Die Türkei unter Erdoğan. Wie sich das Land von der Demokratie und vom Westen verabschiedet hat - Dimitar Bechev - E-Book

Die Türkei unter Erdoğan. Wie sich das Land von der Demokratie und vom Westen verabschiedet hat E-Book

Dimitar Bechev

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erdoğan gewinnt die Wahl – wie die Türkei wurde, was sie heute ist und was das für Europa bedeutet


»Ein erhellendes Buch und sehr zu empfehlen.«

Susanne Güsten, Andruck – Das Magazin für Politische Literatur, Deutschlandfunk

Seit seiner Machtübernahme 2002 hat Recep Tayyip Erdoğan einen radikalen Wandel in der Türkei eingeleitet. Das Land, das einst eine Säule des westlichen Bündnisses war, betreibt eine militaristische Außenpolitik, die sich von Bergkarabach bis Libyen in regionale Krisenherde einmischt. Sein früheres demokratisches Streben, u. a. um eine EU-Mitgliedschaft, ist einer gefährlichen Ein-Mann-Herrschaft gewichen.

Der renommierte Politologe Dimitar Bechev zeichnet den politischen Werdegang von Erdoğans populistischem Regime nach. In einer Geschichte verpasster Gelegenheiten, erodierter Beziehungen, wirtschaftlicher Rückschritte und fataler Abhängigkeiten untersucht er, wie sich die Türkei von den USA und Europa entfernte, sich Putins Russland näherte, in Afrika um eine Vormachtstellung ringt und ein schwaches demokratisches Regime durch ein autoritäres ersetzte. Bei all den Fäden, die die moderne türkische Geschichte durchziehen und verbinden, haben die Herrschaft des starken Mannes und die AKP-Ära dem Land ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt – das Land entwickelt sich zur Autokratie.

Über die Zukunft der Türkei und eine beunruhigende Entwicklung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 584

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Turkey Under Erdoğan« bei Yale University Press, London

© 2022 Dimitar Bechev © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg nach einem Originalentwurf von Mecob Coverabbildung von Aris Papadopoulos/Süddeutsche Zeitung Photo E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749906178www.harpercollins.de

VORWORT ZUR DEUTSCHEN ERSTAUSGABE

Europa befindet sich inmitten des größten und schwersten militärischen Konflikts seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann – ein Datum, das in die Geschichtsbücher eingehen wird –, hat die europäische Sicherheit auf den Kopf gestellt. Mit massiver Unterstützung der USA und ihren europäischen NATO-Verbündeten haben die Ukrainer dem russischen Angriffskrieg getrotzt und um das Überleben ihres Staates und ihrer Nation gekämpft.

Auch die Türkei hat sich aktiv an dem Drama beteiligt, das sich vor unseren Augen abspielt. Die Waffen, die sie an die ukrainischen Streitkräfte geliefert hat, wie zum Beispiel die vielbeachteten Bayraktar-TB2-Drohnen, haben in der Anfangsphase des Krieges in der Schlacht um Kiew einen Unterschied gemacht. Die türkische Regierung hat sich jedoch nicht auf die Seite der Ukraine geschlagen, sondern sich für eine neutrale Haltung entschieden. Auch den westlichen Wirtschaftssanktionen hat sich Ankara nicht angeschlossen, ähnlich wie in den Jahren 2014/15. Die türkischen Exporte nach Russland stiegen sprunghaft an, was vermuten lässt, dass die Türkei Ländern, die die Sanktionen umgehen möchten, eine Hintertür bietet. Ankara erhob zudem Bedenken gegen den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, mit der Begründung, sie würden kurdische Kämpfer beherbergen. Diese Verzögerungstaktik war zwar durch innenpolitisches Kalkül der Türkei bedingt, kam aber Russland zugute. Im Gegensatz zu westlichen Staatsoberhäuptern wandte sich Erdoğan nicht gegen den Kreml und setzte seine Treffen und Telefonate mit Putin fort. Seine Bemühungen als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine trugen Früchte: Juli 2022 erzielten Diplomaten eine Einigung, die die Wiederaufnahme der Getreideexporte aus dem ukrainischen Hafen von Odessa ermöglichte. Weizen und Mais aus der Ukraine gelangen nun vor allem in die muslimisch geprägten Länder des Nahen Ostens, Nordafrikas und südlich der Sahara, für die die Türkei eine Führungsrolle anstrebt.

Die neutrale Haltung der Türkei in diesem Krieg spricht für die Vision der Türkei als unabhängiger geopolitischer Akteur und nicht als verlängerter Arm des Westens. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Haltung über die islamisch-nationalistisch geprägte Regierungselite hinausgeht. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass gut zwei Drittel der türkischen Bevölkerung Russland weiterhin als Partner betrachten. 1 Das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber den USA und, in geringerem Maße, gegenüber Europa prägt diese Haltung – und wird dies auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten tun. Gleichzeitig vertritt das Oppositionsbündnis – die sogenannte Sechsergruppe – die Auffassung, dass ein Neustart mit den USA und der EU sowohl möglich als auch wünschenswert ist. Die Regierung Joe Bidens ist ebenfalls bestrebt, die Türkei im Kampf gegen das Machtstreben Russlands weiterhin auf ihrer Seite zu wissen. Inwieweit eine künftige Nicht-AKP-Regierung den Kurs des Landes ändern würde oder könnte, ist fraglich. Es gibt Grund zu der Annahme, dass die Vorstellung über die schwindende globale Dominanz des Westens und den Aufstieg der Türkei in einer multizentrischen Welt tiefe Wurzeln geschlagen hat, in einem Land, das nun darauf besteht, bei seinem wahren Namen genannt zu werden: Türkiye.

In den letzten beiden Jahren hat sich die türkische Außenpolitik verändert. Ankara hat die Beziehungen zu Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel normalisiert. Gelder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien, die in die Zentralbank eingezahlt werden, stützen die angeschlagene Türkische Lira. Im November 2022 traf Erdoğan den ägyptischen Präsidenten Abdel Fatah El-Sisi und schüttelte ihm die Hand – ein Durchbruch angesichts der jahrzehntelangen Feindseligkeit zwischen den beiden Ländern seit dem Sturz der Muslimbruderschaft durch das ägyptische Militär im Jahr 2013. Die Normalisierung der Beziehungen zu Armenien schreitet ebenfalls voran. Nach der Niederlage in Berg-Karabach im Jahr 2020 ist die armenische Regierung der Ansicht, dass es sich nicht auf die Unterstützung Russlands verlassen kann und die Beziehungen zu anderen Ländern, einschließlich der Türkei, verbessern muss. Im Februar 2023 wurde die türkisch-armenische Grenze kurzzeitig geöffnet, um Lastwagen mit Hilfsgütern für die erd­bebengeschädigten Gebiete im Südosten der Türkei passieren zu lassen. Auch die türkisch-griechischen Spannungen haben sich abgeschwächt, da Außenminister Nikos Dendias nach dem Erdbeben in die Region Hatay reiste. Erinnerungen an die »Erdbebendiplomatie« von 1999 kamen hoch. Vor allem aber haben sich die Türkei und das syrische Assad-Regime mit Unterstützung und unter Vermittlung Russlands wieder angenähert. Alles in allem ist die Türkei gegenüber ihren Nachbarstaaten weit weniger konfrontativ als noch vor einigen Jahren. Das ist zwar keine Rückkehr zu den »Null-Problem«-Zeiten unter Ahmet Davutoğlu (der mittlerweile Vorsitzender der Oppositionspartei Gelecek Partisi ist), aber dennoch eine Entwicklung, die zu begrüßen ist.

Während ich dies schreibe, bereitet sich die Türkei auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vor, bei der Erdoğan gegen Kemal Kılıçdaroğlu antreten wird, der vor Kurzem zum Präsidentschaftskandidaten des Oppositionsbündnisses nominiert wurde. Dies verspricht ein enges Rennen zu werden. Die Beliebtheitswerte der AKP und Erdoğans sind auf einem historischen Tiefstand. Die desaströse Wirtschaftspolitik, die galoppierende Inflation, die nach offiziellen Angaben bei 85 Prozent liegt, möglicherweise aber noch viel höher ist, und die enttäuschende ­Reaktion auf die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar, bei der mehr als 50000 Menschen ums Leben kamen, haben der Regierung einen schweren Schlag versetzt. Kılıçdaroğlu mag nicht das Charisma Erdoğans oder gar des populären Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu haben, der ebenfalls als Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde, aber er macht dies durch persönliche Integrität wett. Da jedoch sowohl die Wahlbehörden als auch die Gerichte und die Medien mehrheitlich Erdoğan ergeben sind, ist der Wahlkampf alles andere als fair. Erdoğan wird höchstwahrscheinlich seine Macht nutzen, um den Sieg der Oppositionsparteien in der Großen Nationalversammlung zu verhindern. Darüber hinaus setzt sich das Oppositionsbündnis für die Wiederherstellung des parlamentarischen Systems und die Abschaffung des Präsidentialismus ein. Dafür bräuchte es allerdings die Unterstützung der kurdischen Wähler und müsste sich mit der pro-kurdischen HDP verbünden, der nun ein Verbotsverfahren droht.

Die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein Sieg Erdoğans könnte die Türkei weiter in eine Autokratie führen, bei der die letzten demokratischen Überbleibsel beseitigt würden. Ein Sieg Kılıçdaroğlus könnte einen demokratischen Neubeginn einleiten, auch wenn er sich um die großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme kümmern müsste, die er von Erdoğans Herrschaft erben würde. Ein knappes Wahlergebnis, bei dem sowohl Erdoğan als auch die Opposition den Sieg für sich beanspruchen würden, könnte zu einer Katastrophe führen. Schlimmstenfalls könnte der Türkei eine längere Zeit der Turbulenzen bevorstehen, mit Protestwellen, die an die Gezi-Kundgebungen von 2013 erinnern, wachsenden politischen und sozialen Spannungen oder gar gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Wenn ich in die Zukunft blicke, bleibe ich ein gemäßigter Optimist, was die Türkei betrifft. 2023 feiert das Land den hundertsten Jahrestag seiner Gründung durch Mustafa Kemal Atatürk. Der größte Trumpf des Landes sind nach wie vor seine Menschen – fleißig, zäh und widerstandsfähig gegenüber allen Widrigkeiten, seien es wirtschaftliche Notlagen, Naturkatastrophen, dysfunktionale staatliche Institutionen oder ein selbstsüchtiges politisches System. Dank ihrer Gesellschaft verfügt die Türkei über ein enormes Potenzial und wird sich wieder zu dem wirtschaftlichen und kulturellen Kraftzentrum entwickeln, das sie in den 2000er- und frühen 2010er-Jahren war. Letztendlich wird auch die Demokratie zurückkehren. Doch wie ich in »Die Türkei unter Erdoğan« zeige, wird sie nicht mehr dasselbe Land sein wie vor dreißig Jahren. Bei all den Fäden, die die moderne türkische Geschichte durchziehen und verbinden, haben die Herrschaft des starken Mannes und die AKP-Ära dem Land ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt.

