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Die ungefilterten Gedanken eines Pastors im Exil geben dem Leser, der Leserin einen Werkzeugkasten, der es ihm oder ihr erlaubt, einen neuen Blick auf die Bibel und die Gemeinde zu werfen. Der Autor beginnt jedes Kapitel mit einer Geschichte aus seinem eigenen Leben, seiner eigenen Gemeinde, um nach der detaillierten Darstellung des jeweiligen Werkzeugs ein Fazit zu heutigen Gemeinden und möglichen Entwicklungen zu ziehen. Die Werkzeuge, die in diesem Buch betrachtet werden, umfassen Spiral Dynamics, die Theorie der positiven Desintegration, Gemeinschaftsbildung, der Umgang mit Zweifeln, und verschiedene Persönlichkeitstests und Merkmale.
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Seitenzahl: 339
Veröffentlichungsjahr: 2023
DIE UNGEFILTERTEN GEDANKEN EINES PASTORS IM EXIL
Ralph Rickenbach
Copyright © 2023 Ralph Rickenbach
ISBN Softcover: 978-3-347-99036-4 ISBN Hardcover: 978-3-347-99037-1 ISBN E-Book: 978-3-347-99038-8
Druck und Distribution im Auftrag: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag , zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Für meine Frau Christina, die mich durch all dies begleitet, und für alle Gläubigen, die noch auf der Suche sind.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Vorwort
Zum Autoren
Was ist eine Freikirche
1. Weltanschauung
2. Die Bibel
3. Veränderung
4. Positive Desintegration
5. Gemeinschaftsbildung
6. Sicherheit und Glauben
7. Persönlichkeit
Kontaktdaten
Epilog
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Titelblatt
Urheberrechte
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Vorwort
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Vorwort
Alle meine Bücher […] sind […] kleine Werkzeugkisten. Paul-Michel Foucault
Ich habe schon oft versucht, ein Buch zu schreiben. Angefangen hat man sehr schnell, aber dann gehen einem die Ideen aus, der Mut verlässt einen, oder man hat andere, neue interessante Ideen.
Ich hoffe, dass es diesmal anders wird.
Doch worüber schreibt man?
Es gibt ein Thema, das mich seit Jahrzehnten verfolgt: mein Glaube. Dieser Glaube ist für mich einerseits Basis und allumfassendes Gehäuse für all mein Denken und Sein, andererseits ein ewig wechselndes Framework der Unsicherheit, des Zweifels, der Neuausrichtung, der Beziehung und des Vertrauens.
Überhaupt möchte ich den Glauben lieber Vertrauen nennen. Glauben hat viel zu oft mit einem System zu tun, einem Buch, einer festgelegten Meinung. Irgendwann wird der Glaube zum Antonym von Zweifel und zum Synonym von Wissen. Man ist sich sicher, zu wissen, wie es ist. Vielleicht ist man sich auch nur sicher, was zu tun ist, um am Ende sicher zu sein.
So stellt sich mir die Reise nicht dar. Wenn ich zurückschaue, dann ist alles im stetigen Fluss. Panta rei – alles fliesst. Und wenn doch der Fluss der Gleiche ist, so ist er es doch nicht. Nicht nur ist das Wasser ständig anderes, sondern die Form des Flusses verändert sich über die Zeit.
Ich werde in diesem Buch von Persönlichkeitstests, evolutionären Entwicklungsmodellen unseres Denkvermögens, alternativen Auslegungen der Bibel, und persönlichen Erlebnissen reden. Dies wird keine umfassende Abhandlung einer neuen Theologie, noch wird es eine Autobiografie. Es soll ein Denkanstoss werden für diejenigen, die den Glauben als ein sich ewig ändernder Fluss der Beziehung zu Gott, ein Vertrauen in diesen Gott und Gottes Vertrauen in die Menschheit sehen.
Stürzen wir uns hinein. Als Erstes solltest Du mich etwas näher kennenlernen.
Zum Autoren
Ich nenne mich also Pastor im Exil. Was für ein vielversprechender, einzigartiger Name, was für ein wunderbarer Gesprächseinstieg, was für ein Anfang einer Geschichte. Es war einmal ein Pastor im Exil.
Aber ich möchte einen anderen Aufhänger für den Anfang verwenden, einen biblischeren, wie der erste Teil des Ausdrucks "Pastor im Exil" nahelegt.
Als die Zeit erfüllt war, wurde ich dazu gebracht, die Kirche zu verlassen und von nun an am Fluss der Informationen, dem nie endenden Strom des Internets, zu unterrichten. Ich fühlte mich wie ein Prophet aus alten Zeiten, wie Johannes der Täufer. Diese Propheten versuchten, in Jerusalem zu predigen, und traten zuerst vor den Autoritäten in den Toren auf. Wenn sie abgelehnt wurden, gingen sie in die Wüste oder an den Jordan, um ihre Berufung zu erfüllen. Propheten im Exil.
Aber lass mich dir von meinen Erfahrungen in Jerusalem erzählen.
Ich bin sicherlich kein Mann wie Elia oder Johannes der Täufer, robust und mutig, kühn und stark. Ich bin ein leicht übergewichtiger ehemaliger Computerprogrammierer und introvertierter Denker, der zwar nicht schüchtern, aber sehr verkopft ist und dazu neigt, Menschen mit Wissen so sehr zu überhäufen, dass sie die Flucht ergreifen.
Am Anfang, vor fast 40 Jahren, war das noch ganz anders. Damals war ich untergewichtig. Aber durch die Ehe habe ich etwa ein Kilogramm pro Jahr zugenommen, nicht gleichmässig, mit Höhen und Tiefen, aber im Durchschnitt stimmt das schon.
Als Schweizer Heide geboren, hatte ich schon eine ganze Menge Kirchengeschichte hinter mir, als ich schliesslich mein Leben Jesus übergab, wie wir fundamentalistischen evangelikalen Christen unsere Bekehrung nennen.
