduinen. Sie leben abwechselnd im Dorf und in ihren Zelten in der Wüste; gerade jetzt befinden sich viele dort, um ihre Ziegen mit den begehrten Frühlingspflanzen zu füttern. Als ich erwähne, dass ich noch nie in der Wüste war, fragt mich Dolba, ob ich Lust auf einen kleinen Abstecher hätte. Ob es eine gute Idee ist, mit jemandem, den man gerade erst kennen gelernt hat, in die Wüste zu fahren? Ich schaue Dolba an, der um die zwei Jahre jünger als ich wirkt und vorhin noch schweigend die Musik mit uns genossen hat, und mein Bauchgefühl sagt, dass ich vor diesem Menschen keine Angst zu haben brauche. Mit einem vorfreudigen Grinsen klatsche ich einmal in die Hände und rufe: „Yallah!“

Das Zuknallen der Autotür ist das letzte Geräusch, das ich vernehme, bevor ich unwiederbringlich der Stille der Wüste verfalle.

Einer Stille, die erfüllt; einen Ort tief in mir berührt, an den weder Worte noch Gedanken reichen. In diesem einen Moment scheine ich bereits die Magie der Wüste begriffen zu haben; mehr als das ist nicht nötig, um mich von ihrem Geist verzaubern zu lassen.

Jedes Sandkorn, jeder Fels, jede Pflanze ist von einer Reinheit durchdrungen, die mich vor stiller Intensität nahezu ehrfürchtig werden lässt. Am liebsten würde ich mir einen Platz für mich alleine suchen, um die Augen zu schließen und zu erforschen, was die Stille mit mir macht, wenn ich sie länger auf mich wirken lasse.

Doch Dolba bedeutet mir, ihm zu folgen, und so knirschen wir Schritt für Schritt durch die links und rechts neben uns hochragenden Steinfelsen. Ich bin überrascht davon, wie viele verschiedene Pflanzen hier wachsen, dachte ich aus Erzählungen doch immer, in der Leere der Wüste hätte kein Leben eine Chance.

Doch hier und jetzt werde ich des Gegenteils belehrt, als ich bestaune, wie grünglitzernde Blumenstängel auf rauem Stein wachsen, zarte Bäume Schatten spenden, ohne selbst welchen zu haben. Dolba hockt währenddessen auf dem Boden und zupft Kräuter aus dem Sand: „Aus denen kann man sehr leckeren und gesunden Tee machen. Wir können ein bisschen mitnehmen, falls du hier mal Bauchschmerzen bekommst“ Gerührt hocke ich mich neben ihn und zupfe, streiche über die winzigen, weichen Blätter – jeder Moment hier wird zur Meditation.

Mit Kräutern in der Hand und Demut im Herzen setzen wir unseren Weg fort und Dolba beweist, dass die Wüste sein zu Hause ist.

Zu jeder Pflanze kann er mir ihre heilende Wirkung sagen, durch einen Blick in die Spuren des Sandes herausfinden, wo es Wasser gibt und welche Tiere in unserem Umkreis sind.

Jede meiner Fragen beantwortet er mit Leichtigkeit, und so beeindruckt ich von seinem Wissen bin, so absurd kommt mir plötzlich meine eigene Unwissenheit vor – wie kann es sein, dass mein Intellekt in Deutschland 12 Jahre lang ausgebildet wurde, doch mir nie jemand erklärt hat, mich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, die direkt vor meinen Augen liegt?

Wie viel unmittelbares Verständnis vom Leben geht dabei verloren, wie viele Schätze der Natur und unserer Selbst bleiben dabei unbeachtet?

Dolba ist wie viele Beduinenkinder nie zur Schule gegangen und sprüht doch vor tiefem Wissen über eine Lebenswelt, in der ich wohl innerhalb eines Tages komplett verloren gehen würde.

Als wir wieder in der Hocke Kräuter sammeln, sagt er plötzlich: „Mein Bruder hat den Tee dieser Kräuter immer gerne getrunken. Vor einem Monat ist er im Meer ertrunken.“

Mein Herz stockt, ich blicke vom Boden zu ihm hinauf und bekomme bloß ein gestammeltes „I’m… very sorry“ heraus.

Doch er zupft unbekümmert weiter, sagt: „Nein, das muss dir nicht leid tun. Das ist das Leben. Wir werden geboren, wir sterben. Hier kommt der Tod meistens unerwartet, wir stellen ihn nicht in Frage, wehren uns nicht gegen ihn“ Ich nicke zustimmend, mal wieder beeindruckt von der widerstandslosen Hingabe zum Leben, die hier herrscht.

