Die Unbekannte - Peter Swanson - E-Book
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Die Unbekannte E-Book

Peter Swanson

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Beschreibung

Sie zu lieben ist ein tödlicher Fehler

George Foss hatte nicht gedacht, dass er sie jemals wiedersehen würde, bis er Liana eines Nachts in seiner Lieblingsbar in Boston erblickt. Er weiß nur zu gut, dass er sich von ihr fernhalten sollte, doch seit zwanzig Jahren kann er diese Frau nicht vergessen. Und nun ist sie zurückgekommen, um George um einen Gefallen zu bitten, der ihn in große Gefahr bringen wird. Trotzdem willigt er ein, ihr zu helfen, denn Liana ist die Einzige, die er jemals wirklich geliebt hat. Drei Menschen werden sterben, ein Vermögen in Diamanten wird verschwinden, und es ist kaum vorstellbar, dass George all das überleben könnte …

Zwanzig Jahre lang hat er auf sie gewartet. Jetzt wünscht er sich, er wäre ihr nie begegnet.

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Seitenzahl: 402

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PETER SWANSON

Die Unbekannte

Thriller

Aus dem amerikanischen Englischvon Fred Kinzel

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel»A Girl With a Clock For a Heart«bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, U.S.A., New York.Das Zitat aus Daphne du Mauriers Rebecca ist aus der Übersetzung von Karin von Schaub, Knaur TB, München 1982, S. 9.

© 2014 by Peter Swanson© der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Blanvalet Verlag,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.deSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-12463-2www.blanvalet.de

Prolog

Es dämmerte bereits, aber als er in die tief ausgefurchte Einfahrt bog, konnte er das gelbe Absperrband erkennen, das sich immer noch um das Grundstück zog.

George parkte seinen Saab, ließ den Motor jedoch laufen. Er bemühte sich, nicht an seinen letzten Besuch in diesem versteckt gelegenen Haus in einer Sackgasse in New Essex zu denken.

Das Polizeiband war in einem weiten Bogen von Kiefer zu Kiefer gespannt, und über der Haustür prangte ein X aus rot-weißem Klebeband. Er stellte den Motor ab. Die Klimaanlage verebbte, und George spürte fast im selben Moment die drückende Hitze des Tages. Die Sonne stand tief, und unter dem dichten Kieferndach wirkte es noch dunkler.

Er stieg aus. Die feuchte Luft roch nach Meer, und in der Ferne hörte er Möwen schreien. Das dunkelbraune Gebäude, das an ein Deckhaus erinnerte, verschmolz mit dem Wald, der es umgab. Die hohen Fenster waren so dunkel wie die fleckigen Wände.

Er bückte sich unter dem gelben Band hindurch und ging zur Rückseite des Hauses. Er hoffte, durch die gläserne Schiebetür von der halb verfallenen hinteren Veranda ins Innere zu gelangen. Wenn sie verschlossen war, würde er einen Stein durch die Scheibe werfen. Er wollte in das Haus kommen und es so schnell wie möglich durchsuchen, um eventuell Hinweise zu finden, die die Polizei übersehen hatte.

Die Schiebetür war mit Aufklebern der Polizei bedeckt, aber unverschlossen. Er betrat das kühle Haus und rechnete damit, von Angst aufgefressen zu werden. Stattdessen überkam ihn ein unwirkliches Gefühl der Ruhe wie in einem Wachtraum.

Ich weiß, wonach ich suche, wenn ich es gefunden habe.

Es war unverkennbar, dass die Polizei das Haus gründlich durchsucht hatte. Auf mehreren Oberflächen waren Reststreifen von Fingerabdruckpuder zu sehen. Das Drogenzubehör auf dem Kaffeetischchen war verschwunden. Er wandte sich dem Hauptschlafzimmer auf der Ostseite des Hauses zu. In diesem Raum war er noch nie gewesen, und er erwartete, ihn unordentlich vorzufinden. Als er die Tür öffnete, lag stattdessen ein leidlich aufgeräumtes großes Schlafzimmer vor ihm, mit geblümter Bettwäsche auf dem Doppelbett. Gegenüber dem Bett standen zwei niedrige Kommoden, jeweils mit einer Glasscheibe bedeckt. Unter dem schmutzigen Glas steckten verblasste Polaroidfotos. Geburtstagsfeste. Abschlussfeiern.

Er öffnete die Schubladen und fand nichts. Es gab ein paar alte Kleidungsstücke, Haarbürsten, noch nicht ausgepackte Parfümflaschen, alles mit dem unangenehmen Geruch von Mottenkugeln.

Eine mit Teppich ausgelegte Treppe führte zur unteren Ebene. Als er an der Haustür vorbeikam, bemühte er sich angestrengt, die Bilder nicht in seinen Kopf zu lassen. Aber er sah einen Moment länger auf die Stelle, wo der Körper gelandet war, wo die Haut ihren typischen Hautton verloren hatte.

Am Fuß der Treppe bog er nach links in einen großen verputzten Keller; es roch muffig in dem fensterlosen Raum. Er versuchte den Lichtschalter, aber der elektrische Strom war abgeschaltet. Er zog die kleine mitgebrachte Taschenlampe aus der Gesäßtasche und ließ ihren dünnen, schwachen Strahl durch den Keller wandern. In der Mitte des Raums stand ein schöner alter Billardtisch mit rotem Filz statt grünem, auf dem die Kugeln wahllos verteilt lagen. Am anderen Ende gab es eine Bar mit mehreren Hockern und einem großen Spiegel, den das Logo von George Dickel Tennessee Whiskey zierte. Das leere Regalfach vor dem Spiegel dürfte früher eine Auswahl von Schnapsflaschen beherbergt haben, die längst geleert und weggeworfen waren.

Ich weiß, wonach ich suche, wenn ich es gefunden habe.

Er ging wieder nach oben und suchte in den beiden kleineren Schlafzimmern nach Spuren ihrer letzten Bewohner, fand aber nichts. Die Polizei hatte sicherlich dasselbe getan und alles, was ihnen bedeutsam erschien, als Beweismittel eingesackt, aber er hatte kommen und selbst nachsehen müssen. Er wusste, er würde etwas finden. Er wusste, sie würde etwas hinterlassen haben.

Er fand es auf Augenhöhe in der Bücherwand im Wohnzimmer. Es war ein weißes Hardcover in einem Plastikeinband, als hätte es einmal einer Bibliothek gehört, und hob sich von den übrigen Büchern ab, bei denen es sich meist um Sachliteratur handelte. Segelhandbücher, Reiseführer, ein altes Kinderlexikon. Es gab zwar auch Belletristik in dem Regal, aber nur Taschenbücher für den Massengeschmack. Hightech-Thriller. Michael Crichton. Tom Clancy.

Er berührte den Buchrücken. Titel und Name der Autorin waren in dünner, eleganter roter Schrift gesetzt. Rebecca. Von Daphne du Maurier.

Es war ihr absolutes Lieblingsbuch. Sie hatte ihm in dem Jahr, in dem sie sich kennenlernten, ein Exemplar geschenkt. In ihrer beider Erstsemester im College. Teile davon hatte sie ihm in ihrer Studentenbude in kalten Winternächten laut vorgelesen. Er konnte ganze Passagen auswendig.