Ich war protestantisch geboren worden, hatte eine Hauskirche besucht, die nach der Jesus-People-Bewegung in den Siebzigerjahren gestaltet war, war in einer evangelikalen Kirche, in einem katholischen Internat zur Schule gegangen, hatte mit Quäkern, Lutheranern und Juden zusammengelebt. Und nun begab ich mich auf eine Reise mit Charismatikern.
Ich hatte auch das erlebt, was wir als Kulturkampf 2.0 bezeichnen, als es ihn noch gar nicht gab. Da ich in einem traditionellen Internat lebte, eine modernistische humanistische Schule besuchte, einen modernistischen Vater und eine postmoderne Mutter hatte, war ich schon bald sehr gut darin, die drei grossen Weltanschauungen der damaligen und heutigen Zeit unter einen Hut zu bringen. Schon früh beschäftigte ich mich mit dem, was Entwicklungspsychologen manchmal als integral bezeichnen, ohne den Begriff zu kennen.
Ausserdem hatte ich eine Vision entwickelt, bei der ich mich an einem Ort der totalen individuellen Einheit befand. Alle Menschen dort hatten totale persönliche Freiheit und waren doch absolut eins. Wie bei allen Bildern fehlen mir die Worte, um es zu erklären, und wenn ich es aufschreibe, wirkt es oberflächlich, aber ich will es versuchen.
Von diesem Ort aus reiste ich rückwärts durch verschiedene Stadien, die entweder weniger vereint waren, weil die Individualität noch nicht ganz ausgereift war, oder weniger individuell, weil die Einheit missverstanden wurde.
Die Vision endete in der Regel in einer vertrauten Sicht auf das, was man damals als Gemeinde bezeichnete und was sich, ehrlich gesagt, in der Kirche seitdem auch nicht gross verändert hat.
Ich wusste, dass ich einer von vielen war, die versuchen würden, Veränderungen herbeizuführen und die Kirche auf den Weg meiner Vision zu bringen. Und so fing ich wohlmeinend und naiv an.
Wie ihr alle wisst, hat es einen gewissen Einfluss auf einen, wenn man in ein Umfeld mit einer bestimmten Weltanschauung eintaucht. Wir nennen das „Nurture“, und ja, manchmal wird es dich nähren, manchmal wird es versuchen, dich zu mästen wie eine Gans, die für Weihnachten vorbereitet wird, indem es dir seine Überzeugungen in den Hals schiebt.
Ich blieb also keineswegs unbeeinflusst und war viele Jahre lang hin- und hergerissen zwischen Anpassung, dem Wunsch, so zu werden wie sie, und der Tatsache, dass ich den Erwartungen meiner selbst und vor allem den Autoritätspersonen nie ganz gerecht werden konnte.
Da ich intuitiv erkannt hatte, dass in einem traditionellen Umfeld Veränderungen entweder durch Rebellion von unten (was immer in einer anderen Hierarchie enden wird) oder von oben (was sanfter und wohlwollender verlaufen könnte) herbeigeführt werden, beschloss ich, dass ich eher Pastor als Rebell werden sollte.
Dafür habe ich 24 Jahre gebraucht. Nun, ich muss sagen, dass ich nie wirklich Pastor wurde, sondern eher Lehrer (so wie im fünffachen Dienst). Aber der Name "Lehrer im Exil" ist irreführend, denn man würde nie an Kirche und Religion denken. Und ich hatte nie das Sagen, hatte immer zwei Schichten von Aposteln über mir, und deshalb wurden alle meine Versuche, Veränderungen herbeizuführen, im Grunde immer noch als Rebellion angesehen.
In späteren Kapiteln werde ich auf die Jahre zwischen dieser Zeit und der Zeit, auf die ich mich als Nächstes konzentrieren werde, eingehen, aber lasst uns erst einmal bis vor etwa fünf Jahren vorspulen.
Obwohl ich als Co-Pastor, Lehrer und Ältester in der Gemeinde eingesetzt war, arbeitete ich immer noch als Computerprogrammierer für eine Firma, die Laborsoftware für grosse Lebensmittelunternehmen herstellte.
Alle Programmierer teilten sich ein Grossraumbüro, was für diese Art von Lebewesen die unproduktivste Umgebung ist, die es geben kann. Da wir alle leicht ablenkbar waren, durften wir nicht reden oder uns ohne ein konkretes Ziel bewegen. So waren das Kaffeetrinken in der Küche und der Gang zur Toilette unsere Fluchtwege, wenn unser Hirn etwas körperliche Bewegung oder einfach einen Tapetenwechsel brauchte.
Dreizehn Espresso-Shots am Tag wurden immer von Süssigkeiten begleitet, denn wir hatten tonnenweise Süssigkeiten von unseren Kunden herumliegen.
Aber eines Tages beschloss ich, etwas Obst zu essen. Wir hatten eine Programmiererin, die jeden Tag Obst für uns zubereitete und es in mundgerechte Stücke schnitt, die wir dann mit einem Zahnstocher verzehren konnten. Keine Arbeit, keine klebrigen Hände, und trotzdem nahm sie jeden Abend das mit nach Hause, was sie nicht selbst gegessen hatte. Wir waren typische Programmierer.
Aber an diesem Tag ass ich ein Stück Mango. Du musst wissen, dass ich zuvor drei Jahrzehnte lang nichts gerochen oder geschmeckt hatte. An diesem Tag jedoch explodierte diese Mango in meinem Mund vor Süsse und meine Nase war erfüllt von dem unverwechselbaren Geruch einer exportierten, mittelmässigen Mango, an die wir uns hier im Westen gewöhnt sind. Seitdem war ich in Indien und habe das echte Zeug gekostet, aber an diesem Tag war der Geruch und Geschmack himmlisch.
Ich musste sofort meine Frau anrufen, war vor Freude und Aufregung ganz aus dem Häuschen. Und glaub mir, auch Freude und Aufregung waren für mich neu, denn die Barriere, die ich innerlich errichtet hatte, beschränkte sich nicht nur auf Geruch und Geschmack, sondern hatte auch meine anderen Sinne und meine Gefühle in ihrer Intensität herabgesetzt.
Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich oft im Bett lag und meine Sinne überlastet waren. Das ziemlich Einzige, was ich in den nächsten sechs Monaten tat, war, in die Kirche zu gehen oder mich in meinem Zimmer mit so wenig Reizen wie möglich zu verschanzen.
Ich musste meinen Job aufgeben und kurz darauf wurde bei mir Krebs diagnostiziert, ich wurde operiert und bestrahlt, und immer noch waren und sind die Krebsmarker im Steigen begriffen, während nichts gefunden wird.
Das war ein echter Weckruf für mich. Ich beschloss, einen Blick auf mein Leben zu werfen, unterstützt von meinen neu gefundenen Helfern, den Emotionen und den Sinneseindrücken.
Ich erkannte, dass ich mich jahrelang selbst gelähmt hatte. In der Kirche hatte man mir beigebracht, dass die Vernunft vom Teufel sei, dass tiefes Denken alte Natur sei, und dass man es abschaffen müsse. Mir wurde mehrmals der Kopf abgeschlagen, zum Glück mit virtuellen Schwertern, um mich aus meinem Kopf herauszuholen und mich mehr den Gefühlen und der Führung des Geistes zuzuwenden.
Gott ist Geist und Geist spricht zu Geist. Lasst uns das in moderneren Worten ausdrücken: Gott spricht zu unserem Unbewussten, und seine Gedanken müssen uns bewusst werden, um uns zu erreichen. Das bedeutet, dass er unsere Intuition, unsere Vorstellungskraft, unsere Gefühle und unseren Verstand benutzt. Mir wurde gesagt, dass die Vernunft der Bösewicht unter diesen vier sei und dass die Phantasie in Schach gehalten werden müsse.
Nachdem ich schon früh etwas über Persönlichkeitsentwicklung gelernt hatte, was aber als Teufelszeug abgetan wurde, besann ich mich auf das, was ich gelesen hatte, und fand schliesslich heraus, dass ich in Gottes Absicht und nicht durch Sünde zum Denker geworden war.
Ich erkannte, dass ich die Kirche am besten verändern und meiner Berufung und meiner Vision treu bleiben konnte, wenn ich auf allen Zylindern lief. Ich hatte schon immer eine grosse Vorstellungskraft, die Heilung hatte meine Intuition und meine Gefühle langsam zurückgebracht, und ich erlaubte der Vernunft, sich endlich mit den Kräften zu verbinden.
Ich fühlte mich wie die Power Rangers, die sich vereinigen, wie ein Pokémon, das eine neue Stufe erreicht. Mir war ein Infinity Stone gegeben worden.
Leider waren die Machthaber in den Toren Jerusalems nicht einverstanden.
Ein Bibelvers kann unterschiedlich interpretiert werden, die Bibel hat eine Geschichte von theologisch und kulturell geprägten Übersetzungen, Wahrheit ist subjektiv, sobald sie von einem Menschen ausgesprochen oder empfangen wird - all das war ein Gräuel.
Eine nicht-hierarchische Führungsstruktur, die sich auf die Talente und Stärken der Einzelnen stützt und den Mitgliedern der Kirche Vertrauen entgegenbringt, war undenkbar.
Als Covid zuschlug und ein anderer Pastor des Netzwerks in Sünde fiel, weil er glaubte, dass Homosexuelle Menschen sind, die wir genauso lieben sollten wie alle anderen, und ich nicht sofort widersprach, erwartete unser Apostel und Hauptpastor von mir, dass ich jede Predigt im Voraus zur Zensur einreichte. Er wollte, dass ich mich zu 100 % seiner Leitung unterwürfe und nie wieder etwas anderes als die Wahrheit lehrte. Als ich ihn fragte, was er mit Wahrheit meinte, definierte er sie als "das, was ich glaube".
So verliess ich die Tore Jerusalems, die ich vier Jahrzehnte zuvor betreten hatte, und liess mich als Pastor im Exil am Strom des Internets nieder.
In diesem Buch möchte ich dich mit einigen der Werkzeuge vertraut machen, die mir auf meinem Weg geholfen haben, mich vom Traditionalismus in seiner geschlossensten und starrsten Form zu lösen, dir Geschichten erzählen, wie du ihn erkennen kannst, damit du auf dem Weg keinen Krebs entwickeln musst, und dir einfach einen Einblick in mein Leben und meine Träume gewähren.
Bist du interessiert?
Was ist eine Freikirche
Ich habe im letzten Abschnitt von Gemeinden und Kirchen gesprochen. Gemeinde ist ein geläufiger Ausdruck für Freikirche. Was aber ist eine Freikirche?
Freikirchen sind christliche Kirchen, welche nicht Staatskirchen sind. So einfach ist das. Und da werden die Definitionen kompliziert.
Wofür stehen wir dann? Worin unterscheiden wir uns? Warum gerade diese Freikirche und nicht die andere im nächsten Dorf? Hauskirchen, denominationelle Gemeinden, Netzwerke, Unabhängige?
Der Ansatz dieses Kapitels ist schwierig zu verdauen für manche. Ich hoffe, dass Du bis zum Schluss dabei bleibst, denn mein Fazit ist ein anderes, als Du zwischenzeitlich vermuten wirst.
Leider ist es so, dass Freikirchen, oder wie sie in der Schweiz genannt werden, Gemeinden, so unterschiedlich und zahlreich daherkommen wie Lebensmittelhändler. Und ähnlich wie diese versuchen sie sich gegeneinander abzugrenzen – auch wenn sie das oft nicht zugeben.
Wie entstanden eigentlich so viele Gemeinden und Denominationen (hierarchische Verbände gleichartiger Gemeinden, oft mit demselben Namen)?
Dies geschah auf drei Arten: Entweder entdeckte jemand in der Bibel oder durch Offenbarung eine Wahrheit, die Gott in dieser Zeit betonen oder wiederherstellen wollte, oder man geriet sich wegen eines theologischen oder nicht-theologischen Aspekts in die Haare. In beiden Fällen gab es Menschen auf beiden Seiten, z. B. Bewahrer und Pioniere.
Die dritte Art ist, wenn man in einem neuen Gebiet oder für eine neue Demografie eine Gemeinde macht, ohne in Konkurrenz zu anderen zu stehen.
