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Mina, Max, Vera - sie sind Kinder und Großkinder des Bäckermeisters August Stutz, der ihr Leben über seinen Tod hinaus prägte. Durch Widerstand, Verdrängung und Flucht haben sie zu entkommen versucht, doch nun, an den Bruchstellen ihres Lebens, müssen sie ihre Vergangenheit neu erinnern und sich ihrer Schuld stellen. Noch einmal liest die Hausfrau Mina die Briefe, die sie in der Kriegs- und Nachkriegszeit an ihren Mann schrieb. Noch einmal kehrt der Vietnampilot Max in die Schweiz zurück. Und zum ersten Mal hört die Schmetterlingszüchterin Vera, was ihrer Mutter wirklich zustieß. Ihre Geschichten verbinden sich zum lebendigen Portrait einer Schweizer Familie im zwanzigsten Jahrhundert. Sei es die Gewalt des Patriarchats oder des Krieges, seien es äußere Ereignisse oder innere Abhängigkeiten - sie stellen Gewissheiten über Heimat und Zugehörigkeit in Frage. Ein bewegender Roman über das Schweigen in Familien, über den Umgang mit der Vergangenheit und die Suche nach einer eigenen Wahrheit.
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2021
www.lenos.ch
Gabrielle Alioth
Roman
Die Autorin
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman Der Narr. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet.
www.gabriellealioth.com
E-Book-Ausgabe 2021
Copyright © 2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: David Havel / Shutterstock
eISBN 978 3 85787 995 1
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Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter,sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht,wie es war.
W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn
Mina
Vera
Mina
Vera
Mina
Vera
Mina
Vera
Mina
Vera
Mina
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Mina
Vera
Mina
Vera
Mina
Max
Vera
Max
Vera
Max
Mina
Vera
Mina
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Max
Vera
Zehn Jahre später
Auswahlbibliographie
An dem Morgen, an dem wir Mutter beerdigten, schien die Sonne. In den Wochen zuvor war ihr das Sprechen wieder leichtergefallen, als habe der allmähliche Zerfall ihres Gedächtnisses auch die Schranken, die sie sich selbst vor Jahrzehnten gesetzt hatte, beseitigt. Es überraschte mich nicht, zu hören, warum mein Grossvater tatsächlich im Gefängnis gewesen war. Neben meinen beiden älteren Schwestern ging ich in der grellen Januarsonne die von Eiben gesäumte Allee zum Ausgang des Basler Friedhofs hinunter; und eine Heiterkeit erfasste mich.
Es ist Nacht, und du stehst am Fenster. Obwohl man es dir verboten hat, bist du aus dem Bett geschlüpft wegen der Flugzeuge. Man hört sie, bevor man sie sieht. Du bist sechs Jahre alt, und es sind amerikanische Bomber, die über Basel nach Deutschland fliegen. Dort am Fenster in jener Nacht gegen Ende des Krieges hast du beschlossen, Flieger zu werden. So hast du es mir erzählt, Max.
Mein Grossvater sass stets in einem Korbstuhl in der Küche seiner Dachwohnung, wenn wir ihn in Feuerthalen besuchten. Meist ging meine Mutter zuerst allein zu ihm hinauf, wir warteten im Wohnzimmer meiner Tante. Ich sass auf der Eckbank, das weisse Tischtuch wie ein zugefrorener Teich vor mir. Es gab Apfelsaft und Kuchen, Linzertorte mit einem dicken Rand, den man aufessen musste. Meine Tante unterhielt sich mit meinem Vater, manchmal waren wohl auch meine beiden Schwestern dabei. Wenn meine Mutter die Treppe wieder herunterkam, sprach sie zuerst mit Mina, meiner Tante. Mein Vater fragte mich etwas. Bis ich geantwortet hatte, waren die beiden Frauen sich einig. Manchmal setzte meine Mutter sich zu uns an den Tisch, und nachdem sie auch ein Stück Linzertorte gegessen hatte, fuhren wir nach Basel zurück. Manchmal hiess sie uns aufstehen, strich uns die Haare, die Blusen zurecht, und wir folgten ihr die Stufen in die Dachwohnung hinauf.
Die Küche roch nach Dingen, die ich nicht gerne ass. Der Korbstuhl stand neben dem Fenster. Er ächzte, wenn Grossvater sich bewegte. Seine wässrigen Augen ruhten auf mir, argwöhnisch, so kam es mir vor. Während er mit meiner Mutter redete, betrachtete ich seinen eckigen Schädel mit den weissen Haarbüscheln an den Schläfen, die gekrümmte Nase, deren Spitze über seine schmalen Lippen ragte. Seine Stimme war heiser. Ich glaube nicht, dass er je ein Wort an mich richtete, und nach einiger Zeit ging ich mit meiner Mutter wieder zu Tante Mina hinunter, erleichtert und zugleich enttäuscht.
Ein Sonntagnachmittag im Hochsommer 1968, Zitronenfalter schweben durch den Garten. Mein Vater sitzt unter dem rot-weiss gestreiften Sonnenstoren und arbeitet. Meine Schwestern dösen in den Liegestühlen, meine Mutter ist am Aufräumen in der Küche, oder vielleicht hat sie sich hingelegt. Als es klingelt, werde ich an die Haustür geschickt. Ich bin dreizehn Jahre alt, und vor mir steht Elvis Presley. War es so, oder habe ich es mir später so vorgestellt? Du trägst ein kariertes Hemd, Bluejeans, und du hast dein Haar in einer Tolle aus der Stirn gekämmt wie Elvis Presley. So sitzt du auf dem Foto von jenem Sonntagnachmittag im Liegestuhl in unserem Garten in Riehen. Ich konnte nicht glauben, dass du mein Cousin bist.