Dimitar Bechev

Oxford im Mai 2023

VORWORT

Dieses Buch entstand in anderthalb Jahren; die Arbeit war aufgrund des pandemiebedingten Lockdowns recht mühsam. Ich fing mit der Arbeit im ländlich-idyllischen North Carolina an und schloss sie in Oxford ab. Es war eine Art Heimkehr, weil ich mich hier am St. Antony’s College vor Jahren zum ersten Mal in alles vertiefte, was mit der Türkei und den Türken zu tun hatte. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis von mehr als ­einem Jahrzehnt des Forschens, Schreibens und Nachdenkens über die Türkei. Offen gesagt war es keine sehr glückliche Zeit, zumindest nicht für das Land selbst, da es eine ganze Reihe schmerzlicher Ereignisse erlebte und seine früheren Hoffnungen auf eine friedliche und demokratische Zukunft zunichtegemacht wurden. Die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in der Türkei interessieren mich bis heute. Als Lehrender, Forschungsstipendiat und Wissenschaftler habe ich das Glück, eine Nische zu besetzen. Bücher wie dieses werden gewöhnlich aus einer von zwei möglichen Perspektiven geschrieben: entweder aus der Sicht von Autoren, die selbst aus der Türkei stammen und mit ihrem Land aufs Innigste vertraut und verbunden sind, so groß und verschiedenartig es auch sein mag, oder aus der Sicht von Westlern, die, wie ich hinzufügen muss, oftmals über ein Niveau an Wissen und eine linguistische und kulturelle Expertise verfügen, die ich mir selbst nur wünschen kann. Meine Positionalität, um einen bei Anthropologen beliebten Begriff zu verwenden, befindet sich irgendwo zwischen diesen beiden Standpunkten. Ich selbst stamme aus einem Nachbarland der Türkei, das einst zum Mittelpunkt des Osmanischen Reiches gehörte, in dem noch immer eine große türkische und muslimische Minderheit lebt und das bis heute in gewisser Weise auf den großen Nachbarn fixiert bleibt. Diese Herkunft ermöglicht mir einen guten Einblick, gleichzeitig aber auch ein ausreichendes Maß an kritischer Distanz. Zumindest theoretisch.

Dieses Buch wäre ohne die großzügige Hilfe von Freunden und Kollegen nicht möglich gewesen. Es gibt eine lange Liste von Menschen, denen ich zu Dank verpflichtet bin.

Besonderen Dank schulde ich Ayşe Kadıoğlu, Berk Esen, Suat Kınıkloğlu, Lisel Hintz, Marc Pierini, Erdi Öztürk, Venelin Ganev, Emre Çalışkan, Kerem Öktem und Soli Özel, die Teile des Manuskripts lasen und kommentierten. Auch den beiden anonymen Rezensenten von Yale University Press danke ich für ihr Feedback und ihre Anregungen. Im Laufe der Jahre haben sich die vielen Gespräche und der Schriftwechsel als sehr hilfreich und nützlich erwiesen, die ich mit einer ganzen Reihe von Personen führte, vor allem mit Galip Dalay, Mehmet Karlı, Karabekir Akkoyunlu, Kemal Kirisçi, Gönül Tol, Ömer Taşpınar, Elaine Papoulias, Ioannis Grigoriadis, Aaron Stein, Nigar Göksel, Has Avrat, Michael Werz, Nate Schenkkan, Sinan Ciddi, Lenore Martin, Soner Çağaptay, Henri Barkey, Amberin Zaman, Sinan Ülgen, Nathalie Tocci, Barış Kesgin, James Ker Lindsay, Robert Jenkins, William Armstrong, Sinikukka Saari und Stanislav Secrieru. Ich könnte noch weitere Seiten mit Namen füllen. Ich muss wohl nicht eigens betonen, dass mögliche Unterlassungen oder Fehler, die Tatsachen oder Interpretationen betreffen, einzig und allein in meiner Verantwortung liegen.

Auch die institutionelle Unterstützung war sehr wichtig. Ein großes »Dankeschön« schulde ich Taiba Batool, die mich zuerst ermutigte, diese ehrgeizige Reise zu unternehmen (mein ursprünglicher Plan war sehr viel bescheidener). Ebenso danke ich meinem Lektor Julian Loose, der mein Projekt bei der Yale University Press begleitete.

Danken möchte ich auch für die freundliche Unterstützung durch das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, das mir 2020/2021 ein Fellowship gewährte, das es mir ermöglichte, mein Manuskript termingerecht fertigzustellen. Mein Dank gilt ferner dem Frontier Europe Program am Middle East Institute in Washington, D.C, das ebenfalls meine Arbeit über die türkische Außenpolitik unterstützte, und dem Center for Slavic, Eurasian and East European Studies at the University of North Carolina at Chapel Hill, wo ich von 2016 bis 2020 ebenfalls ein Fellowship innehatte.

Und nicht zuletzt schulde ich auch meiner Familie großen Dank. Meine Frau Galina und unsere Kinder Emanuil, Anthony und Sophia sind mir auf der gesamten Reise stets eine Quelle der Inspiration gewesen.

Gender-Hinweis

In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit in den meisten Fällen das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

Abkürzungen

AKP

Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung

Adalet ve Kalkınma Partisi

ANAP

Mutterland-Partei

Anavatan Partisi

AP

Gerechtigkeitspartei

Adalet Partisi

BDP

Partei des Friedens und der Demokratie

Barış ve Demokrasi Partisi

BOTAŞ

Staatl. Türkisches Energie­unternehmen für Erdöl- und Gas­transport

Boru Hatları ile Petrol Taşıma Anonim Şirketi

CHP

Republikanische Volkspartei

Cumhurriyet Halk Partisi

DP

Demokratische Partei

Demokrat Parti

DSP

Demokratische Linkspartei

Demokratik Sol Parti

DTP

Partei für eine demokratische Gesellschaft

Demokratik Toplum Partisi

DYP

Partei des Rechten Weges

Doğru Yol Partisi

EG/EC

Europäische Gemeinschaft

EGMR/ECtHR

Europ. Gerichtshof für ­Menschenrechte

EWG/EEC

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EEZ

Ausschließliche Wirtschaftszone (die seerechtlichen Einfluss­gebiete der Staaten)

EU

Europäische Union

FDI

Ausländische Direktinvestition

FETÖ

Gülen-Bewegung; von der türk. Reg. als terroristische Organisation bezeichnet

Gülen hareketi, von den Anhängern Hizmet (»Dienst«) oder Cemaat (»Gemeinde«) genannt

FP

Tugendpartei

Fazilet Partisi

FSA

Freie Syrische Armee

(bewaffneter Arm von Teilen der Opposition, auch Überläufer aus Assads Armee)

GNA (Libyen)

Die Regierung der Nationalen Übereinkunft oder auch Libyan Political Agreement/Libysches Politisches Abkommen LPA

Ḥukūmat al-Wifāq al-Waṭanī

HADEP

Partei der Demokratie des Volkes

Halkın Demokrasi Partisi

HDP

Demokratische Partei der Völker

Halkların Demokratik Partisi

IWF/IMF

Internationaler Währungsfonds IWF

İP

Arbeiterpartei

Vatan Partisi (türkisch für »Vaterlandspartei«; bis Anfang 2015 als İşçi Partisi, türkisch für »Arbeiter­partei«, bekannt)

ISIS

Islamischer Staat im Irak und in Syrien (später umbenannt in IS)

KCK

etwa: Union der Gemeinschaften Kurdistans (neue Organisa­tionsform der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, die die Umsetzung des von Abdullah Öcalan am 20. März 2005 deklarierten »Demokratischen Konföderalismus« zum Ziel hat).

Koma Civakên Kurdistan

KRG

Kurdische Regionalregierung

LNG

Flüssiggas

MGK

Nationaler Sicherheitsrat

Millî Güvenlik Kurulu

MHP

Partei der Nationalistischen Bewegung

Milliyetçi Hareket Partisi

MİT

Nachrichtendienst der Türkei

Millî İstihbarat Teşkilatı

MKO

Volksmudschahedin

Modschahedin-e Chalgh-e Iran

MSP

Nationale Heilspartei

Millî Selâmet Partisi

PJAK

Partei für ein Freies Leben in Kurdistan

Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê

PKK

Arbeiterpartei Kurdistans (türkisch-kurdisch)

Partiya Karkerên Kurdistanê

PYD

Demokratische Unions-Partei (syrisch-kurdisch)

Partiya Yekîtiya Demokrat

RP

Wohlfahrtspartei

Refah Partisi

SDF

Demokratische Kräfte Syriens

SHP

Sozialdemokratische Populistische Partei

Sosyaldemokrat Halkçı Parti

SNC

Syrischer Nationalrat

(Oppositionskräfte zu Assad)

TİKA

Türkisches Präsidium für Internationale Kooperation und Koordination

Türk İşbirliği ve Koordi­nasyon İdaresi Başkanlığı

TOKİ

Staatliche Wohnungsbaubehörde

Toplu Konut İdaresi Başkanlığı

TRT

Türkische Hörfunk- und Fernsehanstalt (öffentl.-rechtliche TV-Gesellschaft der Türkei)

Türkiye Radyo ve Tele­vizyon Kurumu

VAE/UAE

Vereinigte Arabische Emirate

VN/UN

Vereinte Nationen

YPG

Volksverteidigungseinheiten (bewaffneter Arm der PYD)