In einer Kultur, in der die Zugehörigkeit zum Leib Christi, also das Recht, Gottes Kind zu heissen und in den Himmel zu kommen, über die Befolgung gewisser Handlungen und eines gewissen Lebensstils erreicht wird, muss sich jede Gemeinde gegenüber der anderen abgrenzen. Das geschieht über unterschiedliche Auslegungen der Bibel zu Themen wie Taufe, Lobpreis, Leitungsstrukturen, Heiliger Geist, Gebet, Fürbitte, Predigtstil, Reaktion auf kulturelle Phänomene und Entwicklungen, Grösse, Versammlungsort und Häufigkeit, und so weiter.
Manchmal geschieht es auch auf eine ganz andere Weise: Eine Gemeinde sieht einen Auftrag, der sich wesentlich von dem anderer Gemeinden unterscheidet.
Die Gemeinde entstand in einer Weltanschauung, genannt Tradition, in welcher Ordnung, Hierarchie und Regeln das Leben bestimmten. Wir sehen das historisch am besten, wenn wir uns überlegen, dass das Christentum aus dem Judentum entstand. Es war die Zeit des Gesetzes.
Bis heute hat die Gemeinde das Neue Testament so ausgelegt, dass es einen teilweise neuen Satz von Regeln schuf, indem Jesus gewisse Gesetze des Alten Testaments aufhob, andere bestätigte, und neue stiftete. Paulus hat auf diese Gefahr bereits im Galaterbrief hingewiesen. Er fragte die Galater geradeheraus: Wer hat Euch verhext? Meint Ihr wirklich, durch Regeln und Gesetze gerettet zu werden?
Kurze Zeit darauf wurde die Kirche verstaatlicht und erhielt ein ganz neues Gesicht. Neben dem Kanon der Bibel wurden Katechismen und Regelwerke geschaffen, wie die Kirche zu funktionieren habe und die Bibel zu interpretieren sei. Dabei hatte gerade diese Bibel darauf hingewiesen, dass das Geschenk des Heiligen Geistes an uns alle Priesterschaft und Lehrer hinfällig werden liess.
Als Luther mit seiner alternativen Auslegung die Pforten öffnete, ging die Spalterei, ja die Haarspalterei los. Gemeinden wurden am Laufmeter gegründet.
In den letzten Jahrzehnten gibt es erfreulicherweise Bewegungen innerhalb der Gemeindelandschaft, Gemeinsamkeiten zu suchen und zusammenzuarbeiten. Ein Schritt in die richtige Richtung.
Und doch: ein grundlegendes Problem bleibt.
Solange wir glauben, dass unsere Interpretation der Bibel die absolute Wahrheit darstelle, solange wir daran festhalten, dass wir etwas zu unserer Rettung beitragen müssen, werden wir unterschiedliche Auffassungen haben. Das ist kein Problem, solange wir uns deswegen nicht verurteilen oder ständig belehren wollen.
Also, da stehst Du nun, Du moderner Mensch, der glaubt, dass Gott eine menschliche Erfindung ist, um auf die einfache Art zu erklären, was die Wissenschaft schon erklärt oder eben noch nicht erklärt hat. Auf Englisch ist das the God of the Gap. Deiner Ansicht nach machen es sich die Menschen einfach mit dieser Erklärung, sie müssen so nicht denken. Dabei ist die Welt doch rein materialistisch und schon Nietzsche hat den Tod Gottes deklariert.
Zwei Beobachtungen bestärken Dich in Deiner Ansicht: Wenn es Gott gäbe, würde er sich offenbaren und es gäbe nicht so viele Lehrmeinungen. Und würden die Christen ihre Bibel ernst nehmen, würden sie nach Einheit streben und sich nicht gegenseitig bekämpfen.
Oder Du, der postmoderne Typ, der glaubt, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Eigentlich ist es ja richtig, jeder darf nach seiner eigenen Façon glauben, aber dies dann missionarisch von anderen zu verlangen und sich gegenseitig den rechten Glauben abzusprechen? Wo bleibt da die Liebe, die sich in Toleranz und Bescheidenheit ausdrückt? Und woher nimmt jemand die Frechheit, zu glauben, etwas besser zu wissen und darum leiten zu dürfen?
Und natürlich fragt Ihr Euch beide: wie kommt er jetzt aus diesem Dilemma raus, dieser Ecke, in die er sich selbst manövriert hat. Jetzt muss er sich selbst und seine Gemeinde nämlich abgrenzen gegenüber all dem Gesagten, und tut so selbst, was er als problematisch erkennt! Ha, erwischt.
Vielleicht habe ich nicht den richtigen Ton getroffen bis jetzt, aber ich möchte von Herzen sagen, dass ich dankbar bin für jede Gemeinde, die es gibt.
Ein Mensch durchlebt in seinem Leben verschiedene Weltanschauungen und lernt, mehr und mehr zu verstehen, sich seinen Lebensumständen mehr und mehr zu stellen, und immer komplexere Probleme zu lösen.
Jeder sieht dies in Kindern. Ein Baby kommt mit ein paar Grundreflexen auf die Welt: der Saugreflex, oder wie es zugreift, wenn man den Finger in seine Händchen legt, und einer grossartigen Fähigkeit, andere zu imitieren. Schon kurz nach der Geburt kann man dem Baby die Zunge herausstrecken, und es macht dasselbe! Eine enorme Leistung.
Diese und andere Basisfähigkeiten ermöglichen es dem Baby, auf die Umwelt zu reagieren und zu lernen. Über die Jahre hinweg lernt es grundsätzliche Tätigkeiten und abstrahiert davon Prinzipien.
Mit etwas über 2 Jahren kann man dem Kind sagen, dass es den Teddy ins Regal an den freien Platz stellen, dass es Lego in die Kiste werfen soll. Mehrere solche Tätigkeiten können nun verbunden werden mit dem abstrakten Begriff „aufgeräumt“. Und bald schon versteht das Kind die Aufforderung: räum Dein Zimmer auf.
Und wir wissen alle: so geht es hoffentlich weiter.