Er zog das Buch heraus und fuhr mit den Fingern über die Ränder seiner Seiten. Es klappte auf Seite sechs auf. Zwei Sätze waren mit sorgfältig gezogenen Linien eingerahmt. Er erinnerte sich, dass sie auf diese Weise Markierungen in Büchern anbrachte. Keine Neonmarker. Keine Unterstreichungen. Nur exakt gezeichnete Kästchen um Worte, Sätze und Abschnitte.

George las die markierten Worte nicht sofort. Das Buch war nicht zufällig an dieser Stelle aufgegangen, sondern weil eine Postkarte zwischen den Seiten steckte. Die Rückseite der Karte war leicht vergilbt vom Alter. Sie war nicht beschrieben. Er drehte sie um und blickte auf das Farbbild einer Mayaruine, die mit dem Meer im Hintergrund auf einer gestrüppreichen Klippe stand. Es war eine alte Postkarte, das Meer war zu blau und das Gras zu grün. Er drehte die Karte wieder um. Die Mayaruinen von Tulum, las er dort. Quintana Roo. Mexiko.

1

Um fünf nach fünf an einem Freitagnachmittag ging George Foss in der klebrigen Schwüle einer Bostoner Hitzeglocke direkt von seinem Büro zu Jack Crow’s Tavern. Er hatte die letzten drei Arbeitsstunden damit verbracht, die Neuformulierung des Vertrags mit einem Illustrator peinlich genau Korrektur zu lesen und anschließend dumpf in den dunstig blauen Himmel über der Stadt hinausgestarrt. Er verabscheute den Spätsommer wie andere Bewohner Bostons die langen Winter in Neuengland. Die erschlafften Bäume, die sich gelb färbenden Parks und die langen feuchtwarmen Abende weckten in ihm die Sehnsucht nach dem Herbstwetter mit seiner frischen Luft, in der einem nicht die Kleidung auf der Haut klebte und man sich schlapp und müde fühlte.

Er ging das halbe Dutzend Blocks zu Jack Crow’s betont langsam und hoffte, sein Hemd möglichst wenig zu verschwitzen. Autos ruckelten durch die schmalen Straßen von Back Bay, ihre Fahrer versuchten, dem Gestank der City zu entkommen. Die meisten Einwohner dieses speziellen Viertels planten ihre ersten Drinks des Abends vermutlich in Bars in Wellfleet, Edgartown und Kennebunkport oder an einem anderen Ort am Meer, der in einer einigermaßen akzeptablen Fahrzeit erreichbar war. George gab sich damit zufrieden, ins Jack Crow’s zu gehen, wo die Drinks durchschnittlich waren, aber ein im Exil lebender Frankokanadier dafür sorgte, dass die Klimaanlage gewöhnlich für Kühlhaustemperatur sorgte.

Und er freute sich darauf, Irene wiederzusehen. Es war zwei Wochen her, seit sie sich auf der Cocktailparty eines gemeinsamen Freundes zuletzt getroffen hatten. Sie hatten sich kaum miteinander unterhalten, und als George zuerst gegangen war, hatte sie ihm einen gespielt zornigen Blick zugeworfen. Der Blick hatte George zu der Überlegung geführt, ob ihre lose Beziehung bei einer ihrer regelmäßig wiederkehrenden Krisen angekommen sei. Er kannte sie seit fünfzehn Jahren, hatte sie bei der Zeitschrift kennengelernt, bei der er immer noch tätig war. Sie hatte als Redakteurin dort gearbeitet, er selbst in der Debitorenbuchhaltung. Buchhalter bei einer bekannten Literaturzeitschrift war ihm als der perfekte Job für einen Menschen mit literarischen Neigungen, aber ohne literarisches Talent erschienen. Inzwischen war George Geschäftsführer dieses sinkenden Schiffs, während sich Irene in der ständig expandierenden Online-Redaktion des Boston Globe hochgearbeitet hatte.

Zwei Jahre lang waren sie das perfekte Paar gewesen. Doch diesen zwei Jahren waren dreizehn Jahre immer seltenerer Besuche, gegenseitiger Beschuldigungen, gelegentlicher Untreue und beständig sinkender Erwartungen gefolgt. Und während sie die Vorstellung, ein normales Paar mit einer normalen Zukunft zu sein, längst aufgegeben hatten, gingen sie immer noch beide in ihre gemeinsame Lieblingsbar, erzählten sich alles, schliefen gelegentlich miteinander und waren entgegen aller Wahrscheinlichkeit die besten Freunde geworden. Trotzdem ergab sich in regelmäßigen Abständen die Notwendigkeit, ihren Status zu klären, ein Gespräch zu führen. Und George hatte das Gefühl, an diesem Abend nicht in der Verfassung dafür zu sein. Es hatte nichts mit Irene zu tun; in mancher Weise hatten sich seine Empfindungen für sie seit rund einem Jahrzehnt nicht verändert. Es hatte mehr mit seinem allgemeinen Lebensgefühl zu tun. Da er auf die vierzig zuging, kam es George vor, als wäre nach und nach alle Farbe aus seinem Leben gewichen. Er war bereits über das Alter hinaus, in dem er vernünftigerweise noch darauf hoffen konnte, sich rasend zu verlieben und eine Familie zu gründen, die Welt im Sturm zu erobern oder irgendeine Überraschung zu erleben, die ihn aus seiner Alltagsexistenz riss. Er hätte diese Gefühle niemals laut geäußert – immerhin hatte er eine sichere Anstellung, lebte in der schönen Stadt Boston, und sein Haar war noch voll –, doch er verbrachte die meisten Tage in einem Nebel der Interesselosigkeit. Und auch wenn er noch nicht gerade vor Bestattungsunternehmen stehen blieb, hatte er sehr wohl den Eindruck, als habe er sich seit Jahren auf nichts mehr gefreut. Er hatte kein Interesse an neuen Freunden oder Beziehungen. In der Arbeit waren die Gehaltsschecks größer geworden, aber die Begeisterung für den Job hatte nachgelassen. In früheren Jahren war er bei jeder neuen Monatsausgabe stolz auf die erbrachte Leistung gewesen. Heute las er kaum noch je einen Artikel.

Kurz bevor er die Kneipe erreichte, fragte sich George, in welcher Stimmung Irene heute sein würde. Sicher würde er etwas über den geschiedenen Redakteur hören, der sie in diesem Sommer mehrmals gebeten hatte, mit ihm auszugehen. Was, wenn sie zustimmte, und was, wenn die Sache ernst wurde und George endgültig den Laufpass erhielt? Er versuchte, eine Gefühlsregung aufzubieten, aber stattdessen fragte er sich, was er mit der ganzen freien Zeit anfangen würde. Wie würde er sie füllen? Und mit wem würde er sie füllen?

George stieß die Milchglastür zu Jack Crow’s auf und stapfte direkt zu seinem üblichen Tisch. Später wurde ihm bewusst, dass er direkt an Liana Decter vorbeigegangen sein musste, die an der Ecke der Theke saß. An einem anderen Abend, an einem kühleren oder einem, an dem ihn sein Los in dieser Welt weniger bedrückte, hätte er vielleicht den Blick über die nicht sehr zahlreichen Gäste in seiner Stammkneipe an einem Freitagabend schweifen lassen. Es hatte vielleicht sogar eine Zeit gegeben, da George beim Anblick einer einsamen kurvenreichen Frau mit Haut so blass wie Milch zusammengezuckt wäre, weil die Möglichkeit bestand, dass es Liana war. Er hatte zwanzig Jahre lang davon geträumt, sie wiederzusehen, und sich zugleich davor gefürchtet. Er hatte Variationen von ihr überall auf der Welt entdeckt: ihr Haar bei einer Stewardess, ihren üppigen Körper an einem Strand am Kap, ihre Stimme in einer nächtlichen Jazzsendung. Er war sogar ein halbes Jahr lang überzeugt gewesen, sie sei zu einer Pornodarstellerin namens Jean Harlot geworden, und er war so weit gegangen, die wahre Identität der Schauspielerin zu ermitteln, die sich als die Tochter eines Geistlichen aus North Dakota herausstellte und Carli Swenson hieß.

