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David Lorenz

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Beschreibung

Die Dublin-Verordnung als der zentrale Gesetzestext über die Verteilung der Zuständigkeit für Asylverfahren zwischen den Mitgliedstaaten wirft eine ganze Reihe von Fragen auf: Warum wurde sich für eine Regelung entschieden, die offensichtlich den Interessen der Asylsuchenden und denen der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen widerspricht? Wie lassen sich die Krisen der Verordnung und ihre gleichzeitig hohe Kontinuität erklären? Und warum scheitern zehntausende Überstellungen durch den Widerstand der Asylsuchenden? David Lorenz rekonstruiert die Dublin-Verordnung und ihre Umsetzung als Resultat politischer, juristischer und gesellschaftlicher Kämpfe - deren Ergebnisse immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.

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David Lorenz

Die umkämpfte Dublin-Verordnung

Gesellschaftliche, politische und juristische Auseinandersetzungen um Asyl in der Europäischen Union

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.)

Die Dissertation wurde von David Lorenz mit dem Titel »Die umkämpfte Gestaltung und Umsetzung der Dublin-Verordnung« dem Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel vorgelegt. Die Disputation fand am 01.11.2022 statt.

Die diesem Buch zugrundeliegende Forschung wurde durch ein Promotionsstipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © David Lorenz

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: Sebastian Grochowicz / Unsplash

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839470701

Print-ISBN: 978-3-8376-7070-7

PDF-ISBN: 978-3-8394-7070-1

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7070-7

Buchreihen-ISSN: 2703-0024

Buchreihen-eISSN: 2703-0032

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

 

1Einleitung

2Forschungsstand zu Dublin

3Kämpfe und Staat

3.1Politische Form, Staat als Feld und gesellschaftliche Kämpfe

3.2Zivilgesellschaft und Subalterne

3.3Subalterne politische Praxen

4Methodologie und methodisches Vorgehen

4.1Datenerhebung, Aufbereitung und Analyse

4.1.1Interviews

4.1.2Dokumente und statistische Daten

4.1.3Teilnehmende Beobachtung und Hintergrundwissen

4.1.4Datenanalyse

4.2Reflexion und forschungsethische Überlegungen

5Kämpfe um Gestaltung: Geschichte Dublins

5.11984-1996: Schengen und die Entstehung des Dubliner Übereinkommens

5.21997-2002: Dubliner Übereinkommen »not functioning as well as had been hoped«

5.2.1Rechtskämpfe um das Dubliner Übereinkommen

5.2.2Die Verhandlungen um Dublin II

5.32003-2011: Dublin II, Eurodac und systemische Mängel

5.3.1Start der Verhandlungen um Dublin III

5.3.2Rechtskämpfe um Überstellungen nach Griechenland

5.42012-2014: Dublin III, Verweigerungspraxen der Mitgliedstaaten und Dublin-Domino

5.4.1Einigung auf Dublin III

5.4.2Rechtskämpfe um Überstellungen nach Italien

5.4.3Umsetzung der Dublin III-Verordnung

5.52015-2016: Sommer der Migration, Korridor und Krise

5.5.1Dublin im Sommer der Migration

5.6Zwischenfazit und Analyse: Geschichte Dublins

5.6.1Verknüpft mit Schengen und der europäischen Integration

5.6.2Amalgam aus Asyl- und Grenzpolitik

5.6.3Umkämpft, krisengeschüttelt und gleichzeitig robust

5.6.4Das Herz Dublins scheitert an Widerstand und Verweigerung

5.7Einige Aspekte hegemonieorientierter Kämpfe

6Kämpfe um Umsetzung

6.1Die Verwobenheit der Kämpfe im Fall von M

6.1.1»I lost really almost my energy, my hope, everything« – Inhaftierung und Nichtinbehandlungnahme des Asylantrags

6.1.2»One side police, police pressing them, people pressing back« – Erster Überstellungsversuch, Proteste und Kontaktaufnahme zu Unterstützer*innen

6.1.3»But then I just stand, because I cannot fly, I know better for myself« – Zweiter Überstellungsversuch und Widerstand im Flugzeug

6.1.4»We start hunger strike, because we want to get out« – Dritter Überstellungsversuch, Eilantrag und Hungerstreik

6.1.5»Die aufschiebende Wirkung der Klage […] wird angeordnet« – Vierter Überstellungsversuch, positiv entschiedener Eilantrag und Entlassung aus der Haft

6.1.6Zwischenfazit und Analyse: Lokale Kämpfe und die Grenzen von Protest

6.2Operative Kämpfe

6.2.1Infrapolitische Kämpfe und operatives Behördenhandeln

6.2.2Verweigerungspraxen der Mitgliedstaaten

6.2.3Zwischenfazit und Analyse: Operative Kämpfe

6.3Bürokratische Kämpfe: Behörden- und Gerichtsverfahren

6.3.1Behördenverfahren

6.3.2Gerichtsverfahren

6.3.3Zwischenfazit und Analyse: Bürokratische Kämpfe

7Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis

Wissenschaftliche Literatur

Sonstige Dokumente

Abkürzungsverzeichnis

ABH

Ausländerbehörde

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AIRE Centre

The Advice on Individual Rights in Europe Centre

AMM-VO

Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement

AsylG

Asylgesetz

AsylVfG

Asylverfahrensgesetz

Az

Aktenzeichen

BAG Kirchenasyl

Bundesarbeitsgemeinschaft Kirchenasyl

BAMF

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

BDS

Bundestagsdrucksache

Best.-Rück-Luft.

Bestimmungen über die Rückführung ausländischer Staatsangehöriger auf dem Luftweg

BGH

Bundesgerichtshof

BGS

Bundesgrenzschutz

BMI

Bundesministerium des Inneren

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

CARA

Asylerstaufnahmen in Italien; Centri di accoglienza per richiedenti asilo

CGT

Critical Grounded Theory

Coreper

Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten; Comité des représentants permanents

DU 1-5

Abkürzungen für Dublin-Referate 1 bis 5 des BAMF

EASO

Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, European Asylum Support Office

ECHR

European Court of Human Rights

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EP

Europäisches Parlament

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

Eurostat

Das Statistische Amt der Europäischen Union

EVP

Europäische Volkspartei

EZB

Europäische Zentralbank

FamFG

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

FMO

Federal Migration Office in der Schweiz

GEAS

Gemeinsames Europäisches Asylsystem

GG

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

GT

Grounded Theory

GUE; GUE/NGL

Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament; GUE: Gauche Unitaire Européenne; NGL:Nordische Grüne Linke

HMPA

Historisch-materialistische Politikanalyse

IFALPA

International Federation of Air Line Pilots’ Associations

IOM

Internationale Organisation für Migration

IWF

Internationaler Währungsfonds

JHA-Council

Rat für Justiz und Inneres; Justice and Home Affairs Council

JVA

Justizvollzugsanstalt

K.R.S.