Ich weiss nicht mehr, was du an jenem Nachmittag erzähltest, Max. Auf dem Foto siehst du glücklich aus, und ich verstand erst später, dass du etwas mit dem Vietnamkrieg zu tun hattest, den wir schwarzweiss in der Tagesschau sahen. Du lädst uns zum Abendessen in ein italienisches Restaurant ein, und es ist das erste Mal, dass ich jemanden mit einer Kreditkarte bezahlen sehe. Nach dem Essen verabschiedest du dich vor dem Restaurant in der noch hellen Sommernacht. Es dauert dreiunddreissig Jahre, bis ich dich wiedersehe.
Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnertem, Erdachtem und Erträumtem zusammengefügt, so wie es mir heute richtig erscheint. Aber schon bald kann sie sich ganz anders darstellen, denn wir formen die Vergangenheit immer wieder neu, auf der Suche nach einer Erklärung für unsere Gegenwart und in der Hoffnung auf eine Zukunft.
Sie faltet die Seiten und schiebt sie in den Ofen: 1937 wird genauso gut brennen wie die Jahre davor. Sie schliesst die Ofenklappe, bevor das Feuer die Blätter erfasst. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit sie diese Briefe schrieb.
22. Januar 1938
Lieber Oskar,
allerlei Neuigkeiten habe ich Dir heute zu berichten, ich weiss kaum, wo beginnen …
Während Mina die Kellertreppe hinaufsteigt, bemerkt sie die Russspuren an ihren Fingern. Sie hat sich angewöhnt, beim Treppensteigen auf ihre Hand am Geländer zu blicken; die Stufen vor ihr lassen sie schwindeln. Ihre Finger fahren über die Risse in der Bemalung des Geländers. An manchen Stellen ist die weisse Deckfarbe abgeblättert und entblösst eine dunklere Farbschicht darunter. Oskar hatte ihr befohlen, die Kinder in den Keller zu sperren, wenn sie nicht gehorchten. Sie schloss sie im WC ein, durch dessen vergittertes Fenster ein Stück Himmel zu sehen ist. Mina schliesst die Kellertür. Sie schrieb Oskar nicht, dass sie seine Anweisungen nicht befolgte.
Ende letzter Woche war ich vollständig erledigt. Die Arbeit wuchs mir einfach über den Kopf. So muss ich nun Sonntag für Sonntag Strümpfe flicken, bevor ich die Kinder anziehen kann. Meinen letzten Brief wollte ich tatsächlich ausführlicher schreiben, aber meine Zeit ist halt auch knapp bemessen, und es ist mir peinlich, dass aus diesem Grund wichtige Mitteilungen ungewollt aufgeschoben werden. Deine Schuhe sind bis heute nicht angekommen. Hast Du sie abgeschickt?
Mina schrubbt ihre Hände über dem Spülbecken in der Küche mit der Bürste und dem Stück Kernseife, das sie für hartnäckigen Schmutz verwendet. 1938 war sie zweiunddreissig Jahre alt, Mutter von drei Mädchen, und Oskar, ihr Mann, arbeitete im Aussendienst der Georg-Fischer-Werke. Welche wichtigen Mitteilungen hatte sie damals ungewollt aufgeschoben? Sie trocknet die Hände ab. Seit sie begonnen hat, die Briefe zu verbrennen, bilden sich schwarze Ränder um die Ofenklappe. Das nächste Mal wird sie einen Lappen mit in den Keller nehmen, um die Russspuren wegzuwischen.
Bärbeli ist ein grossartiges Kindlein, so fröhlich und zufrieden, als wäre es hier im Paradies. Warum können wir nicht auch wieder wie Kinder sein und uns in kindlicher Zuversicht begegnen?
In der Stube setzt sie sich in den Sessel, den sie nach Oskars Tod neu bespannen liess. Mit einem schmerzhaften Ziehen fügt sich ihr Rücken der Form der Lehne. Mina legt den Kopf auf das weisse Schutztüchlein über dem altrosa Samt und schliesst die Augen. Seit ihr Gehör nachlässt, füllt sich das Haus mit Klängen: Kindergelächter, Stimmen, und manchmal fällt irgendwo eine Tür ins Schloss. Zuerst hat sie versucht, sie auseinanderzuhalten, den Verkehrslärm, der nun bis spät in die Nacht von der Strasse heruntertönt, von den Schritten auf dem Kies draussen zu unterscheiden. Aber die Geräusche kommen alle aus der gleichen Entfernung, und es gibt keinen Grund, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen.
7. Februar 1938
Lieber Oskar,
heute haben wir endlich Deinen Brief erhalten. Kam Dir nicht auch ein Lächeln auf die Lippen, weil unsere Briefe, die sich kreuzten, genau mit denselben Worten beginnen? Es hat mir gezeigt, dass wir uns eigentlich viel besser verstehen, als wir oft glauben.