Das Kind erlebt zuerst die Familie und erfährt so Sicherheit, denn diese Menschen lieben es.
Aus dieser Sicherheit heraus entdeckt es die etwas weitere Welt und stellt sich anderen Kindern und Erwachsenen. Es testet auch seine Grenzen aus.
Durch Strukturen und Regeln lernt es, sich so zu benehmen, dass auch Menschen ausserhalb der Familie es mögen. Es kann nun zu einer Gruppe gehören, deren Mitglieder es nicht a priori lieben müssen. Doch es lernt auch, dass diese Zugehörigkeit fragil ist. Das Befolgen der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze ist enorm wichtig, um nicht ausgestossen zu werden. Willkommen in der traditionellen Weltanschauung.
Aber nur die Tatsache, dass der junge Mensch gelernt hat, sich einzugliedern, zu gehorchen, und eine moralische Vorstellung entwickelt hat, macht es möglich, dass er sich ein zweites Mal emanzipiert. Was beim ersten Mal noch über Kraft geschah, geschieht nun über Fähigkeiten. Die Moderne.
Doch wächst das Bewusstsein, dass dieser Individualismus durchaus negative Folgen für die Welt und für andere Menschen hat, und ein neues Bewusstsein für menschliche und spirituelle Werte erwacht. Die Postmoderne.
Jede dieser Stufen braucht die entsprechenden Strukturen, um sich entwickeln zu können:
• die Familie, in die man erst hineinwächst, um dann ausbrechen zu können.
• das Machtgefüge, das man zuerst zu bezwingen sucht, um sich dann einzuordnen.
• die Interessengemeinschaft, der man zuerst anzugehören lernt, um sie dann zu verlassen.
• die Firma, Wirtschaft oder Wissenschaft, in der man sich beweisen kann, um dann die Folgen seines Handelns zu erkennen.
• die Partei, die Bewegung, das Thema, dem man sich hingeben kann, um dann zu erkennen, dass es all das vorherige gleichzeitig braucht.
Die Gemeinden sind nun genau diese Interessengemeinschaften des Glaubens, die ein Mensch in einer gewissen Stufe seines Lebens braucht. Gemeinden haben im Allgemeinen einen starken Familiensinn und sind deshalb Interessengemeinschaften, welche eine gewisse Toleranz für ausbüchsendes Gehabe haben, aber auch das Gegenmittel kennen: Ordnung und Struktur.
Anders gesagt: gesunde Gemeinden führen einem durch die ersten Stufen der Entwicklung.
Gemeinden sind äusserst wertvoll. Und gerade ihre Abgrenzung zu anderen, ihre Regelwerke lehren uns, wie wir Entscheidungen rational fällen können, auch wenn aus moderner Sicht das Regelwerk doch etwas mythisch, aus postmoderner Sicht etwas patriarchalisch daherkommt.
Doch können diese Gemeinden moderne und postmoderne Menschen oft nicht abholen. Und da wir in einer Welt leben, in der Moderne und Postmoderne existieren, wachsen Gemeindemitglieder oft über diese Weltanschauung hinaus.
Es braucht demnach andere Gefässe, nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung.
Die wichtigste Erkenntnis ist das Prinzip von transcend and include: über etwas hinauswachsen, das man sich aber gleichzeitig einverleibt. Jede der erlernten Fähigkeiten hat seinen Platz im erweiterten Rahmen der nächsten Erkenntnis. Ein paar Beispiele:
Es gibt die eine absolute Wahrheit, die wir individuell und subjektiv erfahren und erkennen.
Es braucht in gewissen Situationen Hierarchien, die wir aber wieder abbauen, wenn sie ihren Dienst getan haben. Und es gibt natürliche Hierarchien.
Wissenschaftliche Erkenntnis führt uns zu einer Entmythisierung unseres Gottesbildes, damit wir ein grösseres entwickeln können.
Entscheidungsfähigkeit und Kampf sind wichtige Elemente im Rahmen einer disziplinierenden Ordnung und eines aufgeklärten Menschenbildes.
Wie sehen wir nun solche Gemeinschaft in Zukunft?
Wir bieten gemäss unseren Begabungen die verschiedensten Dinge an: Versammlungsort, Gespräche, Lehrdialoge, Lektionen. Dabei können wir Einblick geben in unsere Leben, die wir mehr oder weniger erfolgreich geführt haben bis jetzt, und sind gerne bereit, unsere Weisheit und unsere Fehler zu teilen.
Wir hoffen, dass Du dasselbe für uns tun wirst, damit wir miteinander wachsen können.
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Weltanschauung
Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen. - Wittgenstein
Es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen, nicht das Besitzen, sondern das Erwerben, nicht das Dasein, sondern das Hinkommen, was den größten Genuss gewährt. - Carl Friedrich Gauss
* * *
Die fortschreitende Annahme der Realität ist eine nie endende Aufgabe. - Donald Winnicott
Wo komme ich her?
Jetzt kommt die erste Hürde. Wie schreibt man über sich selbst, ohne wie ein Narzisst dazustehen, ohne dass sich der Leser als Voyeur fühlt, man aber doch die notwendigen Details seines eigenen Lebens weitergibt, damit alles andere später verstanden werden kann?
Ist das überhaupt wichtig? Ist Wahrheit nicht wahr, unabhängig vom Schreiber und vom Leser? Wenn wir in den letzten Jahrzehnten etwas gelernt haben, dann dies: nicht nur Schönheit liegt im Auge des Betrachters, sondern auch Wahrheit. Damit möchte ich der absoluten Wahrheit keine Rote Karte erteilen, nur unserer Fähigkeit, diese absolute Wahrheit wahrzunehmen.
Unsere Prägungen, unsere Veranlagungen bilden Linsen, durch die wir unsere Welt wahrnehmen, Modelle, innerhalb derer wir versuchen, die Welt zu erklären. Somit kann ein Buch wie dieses nur eines beinhalten: die von mir empfundene Weltsicht, der daraus entspringende Erklärungsversuch. Dazu muss ich diese Linsen erklären.