Antragsteller im Gerichtsverfahren K.R.S. v United Kingdom (32733/08) vor dem EGMR

KOM

Europäische Kommission

LIBE-Ausschuss

Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments

LuftSiG

Luftsicherheitsgesetz

M.S.S.

Antragsteller im Gerichtsverfahren M.S.S. v. Belgium and Greece (30696/09) vor dem EGMR

NGO

Nichtregierungsorganisation

N.S.

Rechtsmittelführer in dem Verfahren C-411/10 vor dem EuGH

OIN

Office of Immigration and Nationality in Ungarn

SPE

Sozialdemokratische Partei Europas

SPRAR

Staatliche Unterkünfte für Asylsuchende in Italien, Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati

Tarakhel

Antragsteller im Verfahren Tarakhel v. Switzerland (29217/12) des EGMR

UAG

Unterarbeitsgruppe

UNHCR

Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen

UZS

Unterzeichnerstaat

VC

Vereinigung Cockpit

VG

Verwaltungsgericht

VIS

Visa-Informationssystem

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

Danksagung

Diese Arbeit wäre ohne meine Betreuerinnen, Freund*innen, Mitbewohner*innen, Kolleg*innen und Eltern nicht möglich gewesen. Dafür danke ich:

Sonja Buckel, Sabine Hess, Maren Kirchhoff, Judith Kopp, Valeria Hänsel, Stephan und Ingrid Lorenz, Annika Elena Poppe, Isa, Till, Arne Laloi, Ber, Marc Speer, Melanie Wurst, Marlene Becker, Helen Schwenken, Jens Wissel, dem Seilerstraßen-Team, dem Promotionskolloquium in Kassel, dem Labor in Göttingen, Nana, dem Staatsprojekt, Maggie, Fabian Georgi, Antje, Jule, Andreas Meyerhöfer, Mara, Marlene Schütz, Claudia Peter, Matthias Schmidt-Sembdner, Maximilian Pichl, Bernd Kasparek, Stefanie Hürtgen, Norma Tiedemann, Kritnet, der AKG, dem AK Feldforschung des Instituts für Sozialforschung (IfS), den Kolleg*innen im IfS, Michael Volkmer, Pia Werner, Julia Wieczorek vom transcript Verlag, Irmgard Hölscher und Stephan Liebscher.

Darüber hinaus danke ich Helen Schwenken für ihre Erlaubnis, während meiner Mitarbeit im Taking-Sides-Projekt erhobene Interviews in dieser Arbeit verwenden zu dürfen. Die finanzielle Unterstützung durch ein Promotionsstipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Anbindung als Doktorand an das IfS haben mir die Arbeit ungemein erleichtert.

Nichts zuletzt gilt mein Dank all jenen, die mir durch Interviews, Gespräche und Einblicke in ihr Leben oder ihre Arbeit diese Forschung ermöglicht haben.

1 Einleitung

Es braucht keine aufwendige Forschung, um zu erkennen, dass die Umsetzung der Dublin-Verordnung in einer Krise war und ist: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in der Tagesschau aus einer Rede im Europaparlament im Oktober 2015 mit den resigniert klingenden Worten zitiert: »Seien wir ehrlich, das Dublin-Verfahren ist obsolet« (Stalinski 2020). Trotz aller Krisen und Probleme ist Dublin aber bis heute ein zentraler und tragender Baustein der Grenz- und Asylpolitik der EU. Dieser Zustand Dublins zwischen Krise und Stabilität ist das Ergebnis ungezählter gesellschaftlicher Kämpfe. Diese Kämpfe und ihr Einfluss auf die Gestaltung und Umsetzung Dublins sind bisher nicht ausreichend erforscht. Diese Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen.

Mein persönlicher Bezug zu Dublin begann 2010 mit einer Reise, einige Jahre vor dem Beginn der Arbeit an dieser Dissertation. Ein Jahr nach dem No Border Camp 2009 auf der griechischen Insel Lesbos besuchte ich die relevanten Orte der Auseinandersetzungen des Vorjahres: Das durch Proteste stillgelegte Migrationsgefängnis Pagani, den Ursprungsort der »Voices from the inside of Pagani«1; einer medialen Intervention von Geflüchteten in Zusammenarbeit mit europäischen Aktivist*innen2, die großen Einfluss auf die kommende Schließung des Gefängnisses haben sollte. Die Strände mit den Schwimmwesten und den zerstochenen Schlauchbooten. Die vereinzelten Gedenkorte an der Küste für die Toten der europäischen Grenzpolitiken. Dass die illegalisierte Einreise in die EU trotz des gewaltigen Aufgebots der Grenzpolizei auf der griechischen Insel möglich war, warf in mir die Frage nach den Kräfteverhältnissen zwischen den beteiligten Akteur*innen auf.

Während dieser Reise wurde mir klar, dass viele der Migrant*innen neben den unmittelbaren Herausforderungen des Transits über die Insel in Richtung Festland noch mit weniger offensichtlichen, aber ebenso dringlichen Problemen zu kämpfen hatten: Wenn die griechischen Behörden sie kontrollierten und ihre Fingerabdrücke registrierten, drohte ihnen nach einer gelungenen Weiterreise in andere EU-Staaten eine Abschiebung – Überstellung – zurück nach Griechenland. Griechenland solle, so wurde mir erklärt, als Staat an der europäischen Außengrenze für alle Asylverfahren von Personen zuständig sein, die über seine Grenzen in die EU einreisen. Neben einer damals spontanen und vielleicht auch etwas naiven Empörung entstand in mir die Neugierde, wie es zu einer solchen Regelung hatte kommen können. Wie kam es dazu, dass die Staaten an den Außengrenzen dem zustimmten? Warum hatten sich die Regierungen der Mitgliedstaaten für eine Regelung entschieden, die so offensichtlich den Interessen der Asylsuchenden und der Grenzstaaten widersprach?

Zu diesem Zeitpunkt war ich Student und weit entfernt von eigenen Forschungsprojekten. Die Intensität und nicht zuletzt die partiellen Erfolge der Kämpfe gegen die Dublin-Verordnung in den folgenden Jahren, von denen die Aussetzung der Abschiebungen nach Griechenland 2011 den Höhepunkt bildete, hielten mein Interesse an Dublin wach. Die Dublin-Verordnung als politisches Problem und die Kämpfe darum faszinierten mich.

Heute, über zehn Jahre nach dem Stopp der Überstellungen nach Griechenland, ist die Dublin-Verordnung noch immer in Kraft. Die alten Fragen sind weiterhin ungeklärt und es kommen neue Fragen hinzu: Wie lässt sich die Kontinuität der Verordnung erklären? Wie kommt es dazu, dass eine dermaßen umkämpfte, widersprüchliche und immer wieder kurz vor dem Scheitern geglaubte Regelung immer noch tragender Teil des europäischen Asyl- und Grenzregimes ist?