Sie war einsam gewesen in Paris. Vater hatte ihr erlaubt, ein Volontariat in der Küche der Zunft zur Zimmerleuten in Zürich zu machen, wo man ihn als Kantonsrat kannte. Aber von ihrem Wunsch, Köchin zu werden, hielt er nichts. Als Dienstmädchen in Frankreich verdiene sie ihren eigenen Unterhalt. Sie wollte vorschlagen, die Auslagen für ihre Lehrzeit zurückzuzahlen, wenn sie die Ausbildung fertig habe, aber Vater hob die Hand, noch während sie sprach. Einen Moment zögerte er, als überlege er es sich nochmals, dann schlug er auf den Tisch. Kein Wort wolle er mehr davon hören.
An einem Sonntagstreffen des Schweizer Clubs in Paris fragte Oskar Röderer sie, ob sie Lust habe, mit ihm die Seine entlangzuspazieren. Er trug weite Kniehosen mit gestreiften Socken, wie es Mode war, und ein kariertes Jackett. Sie muss schäbig ausgesehen haben neben ihm in ihrem dunkelblauen Kleid und der Strickjacke. Er hörte aufmerksam zu, als sie von zu Hause erzählte, stellte Fragen. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass er ihre Bäckerei in Feuerthalen kannte, die Schule, in die sie und ihre drei Geschwister gegangen waren, und Oskar wusste auch, dass ihr Vater, August Stutz, als Erster im Dorf ein Auto gehabt hatte, eine schwarze Horch 8 Limousine. An ihrem nächsten freien Nachmittag lud Oskar sie zum Tee ein. Sie merkte erst später, dass er meinte, sie sei eine gute Partie.
Am Freitagvormittag habe ich den Zahltag von 158.80 Fr. abgeholt. Bereits sind die Policen für die Kinder da (total 36.10), die ich nun einzahlen muss. Aus den Zeitungen wirst Du gesehen haben, dass alle Lebensmittel aufgeschlagen haben. Ich konnte noch 3 kg Butter (ausgelassen) zum alten Preis erhalten. Das Vollkornbrot kostet jetzt 40 Rp. Gottseidank haben wir ein befriedigendes Einkommen, und ich versuche, durch noch einfachere Lebensweise die Teuerung für unseren Haushalt unbemerkbar zu machen (es wird dies vielleicht nicht so leicht gelingen).
Sie hatte nicht an Liebe gedacht, während sie mit Oskar die Seine entlangspazierte. Sie war einfach froh, den vertrauten Dialekt zu hören, und als er nach einigen Monaten vorschlug zu heiraten, glaubte sie, die Liebe würde allmählich kommen, als Lohn für die Treue, die Fürsorge, die Mühe. Er ist Monteur, erklärte Mina ihrer Mutter, als sie nach Weihnachten für ein paar Tage nach Hause durfte. Madame hatte sie über die Festtage gebraucht und ihr ein paar Handschuhe aus grauem Wildleder geschenkt. Sie lagen in Seidenpapier eingeschlagen in einer blauen Schachtel, auf der ›Articles de ganterie, Paris‹ eingeprägt war. Mutter stand in der Backstube vor der Waage und füllte Paniermehl in Tüten. Er ist reformiert, fuhr Mina fort, seine Eltern haben einen kleinen Bauernhof in Herblingen, und sein Vater arbeitet zudem als Coiffeur. Die Röderers sind einfache Leute, aber – Darum geht es nicht, sagte Mutter. Sie trug eine Backstubenschürze über der blauen Werktagsbluse, und in ihrem Haar, das sie zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt hatte, waren die ersten grauen Strähnen zu sehen. Er wird auswärts sein, auf Montage, und du – Die Ladenglocke klingelte, und Mutter streifte die Schürze ab. Mina kam nicht dazu, zu erklären, dass sie bereit war, sich das Glück zu verdienen.
Mina öffnet die Augen, und die Helligkeit überrascht sie. Draussen hat es zu schneien begonnen, grosse, pelzige Flocken, die im ersten Moment auch durch die Stube zu wirbeln scheinen.
Sie war sicher, Vater würde Oskar abweisen, nachdem Mutter bereits Zweifel geäussert hatte. Ohne Begründung, dafür war es nicht wichtig genug, und sie würde nicht wagen, Fragen zu stellen. Oskar trug einen neuen Anzug und die dunkelrote Krawatte, die sie für ihn gehäkelt hatte. Sein Gesicht war ernst an dem Sonntagnachmittag, als er Vaters Büro betrat. Mina wartete in der Stube mit Mutter, die die Zeitungen der letzten Woche nachlas, und Hildi, ihrer jüngsten Schwester, die an einem Stück Stoff herumnähte. Der grüne Kachelofen verströmte eine zähe Wärme. Mina horchte auf die Stimmen im Büro, aber sie waren nicht mehr als ein Murmeln. Sie betrachtete das Buffet, in dem das Sonntagsgeschirr mit den goldenen Rändern und dem Rosenmuster aufbewahrt wurde, die Pendule, deren Zeiger kaum vom Fleck rückten. Sie würde nach Paris zurückkehren müssen, weiter für Madame arbeiten, und alle hier zu Hause wüssten, dass sie sitzengeblieben war. Man würde sie bemitleiden, auslachen. Als die Bürotür sich öffnete, blickte Mutter von den Zeitungen auf, und Mina sah ein Zucken um ihren Mund, bevor sie selbst den Kopf wandte. Vaters Hand lag auf Oskars Schulter; Oskar grinste. Ein junger Mann mit bürgerlichen Überzeugungen, urteilte Vater später; er werde ihn für die Partei vorschlagen. An dem Sonntag tranken sie zusammen Kaffee aus dem Sonntagsgeschirr, das plötzlich auf dem Tisch stand. Jemand holte Kuchen aus dem Laden, Vater bot Oskar einen Stumpen an. Oskar strich Hildi über den Kopf und lobte die Sonntagsschleifen an den Zöpfen der Elfjährigen. Mina spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, nun würde sie bald selbst Kinder haben.