Normalerweise beginne ich meine Geschichte so: Ich wurde als Schweizer Heide geboren.
Klar waren meine Eltern Mitglieder der reformierten Kirche des Kantons Zürich, ja sie gaben sogar Sonntagsschule in der Kirche, wo sie sich kennenlernten. Aber mit Glauben hatte das herzlich wenig zu tun.
Meine Eltern wollten beide einem schwierigen Elternhaus entrinnen. Ich denke, dass dieser Wunsch bei ihrer Heirat ebenso eine Rolle spielte, wie die Liebe, die sie wohl füreinander empfanden. Sie waren jung, und beide hatten, wie man heute sagen würde, ihre traumatische Kindheit kaum hinter sich gelassen.
So kam es, dass sie sich nach drei Jahren und zwei Söhnen entschieden, sich scheiden zu lassen. Nicht sofort, sondern wenn die Kinder alt genug wären, es zu verstehen. Bis dahin lebten sie getrennt im gleichen Haushalt, schliefen im selben Bett, und für uns Kinder sah alles ganz normal aus.
Was jetzt wie eine Aufarbeitung einer schweren Jugend klingen mag, ist nicht so geplant. Ich werde in diesem Buch sehr offen sein und viel über mich erzählen. Doch diese Offenheit soll keine Autopsychotherapie sein. Ich möchte nur zeigen, wie ich werden konnte, was ich heute bin. Ich bin dankbar für mein Leben und den Weg, den Gott mich geführt hat.
Magst Du noch etwas mehr über mich erfahren? Dann weiter im Text.
Später wurde mir klar, warum wir im Allgemeinen nach meinem vierten Lebensjahr das Meiste nur noch mit meiner Mutter unternahmen. Mein Vater lebte sein Leben. Mit vier schlug ich ihn zum ersten Mal im Schach und begann, ihm bewusst zu widersprechen. Mit beidem kam er nicht klar. Als Mann auf dem Autismusspektrum wusste er damit nicht umzugehen, und die Distanz zwischen uns wuchs. Trotzdem war er mein Vorbild.
Wenn mein Vater die Lust an einem Beruf verlor, begann er etwas Neues. Alle paar Jahre wechselte er nicht nur die Stelle, sondern den Beruf, was meist mit einem Umzug in eine neue Stadt einherging. Jeden Tag bildete er sich weiter. Er zeigte mir eine Liebe zu Wissen und Lernen, auch wenn er nicht fähig war, Liebe im landesüblichen Sinn weiterzugeben.
Ich war zwölf, kurz vor dem Übertritt ins Gymnasium, als mein Bruder und ich von einem Pfingstlager der Pfadfinder zurückkamen und uns unsere Eltern sagten, dass sie sich scheiden liessen, während wir fort waren, und dass mein Vater innert einer Woche ausziehen würde. Er nahm ein Bild mit, als er uns verliess, und suchte nie mehr den Kontakt.
Ich besuchte ihn noch ein paar Mal aus eigenem Antrieb, und wir unterhielten uns im Treppenhaus des Wohnblocks, in den er gezogen war. Später, während meinem Studium, ass ich ein paar Mal mit ihm zu Mittag, wenn wir uns zufällig in einem Restaurant trafen. Der Ehrlichkeit halber muss ich sagen, dass ich es damals ausnutzte, dass mein Vater ein Gewohnheitstier war. Ich wusste, in welchem Restaurant er normalerweise ass.
Ich arbeitete zwei Jahre mit meinem Vater zusammen in der Programmierung. Er war ein korrekter Chef, und ich durfte ihn sogar beim Vornamen nennen, ein Privileg, das andere in der Abteilung nie genossen.
Wir sahen meinen Vater an unserer Hochzeit, an den Taufen unserer Kinder, ja sie besuchten ihn einmal. Und einige Jahre vor seinem Tod wurden wir kontaktiert. Er hatte eine schwere Operation hinter sich, war verwirrt, und wurde nie mehr richtig klar. Bei meinen Besuchen erkannte er in mir den kleinen Ralph wieder.
Meine Mutter nahm uns Kinder auf eine ganz andere Reise. Sie wandelte sich von der devoten, traditionellen Hausfrau zur postmodernen Suchttherapeutin. Diese Reise glich mehr einer Achterbahnfahrt als einer zielgerichteten Entwicklung.
Antiautoritäre Erziehung, Ausflüge in verschiedene Kirchen- und Gemeindeerlebnisse, jeweils nach zwei Jahren abgebrochen, die Scheidung, eine Liebschaft mit einem notorischen Frauenhelden, der verheiratet war und gleichzeitig mit einer dritten Frau ein Kind zeugte, berufliche Weiterbildung und ein Leben in Schmerzen.
Meine Mutter versuchte meine Frau und mich zu therapieren, und das wurde so intensiv, dass wir für ein paar Jahre den Kontakt abbrechen mussten. Es wurde nie mehr dasselbe, und vor ein paar Jahren entschloss sich meine Mutter, sich das Leben zu nehmen.
So weit meine Herkunft. Du siehst, ich habe ein normales Leben gelebt, wie es in dieser Zeit tausendfach gelebt wird.
Ich werde die verschiedenen Kapitel meines Buches mit weiteren Rückblenden in mein Leben beginnen, um die notwendige Grundlage zu schaffen, aber jetzt mache ich mal einen Schwenker, um Dich nicht mit zu vielen Details zu langweilen. Schliesslich geht es hier um meine Gedanken, nicht um meine Vergangenheit.
Doch wohin könnten wir jetzt zusammen als Nächstes gehen? Wie wäre es mit einem Ausflug in verschiedene Weltanschauungen?
Die Einleitung hier enthält bereits einige davon: Tradition, Moderne, Postmoderne. Tauchen wir ein in Spiral Dynamics, die Theorie der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Diese Erkenntnis hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich heute Pastor im Exil bin, aber auch dazu, dass ich einen tieferen Blick in die Pläne Gottes tun durfte.