Nach meinem Studium prägten vor allem die Mitarbeit an den Forschungsprojekten »Krise und Demokratie in Europa« der Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa3 und des »Taking Sides: Protest Against the Deportation of Asylum Seekers in Austria, Germany and Switzerland«4 den Fokus meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. In beiden Projekten habe ich viel gelernt und sehr vom Austausch mit meinen Kolleg*innen profitiert. Dublin zog sich als Thema durch beide Forschungsprojekte hindurch und in dieser Arbeit ist es mir dankenswerterweise möglich, auf empirisches Material zurückzugreifen, das ich in diesen beiden Forschungsprojekten mitarbeitend erhoben habe. Die gemeinsame Forschung brachte mir viele Erfolgserlebnisse und Erkenntnisse (vgl. Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« 2014; Rosenberger et al. 2018). Einige der Fragen, die mich beschäftigten, blieben allerdings unbeantwortet.

Die Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« fokussierte auf die Frage, wie gesellschaftliche Kämpfe sich in Staatsapparaten niederschlagen. Damit verbunden war der methodische Fokus auf hegemonieorientierte Kämpfe als eine spezifische Form sozialer Kämpfe. Diese zielen auf eine Veränderung gesellschaftlicher Hegemonie und der Staatsapparate. Im Laufe der Forschungen zu gesellschaftlichen Kämpfen um Abschiebungen gewann ich den Eindruck, dass hegemonieorientierte Praxen zwar essentiell für ein Verständnis dieser Kämpfe sind, dass aber die Betrachtung subalterner Praxen wie Untertauchen, undokumentiertes Reisen oder die Verhinderung der eigenen Abschiebung durch Widerstand ebenso unverzichtbar ist für eine Analyse dieser Kämpfe. Durch den Fokus auf hegemonieorientierte Kämpfe konnten solche oft verdeckten Praxen aber – für die Fragestellungen, die mich beschäftigten – nicht ausreichend in den Blick genommen werden.5

Im Taking-Sides-Projekt lag der Fokus auf Protesten gegen Abschiebungen. Ich konnte viel mit dem Fokus auf gesellschaftliche Kämpfe »von unten« anfangen, der sich in dem Interesse an Protestbewegungen ausdrückte. Allerdings stellte sich in der Analyse des empirischen Materials immer deutlicher heraus, dass es in den meisten Fällen nicht Proteste waren, die über Durchführung oder Abbruch einer Abschiebung entschieden, sondern Widerstandspraxen der Betroffenen oder bürokratische Kämpfe. Durch den Fokus auf Proteste konnten letztere aber nicht systematisch untersucht werden.

Mit meiner Dissertation knüpfe ich an diese offenen Themen an und möchte folgende Frage beantworten: Durch welche gesellschaftlichen Kämpfe bestimmen Akteur*innen die Gestaltung und Umsetzung Dublins?

Die Arbeit zielt also auf eine Rekonstruktion der gesellschaftlichen Kämpfe um Dublin in ihrem jeweiligen historischen und strukturellen Kontext. Hinter der Fragestellung steht in der Tradition materialistischer Gesellschaftstheorie die Annahme, dass Politik das Resultat gesellschaftlicher Kämpfe ist (siehe Kapitel 3.1). Der Fokus meiner Fragestellung liegt dabei auf der Gestaltung und Umsetzung von Migrations-, Asyl- und Grenzpolitik, nicht auf der Erklärung oder Erforschung von Migration. Insofern migrantische Praxen einen Einfluss auf die Gestaltung und Umsetzung Dublins haben, sind sie für die vorliegende Arbeit relevant.

Dublin bezeichnet an dieser Stelle das politische Projekt (vgl. Buckel et al. 2014, S. 48), dessen Ergebnis die Dublin-Verordnungen und das voran gegangene Dubliner-Übereinkommen sind. Diese Begriffsnutzung führt wegen der gleichnamigen irischen Stadt regelmäßig zu Irritationen. Die oft vorgeschlagene Alternative, nämlich durchgängig von der Dublin-Verordnung zu sprechen, hat eine deutlich engere Bedeutung und ist deshalb nicht zutreffend. Dublin-System meint die jeweilige Rechtsgrundlage Dublins zusammen mit flankierenden Gesetzestexten wie der Eurodac-Verordnung. Der Begriff Dublin-Regime umfasst im Folgenden die Gesamtheit all der Gesetze, Organisationen, Akteur*innen, Diskurse, Technologien, Wissensbestände, Praxen, Prozesse, Kämpfe und Strukturen, durch deren Zusammenspiel Dublin gesellschaftliche Realität wird. Gesellschaftliche Kämpfe meint an dieser Stelle alle Auseinandersetzungen zwischen Akteur*innen oder Gruppen von Akteur*innen, die miteinander gesellschaftliche Konflikte austragen (vgl. Pichl 2021, S. 23-24). Im Unterschied zum alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes Kampf können, aber müssen diese Kämpfe dabei nicht gewaltsam sein. Ich nutze die Begriffe gesellschaftliche Kämpfe und gesellschaftliche Auseinandersetzungen synonym. Mit der Frage nach den gesellschaftlichen Kämpfen direkt verbunden ist die Frage nach den kämpfenden Akteur*innen und den Kräfteverhältnissen zwischen diesen Akteur*innen.

Die Rekonstruktion der Kämpfe um Dublin soll auch einen Beitrag zu einer Kritik Dublins im Speziellen und von Asyl- und Grenzpolitik im Allgemeinen leisten. Durch die Darstellung der Gestaltung Dublins wird die Frage aufgeworfen, welche anderen, möglichen Pfade in der Geschichte nicht eingeschlagen, welche Kämpfe verloren und welche Chancen verpasst wurden. In der Rekonstruktion der Kämpfe um die Umsetzung Dublins wird der mit Dublin verbundene Ausschluss und die eingesetzte Gewalt deutlich. Die Analyse der Akteurskonstellationen und Kräfteverhältnisse in den verschiedenen Auseinandersetzungen kann im besten Fall einen Beitrag zu strategischen Entscheidungen in kommenden Auseinandersetzungen liefern.

Da die Auseinandersetzungen im Dublin-Regime auf den verschiedensten räumlichen Ebenen stattfinden, müssen zur Beantwortung der Forschungsfrage dieser Arbeit auch Daten auf verschiedenen räumlichen Ebenen erhoben werden. Die Gesetzestexte Dublins sind auf der supranationalen Ebene der EU verortet. Auf der nationalen Ebene der Mitgliedstaaten besteht Dublin zumeist aus bilateralen Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten. Gegenüber den Asylsuchenden werden die Überstellungen auf der Ebene der Landes- und Kommunalpolitik durchgesetzt. Wegen dieser transnationalen räumlichen Struktur Dublins können die entscheidenden Prozesse nicht durch die Analyse allein der Ereignisse in nur einem Staat verstanden werden. Gleichzeitig sind die gesetzlichen Regelungen, Akteurskonstellationen und die gesellschaftlichen Bedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten so unterschiedlich, dass jeder Staat einer eigenen, sorgfältigen Datenerhebung und Analyse bedarf. Weil mir eine umfassende Erhebung der Prozesse in allen Mitgliedstaaten Dublins nicht möglich war, habe ich meine Forschung auf Deutschland fokussiert, aber nicht beschränkt. Neben Prozessen auf europäischer Ebene habe ich vor allem Entwicklungen in Deutschland rekonstruiert sowie jene in anderen Mitgliedstaaten, die wichtig für das Verständnis des Dublin-Regimes auf europäischer Ebene oder in Deutschland waren.