George ließ sich an seinem Tisch nieder, bestellte bei Trudy, der Kellnerin, einen Old Fashioned und zog die aktuelle Ausgabe des Globe aus seiner abgenutzten Botentasche. Er hatte sich das Kreuzworträtsel für genau diese Gelegenheit aufgehoben. Irene würde erst um sechs kommen. Er nippte an seinem Cocktail und löste das Rätsel, worauf er widerstrebend zu Sudoku und sogar zu Wortsalat überging, ehe er Irenes vertraute Schritte hinter sich hörte.

»Bitte lass uns tauschen«, sagte sie zur Begrüßung und meinte ihre Plätze. Im Jack Crow‘s gab es, selten genug für eine Bar in Boston, nur einen Fernseher, und Irene, die ein weitaus größerer Red-Sox-Fan war als George, wollte die bessere Sicht darauf haben.

George rutschte aus der Bank, küsste Irene seitlich auf den Mund – sie roch nach Clinique und Pfefferminzbonbons – und setzte sich auf die andere Seite mit Blick zu der Bar aus Eichenholz und den raumhohen Fenstern. Draußen war es noch hell, ein rosafarbener Rest Sonnenscheibe verschwand gerade hinter den Backsteinhäusern auf der anderen Straßenseite. Der Lichteinfall ließ George plötzlich die Frau bemerken, die allein an der Ecke der Bar saß. Sie trank ein Glas Rotwein und las in einem Taschenbuch, und ein Kribbeln in Georges Magen verriet ihm, dass sie aussah wie Liana. Genau wie Liana. Doch dieses Kribbeln hatte er schon viele Male zuvor erlebt.

Er wandte sich Irene zu, die sich zu der Tafel hinter der Bar umgedreht hatte, wo die Tagesangebote und wechselnden Biere angeschrieben waren. Wie immer machte ihr die Hitze nichts aus, sie hatte das kurze blonde Haar aus der Stirn gestrichen und hinter die Ohren gesteckt. Das Gestell ihrer Katzenaugenbrille war rosa. War es das immer schon gewesen?

Nachdem sie ein Allagash White bestellt hatte, brachte Irene George auf den neuesten Stand in der Fortsetzungsgeschichte von dem geschiedenen Redakteur. George war erleichtert, dass Irene im Plauderton begann und nicht streitlustig klang. Geschichten über den Redakteur tendierten in Richtung humorvolle Anekdote, auch wenn George ein kritischer Unterton nicht entging. Dieser Redakteur mochte pausbäckig sein, einen Pferdeschwanz tragen und leidenschaftlich gern sein eigenes Bier brauen, aber wenigstens bot er eine reale Zukunftsperspektive, die aus etwas mehr als Cocktails, Lachen und höchst seltenem Sex bestand, wie George sie inzwischen bot.

Er hörte zu und nippte an seinem Drink, behielt aber die Frau an der Bar im Blick. Er wartete auf eine Geste, auf irgendeine Kleinigkeit, die ihn von der Vorstellung befreite, er habe tatsächlich Liana Decter vor sich und nicht eine Doppelgängerin oder würde einer Einbildung erliegen. Wenn es Liana war, hatte sie sich verändert. Nicht auf eine Weise, die sofort ins Auge sprang – wie dass sie fünfzig Kilo zugenommen oder sich das Haar abgeschnitten hätte –, aber sie sah auf eine gute Art anders aus, als wäre sie endlich zu der seltenen Schönheit herangereift, die ihre Gesichtszüge immer versprochen hatten. Sie hatte den Babyspeck verloren, den sie im College noch besaß, ihre Gesichtsknochen traten stärker hervor, das Haar war ein dunkleres Blond, als es George in Erinnerung hatte. Je länger George hinsah, desto überzeugter wurde er.

»Du weißt ja, dass ich nicht zur Eifersucht neige«, sagte Irene, »aber zu wem schaust du eigentlich die ganze Zeit?« Sie reckte den Hals in Richtung des Barbereichs, der sich rapide füllte.

»Jemand, mit dem ich auf dem College war, glaube ich. Ich bin mir aber nicht sicher.«

»Geh hin und frag sie. Es macht mir nichts aus.«

»Nein, schon gut. Ich kannte sie kaum«, log George, und etwas an seiner Lüge verursachte ein Gefühl, als würde eine Spinne über seinen Nacken laufen.

»Er hört sich an wie ein kleines Arschloch«, sagte George.

»Hä?«

»Dein Geschiedener.«

»Aha, es ist dir also doch noch nicht egal.« Sie rutschte aus der Bank, um zur Toilette zu gehen, und das verschaffte George die Gelegenheit, richtig auf Liana zu starren. Zwei junge Geschäftsleute, die gerade ihre Sakkos auszogen und die Krawatten lockerten, versperrten ihm teilweise die Sicht, aber zwischen ihren Manövern betrachtete er sie aufmerksam. Sie trug eine weiße Bluse mit Kragen, und ihr Haar, das ein wenig kürzer aussah, als es im College gewesen war, fiel auf einer Gesichtsseite lose nach unten und war auf der anderen hinter das Ohr gesteckt. Sie trug keinen Schmuck, genau wie es George von ihr in Erinnerung hatte. Ihr Hals hatte etwas unanständig Cremiges an sich, und auf ihrem Brustbein blitzte eine leichte Röte auf. Sie hatte ihr Taschenbuch beiseitegelegt und ließ den Blick gelegentlich durch den Raum schweifen, als suchte sie nach jemandem. George wartete darauf, dass sie aufstand und sich bewegte. Er glaubte, erst sicher sein zu können, wenn er sie gehen sah.

Als hätten seine Gedanken es bewirkt, glitt sie von ihrem gepolsterten Hocker, wobei sich ihr Rock in der Mitte des Oberschenkels kurz nach oben schob. Sobald ihre Füße den Boden berührten und sie in Georges Richtung zu gehen anfing, gab es keinen Zweifel mehr. Es musste Liana sein, es war das erste Mal, dass er sie seit ihrem Erstsemester am Mather College vor fast zwanzig Jahren wiedersah. Ihr Gang war unverkennbar, das langsame Wiegen in den Hüften und der hoch erhobene und leicht nach hinten geneigte Kopf, als versuchte sie, über jemanden hinwegzusehen. George hielt sich eine Speisekarte vor das Gesicht und starrte auf deren bedeutungslose Worte. Sein Herz schlug heftig in der Brust. Trotz der klimatisierten Luft begannen seine Handflächen zu schwitzen.

Liana ging gerade an ihm vorbei, als Irene wieder Platz nahm. »Da ist deine Freundin. Wolltest du ihr nicht Hallo sagen?«

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie es ist«, sagte George und fragte sich, ob Irene die nackte Panik in seiner Stimme hören konnte.

»Hast du Zeit für noch einen Drink?«, fragte Irene. Sie hatte ihren Lippenstift auf der Toilette nachgezogen.