Yekîneyên Parastina Gel

Zeitleiste

1919 – 1922

Türkischer Unabhängigkeitskrieg

1923

Gründung der Republik Türkei

1938

Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der Republik, stirbt in Istanbul

1946

Einführung des Mehrparteiensystems

1950

Die von Atatürk gegründete CHP verliert die Parlamentswahl; die Demokratische Partei (DP) kommt an die Macht

1952

Die Türkei tritt der NATO bei

1960

Ministerpräsident Adnan Menderes (DP) wird durch einen Militärputsch abgesetzt und später zum Tode verurteilt

1963

Das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird in Ankara unterzeichnet

1971

Nach einem Militärputsch wird die von Süleyman Demirel (Justice Party) geführte Regierung abgesetzt

1974

Die Türkei interveniert in Zypern und übernimmt im Norden der Insel die Kontrolle

1980

Nach einem dritten Militärputsch wird die erneut von ­Demirel geführte Regierung abgesetzt. Der Nationale Sicherheitsrat (MSR) mit dem Vorsitzenden Generalstabschef Kenan Evren übernimmt die Exekutiv- und Legislativgewalten

1983

Nach dem Inkrafttreten einer neuen Verfassung gewinnt die Mutterlandspartei (ANAP) die Parlamentswahl. Turgut Özal wird Ministerpräsident

1984

Anschläge durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) markieren den Beginn eines Aufstands im Südosten der Türkei

1987

Die Türkei stellt den Antrag auf Mitgliedschaft in der EWG

1989

Die Große Nationalversammlung wählt Özal zum Präsidenten der Republik

1991

Zweiter Golfkrieg

1993

Turgut Özal stirbt aufgrund von Herzversagen

1994

Die islamistische Refah Partisi (RP; Wohlfahrtspartei) gewinnt die Kommunalwahlen; Recep Tayyip Erdoğan wird Oberbürgermeister von Istanbul

Jan. 1996

Die Zollunion EU-Türkei tritt in Kraft

Jan. 1996

Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis führen beinahe zu einer militärischen Auseinandersetzung

Juni 1996

Der Vorsitzende der Refah Partisi, Necmettin Erbakan, wird Ministerpräsident

Feb. 1997

Ein vom türkischen Militär veröffentlichtes Memorandum führt im Juni 1997 zum Rücktritt Erbakans (der sogenannte »postmoderne Putsch«)

1998

Syrien weist den Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, aus dem Land, nachdem die Türkei eine militärische Invasion angedroht hatte. Öcalan wird im Februar 1999 in ­Kenia von einem türkischen Kommando gefangen genommen

1999

Bei der Sitzung des Europäischen Rates in Helsinki anerkennen die Staats- und Regierungschefs der EU die Türkei als Beitrittskandidatin

2001

Eine schwere Banken- und Finanzkrise trifft die Türkei

Aug. 2001

Ehemalige Mitglieder von Erbakans islamistischer Be­wegung gründen die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP)

Nov. 2002

Die AKP geht bei der Parlamentswahl als Siegerin hervor und bildet eine Regierung unter Führung von Abdullah Gül

März 2003

Im türkischen Parlament scheitert ein Antrag auf Beteiligung der Türkei an der von den USA geführten Koalition im Dritten Golfkrieg. Erdoğan löst Gül als Ministerpräsident ab.

2004

Die türkischen Zyprer stimmen bei einem Volksentscheid dem Plan der Vereinten Nationen für die Wiedervereinigung der Insel zu, doch die Mehrheit der griechischen Zyprer lehnt den Plan ab. Die Republik Zypern tritt der EU bei, der Norden bleibt im Ungewissen

2005

Die EU beschließt die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei

2006

Mehrere Verhandlungskapitel werden »eingefroren«; Grund ist die Weigerung der Türkei, griechisch-zyprischen Schiffen und Flugzeugen die Benutzung türkischer Häfen und Flughäfen zu gestatten

2007

Die AKP wird inmitten einer großen innenpolitischen Krise wiedergewählt. Das neu konstituierte Parlament wählt Abdullah Gül zum Staatspräsidenten

Okt. 2007

Eine Bevölkerungsmehrheit stimmt der Verfassungsänderung für die Direktwahl des Staatspräsidenten zu

2008

Die Ergenekon-Ermittlungen beginnen. Das Verfassungsgericht urteilt, dass die AKP gegen die Prinzipien des Säkularismus verstoßen habe, sieht aber von einem Parteiverbot ab

2009

Ahmet Davutoğlu wird Außenminister. Die »Null Pro­bleme mit den Nachbarn«-Politik tritt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit

Sept. 2010

Bei einem Volksentscheid stimmt eine Mehrheit der türkischen Bürger einer Reihe von Verfassungsänderungen zu verschiedenen Bereichen zu, vor allem hinsichtlich des Rechtswesens

Dez. 2010

Demonstrationen in Tunesien lösen den Arabischen Frühling aus

Juni 2011

Die AKP gewinnt zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahl, verfehlt aber die angestrebte Zweidrittelmehrheit, um allein die Verfassung ändern zu können

Sept. 2011

Die Türkei bricht die diplomatischen Beziehungen zum Assad-Regime in Syrien ab

März 2013

In Diyarbakır wird die kurdische Friedensinitiative (»Solution process«) der Öffentlichkeit vorgestellt

Mai–Juni

Proteste im Gezi-Park in Istanbul

2013

Dez. 2013

Ein Korruptionsskandal führt zum endgültigen Bruch zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung

Aug. 2014

Erdoğan wird zum Staatspräsidenten gewählt

Dez. 2014

In Ankara verkündet Wladimir Putin Pläne zum Bau einer Gaspipeline durch das Schwarze Meer (»TurkStream«)

Juni 2015

Die AKP verliert bei der Parlamentswahl ihre parlamentarische Mehrheit. Im Südosten der Türkei kommt es erneut zu Gewaltausschreitungen, die das Ende der kurdischen Friedensinitiative bedeuten

Nov. 2015

Vorgezogene Parlamentswahl. Die AKP gewinnt die parlamentarische Mehrheit zurück

25. Nov.

Ein türkisches Kampfflugzeug schießt eine russische Mili-

2015

tärmaschine an der syrischen Grenze ab

März 2016

Die Türkei und die EU beschließen ein umfassendes Flüchtlingsabkommen

Juli 2016

Ein Putschversuch abtrünniger Militäreinheiten gegen Präsident Erdoğan scheitert. Der Notstand wird ausgerufen

Aug. 2016

Das türkische Militär und die Freie Syrische Armee dringen in den Nordwesten Syriens vor

April 2017

Mit knapper Mehrheit billigt das türkische Volk Verfassungsänderungen, durch die das parlamentarische durch ein präsidentielles Regierungssystem ersetzt wird

Juni 2018

Erdoğan wird nach den neuen Verfassungsbestimmungen als exekutiver Präsident wiedergewählt. Die AKP verfehlt die parlamentarische Mehrheit und muss eine Regierungskoalition mit der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) bilden

März 2019

Bei den Kommunalwahlen verliert die AKP in Istanbul und in Ankara. Bei der Wahlwiederholung in Istanbul wird der Sieg der vereinten Opposition bestätigt

Jan. 2020

Die Türkei interveniert offen im Bürgerkrieg in Libyen

Feb.–März

Türkische Truppen bringen eine große Offensive des Assad-

2020

Regimes zum Stillstand

Sept.–Nov.

Eine Intervention der türkischen Streitkräfte unterstützt

2020

Aserbaidschan bei der Rückeroberung von bislang durch Armenien besetzten Gebieten rund um Bergkarabach

Dez. 2020

Die Vereinigten Staaten verhängen wegen des Erwerbs von russischen Raketen Sanktionen gegen die Türkei

Dez. 2020

Die EU sanktioniert türkische Staatsbedienstete wegen rechtswidriger Öl- und Gasförderung im östlichen Mittelmeer

Juni 2021

Erdoğan und Präsident Biden treffen in Brüssel zusammen, um die Beziehungen neu zu beleben

Einleitung: Das Drehbuch des Machthabers

EINLEITUNG

DAS DREHBUCH DES MACHTHABERS

Dieser Tag im Oktober 2016 bot so etwas wie eine Parade des globalen Autoritarismus. Eine hochkarätige Auswahl an starken Männern versammelte sich auf der Bühne des riesigen Kongresszentrums im Istanbuler Stadtteil Harbiye. Nacheinander ergriffen der russische Präsident Wladimir Putin, Präsident Ilham Aliyev von Aserbaidschan und Präsident ­Nicolás Maduro aus Venezuela das Wort, um die Teilnehmer des 23. Weltenergiekongresses an ihren Gedanken über schwankende Ölpreise, globale Investitionen und wirtschaftliche Entwicklung teilhaben zu lassen. Aber das war nicht der eigentliche Zweck ihres Treffens. Die internationalen Würdenträger waren in die Türkei gereist, um ihrem Gastgeber, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ihre uneingeschränkte Unterstützung zu bekunden. Erst drei Monate zuvor hatte der türkische Staatschef einen Putschversuch – diesen »abscheulichen terroristischen Anschlag« – mit aller Härte niedergeschlagen und sparte nun nicht mit Dankesworten. »Bei diesem Anlass haben Sie unsere Nation, unser Land und unsere Demokratie unterstützt. Im Namen meiner Nation möchte ich mich dafür persönlich bei Ihnen bedanken.« 1

Seine Nation, in der Tat. Wie kein anderer Staatsmann seit Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Republik, hatte Erdoğan gewaltige Machtbefugnisse an sich gerissen. Im Jahr 2016 waren ihm, und ihm ­allein, alle wichtigen Institutionen des Landes unterstellt – von der re­gierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, Adalet ve Kalkınma Partisi) über die staatliche Bürokratie, die Gerichte, die ­Medien und das wirtschaftliche Establishment bis hin zu Armee und Poli­zei (die beide erst kürzlich einem gründlichen Säuberungsprozess unterzogen worden waren). Praktisch der gesamte türkische Staat hatte sich in ein Familienunternehmen verwandelt. Wer mit der von Erdoğan ausgerufenen »Neuen Türkei« nicht einverstanden war, sah sich als Terrorist und Mitglied der Fünften Kolonne denunziert – wenn er oder sie Glück hatte. Vielen standen jedoch lange Gefängnisstrafen bevor, sie verloren ihre Jobs oder sahen sich gezwungen, ins Ausland zu fliehen, gleichgültig, ob sie mit dem Putschversuch des Militärs etwas zu tun gehabt hatten oder nicht. Selahattin Demirtaş, der in den jüngsten Wahlen als Spitzenkandidat der prokurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi) angetreten war, sah seiner Verhaftung entgegen. Dass er den Putsch verurteilt hatte, war keine Entschuldigung dafür, dass er dem Führer (oder reis, wie Erdoğans Anhänger ihn gerne nennen) nicht die nötige Ehrerbietung bekundet hatte.