Zeitlich habe ich Dokumente seit dem Bestehen Dublins in den 1990er Jahren untersucht. Eigene Interviews habe ich in den Jahren 2012, 2015, 2017 und 2018 durchgeführt. Auf Perspektive und Fokus der Arbeit sowie den Umgang mit der Komplexität des Gegenstandes gehe ich in Kapitel 4 zu Methodologie und Methode näher ein. Ursprünglich war das Ende des Forschungszeitraums dieser Arbeit für 2015 geplant. Dieser Plan wurde durch die turbulente Realität des Sommers der Migration (vgl. Kasparek und Speer 2015) durchkreuzt. Es ist bei einem so aktuellen und dynamischen Thema wie der Umsetzung der Dublin-Verordnung eine schwierige Frage, an welchem Punkt die Darstellung der Prozesse enden sollte. Die Darstellung der Geschichte Dublins schließe ich mit dem Ende des Sommers der Migration 2016 ab. Unter anderem bei statistischen Daten habe ich – wo verfügbar – auch neuere Daten einbezogen, oft bis zum Jahr 2020. Die neuen Entwicklungen bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und hier insbesondere die von der Kommission vorgeschlagene Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (AMM-VO)6 sind nicht mehr Teil dieser Untersuchung. Zum Zeitpunkt der Endredaktion dieses Textes erzielte der Rat der Europäischen Union am 08. Juni 2023 eine Einigung auf die AMM-VO, welche die Dublin III-Verordnung ablösen soll (Rat der Europäischen Union 2023). Das ist bemerkenswert, weil damit nach der gescheiterten Dublin IV-Verordnung ein neuer Versuch für eine Neufassung der Dublin-Verordnung unternommen wird. Diese ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes noch nicht verabschiedet. Die Einigung des Rates macht lediglich den Weg frei für Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Parlament der Europäischen Union, begleitet durch die EU Kommission. Die Analyse der Auseinandersetzungen um die AMM-VO wird zukünftiger Forschung vorbehalten bleiben. Erste Analysen des Kommissionsvorschlags für die AMM-VO deuten darauf hin, dass in der AMM-VO an der grundsätzlichen Struktur der Dublin-Verordnung, insbesondere den Zuständigkeitskriterien, festgehalten werden soll (vgl. Welte 2021, S. 370).

Im Aufbau der Arbeit wechseln zwischen den Kapiteln die Formen der Darstellung. Nach der Einleitung (Kapitel 1), dem Forschungsstand (Kapitel 2), den theoretischen Bezügen der Arbeit (Kapitel 3) und dem Methodenkapitel (Kapitel 4) folgt mit der chronologischen Darstellung der Geschichte Dublins das erste empirische Kapitel (Kapitel 5). In diesem schildere ich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, welche die Gestaltung Dublins bestimmten. In dieser Darstellung lässt sich vor allem die Pfadabhängigkeit und die lange Perspektive der Kämpfe um Dublin verstehen. Während Kämpfe um Gestaltung und Umsetzung zwar immer zusammenhängen und somit nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, werden in diesem Kapitel erstere betont – die Kämpfe um die Gestaltung Dublins, also hegemonieorientierte Kämpfe. Kämpfe um die Umsetzung Dublins tauchen in diesem Kapitel unter anderem in Form von statistischen Daten zu operativen Auseinandersetzungen auf.

Der zweite große empirische Teil der Arbeit (Kapitel 6) beschäftigt sich mit Kämpfen um die Umsetzung Dublins und hat drei Unterkapitel. Er beginnt mit einer Darstellung der lokalen Kämpfe um die Überstellung eines jungen Mannes, ich nenne ihn M, aus Deutschland nach Ungarn (Kapitel 6.1). Dieses Kapitel folgt der Entwicklung dieses Einzelfalles und soll einen Einblick in die Komplexität und Verworrenheit der konkreten, lokalen Kämpfe geben. Neben einem Einblick in Perspektiven Betroffener und ihrer Unterstützer*innen auf Dublin findet hier eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel von Protest, Widerstand und Unterstützungsarbeit in Kämpfen gegen Überstellungen statt.

Im darauffolgenden Unterkapitel rekonstruiere ich Kämpfe um die Umsetzung von Dublin systematisiert nach Feldern der Auseinandersetzung – zuerst operative (Kapitel 6.2), dann bürokratische Kämpfe (Kapitel 6.3). Im Unterschied zur Geschichte Dublins ist diese Darstellung nicht chronologisch organisiert, sondern durch die Struktur der Kämpfe während eines Dublin-Verfahrens. Hier analysiere ich verschiedene Akteurskonstellationen, effektive Kräfteverhältnisse und Prozesslogiken der operativen und der bürokratischen Kämpfe.

In diesen verschiedenen Kapiteln – dem Geschichtskapitel, dem Einzelfallkapitel und den Kapiteln zu operativen und bürokratischen Kämpfen – wird der gleiche Gegenstand unterschiedlich strukturiert und aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Durch diese Kombination der verschiedenen Darstellungen mit ihren jeweiligen Schwerpunkten und Auslassungen soll ein möglichst umfassendes Bild der Kämpfe um Dublin gezeichnet werden. Obwohl ich mich im Forschungsprozess unter anderem an den Forschungsschritten der Historisch-materialistischen Politikanalyse – Kontextanalyse, Prozessanalyse, Akteursanalyse – orientiert habe (siehe Kapitel 4), strukturieren diese Analyseschritte nicht die Darstellung der Forschungsergebnisse. In den einzelnen Kapiteln mischen sich dementsprechend Kontext-, Prozess und Akteursanalyse, wobei die Analyse zentraler Akteur*innen einen Schwerpunkt der Zwischenfazite der empirischen Kapitel darstellt.

Drei zentrale Kategorien, nämlich hegemonieorientierte Kämpfe, bürokratische Kämpfe und operative Kämpfe, bilden dabei die Struktur dieser Arbeit: In hegemonieorientierten Kämpfen streiten Akteur*innen um Einfluss auf gesellschaftliche Hegemonie (vgl. Buckel et al. 2014, S. 51-53). Mit ihren Praxen zielen sie darauf ab, ihre partikularen Interessen, Strategien, Problemverständnisse und Überzeugungen zu verallgemeinern. Kontrolle über oder Einfluss auf staatliche Strukturen oder grundsätzliche politische Entscheidungen sind wichtige Ziele in diesen Kämpfen. In bürokratischen Kämpfen setzen sich Akteur*innen in behördlichen oder gerichtlichen Verfahren über die Anwendung des Rechts auf konkrete Fälle auseinander. Operative Kämpfe sind Kämpfe um die unmittelbare, de facto Durchsetzung von Praxen, in dieser Arbeit vor allem um die Durchsetzung von Einreise und Abschiebung.