»Sicher«, sagte George. »Aber lass uns woanders hingehen. Wir könnten ein paar Schritte laufen, solange es noch hell ist.«

Irene winkte der Bedienung, und George griff nach seiner Geldbörse. »Ich bin dran, weißt du noch?«, sagte Irene und zog eine Kreditkarte aus den Tiefen ihrer Handtasche. Während sie bezahlte, kam Liana wieder vorbei. Diesmal konnte George von hinten auf ihre Gestalt blicken, auf diesen vertrauten Gang. Sie war auch in ihren Körper hineingewachsen. George hatte sie im College für seine Traumfrau gehalten, aber wenn überhaupt, sah sie jetzt sogar noch besser aus. Lange, schlanke Beine und ausgeprägte Kurven, die Art von Körper, den man nur dank seiner Gene und nicht mit noch so viel Training bekommt. Die Rückseite ihrer Arme war hell wie Milch.

George hatte sich diesen Augenblick viele Male vorgestellt, aber irgendwie hatte er sich nie ausgemalt, wie es dann weitergehen sollte. Liana war nicht einfach eine Exfreundin, ein Mädchen, das George früher einmal das Herz gebrochen hatte, sie war seines Wissens immer noch eine gesuchte Verbrecherin, eine Frau, deren Übertretungen mehr auf der Linie griechischer Tragödien als jugendlicher Unbedachtheit lagen. Sie hatte ohne Zweifel einen Menschen ermordet und höchstwahrscheinlich einen zweiten. George fühlte moralische Verantwortung und Unentschlossenheit gleichermaßen schwer auf sich lasten.

»Kommst du?« Irene stand auf, und George folgte ihr über den farbig gestrichenen Holzboden der Bar. Nina Simones »Sinnerman« ratterte aus den Lautsprechern. Sie traten auf die Straße hinaus, und die feuchtwarme Luft traf sie wie eine Wand.

»Wohin jetzt?«, fragte Irene.

George erstarrte. »Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich doch lieber einfach nach Hause.«

»Okay«, sagte Irene, und da sich George nicht bewegte, fügte sie an: »Oder wir können einfach hier im Regenwald stehen bleiben.«

»Tut mir leid, aber mir geht es plötzlich nicht so gut. Ich glaube, es ist wirklich am besten, ich gehe nach Hause.«

»Ist es wegen dieser Frau in der Bar?«, fragte Irene und reckte den Hals, um durch die Milchglasscheibe der Tür zu spähen. »Das ist aber nicht diese eine, wie hieß sie gleich noch? Diese Verrückte vom Mathers?«

»Großer Gott, nein«, log George. »Ich denke, ich lasse es einfach gut sein für heute.«

George ging nach Hause. Der Wind hatte aufgefrischt und pfiff durch die schmalen Straßen von Beacon Hill. Es war nicht kühl, aber George streckte dennoch die Arme vom Körper und spürte, wie der Schweiß auf seiner Haut verdunstete.

Als George bei seiner Wohnung ankam, setzte er sich auf die unterste Stufe der Außentreppe. Es war nur ein paar Blocks zurück zur Bar. Er konnte sich auf einen Drink zu ihr setzen und herausfinden, was sie nach Boston geführt hatte. Er hatte so lange darauf gewartet, sie wiederzusehen, und sich diesen Augenblick vorgestellt, dass er sich nun, da sie tatsächlich hier war, wie ein Schauspieler in einem Horrorstreifen vorkam, der die Hand an der Scheunentür hatte und im nächsten Moment eine Axt in den Schädel bekommen würde. Er hatte Angst, und zum ersten Mal seit rund zehn Jahren verlangte es ihn nach einer Zigarette. War sie auf der Suche nach ihm ins Jack Crow‘s gekommen? Und wenn ja, warum?

George war überzeugt, in manchen Nächten hätte er jetzt in seine Wohnung gehen, Nora füttern und ins Bett kriechen können. Aber etwas am Gewicht dieses besonderen Augustabends zusammen mit Lianas Anwesenheit in seiner Lieblingskneipe vermittelte ihm das Gefühl, als sollte etwas geschehen, und das war alles, was er brauchte. Gut oder schlecht, es passierte etwas.

George saß so lange auf der Treppe, dass er schon überzeugt war, sie müsse die Bar inzwischen verlassen haben. Wie lange würde sie wohl bei einem Glas Rotwein allein dort sitzen? Er beschloss zurückzugehen. Wenn sie fort war, hatte es nicht sein sollen, dass er sie wiedersah. Wenn sie noch da war, würde er guten Tag sagen.

Auf dem Rückweg fühlte sich die Brise, die ihn von hinten anschob, sowohl wärmer als auch kräftiger an. Vor dem Jack Crow‘s zögerte er nicht; er stieß die Tür auf und trat ein. Auf ihrem Hocker an der Bar wandte Liana den Kopf und schaute ihn an. Er sah, wie ihre Augen ein wenig aufleuchteten, als sie ihn erkannte. Übertriebene Gesten waren nie ihre Sache gewesen.

»Du bist es also wirklich«, sagte er.

»Ich bin es. Hallo, George.« Sie sagte es in dem ausdruckslosen Ton, an den er sich erinnerte, so beiläufig, als hätten sie sich erst vor Stunden zuletzt gesehen.

»Ich habe dich von dort drüben gesehen«, sagte er und wies mit einem Nicken in den hinteren Teil der Kneipe. »Ich war mir erst nicht sicher, ob du es bist. Du hast dich ein wenig verändert, aber als ich dann an dir vorbeikam, war ich mir ziemlich sicher. Ich war schon halb zu Hause, dann bin ich umgekehrt.«

»Ich bin froh, dass du es getan hast«, sagte sie. Ihre vorsichtig gesetzten Worte endeten mit einem leichten Schnalzen. »Ich bin nämlich hierher … in diese Bar … gekommen, weil ich nach dir suche. Ich weiß, dass du in der Gegend wohnst.«

»Oh.«

»Ich bin froh, dass du mich zuerst entdeckt hast. Ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, dich anzusprechen. Mir ist klar, was du von mir halten musst.«

»Dann ist es dir klarer als mir. Ich weiß nicht genau, was ich von dir halten soll.«

»Ich meine die Dinge, die passiert sind.« Sie hatte ihre Körperhaltung nicht verändert, seit er hereingekommen war, aber ein Finger klopfte zum Takt der Musik leicht auf das Holz der Theke.

»Ach das, ja richtig«, sagte er, als hätte er aus seiner Erinnerung hervorkramen müssen, wovon sie sprach.

»Ach das, ja richtig«, wiederholte sie, und beide lachten. Liana drehte sich ein wenig zu George herum. »Sollte ich mir Sorgen machen?«

»Sorgen?«

»Festnahme durch eine Zivilperson? Ein Drink ins Gesicht?« Sie hatte feine Lachfalten um die hellblauen Augen bekommen. Etwas Neues.

»Die Polizei ist bereits auf dem Weg hierher. Ich halte dich nur hin.« George hörte nicht auf zu lächeln, aber es fühlte sich unnatürlich an. »Ich mache nur Spaß«, sagte er, als Liana nicht sofort antwortete.

»Ich weiß. Möchtest du dich setzen? Hast du Zeit für einen Drink?«

»Eigentlich … treffe ich in Kürze jemanden.« Die Lüge kam George leicht über die Lippen. Er war plötzlich wie benebelt von ihrer unmittelbaren Nähe, vom Geruch ihrer Haut und empfand ein fast animalisches Bedürfnis zu fliehen.