Dann waren da auch noch die Freunde der Türkei, wie etwa der russische Präsident Wladimir Putin. Dem Kremlherrscher galt der Dank, weil er nach dem Putschversuch fest zu Erdoğan gestanden hatte. Putin hatte dabei sogar die ernsthafte Verstimmung hintangestellt, die sich im November 2015 ergeben hatte, nicht nur in Bezug auf Syrien allgemein, sondern vor allem wegen des Abschusses einer Suchoi Su-24, eines taktischen Bombers der russischen Luftwaffe, durch eine türkische Luft-Luft-Rakete. Putin wisse ja selbst zur Genüge, dass der Westen immer wieder mal Umsturzpläne ausbrüte, um einen Regimewechsel zu erzwingen, raunten die Parteigänger des türkischen Präsidenten. Den Vereinigten Staaten, einem vermeintlichen Verbündeten, wurde nun sogar vorgeworfen, die Verschwörung zum Sturz oder gar der physischen Eliminierung Erdoğans angezettelt zu haben und der Türkei quasi den Dolch in den Rücken stoßen zu wollen. Wladimir Wladimirowitsch Putin hatte natürlich gegen dieses Narrativ nichts einzuwenden. Solange Ankara, sehr zum Missfallen der übrigen NATO-Mitglieder, Spitzenprodukte der russischen Raketentechnologie kaufte und mit Moskau in Syrien kooperierte, war der »liebe Freund« Putin zufrieden. Auch er war an diesem Tag nach Istanbul gereist, um der Unterzeichnung des milliardenschweren Regierungsabkommens für TurkStream beizuwohnen, einer Gaspipeline durch das Schwarze Meer. Aber auch Erdoğan selbst spielte unbekümmert seine russische Trumpfkarte aus. Der Kreml gab einer türkischen Militäroperation in Syrien grünes Licht, durch die der von den USA unterstützten kurdischen Miliz die Flügel gestutzt werden sollten. Warum sollte man sich noch auf die Seite des Westens stellen? Die Russen achteten auf die türkischen Nationalinteressen und standen zu ihren Verpflichtungen. Wer war da wohl besser: Putin oder der unzuverlässige Obama, 2 ganz zu schweigen von den doppelzüngigen Europäern, die die Türkei seit Jahren auf Armeslänge hielten?

Welchen Unterschied doch ein einziges Jahrzehnt ausmachen konnte! Während ich im Istanbuler Kongresszentrum im Publikum saß und staunend die Putin-Erdoğan-Show beobachtete, ging mir unwillkürlich wieder durch den Kopf, wie ich zum ersten Mal den türkischen Staatsmann live sprechen gehört hatte. Das war am 28. Mai 2004 gewesen, und Erdoğan, damals noch türkischer Ministerpräsident, hatte im St. John’s College in Oxford eine Rede zum Thema »Warum die Europäische Union die Türkei braucht« gehalten. Umgeben von Kalypso Nicolaidis, einem Professor für europäische Politik französisch-griechischer Herkunft, und dem inzwischen verstorbenen Geoffrey Lewis, einer Koryphäe des Faches Türkei­studien in Oxford, schwadronierte Erdoğan darüber, dass er »Europäische Werte zu Ankaras Werten machen« wolle. Europa, argumentierte er, sei eine Wertegemeinschaft, in der die Türkei ihren Platz verdiene, und nicht eine »eng definierte Geografie«. Dann ging er eine Liste von Problemen durch, welche die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara erschwerten, von den Rechten der kurdischen Minderheit bis zur Teilung Zyperns. 3 Er verbreitete eine hoffnungsfrohe Botschaft: Die Türkei bemühe sich nach besten Kräften um demokratische Reformen, stelle sich den Geistern der schwierigen Vergangenheit des Landes, verbessere die Menschenrechtssituation und steigere ihr Wirtschaftswachstum.

Die Rechnung schien aufzugehen. Am 3. Oktober 2005, also weniger als ein Jahr danach, beschloss die Europäische Union (EU), Verhandlungen über den Beitritt der Türkei aufzunehmen, eine verspätete Belohnung für die Veränderungen, die von der AKP und, was nicht vergessen werden darf, auch von ihren Vorgängerregierungen erzielt worden waren. Schon damals glaubte niemand, dass die EU-Beitrittsverhandlungen angesichts der zähen Hindernisse, die zu überwinden waren, schnell und reibungslos über die Bühne gehen würden. Auch stand noch keineswegs fest, dass das Land tatsächlich Mitglied werden würde. Aber letzten Endes würde es auf die eigenen Transformationsanstrengungen der Türkei ankommen. Oder, um Konstantinos Kavafis Gedicht »­Ithaka« zu zitieren, ging es dabei vor allem um die »schöne Reise«, nicht um das Ziel. 4

WAS GING SCHIEF?

Dieses Buch setzt sich mit der Frage auseinander, wie sich das alles so drastisch und so schnell verändern konnte. Warum hat sich die Türkei dem Autoritarismus ergeben, warum hat sich das Land dem Nationalismus zu- und vom Westen abgewandt?

Aus Sicht vieler Beobachter gibt es natürlich darauf eine einfache Antwort: Recep Tayyip Erdoğan. Erdoğan ist ein gewiefter Politiker; er nutzte die Wahldemokratie geschickt aus, um sich immer mehr Macht anzueignen und schließlich ein Ein-Mann-Regime zu etablieren. Die Mission wurde 2017 mit der Verfassungsänderung vollendet, mit der die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem ersetzt wurde. Jetzt zeigte sich, dass Erdoğans Verbundenheit mit Demokratie und Menschenrechten, die einst im Westen so gepriesen wurden, nur oberflächlich gewesen war. Das wiederum weist auf eine andere, damit zusammenhängende Erklärung hin: Die westlichen Alliierten der Türkei waren dafür mitverantwortlich. Um es unverblümt auszudrücken: Erdoğan hat sowohl die EU als auch die USA übertölpelt. Eine taktische Allianz mit Brüssel legitimierte seinen Machtzugriff. Die demokratische Konditionalität Europas ermöglichte es einem Demagogen, seine Gegner zu überwältigen, vor allem das Militär und die eingefleischten Säkularisten in der Verwaltung und im Rechtswesen. Washington nahm das ganze Gerede über islamische Demokratie für bare Münze, geblendet vom eigenen missionarischen Eifer, von dem auch die gesamte amerikanische Politik im Nahen Osten angetrieben wird. Als jedoch die Partnerschaft ihre Nützlichkeit einbüßte, nicht zuletzt, weil die EU der Türkei die kalte Schulter zeigte, kappte Erdoğan die Leine zum Westen. Seine Gegner, die schon seit Langem dagegen protestiert hatten, dass einem Islamisten wie Erdoğan in den westlichen Hauptstädten der Hof gemacht wurde, hatten recht behalten.

Dieses Narrativ lässt allerdings die langfristigen strukturellen und institutionellen Kräfte außer Acht, die die türkische Innen- und damit letzten Endes auch die Außenpolitik formen. So gerissen und rücksichtslos Erdoğan auch handeln mag – und in dieser Hinsicht schneidet er glänzend ab –, gab es doch auch andere Gründe, warum er an diesem glitschigen Felsen so hoch hinaufklettern konnte und sich seit über zwei Jahrzehnten an der Spitze der Macht halten kann. Was waren diese Gründe? Der Aufstieg der AKP wäre undenkbar gewesen, würde man nicht auch die gesellschaftlichen Spaltungen berücksichtigen, welche durch die von säkularen Staatseliten im 20. Jahrhundert vorangetriebene Modernisierung verursacht wurden. Seit den 1970er-Jahren hatte der politische Islam in der frommen anatolischen Bevölkerung an Einfluss gewonnen, ein Bevölkerungsteil, der nun im öffentlichen Leben stärker hervortrat. Der Aufstieg einer konservativen Unternehmerschicht, verbunden mit einer in den 1980er- und 1990er-Jahren rasant fortschreitenden Urbanisierung, verwischte die gesellschaftlichen und geografischen Unterschiede zwischen dem Zentrum und der Peripherie, nährte aber auch die Spannungen. 5 Die Kultur wurde zu einem Schauplatz ideologischer Kämpfe um die Frage, welche Stellung der Glaube im öffentlichen Raum einnehmen solle. Die türkische Variante des islamistischen Populismus positionierte die privilegierte Minderheit, die den Staat vereinnahmt hatte, gegen »das Volk«, die gewöhnliche Bevölkerung – Türken, Kurden und verschiedene Minderheiten –, die wegen ihrer religiösen Werte und ihres Lebensstils diskriminiert wurde. 6 Es war das Volk, nicht Erdoğan, das das sogenannte Vormundschaftssystem (vesayet) überwunden hatte, in dem Generäle und nicht demokratisch gewählte Verwaltungsbeamte in staatlichen Angelegenheiten das letzte Wort hatten. Es war das Volk, das eine Demokratie aufbaute, die diesen Namen verdiente. Und es waren die Ahmets und die Mehmets, die sich den Panzern in jeder schicksalhaften Nacht im Juli 2016 in den Weg stellten und dafür mit ihrem Leben bezahlten. Das ist es, was die Marke Erdoğan wirklich ausmacht.