1https://www.youtube.com/watch?v=lP2yT6EjBXo&t=1s.

2In dieser Arbeit gendere ich in der Regel mit »*«, wie in »Aktivist*innen«. Bei zusammenhängenden Wortkonstruktionen nutze ich gelegentlich die kürzere, männliche Form, wie in »Akteursanalyse«. Wenn in einem Satz mehrere Worte zusammenhängend nach Genus dekliniert werden, schreibe ich das Substantiv mit »*« und nutze für Artikel und Verben die weibliche Form, wie in »Sie sucht eine kompetente Anwält*in«.

3In diesem, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten, Forschungsprojekt wurde von 2009 bis 2014 in einem kollektiven Forschungsprozess anhand der Auseinandersetzung mit der Europäisierung der Migrationspolitik die Entwicklung des europäischen Staatsprojektes untersucht. Siehe auch staatsprojekt-europa.de.

4Taking Sides war ein internationales Forschungsprojekt von 2013 bis 2017. Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Fördernummer SCHW1389/5-1), dem österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und dem Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Die Projektleiterin des deutschen Teams war Helen Schwenken. Siehe auch https://inex.univie.ac.at/previous-projects/taking-sides/.

5Die Ergebnisse meiner Forschungsarbeiten im Staatsprojekt Europa habe ich in meiner Magisterarbeit dargestellt (Lorenz 2013). In der vorliegenden Arbeit griff ich, wo passend, auf Erkenntnisse aus der Magisterarbeit zurück. Teile der Ergebnisse der vorliegenden Dissertation habe ich vor Abgabe in einem sich im Erscheinen befindlichen Buchbeitrag veröffentlicht (Lorenz 2022).

6COM(2020) 610 final.

3 Kämpfe und Staat

In Anbetracht dieser Anforderungen beginne ich das folgende Kapitel mit der Darstellung einiger Begriffe, die auf der allgemeinsten Ebene das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und die spezifische Form der Staatsapparate beschreiben. Ich greife hierfür vor allem auf die Theorien verschiedener Vertreter*innen der materialistischen Staatstheorie und von Pierre Bourdieu zurück. Beiden Theorieansätzen ist gemein, dass sie den Staat im Kontext gesellschaftlicher Herrschaft und als Resultat gesellschaftlicher Kämpfe beschreiben. Im Anschluss führe ich kurz in Grundgedanken zum Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Subalterne ein, bevor ich das Theoriekapitel mit einer Darstellung theoretischer Ansätze zu den spezifischen politischen Praxen subalterner Akteur*innen beende.

3.1 Politische Form, Staat als Feld und gesellschaftliche Kämpfe

Eine der zentralen Annahmen materialistischer Staatstheorie ist, dass der moderne Staat eine spezifische, mit dem Kapitalismus verbundene Form der Herrschaftsorganisation ist. Im Unterschied zu vorangegangenen Formen der Organisation politischer Herrschaft etwa in feudalen Gesellschaften fällt politische Herrschaft in kapitalistischen Staaten nicht mehr mit ökonomischer Herrschaft zusammen. Der Staat entwickelte sich zu einer von sonstigen gesellschaftlichen Feldern getrennten Sphäre (vgl. Hirsch 2005, S. 19). Dabei wird im Kapitalismus der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen auf der einen Seite und Institutionen und Praxen auf der anderen Seite durch soziale Formen vermittelt (vgl. ebd., S. 41).

»Mit sozialen Formen werden […] den Menschen äußerlich und fremd gegenüber stehende Objektverhältnisse bezeichnet, in denen ihr gesellschaftlicher Zusammenhang in einer verstellten, nicht unmittelbar durchschaubaren Weise zum Ausdruck kommt. Unter kapitalistischen Bedingungen ist Gesellschaftlichkeit anders gar nicht herstellbar. Die Beziehungen der Menschen müssen die Gestalt von Objektbeziehungen annehmen, d.h. die eigene gesellschaftliche Existenz tritt den Menschen als Sache, als nur schwer durchschaubarer ›Fetisch‹ gegenüber, der verbirgt, was ihn hervorbringt und bewegt […].« (Ebd., S. 24)

Im Kapitalismus erscheint den Menschen ihre politische Gemeinschaft folglich als ihnen äußerliches Objekt, als »Staat«. Oder um mit Bourdieu zu sprechen: als den Menschen verdinglicht gegenübertretende Instanz, als eine »theologische Entität« (Bourdieu 2014, S. 30-31). Als solche Entität existiert der Staat nur durch den kollektiven Glauben an seine Existenz. Mit Hirsch und der Analyse der politischen Form lässt sich ergänzen, dass dieser kollektive Glauben an den Staat im Kapitalismus keine kontingente Entwicklung ist, sondern mit den durch die politische Form strukturierten Wahrnehmungsmuster und Verhaltensweisen zusammen hängt (vgl. Hirsch 2005, S. 25). Mit der Trennung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft geht eine relative Autonomie des Staates gegen direkte Einflussnahme von gesellschaftlichen Akteur*innen einher (vgl. Buckel et al. 2014, S. 28).

Diese Trennung bzw. diese Autonomie ist relativ, weil sich der Staat und andere Felder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gegenseitig beeinflussen. Der Staat ist »die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« (Poulantzas 2002, S. 159). Dieses gesellschaftliche Kräfteverhältnis schlägt sich im Staat als Resultat von gesellschaftlichen Kämpfen zwischen verschiedenen Akteur*innen nieder. Die Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« prägte für die Operationalisierung dieses Ansatzes in empirischen Forschungen den Begriff des Hegemonieprojektes für über gemeinsame Strategien verbundene Gruppe von Akteur*innen (vgl. Buckel et al. 2014, S. 64-84). Das Kräfteverhältnis schlägt sich im Staat verzerrt nieder. Akteur*innen der herrschenden Klassen haben einen erleichterten, privilegierten Zugriff auf die Gestaltung des Staates, Jessop spricht hier von der strategischen Selektivität des Staates (vgl. Jessop 2008, S. 127). Im Staat bilden sich deshalb ungleiche gesellschaftliche Kräfteverhältnisse nicht nur ab, sie werden durch den Staat auch reproduziert und verstärkt. Die Staatsapparate organisieren herrschende Klassen (vgl. Poulantzas 2002, S. 157), während sie beherrschte Klassen »desorganisieren und spalten« (ebd., S. 171).