Es war dunkel, als sie Oskar auf den Bahnhof begleitete. Sie hatten ein Datum für die Verlobung festgelegt. Oskar sprach von dem Haus, das sie mit Minas Mitgift bauen würden. Als der Zug einfuhr, griff er nach ihrer Schulter. Einen Moment zögerte er, als überlege er es sich nochmals, dann küsste er sie auf den Mund.
30. April 1938
Lieber Oskar,
mit Sehnsucht habe ich einen Brief erwartet, der nun endlich heute Vormittag eingetroffen ist. Tatsächlich war ich sehr überrascht, zu erfahren, dass Du nach Düsseldorf fährst. Viel eher hätte ich gedacht, dass Du plötzlich einmal daheim stehst.
Wäsche hatte ich ausnahmsweise am Samstag, damit Du nicht in Verlegenheit kommst. Ich habe diesmal fünf Wochen gewartet, was einen sehr anstrengenden Tag verursachte, aber Hildi kam mir zu Hilfe, hängte auf und nahm ab, so dass ich abends noch alle Kinder baden konnte, was gleich im Wäschetrog geschah.
Waschtage, Putztage, Gartentage. Die Zeit war nach Aufgaben geordnet, und jede Aufgabe hatte wieder eine Ordnung: einweichen, aufbrühen, einseifen, spülen, auswringen, aufhängen. In den ersten Jahren kam Oskar manchmal unangekündigt nach Hause. Mina beteuerte, sie und die Kinder freuten sich darüber, aber sie wusste, dass er sie kontrollierte.
Hildi wohnte noch in der Bäckerei bei den Eltern. Mutter hatte sie unterstützt, als sie sagte, sie wolle eine kaufmännische Lehre machen, und zum Schluss hatte Vater eingewilligt. Nun arbeitete sie in der Buchhaltung der Strickmaschinenfabrik. Man hatte sie mit einem jungen Mann in der Stadt gesehen, aber sie wich Minas Fragen aus und begann von Nelly zu reden, die schwanger war. Während Mina mit der Holzkelle die Wäsche aus der Lauge fischte, überlegte sie, ob ihre beiden jüngeren Schwestern wussten, was es hiess, Kinder zu gebären. Mutter hatte nichts dagegen gehabt, dass Nelly Erhard Messner heiratete, obwohl niemand genau wusste, womit er sein Geld verdiente, und mit seinem gewellten Haar, dem verschmitzten Lächeln gefiel er auch Mina. Man merkte nicht, dass er Deutscher war, so gut sprach er Dialekt.
Sonntag ging ich mit den Mädchen in den Wald. Es war ein wunderschöner Frühlingstag, und wir haben einen Maierisli-Platz entdeckt. Sie blühen aber noch nicht. Letzte Woche war grosser Alarm. Morgens um drei Uhr ertönten Sirenen, Kirchenglocken und Feuerhörner. Das Mühlental und andere Fabriken waren zwei Tage geschlossen, nachts war alles verdunkelt. Ein neuer Steuerzettel ist in den letzten Tagen gekommen. Demnach muss ich schliessen, dass Du die Steuererklärung eingereicht hast. Die Steuern belaufen sich für dieses Jahr auf Fr. 46.05.
Die Angst schlich sich in ihre Briefe. Seit die Deutschen in Österreich einmarschiert waren, sprach man von der Mobilmachung. In der Zeitung stand, im Parlament werde die Verlängerung der Dienstzeit und der Ausbau der Flugwaffe verlangt. Minger, der Vorsteher des Militärdepartements, sagte, leistungsfähige Bahnen sowie ein ausreichender Bestand an Pferden und Motorfahrzeugen seien eine absolute Notwendigkeit und man werde dafür auf Requisition angewiesen sein. Zum Ende des letzten Krieges war Mina noch ein Kind gewesen, sie hatte geglaubt, die Bösen seien bestraft, die Guten belohnt worden. Diesmal würde es anders sein. Oskar sprach mit Bewunderung von den Anstrengungen, mit denen die Deutschen ihre Wirtschaft aufbauten. Aus einer niedergetretenen Nation sei eine Weltmacht entstanden, habe der Reichskanzler gesagt. Vater schwieg dazu. Er hatte sich nicht mehr für den Kantonsrat aufstellen lassen. Weil er sich mehr um die Bäckerei kümmern wolle, sagte Mutter, wenn die Leute im Laden sich erkundigten. Mina fragte nicht nach dem wahren Grund. Sie hatte sich vorgenommen, Mutter zu beweisen, dass sie eine richtige Familie hatte, auch wenn Oskar im Ausland war. Nach dem Alarm stand sie noch eine Weile in der Dunkelheit auf dem Balkon und betrachtete den Nachthimmel über der deutschen Rheinseite. Was, wenn ihr keine Zeit dazu blieb?