Natürlich ist der Populismus keine Erfindung Erdoğans. Er war schon seit Langem der Sauerstoff der türkischen Parteipolitik gewesen, und Männer wie Süleyman Demirel auf der rechten und Bülent Ecevit auf der linken Seite hatten ihn mit großem Geschick eingesetzt. Erdoğan jedoch hat ihn perfektioniert und seine emotionale Verbindung zu den Massen und seine persönliche Lebensgeschichte – ein armer Junge aus einem Elendsviertel Istanbuls, der bis ins höchste Amt aufgestiegen war 7  – in ein wirkmächtiges politisches Instrument verwandelt. Seine Herrschaft sei, wie er gern argumentiert, der Triumph des »Volkswillens«, der sich an der Wahlurne ausgedrückt habe. Dann habe sich der gemeine Mann (Frauen spielen selbstverständlich nur Nebenrollen) gegen die oppressiven und eigennützigen Eliten erhoben und zurückgefordert, was ihm von Rechts wegen zustehe. »Es ist ja nicht so, dass wir Oxford in Şanlıurfa hätten«, schmunzelte er bei einer Jugendkundgebung 2018 und zitierte den Sänger İbrahim »Ibo« Tatlıses, einen wichtigen Vertreter der Arabeske-Musik 8 , »aber ich habe es vorgezogen, dort nicht zu studieren!« 9 In dieser Hinsicht konnte Erdoğan tatsächlich viel Lob einheimsen, weil sich während seiner Amtszeit die Zahl der Universitäten von 75 auf 206 erhöht und auch der Zugang zu höherer Bildung und die Aufstiegsmobilität der bislang Unterprivilegierten deutlich verbessert hatten. Das war sie, die »Neue Türkei«, mit ihren Krankenhäusern von Weltrang, ihren Autobahnen, ihren glitzernden Shopping Malls, den gigantischen Flughäfen und turmhohen Wohnhäusern, alles nur für das Volk. Allein im ersten Jahrzehnt der AKP-Regierung verdreifachte sich das Bruttoinlandsprodukt von 3600 auf 12600 Dollar (das allerdings 2020 wieder auf 8000 Dollar abstürzte). 10 Gleichzeitig unterscheidet sich Erdoğans Populismus jedoch von dem seiner Vorgänger. Denn kein anderer türkischer Staatsmann war bisher gewillt oder auch fähig gewesen, sich mit dem Establishment anzulegen, das Land in einem solchen Ausmaß zu verändern und es nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Erdoğan spielt in einer ganz eigenen Liga.

So weit, so gut. Das Problem mit Erdoğans Version besteht jedoch darin, dass der »nationale Wille«, den zu vertreten er vorgibt, nicht mit der Realität der Wahlergebnisse übereinstimmt. Bis zur ersten Direktwahl des Staatspräsidenten im Jahr 2014 hatte die AKP noch nie die 50-Prozent-Marke überschritten. Bei den Kommunalwahlen 2019 liefen strenggläubige Wählerinnen und Wähler in genügend großer Zahl zur Opposition über, um ihr in Ankara und Istanbul Siege zu bescheren, und das geschah auch in den meisten übrigen Großstadtbezirken. Im Jahr zuvor hatte die AKP ihre parlamentarische Mehrheit verloren und ist nun auf die Unterstützung durch die MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung, Milliyetçi Hareket Partisi) angewiesen. Hinzu kommt, dass Erdoğan Nutznießer bestimmter Regeln und Institutionen ist, die sein Abschneiden bei den Wahlen begünstigen und folglich seine Macht stärken. Formelle Regeln sind wichtig, sogar in Ländern, die so sehr von Informalität besessen sind wie die Türkei. Schon bei den Wahlen von 2002 hatte die außerordentlich hohe Sperrklausel von 10 Prozent dafür gesorgt, dass die Rivalen der AKP auf der Rechten nicht ins Parlament einziehen konnten, während die AKP an die Macht gelangen konnte, obwohl sie nur ungefähr ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinte. In der Folge monopolisiert die Partei nun den gesamten rechten Flügel und den konservativen Raum, zu dem traditionell ein großer Teil der Wählerschaft tendiert. Deshalb konnte die AKP auch bestimmte in der Verfassung vorgesehene Bestimmungen ausnutzen, die Verfassungsänderungen durch Volksabstimmungen ermöglichen. Die Plebiszite verschoben jedoch das politische System in Richtung Majoritarismus, polarisierten die Gesellschaft und verschafften Erdoğan den Bonus eines Siegers, der alles bekommt. Ein solches Spielfeld begünstigt natürlich den Präsidenten, weil entscheidende Institutionen wie der Hohe Wahlausschuss (Yüksek Seçim Kurulu, YSK), die höchste Wahlbehörde der Türkei, nur noch seinen Befehlen folgt.

Die Transformation der Türkei von einer Wahldemokratie zu einem kompetitiven autoritären Regime hat viel mit den potenziell hohen ­Kosten eines Machtverlusts der AKP zu tun. Karabekir Akkoyunlu und Kerem Öktem beschrieben den Zustand der »existenziellen Un­sicher­heit«. 11 Während der 2000er-Jahre sah sich die Partei durch die Säkularisten und die Gerichte herausgefordert, aber auch durch das Militär, das für das Verbot ihrer Vorläufer verantwortlich war. Sie überlebte 2016 ­einen recht massiven Putschversuch, der möglicherweise durch ihre ehemaligen Verbündeten in der Gülen-Bewegung gesteuert worden war. Die lange Zeit an der Macht wurde durch eine Reihe von Korruptionsskandalen getrübt, die sehr schädliche Gerichtsverfahren im Westen nach sich zogen. Aus Erdoğans Sicht gibt es offenbar keine Alternative, als sich durch diverse einschlägige Maßnahmen so lange wie möglich an der Macht zu halten, sei es durch Manipulationen der Verfassung oder durch direkte Repression. Das ist ein Dilemma, das alle autoritären und halb­autoritären Systeme kennzeichnet. Stellen wir uns das kontrafaktische Szenario vor: In einem Land, in dem das Rechtsstaatsprinzip durch un­abhängige Institutionen gewährleistet wird, wäre der Wechsel von der Regierung in die Opposition (und umgekehrt) ein weit weniger riskantes Unterfangen.

Man sollte jedoch auch die anhaltende Anziehungskraft des Nationalismus nicht aus dem Blick verlieren. Der Nationalismus ist der Faden, der Erdoğans Neue Türkei mit der alten Türkei und ihrem gesamten autoritären Ballast verbindet. 12 Das Scheitern der Friedensgespräche zwischen der Regierung und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015, der wiederaufflammende Konflikt im von Kurden bewohnten Südosten, das seit 2016 bestehende Wahlbündnis der AKP mit der rechtsextremen MHP, aber auch die Verbindungen zu kemalistischen Gruppierungen, die dem Westen und den Rechten von Minderheiten ablehnend gegenüberstehen, und schließlich auch der Zusammenstoß mit Griechenland im östlichen Mittelmeer machen die verschiedenen Kapitel dieser Geschichte aus. Auch die Einschränkung des öffentlichen Gebrauchs der kurdischen Sprache, die Beseitigung zweisprachiger Straßenschilder in der Stadt Diyarbakır im Jahr 2018 und die Entlassung von Wahlbeamten sind allesamt Zeichen einer Haltung, die an ein »Zurück-in-die-Zukunft« erinnert. Das Bild einer Türkei als belagerte Festung, bedroht durch Feinde von außen und deren Helfershelfer im Innern, ist zu einem zentralen Inhalt der Botschaft geworden, die Erdoğan verbreitet.

Erdoğans Entwicklung von einem EU-freundlichen »muslimischen Demokraten« zu einem autokratischen Machthaber sagt viel aus über die Last eines illiberalen Erbes. Im Wesentlichen haben sich er und seine Gefolgsleute den Kult eines starken, souveränen, unteilbaren Staates angeeignet und ihn mit einem (sunnitisch-)islamischen Anstrich versehen. 13 Individuelle Rechte und Freiheiten werden einem vom Präsidenten und seinem Gefolge interpretierten raison d’état untergeordnet. Dank der Verschmelzung der AKP mit dem Staat ist Erdoğan, um den Politikwissenschaftler Soner Çağaptay zu zitieren, zum »Anti-Atatürk-Atatürk« geworden. 14 Obwohl schon die bloße Gleichsetzung der beiden Politiker für die Säkularisten und die CHP (Republikanische Volkspartei, Cumhuriyet Halk Partisi) völlig indiskutabel ist, wird sie doch in der offiziellen Gedenkpolitik deutlich hervorgehoben. Tatsächlich hat sich in einem Bruch mit der Tradition der Fokus des historischen Narrativs der Neuen Türkei von den Verwestlichungsreformen Mustafa Kemals auf seine Rolle als Retter des Staates angesichts der existenziellen Bedrohung während des Befreiungskrieges verlagert. 15 Beachten sollte man auch die Kampagne anlässlich der Hundert-Jahr-Feier der Gründung der Republik im Jahr 2023, bei der offenbar Erdoğans sultanähnliche Vormachtstellung zelebriert werden soll. Paradoxerweise findet sich Atatürk im AKP-Pantheon Seite an Seite mit Sultan Abdülhamid II, der von den Konservativen für seine pan-islamistische Weltsicht verehrt wird, aber von Kemalisten eher als der »Andere« gesehen wird. 16 Beide Herrscher werden als Erdoğans historische Vorläufer porträtiert, zusammen mit weiteren Führungsfiguren der Mitte-Rechts-Tradition wie Adnan Menderes oder Turgut Özal.