Bourdieu spricht von dem Staat als Feld (vgl. Bourdieu 2014, S. 48) und betont damit, dass einzelne Staatsapparate und die Gesamtheit der Staatsapparate die Arena von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Akteur*innen sind. Kämpfe auf dem Feld des Staats werden dabei anders geführt als sonstige gesellschaftliche Kämpfe und bauen auf spezifische Ressourcen auf. In meiner Forschung lässt sich dies vor allem bei den unterschiedlichen effektiven Kräfteverhältnissen zwischen den hegemonieorientierten, bürokratischen und operativen Auseinandersetzungen beobachten.

Der auf diese Weise geprägte Staat ist kein einheitliches Gebilde, sondern ein Zusammenhang von unterschiedlichen Apparaten, in denen sich Kräfteverhältnisse unterschiedlich niederschlagen:

»Die Tatsache, dass der Staat ein Geflecht von widersprüchlichen sozialen Beziehungen und Klassenverhältnissen darstellt, kommt in der Heterogenität seiner Apparatur zum Ausdruck. Er ist keine geschlossene organisatorische Einheit, sondern zerfällt in relativ selbstständige, oft miteinander konkurrierende und sich gelegentlich sogar bekämpfende Instanzen. In diesen manifestieren sich jeweils eigene Sozial- und Klassenbeziehungen, sei es, dass sie als Stützpunkt von Klassen oder Teilen von Klassen fungieren (so wie heute im Falle der Zentralbanken oder der Finanzministerien in Bezug auf das internationalisierte Kapital), sei es in der Form von Agenturen, die sich auf die beherrschten Klassen beziehen (z.B. auf die Bauern in Form des Landwirtschaftsministeriums oder die Lohnabhängigen in Form des Arbeitsministeriums oder der Sozialämter) und deren Interessen nach eigenen Regeln und Verarbeitungsweisen in die staatlichen Entscheidungsmechanismen einbeziehen. Die Staatsapparate verkörpern Beziehungen zu allen Klassen und Gruppen, tun dies aber in höchst unterschiedlicher, ›selektiver‹ Weise.« (Hirsch 2005, S. 31)

Einzelne Staatsapparate werden so zu »Stützpunkten« von Klassen beziehungsweise Hegemonieprojekten, die wiederum in kommenden Kämpfen entscheidende Ressourcen darstellen können. Mitunter treten diese Staatsapparate auch als Akteur*innen in gesellschaftlichen Kämpfen in Erscheinung, wie die Ausländerbehörden oder die Polizei bei der Organisation von Überstellungen oder das Bundesinnenministerium bei juristischen und legislativen Kämpfen um Dublin. Staatsapparate sind in diesem Sinne oft zugleich Felder von Auseinandersetzungen und Akteur*innen in Auseinandersetzungen.

Aufbauend auf diese Begriffe lässt sich Dublin als ein »politisches Projekt« (Buckel et al. 2014, S. 48) verstehen, in dem sich die politischen Strategien einiger Akteur*innen auf Kosten der Interessen anderer Akteur*innen niedergeschlagen haben. Dieses politische Projekt konkretisierte sich als völkerrechtlicher Vertrag – dem Dubliner Übereinkommen – und Gesetz – den Dublin-Verordnungen – und bildete über Jahrzehnte sowohl die Grundlage als auch den Gegenstand gesellschaftlicher Kämpfe, in deren Verlauf sich Dublin beständig veränderte. Widersprüche innerhalb des Staates, wie sie im Begriff des liberal-demokratischen Paradoxons beschrieben werden, lassen sich so als Resultat und Grundlage gesellschaftlicher Kämpfe verstehen. Auch der Ausschluss subalterner gesellschaftlicher Gruppen – hier Asylsuchenden – von der Mitgestaltung der Staatsapparate und die Desorganisation der Asylsuchenden durch Behörden lässt sich durch die empirischen Erkenntnisse in Bezug auf die Kämpfe um Dublin zeigen.

Um Einfluss auf den Staat zu kämpfen, ist deshalb besonders attraktiv, weil in den Staatsapparaten Macht zentralisiert ist. Im Gegensatz zum Ausspruch einer willkürlichen Person, die verlautbart, dass eine andere Person Deutschland verlassen solle, verfügt ein von einer Sachbearbeiter*in ausgestellter Dublin-Bescheid oder das Urteil einer Richter*in als Staatsakte über »die gesamte Macht der sozialen Ordnung, die Macht des Staates« (Bourdieu 2014, S. 32). Die Sachbearbeiter*in oder Richter*in hat dabei sowohl die symbolische Macht auf ihrer Seite, weil sie eine weitgehende Akzeptanz erwarten kann, als auch die physische Macht, weil bei Widerständen die bürokratischen und repressiven Staatsapparate die Umsetzung der Bescheide bzw. Urteile erzwingen. Diese symbolische Macht des Staates und das Monopol auf den Einsatz von legitimer Gewalt (vgl. Weber 2013, S. 212) sind zentrale Ressourcen staatlicher Akteur*innen in den Kämpfen um die Durchsetzung von Dublin.

Auch darüber hinaus verfügt das Staatspersonal über beträchtliche Machtressourcen wie »Argumentationshilfen, vorbereiteten Protokollen, Formularen« (Bourdieu 2014, S. 39). Bei Dublin-Verfahren sind hier die Dienstanweisung des BAMF für Asyl- und Dublin-Verfahren (vgl. BAMF 2016, 2017) und die in den Asylverfahrensakten gesammelten Informationen über die Asylsuchenden zu nennen. Die personelle und finanzielle Ausstattung der Behörden erlaubt es Bürokrat*innen punktuell große personelle Ressourcen für einzelne Fälle zu mobilisieren (vgl. Bourdieu 2014, S. 40). Das bürokratische Personal ist speziell ausgebildet und verfügt über »bürokratisches Kapital«, die hohen Staatsbeamten – Bourdieu spricht von »Staatsadel« und »bürokratischem Adel« – verfügen zudem über Einfluss in der politischen Sphäre, arbeiten an Gesetzesvorlagen und sind wichtige Akteur*innen in der staatlichen Exekutive (vgl. ebd., S. 48). Das repressive Personal – in Polizei, Justiz, Militär – ist darüber hinaus legitimiert, ausgebildet und bewaffnet, um die Staatsakte bei Bedarf gewaltsam durchzusetzen.

3.2 Zivilgesellschaft und Subalterne

Diese allgemeinen staatstheoretischen Annahmen erklären nicht, wie die Grenze oder der Übergang zwischen Staat und sonstiger Gesellschaft ausgestaltet ist, noch wie Herrschaft in kapitalistischen Staaten organisiert wird. In der Analyse der erhobenen empirischen Daten greife ich auf Begriffe des italienischen Theoretikers Antonio Gramsci zurück, der mit dem Begriff des erweiterten beziehungsweise integralen Staates und dem der Zivilgesellschaft Erklärungen hierfür entwickelte.