»Ach so, schon gut«, sagte Liana rasch. »Aber ich muss dich tatsächlich um etwas bitten. Um einen Gefallen.«

»Okay.«

»Können wir uns irgendwo treffen? Vielleicht morgen?«

»Wohnst du hier?«

»Nein, ich bin nur in Boston, um … eigentlich besuche ich eine Freundin … Es ist kompliziert. Ich würde mich gern mit dir unterhalten. Ich verstehe natürlich, wenn du es nicht willst. Ich habe es einfach auf gut Glück versucht und verstehe …«

»Okay«, sagte George. Er konnte es sich später immer noch anders überlegen.

»Okay, ja? Du willst mit mir reden?«

»Sicher, treffen wir uns, wenn du schon in der Stadt bist. Ich verspreche, ich rufe nicht das FBI. Ich will nur wissen, wie es dir geht.«

»Vielen Dank. Ich weiß es sehr zu schätzen.« Sie atmete tief durch die Nase; ihre Brust dehnte sich aus. George bildete sich ein, über die Musik aus der Jukebox hinweg den Stoff ihrer weißen Bluse auf ihrer Haut rascheln zu hören.

»Woher wusstest du, dass ich hier lebe?«

»Ich habe dich über das Internet gesucht. War nicht allzu schwer.«

»Ich nehme nicht an, dass du dich immer noch Liana nennst?«

»Nur bei ein paar wenigen Leuten. Die meisten kennen mich jetzt unter Jane.«

»Hast du ein Handy? Soll ich dich später anrufen?«

»Ich habe kein Handy. Grundsätzlich nicht. Könnten wir uns hier wieder treffen?«

George fiel jetzt auf, wie sich ihre Augen kaum wahrnehmbar bewegten, in seinem Gesicht forschten, ihn zu lesen versuchten. Oder sie erkundete, was ihr vertraut war und was sich verändert hatte. Georges Haar war an den Schläfen grau geworden, er hatte Falten auf der Stirn, und die Linien um den Mund waren tiefer. Aber er war noch in relativ guter Verfassung, auf eine leicht zerknautschte Art ein gut aussehender Mann.

»Natürlich«, sagte George. »Wir könnten uns hier treffen. Sie haben mittags geöffnet.«

»Du klingst nicht, als wärst du dir sicher.«

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich bin mir auch nicht unsicher.«

»Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Okay«, sagte George und dachte wieder, er könne es sich ja noch überlegen und würde eine Entscheidung mit seiner Zusage nur auf später verschieben. Später dann ging ihm durch den Kopf, dass es Zeiten in seinem Leben gegeben hatte, in denen er Liana schlicht geantwortet hätte, er halte es für keine gute Idee, wenn sie sich trafen. Er hatte kein Bedürfnis nach Gerechtigkeit, im Grunde nicht einmal nach einem Schlussstrich, und deshalb glaubte er auch nicht, dass er die Behörden informiert hätte. Das Schlamassel, in das Liana geraten war, lag viele Jahre zurück. Aber es war schlimm genug, dass sie seitdem offenbar auf der Flucht war, und sie würde es wohl für den Rest ihres Lebens bleiben. Natürlich besaß sie kein Handy, und natürlich wollte sie ihn an einem öffentlichen Ort treffen, in einem Lokal an einer Kreuzung in einem geschäftigen Teil Bostons, wo sie sich jederzeit aus dem Staub machen konnte.

»Okay. Ich kann kommen«, sagte George.

Sie lächelte. »Ich werde hier sein. Zwölf Uhr.«

»Ich werde ebenfalls hier sein.«

2

Sie hatten sich am ersten Abend im College getroffen. Georges Tutor, ein schlaksiger, nervöser Bursche im zweiten Studienjahr namens Charlie Singh hatte mehrere seiner Erstsemesterschützlinge zu einer proppenvollen Fassparty im MacAvoy-Flügel mitgenommen. George war ihm die überfüllte Treppe hinauf zu einem drückend schwülen Gemeinschaftsraum mit hoher Decke, Sitzbänken in Fensternischen und abgestoßenem Parkett gefolgt. Er hatte Bier getrunken und Small Talk mit Mark Schumacher gemacht, einem der Studienanfänger aus seinem Flügel. Mark entschuldigte sich und ließ George allein in einem Meer von attraktiven Männern aus der Oberschicht zurück, die anscheinend alle bemüht waren, einander lautstark zum Lachen zu bringen. Er beschloss, dass er das Fest verlassen durfte, aber erst nachdem er sich noch ein Bier geholt hatte. Er bahnte sich einen Weg zwischen den Flanell- und Kakiträgern hindurch zu dem gerade nicht besetzten Fass, wo ihm ein Mädchen zuvorkam, das genau in dem Moment die Hand nach dem Hahn ausstreckte, in dem er es ebenfalls tun wollte. Sie drückte, bekam aber nichts als Schaum und Luft in ihren von Lippenstift verschmierten Becher.

»Es ist leer«, sagte sie zu ihm. Sie hatte glattes dunkelblondes Haar, das knapp unter der Kinnlinie abgeschnitten war, und sehr, sehr blaue Augen in einem herzförmigen Gesicht. Der verträumte Blick ließ sie ein wenig beschränkt wirken, aber George fand, sie war das hübscheste Mädchen, das er bisher im College gesehen hatte.

»Bist du dir sicher, dass es leer ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie in einer gedehnten Sprechweise, die verriet, dass sie nicht aus Neuengland war. »Ich habe das, ehrlich gesagt, noch nie gemacht. Du?«

George hatte ebenfalls noch nie Bier gezapft, aber er trat vor und nahm ihr den Becher aus der Hand. »Ich glaube, man pumpt an diesem Ding. Ich kenne mich selbst nicht wirklich aus, aber ich habe es schon bei anderen gesehen.«

»Bist du auch ein Erstsemester?«

»Ja«, sagte er, und im selben Moment schoss ein Strahl Bier halb in ihren Becher und halb über sein Handgelenk und in seinen Ärmel.

Sie blieben den ganzen restlichen Abend zusammen, rauchten Zigaretten an einem offenen Fenster und erkundeten später in der Nacht das Campusgelände. Sie schmusten unter einem Torbogen, der die Collegekapelle mit dem Hauptverwaltungsgebäude verband. George erzählte ihr, dass sein Vater – der Sohn eines Farmers – ein mechanisches System zur Schlachtung von Geflügel erfunden und mit dessen Verkauf mehr Geld verdient hatte, als seine Großeltern in ihrem ganzen Leben auf der Farm erwirtschaftet hatten. Sie erzählte ihm, ihr Dad sei ein schmieriger Anwalt in einer Kleinstadt, und als George eine Hand unter ihr Shirt schob, fügte sie an, sie sei ein Mädchen von südlich der Mason-Dixon-Linie, das nicht die Absicht habe, sich auf beiläufigen Sex einzulassen, nur weil sie ein College in Neuengland besuchte. Sie sagte es nicht tadelnd, sondern nüchtern sachlich und mit beinahe naiver Direktheit; zusammen mit dem kurzen Moment, in dem er ihre volle Brust unter dem dünnen Seiden-BH berührt hatte, genügte es, damit sich George auf der Stelle in sie verliebte.