Letztendlich lässt sich der Verlauf der illiberalen Entwicklung der Türkei am besten mit dem Blick auf die illiberalen Wesenszüge des Landes begreifen: seine polarisierte Gesellschaft, seine undemokratische institutionelle Ordnung und seinen ausgrenzenden Nationalismus. Aus alledem ergibt sich, dass das Schicksal des Landes in seinen eigenen Händen liegt. Es sind die türkischen Wählerinnen und Wähler, denen Erdoğan seine Karriere verdankt. Sie sind es, die letztlich den Ausgang der Geschichte entscheiden und bestimmen, ob der Erdoğanismus als Herrschaftssystem seinen Gründungsvater überleben wird. Doch müssen nicht auch west­liche Staatsführer einen Teil der Schuld auf sich nehmen, dass sich die Türkei so entwickelt hat? Wahrscheinlich tun sie das auch. Die EU trug in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren entscheidend dazu bei, demokratische Reformen in der Türkei anzustoßen, überließ dann aber das Land sich selbst, besonders nachdem der französische Präsident Nicolas Sarkozy 2007 klargestellt hatte, dass eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei nicht auf der Agenda stand. Als die internen Mechanismen der Gewaltenteilung in der Türkei allmählich aufgehoben wurden, konnte die EU nur noch so lange auf Erdoğan einwirken, sich zu mäßigen und die Innenpolitik der Türkei zu depolarisieren, wie die EU-Mitgliedschaft noch eine realistische Perspektive darstellte. Doch auch hier mag eine konterfaktische Analyse hilfreich sein. Wie hätte sich wohl ein EU-Mitglied Türkei verhalten? Hätte sich das Land auch weiterhin der liberalen Demokratie verpflichtet gefühlt oder wäre es im Gegenteil wie Viktor Orbáns Ungarn zurückgefallen? Wir werden die Antwort niemals erfahren, aber das macht die Frage noch lange nicht hinfällig.

Die tiefen soziologischen und historischen Wurzeln des Regimes implizieren keineswegs, dass die Türkei zu einer autoritären Herrschaft ­verdammt ist. Das Land kann auf eine mehr als sieben Jahrzehnte lange Geschichte politischen Wettbewerbs zurückblicken 17 und auf einen steigenden sozio-ökonomischen Entwicklungsstand sowie Verbindungen zum Westen verweisen. Dies sind Faktoren, die irgendwann in der Zukunft eine Rückkehr zur Wahldemokratie begünstigen könnten, sofern sich die Bedingungen nicht grundsätzlich ändern. Die Bürger glauben, dass ihre Stimmen zählen, und beteiligen sich auch weiterhin in hohem Maße an den Wahlen. Es gibt eine echte Opposition, die ihre Fähigkeit zur Kooperation bewiesen hat und bereit ist, ideologische und identitätsbezogene Differenzen hintanzustellen. Das steht im Gegensatz zu anderen autoritären Regimes, etwa in Aserbaidschan, Russland oder in Abdel Fatah El-Sisis Ägypten, wo Mehrparteienpolitik und Wahlen nur Fassade sind. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, ob, wann und wie die Türkei zur Demokratie zurückkehren wird, aber es gibt auch keinen Grund, ein solches Ergebnis von vornherein auszuschließen.

DER LANGE ABSCHIED

Der demokratische Niedergang der Türkei hat einen Graben zwischen dem Land und der EU sowie den Vereinigten Staaten aufgerissen. Lange Zeit bildete der Westen den normativen Horizont, den zu erreichen das Land anstrebte. Ob es Atatürks Verweis auf die »zeitgemäße Zivilisation« in den 1920er- und 1930er-Jahren war oder die Nachkriegsvision einer Türkei als »kleines Amerika« oder die Beitrittskriterien der EU – die türkische Gesellschaft bewertete ihre Errungenschaften und Misserfolge immer nach westlichen Maßstäben. Natürlich war diese Beziehung stets von Zweideutigkeiten belastet. Waren es denn nicht die europäischen Mächte gewesen, die sich mit nichtmuslimischen Minderheiten verschworen hatten, um das einst so mächtige Osmanische Reich zu Fall zu bringen? Die Kemalisten, aber auch die Reformer der Tanzimat-Ära ahmten den Westen teilweise nur deshalb nach, weil sie ihm nicht zum Opfer fallen wollten. Auch während des Kalten Krieges gab es in der türkischen Linken einen stark ausgeprägten Antiamerikanismus, aber auch in der Milî-Görüş-Bewegung (Nationale Sicht), dem islamistischen Zweig, aus dem letztlich die AKP hervorging. Dem politischen und militärischen Establishment war die amerikanische Zypernpolitik ebenso verhasst wie das Zögern der Westeuropäer, die Türkei in ihren exklusiven Klub aufzunehmen. Heutzutage ist es unter manchen Analysten auf ­beiden Seiten des Atlantiks üblich, nostalgisch von den goldenen Zeiten zu schwärmen, als Ankara voll und vorbehaltlos auf der Seite des Westens stand. Doch diese goldene Ära hat es nie gegeben, ausgenommen vielleicht in den 1950er-Jahren. Alles in allem betrachtet, neigte die Hassliebe leicht zur Seite der Zuneigung, nicht zuletzt aufgrund der Mitgliedschaft in der NATO und der Aussicht, der Europäischen Wirtschafts­gemeinschaft (beziehungsweise der EU) beitreten zu können, die als Eckpfeiler der türkischen Außenpolitik galten.

Das ist heute ganz offensichtlich nicht mehr der Fall. Galip Dalay zufolge haben die (derzeitigen) Entscheidungsträger in Ankara die »Idee von der Unverzichtbarkeit und Einzigartigkeit des Westens« aufgegeben. Das Atlantische Bündnis und die Zugehörigkeit zu Europa stehen, so ­Dalay, nicht mehr im Mittelpunkt der geopolitischen Identität der Türkei, durch die sie ihre »Beziehungen mit nichtwestlichen Mächten filtert«, und sie stellen auch keinen Bezugspunkt der Innenpolitik mehr dar. 18 Die Allianz mit den USA, die schon seit dem Ende des Kalten Krieges erodiert, hängt nur noch an einem seidenen Faden. Ein überwältigend hoher Teil der Türken sieht in den Vereinigten Staaten die größte Bedrohung der nationalen Sicherheit. Auch die Beziehungen der Türkei zur EU sind in schlechtem Zustand, auch wenn noch rund 60 Prozent der Bevölkerung die Mitgliedschaft befürworten. 19 Erdoğan beteuert zwar immer wieder, dass die Zukunft seines Landes in Europa liege, aber beiden Seiten ist klar, dass das inzwischen kaum mehr als eine Farce ist. Die Beitrittsverhandlungen sind knirschend zum Stillstand gekommen, aber weder Ankara noch Brüssel (oder vielmehr eine Mehrheit der Mitgliedstaaten) sind daran interessiert, als Erste auszusteigen. Die Folge ist, dass sich die Türkei immer dann an die EU und die USA wendet, wenn sie sich davon einen Vorteil erhoffen kann. Das zeigt nicht nur das Flüchtlingsabkommen, das Brüssel im März 201620 mit Ankara aushandelte, sondern auch die Tatsache, dass Erdoğan den damaligen US-Präsidenten Donald Trump überreden konnte, im Oktober 2019 den Einmarsch türkischer Truppen in den Nordosten Syriens hinzunehmen.

Der Fairness halber sei angemerkt, dass auch der Westen nicht frei von Schuld ist. Zum einen treten viele seiner führenden Politiker der Türkei mit der Denkweise von Leistung und Gegenleistung gegenüber und sind nur allzu gerne bereit, mit Erdoğan zu kungeln. Zum anderen, und das ist noch wichtiger, manifestieren sich die eigenen Probleme des Westens im Aufstieg eines illiberalen Populismus, der die hehren moralischen Ansprüche des Westens arg beschädigt. »Statt dass wir zu einem kleinen Amerika geworden sind, seid ihr zu einer großen Türkei geworden«, stichelt der Politikwissenschaftler Ersin Kalaycıoğlu. 21 Scherz beiseite: Der Westen ist heute im Vergleich zur Blütezeit seiner Macht in den 1990er- und 2000er-Jahren viel weniger geschlossen und infolgedessen auch viel weniger einflussreich. Es ist kein Zufall, dass Donald Trumps eigenbrötlerische Außenpolitik bei Erdoğan und dessen Höflingen großen Anklang fand, ganz zu schweigen von Trumps äußerst lässigem Umgang mit den Normen der Verfassung und seiner Neigung, persönliche Interessen mit Staatsangelegenheiten zu vermengen. Die »liberale internationale Ordnung«, die den frühen Reformen der AKP zugrunde lag, erscheint heute wie ein Relikt einer längst vergangenen Zeit. 22 In der schönen neuen Welt von heute fühlt sich die Türkei wohl.

Erdoğans Türkei sieht sich nicht an der Peripherie des Westens, sondern im Zentrum eines eigenen Universums, das den Nahen Osten, den Balkan und den Südkaukasus umspannt und sich bis ins Subsahara-Afrika erstreckt. Diese Verschiebung kehrt auch das »Republikanische Paradigma« um, wie es Malik Mufti nennt. Das Paradigma wurzelte Mufti zufolge im Trauma des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches und wurde untermauert von einer »starken Neigung hin zum geopolitischen Status quo und einer mächtigen Abneigung gegen Verwicklungen in ausländische Angelegenheiten«, aber auch von der »Überzeugung, dass die äußere Welt im Wesentlichen feindlich und bedrohlich ist, und der Befürchtung, äußere Feinde könnten das politische System unterwandern und interne Spaltungen ausnutzen«. 23 Erdoğans Aufstieg und der Niedergang der kemalistischen Eliten ermöglichten es der Türkei, in ihren Außenbeziehungen wieder offen und selbstbewusst aufzutreten. Das imperiale Erbe wandelte sich von einer Bürde in einen geopolitischen Vorteil. Die »Neue Türkei« von heute beansprucht die Führung des globalen Islam und bekennt sich zu einer moralischen Verpflichtung gegenüber den Muslimen – Umma, die religiös fundierte Gemeinschaft der Muslime –, wo auch immer sie leben mögen. 24

Manche Analysten bezeichnen das neue Rollenkonzept mit dem Begriff »Neo-Osmanismus«, was im Grunde eine Verbeugung vor der Besessenheit mit der fernen Vergangenheit ist. 25 Die Realität ist freilich viel unübersichtlicher. Russland und Iran, zwei der erbittertsten Feinde des Osmanischen Reiches, stehen bei der Neuausrichtung der Nachbarschaftsbeziehungen ganz weit vorne. Die osmanische Nostalgie vereinigt sich mit der Realpolitik und dem Verfolgen wirtschaftlicher Interessen. Erdoğan ist nicht der Erste, der sich das »imperiale Paradigma« zu eigen macht, das Mufti als Glaube an den Nutzen einer Umgestaltung des äußeren Umfelds definiert. 26 Tatsächlich lassen sich viele politische Maßnahmen und Initiativen Ankaras auf die 1980er- und 1990er-Jahre zurückführen, als Turgut Özal auf ein stärkeres Engagement der Türkei im Nahen Osten, auf dem Balkan und im postsowjetischen Zentralasien drängte. Am Ende des Kalten Krieges wollte er die Vorstellung der Türkei als Modell wiederbeleben, die in der frühen republikanischen Periode entstanden war, aber auch als Kanal für den westlichen Einfluss gesehen werden kann. Auch unter Erdoğan taucht dieses Thema wieder auf, zuerst seit 2001 im Gefolge der Anschläge auf das World Trade Center, als sich die Bush-Administration für die Idee begeisterte, und dann erneut vor und während des sogenannten Arabischen Frühlings, als Ahmet Davutoğlu das Außenministerium in Ankara leitete.