Gramsci ging davon aus, dass die Organisation von Herrschaft in kapitalistischen Staaten spezifisch ist und sich von den vorangegangenen feudalen Gesellschaften unterscheidet. Als Resultat des Kampfes der bürgerlichen Klasse gegen die alte Herrschaftselite der absolutistischen Staaten bildete sich nach Gramsci eine neue Form von öffentlicher Meinung heraus (vgl. Gramsci 1991ff, S. 916-917). In den bürgerlichen Staaten wird Herrschaft durch Prozesse der subtileren Führung und der konsensualen Einbindung abgesichert. Diese über konsensuale Führung produzierte Herrschaft wird im Anschluss an Gramsci unter dem Schlagwort Hegemonie diskutiert und ist wesentliches Merkmal der Herrschaftsorganisation in liberalen Demokratien. Der gesellschaftliche Raum, in der diese Hegemonie hergestellt, herausgefordert und verändert wird, ist die Zivilgesellschaft.

Im Gegensatz zur alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes versteht Gramsci die Zivilgesellschaft nicht als Gesamtheit aller Teile einer Gesellschaft, die nicht Staat sind. Im Gegenteil: Er fasst Zivilgesellschaft als ein spezifisches Feld innerhalb einer Gesellschaft, das so nah am Staat ist, dass es sinnvoll erscheint, es als Teil des erweiterten Staates zu denken. Den Staat im engeren Sinn nennt Gramsci politische Gesellschaft. Hierzu gehören die im vorangegangenen Unterkapitel beschriebenen bürokratischen und repressiven Staatsapparate. Über diese wird, mit dem entsprechenden symbolischen Machtapparat im Rücken, Macht als Staatsgewalt in der Form von Zwang ausgeübt. Das Ensemble von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft bezeichnet Gramsci als integralenbzw. erweiterten Staat. Herrschaft in kapitalistischen Staaten wird also durch das Zusammenwirken von Konsens und Staatsgewalt, durch »Hegemonie, gepanzert mit Zwang« (ebd., S. 783) abgesichert.

Die Zivilgesellschaft ist das Feld am Übergang zwischen Staat und Gesellschaft, in der mehr oder weniger professionelle Akteur*innen um den hegemonialen Konsens einer Gesellschaft kämpfen. Relevante zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind beispielsweise Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Influencer*innen, religiösen Autoritäten, Lehrer*innen, Wahlkämpfer*innen, Kampaigner*innen, Protestierende und Aktivist*innen. Die Zivilgesellschaft ist das Feld der hegemonieorientierten Praxen (vgl. Buckel et al. 2014, S. 51-53). Mit diesen Praxen ringen die Akteur*innen verschiedener Hegemonieprojekte um die Macht in der Gesellschaft, die sich durch Einfluss auf die herrschende Meinung, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die Staatsapparate im engeren Sinne ausdrückt (vgl. ebd., S. 61-84).

Die Zivilgesellschaft ist dabei kein Raum gleichberechtigter Auseinandersetzungen. Sie ist durchzogen von ideologischen Strukturen, welche die öffentliche Meinung »[…] direkt oder indirekt beeinflussen können« (Gramsci 1991ff, S. 373-374). Als Beispiele für solche Strukturen nennt er neben der Presse noch »die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben« (ebd., S. 373-374). Diese Strukturen sind das Ergebnis vergangener gesellschaftlicher Kämpfe, die für manche Akteur*innen zu Ressourcen und für andere wiederum zu Hindernissen werden. Ähnlich wie die Apparate des Staates im engeren Sinne das Resultat vorangegangener Kämpfe und geschichtlicher Prozesse sind, ist also die konkrete Gestalt einer Zivilgesellschaft von eben solchen Kämpfen und Prozessen abhängig. So ist der Grad an Professionalisierung und Zentralisierung von Strukturen der Zivilgesellschaft in verschiedenen Staaten zu unterschiedlichen historischen Momenten unterschiedlich.

Als Subalterne lassen sich mit Gramsci Personen bezeichnen, die von beiden Feldern zentralisierter Machtorganisation ausgeschlossen sind, also von den Staatsapparaten und der Zivilgesellschaft. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie machtlos sind. Macht als Verhältnis durchzieht die gesamte Gesellschaft und kann dementsprechend auch außerhalb des erweiterten Staates aufgebaut werden. Darüber hinaus ist der Ausschluss subalterner Akteur*innen aus den Staatsapparaten und der Zivilgesellschaft nicht absolut, sondern graduell. Der Grad der Ausschließung ist dabei selbst das Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe. Für die Kämpfe um Dublin sind diese Unterscheidungen deshalb besonders produktiv, weil hier sowohl Kämpfe innerhalb des erweiterten Staates als auch zwischen von diesen Kämpfen ausgeschlossenen, subalternen Akteur*innen – den Asylsuchenden – und den bürokratischen und repressiven Staatsapparaten stattfinden. Die Analyse der empirischen Daten zeigt, dass die Auseinandersetzungen innerhalb der Zivilgesellschaft anders geführt werden, als zwischen Staat und Asylsuchenden.

Partha Chatterjee greift Gramscis Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und dem Raum subalterner Politiken auf, wendet diese Begrifflichkeiten auf aktuelle Gesellschaften an und arbeitet die Unterschiede in der Beziehung zwischen Staat und den Akteur*innen der Zivilgesellschaft auf der einen Seite und Staat und Subalternen auf der anderen Seite heraus. Für ihn ist die Zivilgesellschaft in der Theorie die Domäne der Demokratie, in der Bürger*innen frei und gleich an Rechten über die Partizipation an politischen Prozessen staatliche Politiken bestimmen (vgl. Chatterjee 2004, S. 34, 37-38). In der Realität sei die Zivilgesellschaft aber ein »geschlossener Verein moderner Eliten, abgeschottet von der Lebensrealität der Gemeinschaften der einfachen Leute und eingemauert in Enklaven bürgerlicher Freiheit und rationalen Rechts« (ebd., S. 4, eigene Übersetzung).

Während sich Menschen innerhalb der Zivilgesellschaft zum Staat als Bürger*in (citizen) in Beziehung setzen und als solche ein normatives Konzept von Teilhabe an staatlichen Politiken verkörpern, sei die Beziehung des größten Teiles der Menschheit zu ihrem Staat durch den Begriff der Bevölkerung (population) geprägt. Die Bevölkerung ist nicht Subjekt, sondern Objekt staatlicher Politiken. Die Legitimität dieser Politiken resultiert nicht aus partizipativen Prozessen, sondern aus der staatlichen Behauptung, über Sicherheitspolitiken und Sozialstaatlichkeit für das Wohlergehen der Bevölkerung zu sorgen (vgl. ebd., S. 34).