Er begleitete sie zu ihrem Wohnheim, dann rannte er halb über den Campus, um mit dem Handbuch für Erstsemester in sein fremdes Bett zu kriechen. Ihr Name und ihre Adresse waren da, aber kein Foto. Er starrte auf den Namen und die leere Stelle, wo das Bild hätte sein müssen. George dachte, dass er noch nie ein Geschöpfwie sie kennengelernt hatte. Anders als die abwechselnd zurückhaltend oder schulmeisterlich auftretenden Angehörigen seines Familienclans hatte sie sehr offen gewirkt und gesprochen, als würden ihre Worte direkt aus ihren Gedanken in die Welt fallen. Als sie sich bei dem Fass begegnet waren, hatte sie George in einer Weise angesehen, die sich herausfordernd und doch auch völlig unschuldig angefühlt hatte. Sie schaute ihn an, als wäre sie neu in diese Welt geboren worden. Es hatte etwas beinahe Unheimliches an sich gehabt. Dann dachte George an die hungrige Art, wie sie ihn geküsst, wie sie ihren Mund heftig auf seinen gedrückt und eine Hand in seinen Nacken gelegt hatte. Georges Zimmergenosse, den er noch kaum kennengelernt hatte, schnarchte lautstark auf der anderen Seite ihres Doppelzimmers. George berührte sich durch die Boxershorts und kam fast augenblicklich.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, dachte er nicht an Unabhängigkeit, an das Collegeleben oder die Kurse, die bald beginnen würden. Er konnte nur an Liana denken. Verkatert, aber schwindlig vor Glück zog er los und saß drei Stunden lang allein im Speisesaal des Mather College, um sie nur nicht zu verpassen. Liana tauchte um elf auf; sie kam mit einem anderen Mädchen herein und marschierte schnurstracks zum Müslitisch. Ihr Haar war noch feucht von der Dusche, und sie trug eine eng sitzende Kakihose und einen weißen Baumwollpullover. Georges Mund wurde trocken, als er sie wiedersah. Er holte sich Kaffee – weil er fand, das sah weltgewandter aus als der Traubensaft, den er getrunken hatte – und tat, als würde er sie zufällig treffen, als sie ihre Schale füllte.

»Ach, hallo«, sagte er und bemühte sich, verschlafen und desinteressiert zu klingen.

Sie stellte ihm Emily vor, ihre Zimmergenossin, eine Privatschulabsolventin aus Philadelphia, die ein verblasstes Izod-Shirt und einen Tennisrock trug, und bat ihn dann zu ihnen an den Tisch. Als er sich zu ihnen setzte, entschuldigte sich Emily aus Diskretion oder Verachtung, nachdem sie eine halbe Schale Müsli gegessen hatte. Liana und George sahen einander an. Er fand sie bei Tageslicht beunruhigenderweise noch schöner als am Abend zuvor. Ihre Haut sah frisch geschrubbt und makellos glatt aus, ihre Augen waren von einem durchscheinenden Blau mit graugrünen Sprenkeln darin.

»Ich warte seit drei Stunden hier, um dich zu sehen«, gab George zu.

Er dachte, sie würde lachen, aber sie antwortete nur: »Das freut mich.«

»Ich habe eine Menge Müsli gegessen.«

»Ich wäre ja früher gekommen, aber Emily bat mich, auf sie zu warten, und dann hat sie eine Stunde gebraucht, um sich anzuziehen. Ich glaube nicht, dass ich sie sehr mögen werde.«

Die nächsten drei Monate waren sie zusammen, und obwohl sie untereinander abgesprochene Anstrengungen unternahmen, andere Freundschaften zu entwickeln und einen Teil ihrer Zeit getrennt zu verbringen, fanden sie am Ende der meisten Abende zueinander, und sei es auch nur, um in dem kalten schwarzen Schatten der Kapelle auf halbem Weg zwischen ihren beiden Schlaftrakten zu stehen und sich zu küssen. Sie blieb sich treu in Bezug darauf, was sie über Sex gesagt hatte – sie war nicht gewillt, in dieser Hinsicht etwas zu überstürzen –, aber eine kontinuierliche Erweiterung dessen, was sie zuließ, führte zu einem Abend Ende November, an dem sie sich beide nackt und nervös in Georges Einzelbett wiederfanden, da sein Zimmergenosse Kevin über Nacht weg sein würde.

»Okay«, sagte sie, und er fummelte mit einem Kondom herum, das er seit der Highschoolzeit einstecken hatte. Er drang langsam in sie ein, eine Hand an ihrer Hüfte und eine an der Unterseite ihres angezogenen Schenkels. Sie hob das Becken, um ihn aufzunehmen, legte den Kopf zurück und biss sich auf die volle Unterlippe. Es war dieser Anblick, mehr als die Bewegung ihrer Hüften unter ihm, der George zu seiner Schande fast sofort kommen ließ. Er entschuldigte sich, und sie lachte, dann küsste sie ihn innig. Sie sagte, es sei ihr erstes Mal gewesen, aber zum Glück floss kein Blut. Später im Monat, als Emily frühzeitig mit ihren Prüfungen fertig und nach Pennsylvania nach Hause gefahren war, hatten George und Liana eine Woche zusammen in ihrem Zimmer. Die gesamte Ostküste wurde von einem großen Eissturm getroffen, so schlimm, dass die Hälfte der Semesterprüfungen am Mather College verschoben werden musste. George und Liana lernten, rauchten Kette, gingen gelegentlich in den Speisesaal, und sie liebten sich oft. Sie probierten jede Stellung aus, fanden Wege, wie George länger durchhielt und Liana am leichtesten kam. Jeder Tag fühlte sich an, als würden sie hinter einer kleinen Tür in der Wand ein vollkommen neues Land entdecken. Die Intensität dieser Woche grenzte für George an eine beinahe unerträgliche Traurigkeit. Er hatte genug Bücher gelesen, um zu wissen, dass man jugendliche Liebe nur einmal erlebte, und er wollte, dass sie nie endete oder verging. Und er sollte recht behalten: Diese Woche in Lianas Einzelbett, das nicht viel größer oder bequemer als eine Klappliege war, brannte sich für alle Zeit in sein Gedächtnis.

Er hatte seither immer nach ihr oder einer Entsprechung gesucht.

Sie schrieben ihre Prüfungen, und das glitzernde Eis, das die Welt vorübergehend eingeschlossen hatte, taute zu Matsch und Schlammbächen auf. Zwei Tage vor Weihnachten verabschiedeten sie sich voneinander, ehe sie in ihren jeweiligen Heimatstaat aufbrachen, Liana mit dem Auto, George mit dem Zug.

Liana hatte George ihre Telefonnummer gegeben, ihn aber gebeten, nicht anzurufen. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ich tatsächlich da bin, ist mehr als gering«, hatte sie gesagt. »Die Mühe lohnt sich nicht, ehrlich. Und wenn meine Eltern Wind davon kriegen, dass mich ein Junge aus dem College anruft, werden sie tausend Dinge wissen wollen. Dann schicken sie mich mit einem Keuschheitsgürtel hierher zurück.«

»Im Ernst?«

»Absolut«, hatte sie in ihrer extrem gedehnten Sprechweise gesagt, die er nie mit seiner Vorstellung von einem Mädchen aus Florida in Einklang bringen konnte. Er stellte sich Surfer und Cabrios vor, aber sie sagte, die Jugendlichen in Sweetgum, dem Ort aus dem sie kam, würden Countrymusik hören und Pick-ups fahren.

»Du kannst mich anrufen«, hatte George gesagt und ihr die Telefonnummer seiner Eltern aufgeschrieben.

»Mach ich.«

Aber sie hatte nicht angerufen.