Ist die Türkei ihrem hegemonialen Streben gerecht geworden? Nicht ganz, wie ich in diesem Buch zeigen will. Der brutale und verheerende Krieg in Syrien hat alles auf den Kopf gestellt. Der Konflikt löste einen weiteren regionalen Streit aus, in dessen Verlauf andere Akteure, vor ­allem Russland und der Iran, die Bestrebungen Ankaras zunichtemachten, den Nahen Osten nach eigenem Ebenbild zu formen. Außerdem vertiefte die syrische Tragödie die Kluft zwischen der Türkei und dem Westen, verschärfte den demokratischen Rückschritt im Innern und führte letztendlich zur Militarisierung der türkischen Außenpolitik. Und da Erdoğan keiner internen Kontrolle seines Machtgebrauchs mehr unterworfen ist und jede Gelegenheit nutzt, nationalistischen Eifer zu schüren, nimmt auch seine Bereitschaft zu, Risiken einzugehen. Die Anwendung militärischer Gewalt weit über die eigenen Grenzen hinaus ist zur Norm geworden, beispielsweise in Libyen oder am Horn von Afrika. Die derzeitige türkische Elite ist überzeugt, dass das Land in einer zunehmend wettbewerbsorientierten Welt nur erfolgreich bestehen kann, wenn es entschlossen handelt, hart durchgreift und seine von der eigenen Rüstungsindustrie entwickelten militärischen Fähigkeiten einsetzt. »Soft Power« (weiche Macht) ist nicht irrelevant geworden; sie bildet sogar einen Schwerpunkt. Aber wenn Erdoğan aus Putins Intervention in Syrien eine Lektion gelernt und verinnerlicht hat, dann diese: dass militärische Macht äußerst wirksam ist.

Wo und wie fügt sich die Türkei in die Weltordnung ein? Nach Auffassung Erdoğans und seiner Gefolgschaft gehört die Zukunft nicht Amerika und seinen westlichen Verbündeten, sondern »dem Rest«. Die Türkei fühlt sich wohl im Kreis der G20, erfreut sich ihres neu entdeckten Einflusses in Afrika, positioniert sich als Führer der Muslime auf der ganzen Welt und vertieft seine Verbindungen zu Regimes wie Russland und China. Am 15. Januar 2021 ließ sich Erdoğan den von der chinesischen Firma Sinovac Life Sciences entwickelten Covid-19-Impfstoff spritzen. Bereits im Juni 2020 hatte die türkische Zentralbank ein Swapgeschäft mit der Chinesischen Volksbank (der Zentralbank der Volksrepublik China) vereinbart, das es einheimischen Unternehmen ermöglicht, Importe aus China in Renminbi Yuan zu bezahlen. 27 Damit kam Peking der Türkei mitten in der Pandemie zu Hilfe, wie auch Moskau dem Land nach dem Putschversuch 2016 seine Solidarität bewiesen hatte. Bemerkenswerterweise hat Erdoğan, der ansonsten kein Blatt vor den Mund nimmt, China bisher weder für die Unterdrückung der Uiguren noch anderer turkisch-muslimischer Gruppen in Xinjiang (oder Ost-Turkestan) angeprangert. Aber wird sich die Türkei mit den revisionistischen Mächten zusammentun, um mit ihnen gemeinsam die westliche Dominanz in internationalen Angelegenheiten frontal herauszufordern? Trotz Erdoğans kämpferischer Rhetorik lautet die Antwort Nein. Die Türkei wird vielmehr auf der Suche nach eigenem Vorteil zwischen verschiedenen Zentren jonglieren: als Macht in der Mitte oder vielleicht auch als unternehmerischer Verkäufer auf einem zunehmend überfüllten geopolitischen Bazar. »Die Türkei macht ihr eigenes Ding«, wie Nigar Göksel und Hugh Pope konstatieren. 28

Auch in Zukunft wird die Türkei Mitglied der NATO bleiben und die Verbindung zu Europa aufrechterhalten. Das ist eine gute Nachricht für all jene im Westen, die die Türkei noch nicht aufgegeben haben, und auch für viele Menschen in der Türkei selbst, die an ihrem Glauben an die liberale Demokratie festhalten. Aber für beide Kreise gibt es auch eine schlechte Nachricht: Auch nach Erdoğan wird die Türkei vermutlich nicht auf schnellstem Weg zum Westen zurückkehren, sondern weiterhin dem Drehbuch folgen, das vom derzeitigen Regime geschrieben wurde. Aber ob dieses Drehbuch letztlich brauchbar ist oder nicht, ist eine ganz andere Frage.

KAPITELÜBERSICHT

Zwei Kapitel über die Türkei in den späten 1980er- und in den 1990er-Jahren leiten dieses Buch ein; sie schildern die Geschichte der inneren Veränderungen des Landes bis zum Auftreten der AKP. Kapitel 1 erkundet Turgut Özals Reformen und deren Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft; ferner geht es der Frage nach, wie Özals Reformen, das Aufkommen der Kurdenfrage und der politische Islam dazu beitrugen, die Saat der Polarisierung auszustreuen. Obwohl Erdoğan und seine Partei 2002 mit dem Versprechen an die Macht gelangten, einen Neuanfang machen zu wollen, waren die 1990er-Jahre weit mehr als ein »verlorenes Jahrzehnt«, wie dieser Zeitabschnitt später oft beschrieben wurde. Insbesondere der angestrebte EU-Beitritt verlieh der türkischen Wirtschaft neuen Schwung und schuf die Voraussetzungen für demokratische Reformen. Als die AKP an die Macht kam, konnte sie auf den Errungenschaften ihrer Vorgänger aufbauen, auch wenn diese durch Korruptionsskandale, eine von heftigen Konjunkturschwankungen geprägte Wirtschaft und 2001 von einer schweren Finanzkrise teilweise wieder zunichtegemacht wurden. Kapitel 2 befasst sich mit der türkischen Außenpolitik in diesem Zeitabschnitt. Obwohl die Schlagzeilen damals von waghalsiger Politik und häufigen Konflikten mit Nachbarländern wie Griechenland, Syrien, Armenien und anderen beherrscht wurden, entwickelten Politiker wie Özal oder Außenminister Ismail Cem doch auch eine alternative Vision, die ökonomische Integration, Diplomatie und weiche Macht in den Vordergrund rückte. Nach dem Ende des Kalten Krieges versuchte die Türkei, sich als regionale Führungsmacht im eurasischen Raum zu behaupten, sich zugleich aber auch als Fackelträger westlichen Einflusses zu etablieren, wobei sie sich mit einer Vielfalt interner und externer Zwänge auseinandersetzen musste.

Im Anschluss daran werden wir uns den frühen Jahren der AKP zuwenden. Kapitel 3 führt aus, wie die von der EU dem Land auferlegten Reformen eine breite Koalition hervorbrachten, der Islamisten, Liberale, demokratische Kemalisten, kurdische Nationalisten und die Wirtschafts­elite angehörten und die dem demokratischen Wandel den nötigen Impuls verlieh. Diese Konstellation trug dazu bei, dass Erdoğan 2007 eine schwere politische Krise überstehen konnte, und half ihm, sich gegen das Militär sowie gegen die kompromisslose säkulare Opposition zu behaupten. Die AKP profitierte auch von einem günstigen internationalen Umfeld: eine bis zur Finanzkrise von 2008 blühende Weltwirtschaft und eine EU im Erweiterungsmodus. Doch die ungelöste Zypernfrage und die Ablehnung des türkischen EU-Beitritts durch wichtige Mitgliedstaaten wie Frankreich untergruben die Rolle Brüssels als Triebkraft des Wandels in der Türkei. Gegen Ende des Jahrzehnts wandte sich Ankara von Europa ab und den Nachbarländern und -regionen zu. Kapitel 4 erkundet die »Null-Probleme-mit-Nachbarn«-Phase, eine Periode, in der die Türkei versuchte, sich durch Handel, Entwicklungshilfe, Kulturexport und eine auf Konfliktlösung zielende Diplomatie als Führungsnation im Nahen Osten, auf dem Balkan und im Kaukasus zu etablieren. In dieser Zeitspanne war auch eine Neubewertung der strategischen Allianzen des Landes und, im Gefolge der Irak-Invasion 2003, eine zunehmende Divergenz zu den Vereinigten Staaten zu beobachten.