* * *
Mein Verhältnis zur Wissenschaft
Ich habe bereits über Begriffe wie Tradition, Moderne und Postmoderne gesprochen. Darauf möchte ich jetzt tiefer eingehen, aber wie es mit mir eben ist, werde ich von einer Metaebene darauf blicken, eine Sicht aus 30’000 Metern Höhe wagen.
Es geht mir hier um nichts Geringeres als die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und Denkens.
Vorausschicken möchte ich folgendes Zitat des englischen Statistikers George Box:
Alle Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich.
Das ist es, was mich an der Wissenschaft fasziniert: Die wissenschaftliche Methode stellt Hypothesen auf, um einen gewissen Sachverhalt zu erklären. Diese Hypothesen werden dann sozusagen für den Abschuss freigegeben, denn das Ziel besteht darin, sie zu falsifizieren.
Ist eine Hypothese widerlegt, dann ist das ein grosser Fortschritt. So hat es Thomas Edison ausgedrückt:
Ich habe nicht versagt. Ich habe 10’000 Wege gefunden, wie es nicht funktioniert.
Hält eine Hypothese aber stand, und stellt sie sich vielleicht sogar als bester bis zu diesem Moment vorhandener Erklärungsversuch heraus, wird sie zur Theorie.
Ich weiss, diese Verwendung des Wortes Theorie ist ungewöhnlich, aber die Wissenschaft möchte damit zum Ausdruck bringen, dass selbst die beste Erklärung für etwas immer noch falsch oder unvollständig sein kann. Die Zeit wird das zeigen.
Als ich vor Jahren den Professor für Kybernetik Frederik Vester in seinem Zuhause in München traf, hatten wir einen kleinen freundlichen Disput.
Ich sagte ihm, wie sehr ich es begrüsste, dass er mit seiner Forschung die Wirkungsprinzipien Gottes in der Welt gefunden hätte, denn wenn wir die Schöpfung betrachteten, würden wir diese Prinzipien erkennen.
Ich war jung und naiv.
Seine Antwort war, dass, wenn wir uns einen Gott schaffen würden, wir ihm natürlich die von uns beobachteten Prinzipien zuschreiben würden, weil er diese ja gerade erklären sollte.
Wie auch immer das jetzt läuft, in der Zwischenzeit glaube ich, dass es eine Annäherung beider Vorgehensweisen ist: wissenschaftliche empirische Ergebnisse eröffnen uns einen Blick auf das Göttliche, weil sich uns das Göttliche offenbaren möchte.
Deshalb freut es mich, wenn ich wissenschaftliche Untersuchungen und Theorien erkenne, in denen sich Gottes Plan widerspiegelt. Sie helfen uns, den Plan Gottes mit der Menschheit zu erkennen.
Die Bibel möchte das auch, hat aber den Nachteil, seit Jahrhunderten interpretiert zu werden. Weil dies meist mit einer traditionellen Weltanschauung geschieht, sehen wir vor lauter Interpretation die Aussage für unsere Zeit nicht mehr. Wir haben in unserem Kopf eine Karte der Bibel, und die ist uns näher als die Bibel selbst. Und wie heisst es doch? "The map is not the Territory."
Und schon verwende ich wieder das Wort Weltanschauung. Was hat es damit auf sich?
Darauf antworte ich in den nächsten Kapiteln ausführlich. Hier nur so viel:
Als ich die heutige Welt, aber auch meinen eigenen Werdegang, die verschiedenen Herangehensweisen ans Leben, die mein Vater, meine Mutter und ich selbst hatten, erklären wollte, stiess ich auf Spiral Dynamics®.
Entwickelt von Prof. Clare W. Graves und Dr. Don Beck, ist es ein Modell und eine Sprache zur Beschreibung der evolutionären Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Es wird verwendet, um die Werte in Individuen, Organisationen und der Gesellschaft zu deuten.
Spiral Dynamics umfasst eine Reihe von Wertesystemen, welche aufzeigen, wie Menschen und Kulturen sich die Welt erklären. Diese Wertesysteme umfassen Motivationen, Weltbilder und Lebensregeln.
Gleichzeitig beschreibt Spiral Dynamics einen Prozess des Wandels. Dieser zeigt auf, wie Menschen auf sich verändernde Lebensumstände reagieren und welche Stadien sie dabei durchlaufen.
In unserer Gesellschaft sind heute sieben Wertesysteme von Bedeutung und aktiv, welche wir hier ganz kurz umschreiben wollen. Ein Achtes ist gerade am Erscheinen.
Die Grundlagen von Spiral Dynamics
Tauchen wir also in Spiral Dynamics ein.
Wie bereits gesagt, ist es ein Modell und eine Sprache zur Beschreibung der evolutionären Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Es wird verwendet, um die Werte in Individuen, Organisationen und der Gesellschaft zu deuten.
Da gibt es doch gleich Erklärungsbedarf, und zwar an ein paar Stellen.
Evolutionär? Glaubst Du an die Evolutionstheorie?
Erstens ist der Ausdruck hier nicht im Sinne Darwins zu verstehen. Es geht hier nicht um die biologische Evolution. Dazu nachher mehr.
Und doch möchte ich vor der Frage nicht zurückscheuen: ja, ich glaube an die Evolutionstheorie. Ich glaube nicht an eine Schöpfung in sechs Tagen, sondern an eine Entwicklung des Lebens über Milliarden von Jahren. Und ich glaube daran im Sinne einer Theorie, wie ich es im letzten Kapitel beschrieben habe: den besten Erklärungsversuch, den wir bis jetzt haben, der aber durchaus im Detail oder im Ganzen falsch sein kann. Das ist Wissenschaft.
Die Gründe dazu werde ich immer wieder in dieses Buch einfliessen lassen, und wenn Du Dich geduldest und nicht abschrecken lässt, werden wir uns am Ende vielleicht gegenseitig besser verstehen oder sogar treffen.
Dazu ist aber viel Arbeit nötig, und eine Grundlage dafür ist gerade, was uns Spiral Dynamics nahezubringen versucht.
Also, wenn aber nicht um Darwins Evolution der Arten im biologischen Sinne, um was geht es dann?
Der Mensch hat einen revolutionären Schritt unternommen, unseres Wissens nach einzigartig in unserem System: Wir haben ein Bewusstsein entwickelt.