Dennoch kann ich den Schatten nicht übersehen, der nun seine Augen trübt.

„Dolba, was macht die Wüste mit dir?“, frage ich ihn vorsichtig, „Was gibt sie dir?“

Der Schatten lichtet sich ein wenig, als er erzählt: „Eines Nachts, ein paar Tage nach dem Tod meines Bruders, bin ich hierher gekommen, und ich habe eine Stimme gehört…“ Er macht Geräusche nach, die wie das Heulen eines Geistes klingen.

„… und sie hat mich gut fühlen lassen, sicher.“

„War es ein Tier? Ein Mensch? Etwas anderes?“, frage ich nach.

„Wir nennen es Dschinn. Ich habe ihm zugehört, bis ich eingeschlafen bin.“

Auf der Rückfahrt machen wir noch kurz Halt, um kleine, gefällte Bäume als Futter für die Ziegen von Dolbas Familie mitzunehmen. Auf der Ladefläche des Pick Ups überragen sie die Länge des Autos. Nur mit viel Fahrgefühl, Rücksichtslosigkeit und einigen abenteuerlichen Sekunden im Gegenverkehr schaffen wir es zu seiner Familie, die ebenfalls in Dahab wohnt. Herzlich werde ich dort auf einen Tee eingeladen, und als ich dort im Schneidersitz auf dem Teppich sitze, in die tiefbraunen Augen und warmen Lächeln der Menschen sehe, einen Schluck des heißen und süßen Tees nehme – da atmet mein Herz auf vor erfüllter Sehnsucht. Ich werde zurückversetzt in eine Zeit, die jeden weiteren Schritt in meinem Leben geprägt hat, doch darum soll es an anderer Stelle gehen.

Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen, als ich Hanna und Sean nach meinem „fünf bis zehnminütigen Spaziergang“ wiederbegegne und ihnen in einigen Sätzen erzähle, was ich erlebt habe. „Adventure is following you, girl“, entgegnet Sean da nur lachend.

Mit ihm spiele ich später am Tag Gitarre, als sich die Sonne bereits dem Horizont entgegen neigt und die Berge mit einem hauchzarten Rosa umhüllt, das sich mit den schimmernden Blautönen des Meereswassers vermischt. Ich frage mich, ob daher der Name des Roten Meeres kommt ( - tut er nicht). Den letzten Hauch des Abendlichtes beschließt Sean, meditierend am Strand zu genießen, und so setze ich mich neben ihn und merke, wie gut es tut, der hinter den Bergen untergehenden Sonne meine Gedanken mitzugeben. Gemeinsam mit den müde gewordenen, vor sich hin plätschernden Wellen atme ich die vielen Eindrücke des Tages aus und die Unberührtheit des gegenwärtigen Moments ein. Und als ich mich aus der Meditation löse und meinen Kopf zu Sean drehe, erwacht auch dieser aus seiner Trance und lächelt mich beseelt aus Augen an, in deren klaren Glanz sich eine Schönheit spiegelt, die aus den Tiefen unseres puren Wesens zu kommen scheint.

Am späten Abend sind wir zu einer kleinen Hausparty bei zwei ägyptischen Freunden, die Hanna und Sean von ihrer letzten Ägyptenreise kennen, eingeladen. Es folgen Stunden voller Tanz, Unsinn und Lachkrämpfe, und ich spüre, dass ich genau das gebraucht hatte. Manchmal vergesse ich, dass ich nicht jeder Sache im Leben auf den Grund zu gehen brauche; dass ein Leben ausschließlich in Tiefe kein Leben in Gänze ist.

Irgendwann sitze ich Trommel spielend mit „I’M COOL“ Neonsonnenbrille auf dem Boden, während mich der Gastgeber auf einer verstimmten Ud begleitet, Sean sich im Hola Hoop probiert und Hanna mich lachend nach meinem Handy fragt; sie müsse ein besonders lustiges Zitat vom Gastgeber einspeichern.

Wir lassen die wilde Nacht bei einem entspannten Lagerfeuer im Garten ausklingen.

„Achtung, jetzt kommt ein melancholischer Song aus Österreich“, warnt uns Hanna vor.

Ich schließe mich der Reihe melancholischer Songs an und lasse im Anschluss „Glück“ von Herbert Grönemeyer spielen.