Es freut mich, dass die Montage mit raschen Schritten vorwärtsschreitet. Glaubst Du wirklich, Düsseldorf zwischenhinein fertig machen zu können? Dann könntest Du doch gewiss ein paar Tage nach Hause kommen. Ich habe festgestellt, dass wir beide ob der Trennung sehr leiden. Ich frage mich, ob Du nicht 1–2 Zimmer möbliert mit einer Kochgelegenheitfinden könntest und wir unseren Haushalt einige Zeit nach Mannheim verlegen sollten? Ich möchte unsere Ehe erleben, voll und ganz, dass es ein ganzes Leben sei, nicht ein zerfahrenes …
Sie war dann tatsächlich nach Mannheim gefahren, aber allein und nur für eine Woche, während die Kinder von Frau Freitag betreut wurden. Zwei Flaschen Wein und einen Schüblig hatte sie sorgfältig zwischen ihre Wäsche gepackt, damit die frischen Hemden, die sie Oskar bringen musste, keinen Schaden nehmen würden, falls die Flaschen im Koffer zerbrachen. An der Grenze prüften die deutschen Zöllner ihren Pass, und sie fragte sich plötzlich, ob der Name Röderer jüdisch klingen könnte. Das Zimmer im Hotel Friedrich war kleiner, als Mina es sich vorgestellt hatte, und im ersten Moment sah sie nur das Bett, ein dunkles, mit Schnitzereien verziertes Möbelstück, auf dem sich Daunenkissen wölbten. Als sie am nächsten Morgen den Fleck auf dem weissen Laken bemerkte, schämte sie sich. Was würde das Zimmermädchen denken? Unsere verspätete Hochzeitsreise hatte es Oskar in einem seiner Briefe genannt und dass er hoffe, dass sie dann auch in spezieller Beziehung »zwäg« sei.
Während er in der Fabrik war, flickte Mina die Wäsche, die er für sie bereitgelegt hatte. Dann begann sie das Buch zu lesen, das er, wie er sagte, extra für sie gekauft habe. Via Mala – lebenswahr und spannend fand er es. Doch ihre Gedanken wanderten immer wieder nach Hause. Vielleicht hätte sie die Mädchen doch bei Mutter lassen sollen, anstatt eine Hauspflegerin einzustellen. Aber Oskar fand, die Kinder lernten die falschen Werte in der Bäckerei, und er wolle sie nach seinen eigenen Grundsätzen erziehen. Mina beobachtete, wie die Sonne langsam einen schrägen Streifen über die gegenüberliegende Hauswand schob. In den Mittagspausen holte Oskar sie ab, und sie gingen in das kleine Café gegenüber dem Hotel. Das Gasthaus, in dem er gewöhnlich ass, sei zu betriebsam, sagte er, und seine Kollegen liessen sie grüssen, unbekannterweise.
An einem Nachmittag ging sie nach dem Mittagessen nicht ins Zimmer zurück, auch das Buch holte sie nicht, wie sie ursprünglich vorgehabt hatte. Das Unglück der Familie Lauretz passte nicht zu dem sonnigen Frühlingstag. Der Weg war weiter, als sie gedacht hatte, und eine Weile zweifelte sie, ob sie den Stadtplan richtig gelesen hatte. Doch dann hörte sie Kinderstimmen, und der Wind trug ihr den Geruch des Flusses zu. Es war Ende Mai, die Blüten der Kastanien standen weit offen. Auf einem Rasen spielte eine Schar Kinder Es geht ein böses Ding herum. Sie setzte sich auf eine Bank am Ufer und betrachtete die Wellen auf dem Wasser, als müssten diese sie wiedererkennen.
Sie verstand die Frage des älteren Herrn zuerst nicht und nickte verwirrt. Mit einer leichten Verbeugung setzte er sich neben sie auf die Bank. Der goldene Knauf seines Spazierstocks hatte die Form eines Entenkopfes. Vielleicht kamen sie deshalb ins Gespräch oder wegen ihres Taschentuchs, auf dem die Wappen aller Kantone abgebildet waren. Sie sprachen über die Schweiz, die Kinder, über Mannheim, Schaffhausen und den Fluss, der die beiden Städte verband. Der Herr erzählte, er sei der Einzige seiner Familie, der noch in Deutschland sei, und Mina erinnerte sich an die Passkontrolle. Sie hatte sich die deutschen Juden anders vorgestellt. Er fragte sie, was sie sich wünsche, und einen Augenblick wollte sie antworten, sie würde gern das Glitzern der Sonne auf dem Rhein in Erinnerung behalten. Doch dann sagte sie etwas von Gesundheit und Frieden. Als es kühler wurde, gingen sie ein Stück weit zusammen, dann verabschiedete der Herr sich, wieder mit einer kleinen Verbeugung. Auf dem Rückweg zum Hotel fühlte Mina sich mit einem Mal leicht. Sie konnte sein, wer sie wollte, hier, wo keiner sie kannte.
An dem Abend, an dem Oskar ins Konzert ging, löschte sie das Licht früher als sonst. Reglos lag sie unter der Last der fremden Bettdecke und lauschte den Geräuschen der Stadt. Morgen wäre sie wieder zu Hause. Sie erwachte, als Oskar die Zimmertür öffnete. Es war spät, und er war guter Dinge. Das Konzert sei prächtig gewesen, sagte er. Als er sich über sie beugte, schlug ihr der Geruch von Wein und Rössli-Stumpen ins Gesicht. Einen Augenblick glaubte sie, sich übergeben zu müssen.