Die Türkei und ihre Nachbarstaaten

Die Auswirkungen des Arabischen Frühlings auf die Türkei, die Gegenstand von Kapitel 5 sind, können kaum überschätzt werden. Ankara sah in den Veränderungen südlich seiner Grenze eine Gelegenheit, sein »Modell« anzupreisen, importierte aber letztendlich Instabilität. Der Krieg in Syrien verursachte den türkischen Entscheidungsträgern großes Kopfzerbrechen, vertiefte die Kluft zum Westen, der sich nicht einmischen wollte, und forderte letztendlich von den demokratischen Institutionen der Türkei einen hohen Preis. Der Konflikt fiel mit einem Rückschritt in Richtung Autoritarismus in der Türkei zusammen, wie wir in Kapitel 6 darstellen werden. Erdoğan verschaffte sich die vollständige Kontrolle über die AKP, nahm das Rechtssystem an eine sehr kurze Leine und ließ 2013 die Proteste im Gezi-Park brutal niederschlagen. Der Versuch, die Kurdenfrage zu lösen, stellte die einzige große Leistung seines Regimes dar, doch auch dieser Versuch fiel schon bald dem nur halbherzigen Engagement der türkischen Regierung zum Opfer, ein Abkommen zu erreichen, wobei auch die Nachwirkungen des Syrien-Konflikts eine Rolle spielten. Die Weigerung der prokurdischen HDP, sich an der Einführung eines Präsidialsystems zu beteiligen, ließ die Rückkehr der Gewalt im Südosten der Türkei vorausahnen. Kapitel 7 zeichnet den Übergang des Landes zu einem kompetitiven autoritären Regime (in dem gewisse demokratische Institutionen in eingeschränktem Rahmen bestehen bleiben) nach, ein Wandel, der durch den fehlgeschlagenen Putschversuch im Juli 2016 beschleunigt wurde. Erdoğans »Neue Türkei« installierte ein neopatrimoniales Regierungssystem, das sich jedoch entgegen allen Versprechungen als unfähig erwies, Politik effizient zu betreiben oder das Wirtschaftswachstum nachhaltig zu fördern. Dementsprechend reagierten die Wähler: Sie wandten sich von der regierenden Partei ab und belohnten die vereinte Opposition.

Die letzten drei Kapitel bieten eine Bestandsaufnahme der türkischen Außenpolitik seit der Mitte der 2010er-Jahre. Wie Kapitel 8 zeigt, wendet sich Erdoğan Russland zu, um Druck auf die USA auszuüben und seine Ambitionen in Syrien zu verwirklichen; gleichzeitig verlässt er sich jedoch auf die USA und die westliche Allianz als Rückversicherung gegen ein erneut expansionistisch auftretendes Russland. Solange die AKP an der Macht bleibt, definiert sich die Türkei vor allem als Nahostmacht, richtet aber den Blick auch auf weiter entfernte Regionen in Subsahara-Afrika. Kapitel 9 erkundet die Patt-Situation im Verhältnis der Türkei zu den rivalisierenden Blöcken in der Nahost-Region, die von Saudi-Arabien beziehungsweise vom Iran angeführt werden. Im Unterschied zu den 2000er- und frühen 2010er-Jahren ist derzeit die militärische Macht der wichtigste Aktivposten der Türkei, anstelle der Vorzüge seines politischen Systems, seiner Wirtschaftskraft oder seiner populären kulturellen Exporte. Das Buch schließt mit einem Kapitel über die Beziehungen der Türkei zu Europa. Trotz Erdoğans polarisierender Rhetorik, der Tatsache, dass er das Flüchtlingsproblem benutzt, um die EU unter Druck zu setzen, und trotz der Spannungen im östlichen Mittelmeerraum bleiben die Türkei und die europäischen Länder wirtschaftlich auch weiterhin so eng miteinander verflochten wie in der Vergangenheit. Europa mag seinen Einfluss auf die Innenpolitik der Türkei eingebüßt haben, ist aber nach wie vor für die Interessen der Türkei von großer Bedeutung. Während sich die Türkei darauf vorbereitet, 2023 den 100. Jahrestag seiner Republikgründung zu feiern, sieht sich das Land mit heftigen Turbulenzen im Innern wie auch in seinen Beziehungen zum Rest der Welt konfrontiert.

1: Die Vergangenheit ist kein anderes Land

1

DIE VERGANGENHEIT IST KEIN ANDERES LAND

So reizvoll Istanbul auch sein mag, es besaß schon immer auch eine raue Seite. Wer hier in den 1990er-Jahren wohnte, wird das bestätigen können. Damals kämpfte die sich weit erstreckende Metropole mit einer schwindelerregenden Zunahme ihrer Einwohnerzahl – von 3 auf 10 Millionen innerhalb eines Jahrzehnts. Wasserknappheit und Stromabschaltungen waren an der Tagesordnung, vor allem während der Hitzewellen im Sommer. In Bezirken, die hauptsächlich von neu Zugezogenen aus den entferntesten Winkeln Anatoliens bewohnt wurden, bildeten sich lange Warteschlangen an den Brunnen der Nachbarschaft, aus denen die Menschen mit Plastikkanistern (bidon) Wasser heraufholten. Manche wagten sich auch weiter weg und durchstreiften auf ihrer »Wasserjagd« die ganze Stadt. In den Armenvierteln waren Baden und Wäschewaschen auf der Straße ein alltäglicher Anblick. Die unzureichende Qualität des »Trinkwassers« machte die Situation noch schlimmer. 1993 mussten die Gesundheitsbehörden wegen überhöhter Ammoniumwerte die Schließung des Elmalı-Reservoirs anordnen, woraufhin die Krise auch auf die wohlhabenden Bezirke entlang des Bosporus und des Marmarameers übergriff. Hatte der frühere Bürgermeister Bedrettin Dalan versprochen, dass die Gewässer am Goldenen Horn bald »dieselbe Farbe wie meine [blauen] Augen« haben würden, so wurde dieser Ausspruch infolge der starken Meeres- und Luftverschmutzung zu einem Standardwitz. Kommunalpolitiker von der Sozialdemokratischen Populistischen Partei SHP (Sosyaldemokrat Halkçı Parti), die damals die großen Städte und Gemeinden kontrollierten, waren mit der kolossalen Herausforderung, vor der sie standen, schlicht überfordert.

Die Notlage Istanbuls spiegelte den allgemeinen chaotischen Zustand des Landes wider. Waren die 1980er-Jahre noch vom Versprechen einer neuen, dynamischen und globalisierten Türkei geprägt gewesen, so erinnert man sich heute an das folgende Jahrzehnt nur noch als eine Zeit voller Turbulenzen und Unzufriedenheit. Berichte von politischem Streit, von Verschwörungen und Umsturz, von Säbelrasseln und Spiel mit dem Feuer füllten die Titelseiten der Zeitungen. Im April 1993 starb Staatspräsident Turgut Özal an Herzversagen, mitten in seiner Amtszeit. Sein Nachfolger, der altgediente Politiker Süleyman Demirel, sah eine Reihe von schwachen, zerstrittenen Regierungskoalitionen kommen und gehen. 1994 verzeichnete die Wirtschaft ihre schlimmste Rezession seit Jahrzehnten; das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um 4,7 Prozent. Aufgrund der galoppierenden Inflation verlor die türkische Lira dramatisch an Wert: von Januar bis Dezember stieg der Betrag, den man für einen US-Dollar bezahlen musste, von 15000 auf 38000 Lira. Der Internationale Währungsfonds musste dem Land zu Hilfe eilen. Bei den Kämpfen gegen die separatistische Kurdische Arbeiterpartei PKK verloren rund 1000 Soldaten ihr Leben. Durch diesen Krieg wurden 250000 Soldaten in den unruhigen südöstlichen Provinzen des Landes gebunden. Die Wehrpflicht wurde von 15 auf 18 Monate verlängert. Erzfeind Grie­chenland sprach sich gegen die Aufnahme der Türkei in die EU aus. Es war in der Tat kein Jahrzehnt, an das viele Türken gerne zurückdenken würden. 1

Die politische und wirtschaftliche Instabilität der 1990er-Jahre bildet das Herzstück von Erdoğans Narrativ. Von Anfang an stellte er seine Herrschaft als Heilmittel für das ›verlorene Jahrzehnt‹ dar, ähnlich wie Wladimir Putin sich als Retter Russlands des ihm vererbten Chaos inszeniert. Der Fairness halber sei angemerkt, dass Erdoğan in jenen Tagen auch als Politiker reifte, eine weitere Ähnlichkeit mit Putin, der während der Präsidentschaft Boris Jelzins einen enormen Karriereschub durchlief. Bei den Kommunalwahlen im März 1994 stimmten die enttäuschten Wähler in großer Zahl für die islamistische Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) und machten den ehrgeizigen jungen Politiker Erdoğan zum Oberbürgermeister der Metropole Istanbul. Die Wohlfahrtspartei siegte auch in vielen anderen Orten der Türkei, einschließlich der Hauptstadt Ankara. In Istanbul hatte Erdoğan seinen Sieg zwar den Wahlbestimmungen (vor allem dem Mehrheitswahlrecht) und einem Vorsprung von weniger als 12000 Stimmen vor dem Kandidaten der Mutterland-Partei (Anavatan Partisi, ANAP) zu verdanken. Dennoch konnte es keinen Zweifel geben, dass seine Botschaft beim Wahlvolk gut ankam. Die Verbesserung der Lebensbedingungen in vernachlässigten innerstädtischen Bezirken, etwa in seinem Heimatviertel Kasımpaşa, sowie auch an den Rändern der weit zersiedelten Stadt wurden zu Markenzeichen seiner Politik. 2 Und sind es auch heute noch, trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den 2010er-Jahren und dem Verlust der AKP-Mehrheit bei den Kommunalwahlen 2019 in wichtigen Großstädten, darunter auch Istanbul.

Doch schon der Triumph von 1994 in Istanbul hatte gezeigt, dass der Aufstieg der Wohlfahrtspartei zu nationaler Bedeutung unaufhaltsam war. Zum Entsetzen des säkularen Establishments wie auch vieler Türken, die dem Erbe des Mustafa Kemal Atatürk anhingen, eroberte die Refah Partisi auch die Hauptstadt Ankara, außerdem 25 weitere Provinzzen­tren. Aus der nächsten Parlamentswahl im Dezember 1995 ging die Partei erstmals als größte Fraktion in der Großen Nationalversammlung hervor. Sechs Monate danach übernahm Professor Necmettin Erbakan, der Vorsitzende der Partei und Gründungsvater des politischen Islam in der Türkei, das Amt des Ministerpräsidenten. Die Säkularisten witterten darin eine Gefahr für die Grundlagen der politischen Ordnung. Am 28. Februar 1997 gab der Generalstab der Streitkräfte der Türkei, damals eine Bastion des Kemalismus, eine nur schwach verhüllte Drohung he­raus, die einige Monate später zum Rücktritt Erbakans führen sollte. Das Verfassungsgericht verbot die Refah, weil sie gegen den Grundsatz der laizistischen Staatsdoktrin (laiklik) verstoßen habe – die Trennung von Staat und Religion, die von Frankreichs Laizismus (laïcité)