Während es Tiere gibt, die ein sogenanntes Proto-Bewusstsein haben, sich also zum Beispiel im Spiegel selbst wieder erkennen, geht unser Bewusstsein doch viel weiter.
Auch dies ist eine Theorie, denn weder können wir erklären, was Bewusstsein überhaupt ist, noch können wir uns sicher sein, dass es nicht andere Wesen gibt, die ebenfalls eine Form eines höheren Bewusstseins entwickelt haben. Auch das ist Wissenschaft.
Seit der Mensch Bewusstsein entwickelt hat, ist etwas Grundlegendes geschehen: Die Evolution hat sich verlagert.
Biologische Evolution ist quälend langsam und geschieht über Generationen. Wir können es mit Computern vergleichen: Die Hardware entwickelt sich langsamer, als es die Software tut, und hat immer einen Neukauf einer physischen Komponente zur Folge.
Die Evolution hat aber entdeckt, was wir in der Computerwissenschaft wieder entdeckt haben: die Software. Software kann sich viel schneller entwickeln, iterativ, agil.
Genauso hat die Evolution begonnen, die Software unseres Körpers, den Verstand, unsere Handlungsmuster weiterzuentwickeln. So gelang es dem Menschen, sich innert kürzester Zeit an Umweltbedingungen anzupassen, die für seine Hardware tödlich wären.
So eroberte der Mensch aus der Savanne heraus alle Klimazonen dieser Welt und ist daran, den Weltraum zu erobern.
Der Mensch lernte es aber gleichzeitig auch, der Welt einen Sinn zu geben und sich den Problemen zu stellen, die sich ihm darboten.
Spiral Dynamics wagt den Blick zurück auf diese Geschichte der Menschheit. Dabei ist es Clare W. Graves aufgefallen, dass es ein paar sprunghafte, riesige Entwicklungsschritte gab, die in relativ kurzer Zeit vollzogen waren, und dazwischen ganze Zeitabschnitte mit relativ kleinen Anpassungen innerhalb des jeweils vorherrschenden Systems.
Auf diese Weltanschauungen oder Wertesysteme ist er gestossen, als er eine Frage eines seiner Studenten beantworten wollte. Nachdem er in verschiedenen Grundkursen der Philosophie mehrere Ansätze oder eben Philosophien erklärt hatte, fragte dieser Student:
Und wer hat nun recht?
Viele von uns hätten unser eigenes philosophisches Glaubenssystem zum einzig Richtigen erklärt und es von da an verteidigt. Graves ging viel weiter.
Er sah den Wert vieler Philosophien an sich, glaubte aber, dass sie auf jeweils bestimmte Fragestellungen innerhalb eines Weltverständnisses reagierten.
So interviewte er Tausende seiner Studenten und andere Menschen und erkannte, dass diese sich in acht Gruppen unterteilen liessen. Die Antworten der Gruppen unterschieden sich qualitativ so sehr, dass Graves erkannte, dass jede dieser Gruppen einem anderen Wertesystem folgte, andere Problemstellungen erkannte, eine andere Weltanschauung hatte, ja in einer anderen Komplexität dachte.
Als er diese Gruppen weiter untersuchte, fiel ihm auf, dass es eine Parallele zwischen der Menschheitsgeschichte und diesen Gruppen gab.
Die Wertesysteme, die er erkannt hatte, nannte er Wertememe. Ein Mem ist eine kulturelle Einheit, welche einfach imitiert werden kann. Ein Wertemem war die Antwort auf bestimmte Umweltbedingungen mit einer bestimmten Wertehierarchie. Diese Hierarchie, diese Art, die Welt zu sehen, konnte geteilt, gelehrt, gelernt, imitiert werden. Daher Wertemem.
Er erkannte auch, dass diese Wertememe einander voraussetzten. Ein gewisses Mem konnte nur verstanden, akzeptiert und verinnerlicht werden, wenn vorher andere Meme durchlaufen wurden.
Und hier kam die Parallele zwischen Menschheitsgeschichte und Individuum ins Spiel: Jeder einzelne Mensch durchlief all die Wertememe, welche die Menschheit in ihrer Geschichte evolutionär über Tausende von Jahren entwickelt hatte. Neue Umweltbedingungen hatten die Menschheit dazu gezwungen, und neue Anforderungen und Fähigkeiten lassen uns alle dies in unserem Leben nachvollziehen.
Wertememe entstehen, wenn sich Lebensbedingungen ändern. Jedes Wertemem ist wunderbar geeignet für eine Kategorie von Problemstellungen, schafft aber neue Probleme höherer Komplexität, für die es selbst blind ist.
Erst das darauffolgende Wertemem ermöglicht es, diese Probleme zu lösen. Die Denkmuster, welche Menschen in diesem Wertemem zur Verfügung stehen, erlauben komplexere Lösungsansätze. Anders gesagt: die Probleme des einen Wertemems zwingen uns, die Welt ganz anders zu betrachten und so zu wachsen.
Diese Entwicklung kann in der komplexer werdenden Gesellschaft beobachtet werden, von der Stammeskultur bis zur heutigen Gesellschaft.
Die einzelnen Wertememe
Genauso, wie sich die Menschheit durch die Wertememe entwickelt, tut dies auch der einzelne Mensch. Und wie die Menschheit durchläuft er alle Meme in Reihenfolge, ohne eines zu überspringen.
Das geht heute schneller als früher, weil ein Zug besteht, der Zug der Meme, die bereits in der Gesellschaft und der Umgebung des Einzelnen vorhanden sind. Meist wächst ein Mensch bis in die Meme hinein, denen er ausgesetzt ist, kann aber seine Entwicklung auch aussetzen. So kann ein religiöser Mensch entscheiden, dass er nicht über eine traditionelle Weltanschauung hinaus wachsen möchte, auch wenn er im Beruf modernen Anforderungen begegnet.
Hier die einzelnen Entwicklungsstufen in geraffter Form. Wir gehen später auf jede einzelne noch ein und machen ein biblisches Beispiel dazu.