7. Juni 1938
Lieber Oskar,
meine Heimreise verlief ohne Störung, und die Mädchen haben sich sehr gefreut, mich wiederzusehen, vor allem Bärbeli. Sie bedanken sich alle für die Mundharmonika, die Du ihnen geschenkt hast. Lisbeth versuchte gleich Alle Vögel sind schon dadarauf zu spielen, aber sie braucht noch etwas Übung. Wir müssen uns natürlich schon reiflich überlegen, was zu tun sei wegen des Wohnungswechsels, und ich warte gerne Deinen Bericht ab.
Sie sprachen nie wieder über einen Umzug nach Mannheim. Stattdessen kaufte Oskar mit ihrer Mitgift und den Hypotheken, die er von der Bank bekam, ein Grundstück unterhalb der Landstrasse nicht weit vom Rheinufer. Der Bankangestellte, sagte er, habe ihm beigepflichtet: Auch die Schweizer Industrie werde von einem Krieg profitieren, und Fachleute wie er seien immer gefragt.
Mina überlegt, ob sie schon zu Abend gegessen hat. Sie hat keinen Hunger und ist auch nicht müde, obwohl die Stubenuhr bereits zwanzig nach elf zeigt. Nach all den Jahren hat ihr Körper endlich aufgehört, Forderungen zu stellen. Selbst der Schmerz im Rücken, der ihr früher die Tränen in die Augen trieb, ist nur noch ein Ziehen. Es wäre mir schon lieb, zu erfahren, woher es kommt, dass Dir immer etwas fehlt, schrieb Oskar aus Mannheim. Du bist verpflichtet, Dich unseren Kindern und mir lebensfähig zu erhalten.
Als die Übelkeit nicht nachliess, ging Mina zum Arzt. Aufrecht sass sie auf dem Stuhl vor Doktor Mosers Schreibtisch und wartete darauf, dass er von seinen Papieren aufsah und es ihr sagte. Die Spannung würgte sie in der Kehle, als wüsste sie nicht, was mit ihr los war. Sie wunderte sich, warum sie das aufmunternde Lächeln, das ihr das Vorzimmerfräulein beim Hinausgehen zuwarf, nicht erwidern konnte. Doktor Moser hatte recht, es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen, ein freudiges Ereignis, ein Sohn vielleicht nach all den Mädchen. Oskar hatte von Anfang an einen Sohn gewollt.
Ist das nötig?, fragte Mutter. Die Ladenglocke ging, und als sie nach einiger Zeit wieder in die Küche kam, hatte Mina nicht den Mut, zu fragen, was sie damit gemeint hatte. Während sie über Stubenwagen und Umstandskleider diskutierten, vergass sie es. Erst am Abend, nachdem sie die Mädchen zu Bett gebracht hatte und an der Strickmaschine sass, fiel es ihr wieder ein.
20. Juli 1938
Lieber Oskar,
ich danke Dir sehr für das Vertrauen, das aus Deinem Brief spricht. Ich will mir Mühe geben, unser Jüngstes jetzt schon gut zu beeinflussen. Die Bäckerei werde ich sowieso noch etwas mehr beiseite rücken müssen. Es gibt bei uns ja allerlei Vorbereitungen für den Winter. Die Erstlingswäsche ist auf ein kleines Häufchen zusammengeschrumpft. In meinem Kleiderkasten will ich aber zuerst nachsehen, ob ich nicht noch etwas Passendes ändern kann. Wenn es dann wirklich nötig ist, neues Material für ein Umstandskleid anzuschaffen, mache ich von Deinem Anerbieten gerne Gebrauch.
Der Sommer war schwül, und sie arbeitete jeden Tag im Schrebergarten. Vielleicht war sie etwas müder, etwas ungeduldiger mit den Mädchen als sonst. Sie erinnert sich nicht daran. Sicher ging sie weniger in die Bäckerei. Nicht nur weil Oskar es so haben wollte, sondern auch weil Mutter sich von ihr in ihrem Zustand kaum helfen liess. Oskar blieb in Mannheim, damit er dann im Winter sicher zu Hause sei, um den Stammhalter zu empfangen. Die Übelkeit verlor sich nach den ersten Monaten, und Mina schlief einen tiefen, traumlosen Schlaf. Die Zufriedenheit, die sich in ihr ausbreitete, liess ihren Körper ihr noch fremder erscheinen. Während sie das Fallobst im Schrebergarten zusammenlas, spürte sie den ersten zaghaften Stoss in sich.
20. Oktober 1938
Lieber Oskar,
so ungern ich von mir persönlich ein Langes und Breites mache und meine Pflichten stets im Stillen zu erledigen suche, muss ich Dir doch eine kurze Mitteilung machen. Vor einigen Tagen hat sich eine scheinbar harmlose Störung in meiner Schwangerschaft vollzogen. Ich habe alle Vorsicht aufgeboten, um keine Panik zu verursachen unter den Kindern, falls ich ins Spital muss. Es ist alles vorbereitet, und ich befinde mich bis jetzt sehr wohl. Das einzig Verdächtige ist, dass ich seit zwei Tagen kaum mehr Leben spüre, was vorher deutlich zum Ausdruck kam. Heute Nachmittag gehe ich wieder zum Arzt. Ich bin gefasst und zuversichtlich, dass sich alles zum Guten wendet.
Die Stille in ihr, an die erinnert sich Mina genau, und an die dumpfe Gleichgültigkeit, mit der sie alles vorbereitete. Sie schämte sich dafür. Sie war nicht gefasst, sondern teilnahmslos.