Und als ich von den Flammen zu Hanna blicke, die neben mir sitzt, sammeln sich in meinen Augen Tränen. Weil in diesem Moment das Glück, von Menschen umgeben zu sein, die ich so lieb habe, jegliche Angst, fehl am Platz zu sein, in den Schatten stellt.

Tränen vor Dankbarkeit, Nervosität, Erleichterung.

Als Hanna mein leises Schluchzen mitbekommt, nimmt sie mich in den Arm und sagt: „Ach Conni, wir weinen doch nicht wegen Herbert Grönemeyer“ und da kann ich nicht mehr unterscheiden, ob sich mein Körper vor Lachen oder Weinen schüttelt.

Mit am meisten hier in Dahab genieße ich meine morgendlichen Spaziergänge im Schlafanzug durch die Straßen. Immer gibt es etwas zu entdecken, das nächste Abenteuer wartet nur hinter der nächsten Ecke. Spontan beschließe ich, Dolbas Familie einen kurzen Besuch abzustatten und biege von der Hauptstraße voller Cafés und Shops in eine der kleinen Seitenstraßen ein, die zu den Häusern der Einheimischen führen. Dort spielt gerade eine Gruppe an Kindern mit Murmeln. Geschickt schnippen sie mit der Murmel in ihrer Hand einen Haufen anderer Murmeln auseinander, ziehen Linien in den sandigen Boden, messen mit ihren kleinen Händen konzentriert bestimmte Abstände. Ein paar Momente, nachdem ich stehen geblieben bin, um die interessante Szene zu beobachten, werde ich auch schon von einem der Mädchen heran gewunken. In ihrer offenen Handfläche hält sie mir eine Murmel entgegen, deutet mit ihrem anderen Zeigefinger darauf und dann zu den anderen Murmeln im Sand. Mit Händen und Füßen geben die Kinder weiterhin ihr Bestes, um mir das Spiel zu erklären, da sie kein Englisch und ich kein Arabisch spreche – doch dass es auch eine Sprache jenseits von Worten gibt, wurde mir auf meinen Reisen schon oft bewiesen. Zwischendurch bricht ein kleiner Streit zwischen den Kindern aus, weil es anscheinend nicht genug Murmeln gibt.

Als ich „Shop?“ in die Runde frage, nehmen zwei der Mädchen meine Hand und führen mich zu einem Laden um die Ecke, wo ich für umgerechnet 25ct eine neue Tüte Murmeln kaufe. Wir spielen bestimmt eine Stunde lang, da läuft uns ein junger Mann über den Weg, der einen der kleinen Jungs zu kennen scheint. Wir begrüßen uns, und als ich bemerke, dass er gutes Englisch spricht, kommen wir ins Gespräch. Sein Name ist Nader.

„Als Kind habe ich hier auch immer mit meinen Freunden gespielt. Damals konnte ich von hier noch den ganzen Tag über die Sonne sehen, ohne, dass sie von Gebäuden verdeckt wurde“

Weil wir beide hungrig sind, gehen wir gemeinsam in einem Falafelladen zu Mittag essen. Ich frage ihn, woher er kommt, ob auch er zum hier lebenden Beduinenstamm gehört.

„Ja, wir sind Beduinen. Meine Familie hat viele Kamele, mit denen wir oft Safaris durch die Wüste für Touristen machen.

Seit ich klein bin, lebe ich mit ihnen. Sie sind meine Freunde, weißt du? Später werde ich nach meinem eigenen Kamel sehen – wenn du magst, kannst du gerne mitkommen“ Nader strahlt eine Art Ruhe, ein unerschütterliches Vertrauen aus, das wohl nur Menschen haben können, die mit dem Geist der Wüste aufgewachsen sind. Er versteht es, zu schweigen, Raum zu geben, und so nehme ich sein Angebot mit einem guten Gefühl an.

Ein paar Stunden später sitze ich auf der Rückbank seines Autos, kurbele das Fenster vollständig herunter und halte mein Gesicht grinsend in den Wind. Wir haben Dahab verlassen und fahren nun auf der Schnellstraße, der blaue Ozean zieht an uns vorbei und seine Weite spiegelt die Weite meiner eigenen Seele wider. Sie atmet Freiheit.

Die Sonne steht bereits tief, als wir den Eingang der Wüste erreichen. Vier Beduinenmänner sitzen auf zusammengeflochtenen Höckern und spielen Karten, einige Meter entfernt von einem großen, abgezäunten Bereich, in dem sich um die zehn Kamele befinden. Es ist eine schöne Szene, friedlich, und ich bin dankbar dafür, hier so unverhofft gelandet zu sein.