Dass die Beziehung zwischen dem größten Teil der auf der Erde lebenden Menschen und ihren Staaten dem Modus der Bevölkerung entspricht und nicht dem der Bürger*innen, heißt laut Chatterjee nicht, dass diese große Masse an Menschen keine politischen Praxen oder keinen Einfluss auf den Staat hätte: Demokratie heute seien nicht die Prozesse, die sich in der Zivilgesellschaft abspielen, sondern die politischen Prozesse der Subalternen (vgl. ebd., S. 4). Und das nicht, weil die Subalternen progressiver seien, im Gegenteil: Im Vergleich mit den Kräfteverhältnissen in der Zivilgesellschaft sei der politische Konsens in den von Chatterjee untersuchten Fällen unter Subalternen tendenziell konservativer, diskriminierend gegenüber Minderheiten und von der Gewalt des subalternen Lebens geprägt (vgl. ebd., S. 74). Demokratie lasse sich trotzdem nicht auf die elitären Zirkel der Zivilgesellschaft beschränken (vgl. ebd., S. 74).

Chatterjee nennt die Domäne subalterner Politiken in Abgrenzung zur Zivilgesellschaft die Politische Gesellschaft (vgl. ebd., S. 38). Der Begriff der Politischen Gesellschaft Chatterjees hat damit eine von dem gleichen Begriff Gramscis sehr verschiedene bis gegensätzliche Bedeutung. Während bei Gramsci die Politische Gesellschaft den Staat im engeren Sinne bezeichnet, ist die Politische Gesellschaft bei Chatterjee das Feld subalterner politischer Praxen. In meiner eigenen Analyse nutze ich den Begriff der Politischen Gesellschaft nicht, sondern spreche von Staat, Staatsapparaten und subalternen politischen Praxen. In der Analyse der empirischen Daten sind die Theorien Chatterjees insbesondere nützlich, weil die unterschiedlichen Beziehungsformen Bürger*in und Bevölkerung einige Unterschiede in den Auseinandersetzungsprozessen erklären können. Während diese innerhalb der Zivilgesellschaft unter den Professionellen tendenziell gewaltfrei verlaufen und neben den Konflikten auch durch dauerhafte Kooperationsbeziehungen und Austausch gekennzeichnet sind, sind die operativen Kämpfe mit den Asylsuchenden oft gewaltvoll und paternalistisch. Widerständige Praxen der Asylsuchenden werden nicht als oppositionelle Positionen in einem demokratischen Prozess behandelt, sondern kriminalisiert.

Die Auseinandersetzungen um den Zugang zur Zivilgesellschaft und die Kämpfe um Bürger*innenschaft lassen sich mit dem acts of citizenship Ansatz von Engin Isin greifen. Anders als Chatterjee, der in den eben dargestellten Passagen die Seite der Bürger*innenschaft als Form der Beziehung zwischen Staat und Individuum betont, legt Isin hier einen anderen Schwerpunkt. Isins Begriff von Bürger*innenschaft verknüpft die rechtliche Staatsbürger*innenschaft mit Habitus und Praktiken politischer Teilhabe, durch welche die Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft realisiert wird. De jure bzw. formelle Bürger*innenschaft ermöglicht laut Isin durch die mit ihr verbundenen politischen Rechte dann die staatlich legitimierte Teilhabe an formalisierten demokratischen Prozessen. Doch erst durch einen bürger*innenschaftlichen Habitus und die damit verbundenen stabilen politischen Praxen würden diese Teilhabechancen realisiert und de facto bzw. substantielle Bürger*innenschaft konstituiert. In diesem Sinn könne Bürger*innenschaft nicht allein vererbt oder verliehen, sondern muss darüber hinaus erlernt und inkorporiert werden (vgl. Isin 2008, S. 17). Ein Habitus als Ensemble von routinierten und inkorporierten Praxen ist eng mit der Sozialisierung, dem Klassenhintergrund und dem Milieu einer Person verknüpft und dadurch relativ träge in Bezug auf Veränderungen.

Während Isin die Bedeutung von stabilen, habitualisierten Praxen unterstreicht, betont er darüber hinaus Akte, durch deren Vollzug sich auch Akteur*innen als Bürger*innen konstituieren, die weder über den mit der Bürger*innenschaft verbundenen Status noch den entsprechenden Habitus verfügen. In diesem Sinne sind die acts of citizenship »Akte, durch die sich Untertanen [subjects] in Bürger*innen verwandeln« (ebd., S. 18, eigene Übersetzung). Mit Isin können wir also davon ausgehen, dass die Grenzen der Zivilgesellschaft in den Subjekten durch Habitus und rechtlichem Status über die Zeit weitgehend konstant gehalten werden, Brüche, Kämpfe und die Verwandlung von Subjekten/Untertanen in Bürger*innen aber empirisch über eine spezifische Form von Akten beobachtbar ist. Damit liefert Isin ein theoretisches Konzept für Kämpfe um die Grenzen der Zivilgesellschaft »von unten«. Isin nennt als Beispiele für solche Akte Protestereignisse, in denen Subalterne öffentlich für sich einstanden: Mit dem Busboykott von Montgomery 1955 in den USA protestierten People of Color gegen die rassistische, segregierende Sitzordnung in den Bussen. Die britische Sufragette Marion Wallace Dunlop stritt mit einem Hungerstreik um die Anerkennung als politische Gefangene (vgl. ebd., S. 18). Über diese Proteste nahmen die Protestierenden an zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen teil, von denen sie ansonsten ausgeschlossen waren.

Ich stelle den Ansatz Isins an dieser Stelle dar, weil er zurecht die Umkämpftheit des Bürger*innenstatus und des damit verbundenen Zugangs zu zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen betont. An Isins Auswahl lässt sich aber auch ein weitverbreiteter Bias in der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung erkennen: Er überbetont Proteste als politische Praxen »von unten« und setzt sie nicht in Beziehung zu anderen, nämlich den verdeckten Formen subalterner Politik. Protestierende zielen nach den gängigen Definitionen sozialer Bewegungsforschung darauf, Entscheidungsträger*innen, Diskurse, symbolische Kräfteverhältnisse oder eine herrschende Meinung zu beeinflussen (vgl. Opp 2009, S. 44; Rosenberger et al. 2018, S. 4). Proteste sind in diesem Sinne hegemonieorientierte Praxen. Sie können dabei auf konkrete Entscheidungen von Akteur*innen wie Politiker*innen, Regierungschef*innen oder Organisationen gerichtet sein, können sich aber auch diffuser an die Öffentlichkeit einer Gesellschaft richten. Proteste sind die klassische Form, in der sich potentiell auch subalterne Akteur*innen öffentlich und organisiert in zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen einbringen und damit die Bühne der Zivilgesellschaft betreten.

Die empirische Analyse der Kämpfe um Dublin-Überstellung zeigt, dass Asylsuchende als subalterne Akteur*innen die Entwicklung und Umsetzung von Dublin aber eben nicht durch vornehmlich hegemonieorientierte Praxen – wie öffentliche Proteste – beeinflussen. Es sind vor allem die Praxen der operativen Auseinandersetzung wie klandestines Reisen, Abwesenheit und Widerstand bei Überstellungsversuchen, durch welche die Asylsuchenden selbst in eine starke Position in der politischen Auseinandersetzung kommen. Im folgenden Unterkapitel geht es deshalb um theoretische Ansätze über subalterne Formen politischer Praxen.

3.3 Subalterne politische Praxen