Und als er im Januar ins Mather College zurückkehrte, erfuhr er die Neuigkeit.

Sie würde nicht wieder nach Connecticut kommen.

Sie hatte zu Hause in Florida Selbstmord begangen.

3

Um Viertel vor zwölf war George der erste Gast im Jack Crow‘s. Zu den vielen Dingen, die George an diesem Lokal mochte, gehörte, dass es dem stadtweiten Brunch-Wahn noch nicht erlegen war. Es öffnete zur Lunchzeit, auch am Wochenende. Keine Schlangen vor der Tür wegen Eggs Benedict und Bloody Marys für zehn Dollar. Kein Jazztrio, das in der Ecke spielte.

Auch früh am Tag war es im Jack Crow‘s kalt wie in einem Kühlhaus. Der Geruch von Haushaltsreiniger überdeckte den nach schalem Bier nur mühsam. Eine Bedienung war nicht zu sehen, deshalb ging George an die Theke und bestellte eine Flasche Newcastle.

»Sie sind früh dran heute«, sagte der Besitzer und fuhr fort, Zitronen in Spalten zu schneiden.

»Ich habe diese Hitze satt, Max.«

»Geht mir genauso.«

Eine zerknitterte Zeitung lag auf der Theke, und George nahm sie mit zu einem Tisch im rückwärtigen Teil, wo er sich so setzte, dass er die Tür im Auge hatte. Er schlug die Zeitung auf, konnte sich aber nicht auf die Worte konzentrieren, sondern spähte nur über den Rand des Blatts zum Eingang. Bis er sein Bier ausgetrunken hatte, war es zehn nach zwölf. Die Eingangstür war dreimal aufgegangen, zuerst, um ein junges japanisches Paar einzulassen, das jeweils einen Rollkoffer hinter sich herzog, dann kam der Postbote und warf rasch ein Bündel Post auf die Theke. Beim dritten Mal trat ein Stammgast namens Lawrence ein. George hob die Zeitung leicht an, damit er nicht entdeckt wurde, aber Lawrence ging sofort zu seinem Stammplatz am anderen Ende der Bar, wo er am nächsten zur Küche saß.

George stand auf, um noch ein Bier zu bestellen. Kelly, eine der Bedienungen, war inzwischen hinter der Theke und putzte Gläser. Als sich George näherte, läutete das Telefon an der Wand hinter ihr, und sie nahm es und klemmte sich den Hörer unter das Kinn. »Jack Crow’s Tavern, ja bitte?« Sie lauschte und sah George mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja, ich kenne ihn. Er steht genau vor mir. Einen Moment.« Sie streckte George den Hörer hin, als er die Thekenecke erreichte. »Eine Dame. Für dich«, sagte Kelly und zuckte mit den Achseln.

George nahm den Hörer; er wusste, wer dran sein würde.

»Ja?«

»Hallo, George. Hier ist Liana.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja, aber ich werde es nicht schaffen, dich zu treffen. Ist eine lange Geschichte. Ich habe mein Auto verliehen, und jetzt weiß ich nicht, wo die Frau damit ist. Du kannst nicht zufällig zu mir kommen?«

»Wo bist du?«

»New Essex. Kennst du das?«

»Natürlich. An der Nordküste. Ich war schon dort.«

»Hast du einen Wagen? Wärst du bereit, hier heraufzufahren?« Ihre Stimme klang für George zittrig. Und sie sprach untypisch schnell.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, bis auf den Umstand, dass ich meinen Wagen nicht habe.«

»Bestimmt?«

»Wie hast du gestern Abend gesagt? Ich bin mir nicht sicher, aber ich bin mir auch nicht unsicher. Etwas in dieser Art. Ich will nicht lügen. Ich stecke ein bisschen in Schwierigkeiten – nicht jetzt im Augenblick, sondern im Allgemeinen –, und ich habe gehofft, du könntest mir einen Gefallen tun.« Als George nicht sofort etwas sagte, fragte sie: »Bist du noch da?«

»Ja. Ich höre.«

»Glaub mir, mir ist sehr wohl bewusst, dass ich der letzte Mensch bin, der dich um einen Gefallen bitten sollte. Ich hoffe einfach, dass du mich anhören wirst.«

»Und du kannst mich nicht jetzt am Telefon bitten?«

»Ich würde es lieber von Angesicht zu Angesicht tun. Hast du einen Wagen?«

»Ja.«

»Ich würde es sehr begrüßen, wenn du hier herauffahren und dir zumindest anhören könntest, was ich zu sagen habe. Du kannst mir trauen. Ich traue dir. Nichts hält dich davon ab, die Polizei zu rufen und ihr meine Adresse zu verraten.«

George atmete durch die Nase aus und sah Kelly an, die Bedienung.

Sie deutete auf seine leere Bierflasche und formte mit den Lippen: »Noch eins?«

George schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Okay. Ich komme rauf. Wo genau bist du?«

»Danke, George. Kennst du die Beach Road? Ich wohne bei einer Freundin, direkt hinter St. John, dieser alten Steinkapelle.«

»Okay, ich glaube, ich weiß, wo das ist.«

»Nach der Kirche geht es rechts in eine nicht asphaltierte Straße, die Captain Sawyer Lane heißt. Es ist das Haus ganz am Ende. Mehr eine Hütte. Ich werde auf dich warten. Irgendwann heute Nachmittag geht in Ordnung.«

»Ich werde da sein.«

»Danke. Danke. Danke.«

George gab Kelly das Telefon zurück.

»Oh, oh«, sagte sie mit ihrem kräftigen Bostoner Akzent. »Ist nie ein gutes Zeichen, wenn man anfängt, Anrufe in seiner Stammkneipe zu bekommen.«

»Danke, Kel. Vielleicht nimmst du Nachrichten für mich entgegen, wenn ich nicht da bin.«

»Sonst noch was?«

George überlegte, ob er noch ein Bier bestellen und etwas dazu essen sollte, beschloss aber stattdessen lieber sofort zu Liana zu fahren. Bei dem Gespräch mit ihr hatte sich sein Magen zusammengezogen, nicht nur weil sie wieder in seinem Leben war, sondern weil sie aufrichtig verängstigt geklungen hatte. Er verließ das Jack Crow‘s und ging die zwei kurzen Blocks zu der Garage, in der sein Saab stand. George hätte sich nie als Autonarr bezeichnet, aber der Saab 900 war das erste und einzige Auto, in das er sich je verliebt hatte. Er hatte unmittelbar nach dem Studium einen mit hundertsechzigtausend Kilometer auf dem Tacho gekauft, hatte ihm weitere zweihunderttausend hinzugefügt und sich dann nach einem Ersatz umgesehen. Seither hatte er ihn immer wieder ersetzt. Der aktuelle 900er war sein vierter, der erste mit SPG-Ausstattung. Davon waren 1986 nur etwa fünfzehnhundert Stück gebaut worden, und es gab sie fast nur in Oldtimer-Grau. Die Garage für den Saab war eine beträchtliche Ausgabe, aber er liebte den Wagen viel zu sehr, um ihn auf der Straße stehen zu lassen.

An einem Tag ohne viel Verkehr dauerte es etwa fünfundvierzig Minuten mit dem Auto zu dem Ort, den ihm Liana genannt hatte. New Essex lag zwischen zwei Meeresarmen versteckt an der Küste und war für seine Steinbrüche bekannt. Die Hälfte des Granits in Boston stammte von dort, wie ein gewaltiges Loch in der Landschaft bewies, aber heute fuhr man hauptsächlich nach New Essex, um gebratene oder gedämpfte Muscheln zu essen, die von Felsen übersäte Küste zu betrachten oder die kitschigen Galerien zu besuchen, die die alten Fischerhütten am Hafen abgelöst hatten.