23. Oktober 1938
Lieber Oskar,
grosse Neuigkeiten habe ich nicht zu berichten. Mein Gesundheitszustand hat sich nicht verändert. Der Arzt konstatierte am Freitag wohl Herztöne, die nicht meine eigenen sein könnten, wie er sich ausdrückte. Es gilt nun abzuwarten, ob sich wieder Leben regt. Die leichteren Hausarbeiten kann ich ohne grosse Mühe verrichten, vermutlich werde ich aber übernächste Woche eine Wäscherin einstellen für die strenge Arbeit. Ich denke, dass Du mir in diesem Fall einen solchen Luxus erlaubst.
Die Kälte des Lakens weckte sie. Im ersten Moment begriff sie nicht, woher sie kam, und da erbrach sie sich schon, in heftigen, würgenden Krämpfen. Bittere, schleimige Schlacken auf das saubere Bett. In der Morgendämmerung sah sie, wie der feine Schaum am Rand im Gewebe versank und eine zähe gelbliche Masse auf der Decke zurückblieb. Wieder und wieder zog sich ihr Magen zusammen und zwang sie, den Mund zu öffnen.
Dann war sie leer, ohne Schmerz. Vorsichtig rutschte sie unter der Decke hervor, um die gallige Masse nicht in Aufruhr zu bringen. Das nasse Nachthemd klebte an ihren Beinen. Mina zog es aus und legte es so zusammen, dass der trockene Teil aussen war. Ohne ihren Bauch anzuschauen, hüllte sie sich in den Morgenrock. Dann knöpfte sie den Überzug auf und schob ihn mit der erbrochenen Galle über die Bettdecke zurück. Sie überlegte, ob die Flecken darauf Spuren hinterlassen würden. Unter dem Molton auf der Matratze war kaum etwas zu sehen von dem ausgelaufenen Fruchtwasser. Als sie sich im Badezimmer wusch, kam der erste Schmerz, ein klarer, scharfer Stich, der ihren Körper mit erschreckender Leichtigkeit durchdrang. Er war gleich wieder weg, und für einen Augenblick glaubte sie, sie habe sich getäuscht. Doch dann sah sie die braunen Streifen auf dem Badetuch, mit dem sie sich zwischen den Beinen abtrocknete, und auch auf der Binde, die sie dagegenpresste, war gleich ein rotbrauner Fleck.
Sie muss sich angezogen, dem Arzt und Frau Freitag telefoniert haben. Irgendwie nahm alles seinen Lauf. Der Schmerz kam zurück und schob sich zwischen sie und die Welt. In immer höheren Wellen hob er sie hoch, spülte sie davon. Sie hörte sich schreien, aber sie fürchtete sich nicht. Sie trieb in dem Strom, der ihren Körper erfasst hatte, geborgen fast in ihrer Wehrlosigkeit, bis sie in einer leichten, gleitenden Bewegung in die Dunkelheit kippte.
Vera wurde als letztes Enkelkind des August Stutz geboren, als jüngste Tochter seiner jüngsten Tochter, und wenn man von der Verwandtschaft sprach, war stets die Familie ihrer Mutter, Hildi, gemeint. Die Eltern von Veras Vater waren gestorben, seine beiden Brüder mit ihren Frauen und Söhnen blass gegenüber Mutters Geschwistern: Onkel Alfred, der Junggeselle in Zürich, der seine Angorakatze verwöhnte und über Kunst sprach, Tante Nelly in Amerika, deren endlose Briefe Veras Mutter abends mit einem Seufzer aus den hauchdünnen Luftpostumschlägen zog, und Tante Mina. Sie kannte Vera am besten, denn man besuchte sie oft.
Tante Mina wohnte südlich von Schaffhausen, in Feuerthalen, gleich jenseits des Rheins, in einem Haus mit einem grossen Garten. Die Beete waren voller Gemüse, der Hausmauer entlang wuchsen Aprikosenspaliere. Im Sommer sass man auf der Veranda, im Winter in der Stube um den gedeckten Tisch, ass Kuchen von Tellern mit Rosenmuster, und meist ging man auch kurz zu Grossvater in seine Wohnung im Dachstock hinauf. Wenn Onkel Oskar dann eine Flasche Wein aus dem Keller holte und die Erwachsenen sich unterhielten, schickte man Vera in den Flur. Dort unter der Treppe war ein dunkles Kämmerlein, in dem Spielsachen aufbewahrt wurden: ein Kaufladen mit hölzernen Brotlaiben, der Kopf eines Schaukelpferdes, ein rotes Propellerflugzeug, ein altmodischer Baukasten, eine mit Schmetterlingen bemalte Schachtel, in der Ausstechförmchen lagen, Halbmonde, Sterne, und ein Kinderwagen mit schlaffen Stoffpuppen.
Bevor man sich verabschiedete, musste Vera alles wieder in das Kämmerlein räumen. Auf dem Rückweg fuhr man stets an der Bäckerei vorbei, die einmal Grossvater gehört hatte, und Mutter sagte, wie schäbig das Haus nun aussehe. Bis sie daheim ankamen, war Vera auf dem Rücksitz des Wagens eingeschlafen, und ihr Vater trug sie ins Bett, ohne sie zu wecken. Am nächsten Tag kamen ihr der Besuch bei Tante Mina und das Dunkelkämmerlein mit den Spielsachen wie ein Traum vor.
Einmal wohnte Tante Mina eine Weile bei ihnen in Riehen. Sie jätete im Garten, und Vera sah zu, wie sie mit Mutters altem Küchenmesser den Löwenzahn ausstach. Beharrlich bohrte Tante Mina die Klinge neben den Blättern in die Erde, bis die Wurzel sich löste und mit einem Kippen des Messers herausgezogen werden konnte. Tante Mina war die älteste Schwester von Veras Mutter, und Vera wusste schon als Kind, dass Onkel Oskar sie quälte.
30. Oktober 1938
Lieber Oskar,
Dein Luftpostbrief hat für die weite Reise nur einen Tag gebraucht. Vorgestern Abend war er schon in meinen Händen, und ich danke Dir von Herzen für Deinen Beistand. – Eine Stunde später erkundigte sich das Werk, Direktor Stämpfli, am Telefon eingehend über mich und sandte die besten Wünsche zur Genesung. Die Brust muss einige Tage und Nächte heiss gewickelt werden.
Mina legt den Brief mit der Rückseite nach oben auf den Stapel der gelesenen. Der Wetterbericht verkündet mehr Schnee für morgen; sie kann sich nicht erinnern, wann sie das Radio eingeschaltet hat. Sie sollte Kohlen nachlegen, bevor sie schlafen geht, aber der Keller scheint voll Erinnerungen, als habe das Feuer sie aus den Briefen gelöst.
Am Schluss war Oskar nur noch Haut und Knochen gewesen, ein gelbes Gesicht im gedämpften Licht der Leichenhalle. Er schien zu lächeln hinter der Scheibe, das spöttische Lächeln der Toten, aber es hatte nichts mehr zu tun mit ihr. Nach der Abdankung bildete sich eine Schlange von Leuten, die ihr kondolieren wollten. Verwandte, Nachbarn, Bekannte von früher, alle waren da, ausser Bärbeli, Barbara, wie sie nun genannt werden wollte. Im Nachruf in den Schaffhauser Nachrichten stand, Oskar sei ein guter Familienvater gewesen und habe trefflich für die Seinen gesorgt.
Einige Wochen nach der Beerdigung räumte Mina mit Lisbeth zusammen die Werkstatt in der Garage, in der Oskar seine letzten Jahre zugebracht hatte. Als sie die Hobelbank verschoben, entdeckten sie die Kiste und dachten zuerst, es sei Schnaps darin, wie im untersten Fach des Aktenschrankes. Doch als sie die Holzwolle beiseiteschoben, blickten sie in ein metallenes Gesicht.
Der Schreck dauerte nur einen Augenblick, dann prustete Lisbeth los: »Woher hat er denn den?«
»Der muss aus Deutschland sein«, meinte Mina, »aus Mannheim vielleicht.«
In den folgenden Tagen überlegten sie, wie sie die gegossene Büste von Adolf Hitler entsorgen konnten, ohne Aufsehen zu erregen; Mina weiss nicht mehr, was sie zum Schluss damit machten.
Es ist kalt im Schlafzimmer, als Mina am nächsten Morgen erwacht, und das Licht, das durch die Lamellen der Fensterläden dringt, ist greller als sonst. Seit sie den Wecker nicht mehr stellt, verschläft sie manchmal den halben Tag. Die Schneedecke auf den Beeten im Garten sieht aus wie ein weisser Verband. Jahr für Jahr haben sie die Erde aufgegraben, umgestochen, Kohl, Bohnen, Rüben in ihr gezogen und alles ausgemerzt, was ihnen nicht nützlich erschien. Im Morgenrock geht Mina durch das kalte Haus in den Keller hinunter. Unter den verkohlten Briefen ist noch etwas Glut, und nach kurzer Zeit lecken die Flammen an den Kohlen. In der Küche kocht sie Kaffee und giesst ihn in die Thermoskanne. Es ist keine Milch mehr da, und das Brot ist alt, aber sie hat auch gar keinen Hunger. Sie steckt den Zeigefinger in die Erdbeerkonfitüre und schleckt ihn ab, so wie früher als Kind heimlich. Lisbeth wird anrufen, wegen dem Schnee, und sich erkundigen, ob sie etwas brauche. Mina trägt die Kaffeetasse in die Stube und setzt sich an den Tisch, auf dem die Briefe, nach Jahren sortiert, gestapelt liegen.
3. November 1938
Lieber Oskar,
glücklich daheim! Mit dem 5-Uhr-Zug bin ich angekommen. Die Mädchen standen am Bahnhof. Wir freuten uns alle über das Wiedersehen. Die Kinder sehen prächtig aus und scheinen mit Frau Freitag in vorzüglicher Harmonie gelebt zu haben.
Sie hatte gedacht, sie werde die Mädchen kaum wiedererkennen, so lange, schien es ihr, sei sie fort gewesen, so weit weg. Doch da standen sie auf dem Bahnsteig, lachten und schwatzten, als sei nichts geschehen. Der kurze Weg vom Bahnhof zur Wohnung ermüdete Mina, und als sie an dem gedeckten Tisch sass, vor der Spinatwähe, die Frau Freitag gebacken hatte, wurden ihr die Augen wässrig vor Erschöpfung.
Mein Zustand ist recht befriedigend. Auf den Füssen bin ich schon noch etwas unsicher, aber der heutige Untersuch von Doktor Moser lautet auf Entlassung. Hingegen soll ich in sechs bis sieben Wochen wiederkommen zur Sterilisierung. Die Sache, sagt er, müsse ohne Einwand angenommen werden, trotz meines jugendlichen Alters.