George traf kurz nach halb zwei in dem Ort ein. Er steuerte seinen alten Saab an der Granitstatue eines Steinbrucharbeiters vorbei, die den kleinen Verkehrskreisel im Zentrum der Stadt krönte, und fuhr auf der Beach Road nach Norden. Es war ein weiterer schwüler Tag, der Himmel war kreideblau, und das Meer, das gelegentlich durch das Gebüsch zu sehen war, lag grau und reglos da. George verlangsamte, um nach Wegweisern Ausschau zu halten. Er bog um eine Kurve, und ein Stück voraus, an der nächsten Biegung, sah er eine steinerne Kirche mit einem Glockenturm davor. Er fuhr daran vorbei. Ein Mann schlief allein auf einer Bank im Kirchhof. Er trug eine lange Hose und ein langärmliges Hemd, beide marineblau, und saß aufrecht da, aber mit dem Kinn auf der Brust. George überkam plötzlich der beunruhigende Gedanke, dass der alte Mann auf der Bank gestorben war und niemand es bemerkt hatte.

Nach der Kirche schwenkte die Beach Road scharf landeinwärts, der Blick aufs Meer wurde durch Kiefern versperrt. Das grüne Schild, das die Captain Sawyer Lane anzeigte, war fast bis zur Unleserlichkeit verblasst und der Weg selbst tief ausgefurcht. George bog in ihn ein und fuhr ein paar hundert Meter, vorbei an einem Haus aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, das versteckt auf der rechten Seite im Wald lag. Er fuhr weiter, und der Weg endete an einer alten, mit Schindeln bedeckten Sommerhütte, die verlassen ausgesehen hätte, wenn nicht ein glänzend weißer Dodge vor der baufälligen Eingangstreppe gestanden hätte. George parkte hinter dem Dodge, stellte den Motor ab und stieg aus. Der Belag der Zufahrt war eine Mischung aus Kieseln und Muscheln. Hinter der Hütte waren ein sumpfiger Meeresarm und eine Anlegestelle, die noch älter und noch weniger vertrauenswürdig aussah als das Haus. George stieg die Treppe hinauf und klopfte an die nicht gestrichene Tür. Nichts rührte sich. Eine leichte Brise vom Meer bewegte sanft die Kiefern. George klopfte erneut; das Holz fühlte sich hohl an, als wäre es von innen heraus verfault. Er wollte eben die Klinke drücken, als ein Mann um die Ecke des Hauses kam.

»Sie ist nicht da«, sagte er.

George sah ihn an. Sein Gegenüber war ein kleiner gepflegter Mann in einer Anzughose und der Art teurem Seidenhemd, das man in Massachusetts nicht allzu häufig sieht. Er zeigte ein bemerkenswert unfreundliches Lächeln. »Wer ist nicht da?«, fragte George.

Das Lächeln des Mannes wurde breiter, und er machte ein paar Schritte auf George zu. »Im Ernst?«, fragte er. Er hatte gräulich purpurne Zähne, als hätte er zu viel Rotwein zum Frühstück getrunken.

»Nach wem suchen Sie denn?«, fragte George in der Hoffnung, den Spieß umzudrehen. Der Mann war ziemlich klein, aber etwas an der Art, wie er sich bewegte, ließ George beinahe körperlich zurückfahren. Er erinnerte George an einen Pitbull, einen von der Sorte, die man normalerweise mit Maulkorb an ihrer Leine zerren sieht.

»Ich suche nach Jane«, sagte Pitbull, als wäre sie eine gemeinsame Freundin. »Sie wohnt gerade hier draußen. Und was tun Sie hier?«

»Ich bin ein Händler«, sagte George. Er stieg die Treppe hinunter, sodass die beiden Männer ebenerdig standen. Pitbull war mindestens dreißig Zentimeter kleiner als George.

»Was verkaufen Sie?«, fragte er.

»Ich bin froh, dass Sie fragen. Ich verkaufe ewiges Leben.« George streckte Pitbull die Hand entgegen; er war sich der Tatsache bewusst, dass seine Handflächen zu schwitzen anfingen, aber er wollte wenigstens den Anschein aufrechterhalten, als würde er Liana/Jane nicht kennen und als hätte er keine Angst davor, im dunklen Wald allein mit einem Mann zu sein, der aussah, als könnte er George mühelos in Stücke reißen.

Sie schüttelten sich die Hände.

George war nicht überrascht, dass sich die Hand des Fremden trocken und kühl anfühlte. Er wollte loslassen, aber der Mann hielt ihn weiter fest und grub den Daumen in einer Weise in Georges Handrücken, dass George nichts anderes übrig blieb, als die Finger zu strecken. Pitbull drückte kräftig und quetschte Georges Knöchel zusammen. »Himmel«, sagte George und versuchte, die Hand wegzuziehen.

»Nicht bewegen«, sagte Pitbull, dessen Lächeln jetzt mehr ein höhnisches Grinsen war, und George tat, was er sagte. So wie der Mann Georges Hand hielt, war ziemlich klar, dass er nur noch ein wenig fester drücken musste, und Knöchel würden brechen wie Eis in einem Crusher.

»Ich weiß nicht, was Ihnen …«

»Pst. Still. Ich werde Sie nur einmal fragen, deshalb erwarte ich ehrliche Antworten, sonst zermalme ich Ihnen jeden Knochen in Ihrer Hand. Ich habe es schon getan, und ich hasse es wirklich. Ich bin zimperlich in manchen Dingen. Nicht was Blut angeht, natürlich, aber das Gefühl, die Hand von jemandem in einen schlaffen, mit Kies gefüllten Handschuh zu verwandeln … Mir wird richtig schlecht, wenn ich nur daran denke. Ich will es also nicht tun, und Sie wollen mit Sicherheit auch nicht, dass ich es tue, also sagen Sie mir einfach, was Sie wissen, okay? Wann haben Sie Jane zuletzt gesehen?«

George zögerte einen winzigen Augenblick, ehe er zu dem Schluss kam, dass es keinen vernünftigen Grund gebe zu lügen. »Gestern Abend. In Boston.«

»Wo dort?«

»In einer Bar in Beacon Hill namens Jack Crow‘s. Sie ist eine alte Freundin. Wir kennen uns vom College, und auf meine Frage nach einem Treffen, sagte sie, sie würde hier draußen wohnen, und ich könne heute kommen und sie besuchen. Das ist die ganze Geschichte.«

»Warum haben Sie mich belogen?« Aus der Nähe betrachtet, hatte Pitbull kaum Gesichtszüge, einen eichelförmigen Kopf und eine wächserne Haut, die aussah, als wäre sie über und über mit winzigen Poren gespickt. Der Nasenrücken war platt gedrückt, als hätte er den einen oder anderen Kampf verloren, was nur schwer vorstellbar war. Sein Haar war kurz und stark gegelt, und er roch nach einem Aftershave mit einer Menge Alkohol darin.

»Hören Sie, ich weiß, dass … Jane in ihrem Leben so manche Probleme hatte, auch wenn ich wirklich keine Ahnung habe, was jetzt gerade los ist. Und Sie sehen aus wie jemand, dem sie vielleicht lieber aus dem Weg gehen würde.«