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Was, wenn die Schuld bestimmt, wer wir sind? – John Boynes »Die Elemente« Aaron Umber fällt es schwer, Nähe zuzulassen. Ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit steht noch immer zwischen ihm und den Dingen, die er sich am sehnlichsten wünscht: Vertrauen, Liebe, Zärtlichkeit. Auf einer gemeinsamen Flugreise, zehntausend Meter über der Erde, erkennt er, dass sein Hang zur Einsamkeit auf seinen Sohn Emmett abzufärben droht. Schließlich fasst er sich ein Herz und spricht über das, was ihm widerfahren ist. Denn in der Enge des Flugzeugs gibt es kein Entkommen vor den Geistern seiner Vergangenheit. Mit viel Gefühl nähert sich John Boyne in »Luft« der Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn, und erzählt eine berührende Geschichte vom Nachhall einer schmerzhaften Erfahrung, die sich über Generationen weiterträgt. Und von der Hoffnung auf Heilung. »Einer der besten seiner Generation« Observer »Luft« ist Teil 4 von John Boynes großem Erzählprojekt »Die Elemente«.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.de/literatur
Übersetzung aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
© John Boyne 2025
Titel der englischen Ausgabe:
»Air«, Doubleday, ein Imprint von Transworld Publishers, London 2023
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Coverabbildung: Javier Díez/Stocksy.com und Shutterstock.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
In einer idealen Welt würde ich meinen vierzigsten Geburtstag in einer Bar mit Blick auf den Bondi Beach verbringen, ein Bier in der Hand, die Frau, die ich liebe, an meiner Seite, und meine Freunde würden mich wegen meiner größer werdenden Geheimratsecken aufziehen. Stattdessen stehe ich an Gate 10 des Flughafens von Sydney und bereite mich auf vierundzwanzig Stunden in der Luft mit einem aufmüpfigen Teenager als meinem einzigen Begleiter vor. Aber wer lebt schon in einer idealen Welt?
Zugegeben, es ist noch früh am Morgen, aber ich bin unverhältnismäßig genervt, als ich von der Herrentoilette zurückkomme und Emmet nicht dort antreffe, wo ich ihn eben zurückgelassen habe, auch wenn sein leuchtend gelber Rucksack noch auf dem Sitz neben meinem steht. Ich schaue mich um, mein Blick huscht zwischen den verschlafenen Passagieren, den Reinigungskräften und dem Flugpersonal hin und her, die durch die Flughafenhalle strömen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich meinen Sohn aus den Augen verliere. Als er fünf war, habe ich im David Jones auf der Castlereagh Street nur kurz seine Hand losgelassen, und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich ihn wiederfand, in einer Ecke für Küchenutensilien hockend, geduldig wie ein gehorsamer Welpe, die Wangen tränenüberströmt, aber voller Vertrauen, dass sein Herrchen ihn schon irgendwann einsammeln würde. Die meisten Eltern behalten ihre Kinder besonders dann genau im Blick, wenn sie noch klein sind, bei mir ist das deutlich anders: Seit Emmet vierzehn geworden ist, passe ich besonders gut auf ihn auf. Ich kann nicht anders. Ich weiß, welche Gefahren auf Jungen in seinem Alter lauern.
Eine Frau bleibt vor mir stehen, vielleicht hat sie meinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Es geht um meinen Sohn«, sage ich. »Ich habe ihm gesagt, dass er auf mich warten soll, aber …«
»So etwas in der Richtung dachte ich mir schon. Gerade bin ich zwar nicht im Dienst, sondern auf dem Weg in den Urlaub, aber ich bin Polizistin, und wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen gern. Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?«
»Vor ein paar Minuten. Ich bin zur Toilette gegangen und …«
»Wie alt ist er?«
Als ich es ihr sage, betrachtet sie mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mitleid.
»Das ist nicht Ihr Ernst!«, sagt sie. »Ich dachte, Sie meinen ein Kleinkind. Wenn das so ist, würde ich mir keine Sorgen machen. Ihr Sohn läuft hier sicher irgendwo rum. Teenager verliert man nicht, auch wenn wir es uns manchmal noch so sehr wünschen.«
Ich bleibe, wo ich bin, und einen Augenblick später taucht er hinter mir auf. Offenbar ist er mir zur Toilette gefolgt und dann wohl in einer der Kabinen verschwunden.
»Was?«, fragt er, als ich ihn wütend anstarre.
»Ist er das?«, fragt die Frau, und ich nicke.
»Das ist er.«
»Dann lasse ich Sie mal allein«, antwortet sie und geht.
»Ich wusste nicht, wo du bist«, sage ich, als sie außer Hörweite ist.
»Ich musste mal«, sagt er langsam, als würde er mit einer begriffsstutzigen Person sprechen, ein Tonfall, den er mir gegenüber in letzter Zeit häufiger an den Tag legt.
»Ich habe dich gebeten, beim Gepäck zu bleiben.«
Er verdreht die Augen. Sollte diese Geste je zur olympischen Disziplin ernannt werden, wäre er mit Sicherheit Australiens Nummer eins.
»Kann ich Schokolade haben?«, fragt er. »Ich hatte kein Frühstück.«
»Du meintest doch, du hättest keinen Hunger.«
»Weil du mich um drei aus dem Bett geholt hast! Natürlich hatte ich keinen Hunger!«
Ich hatte dafür gesorgt, dass gestern Abend alles fertig gepackt war, sodass wir beide nach dem Weckerklingeln heute Morgen nur noch kurz unter die Dusche springen mussten, allerdings wartete das Taxi trotzdem schon um halb vier in North Bondi auf uns. Keiner von uns sagte auf dem Weg zum Flughafen ein Wort, und Emmet trug eine völlig überflüssige Sonnenbrille zu seinen AirPods, die zu meinem Todfeind geworden sind. Aber man soll ja nicht schon schlecht gelaunt in den Tag starten. Wir werden reichlich Zeit miteinander verbringen, und wenn wir diese Reise überleben wollen, ohne einander umzubringen, dann ist es als Erwachsener an mir, mich den Launen meines Sohnes anzupassen.
»Ein Apfel wäre vielleicht besser«, schlage ich vor und weiß genau, wie er darauf reagieren wird. »Oder ein Schinken-Käse-Croissant.«
»Nee. Schokolade. Ich brauche sowieso welche für den Flug.«
»In Ordnung«, sage ich und gehe mit ihm zu einem Relay-Shop, wo er sich vor einer Wand voller Industriezucker vergisst. Er hatte schon immer eine Vorliebe für Süßes, scheint aber nie auch nur ein Pfund zuzunehmen. Wenn ich nur halb so viel Junkfood essen würde wie er, müsste man mich nach Hause rollen. Ich beobachte ihn von hinten: seine nackten Beine, drahtig und gebräunt von der vielen Zeit am Strand, und ich denke an die Zeit, als mein Körper so schlank und sportlich war wie seiner. Ich bin auch jetzt noch gut in Form für mein Alter, obwohl ich meinen Gürtel langsam ein Loch weiter stellen muss. Ich jogge und surfe, auch wenn Damian – Emmets bester Freund – neulich meinte, dass das kein Surfen sei, sondern kontrolliertes Ertrinken, woraufhin sich beide fast totgelacht haben. Allerdings ist Emmet nicht so groß wie ich in dem Alter, sondern mit gerade einmal 1,73 Meter kleiner als die meisten seiner Freunde. Er würde es nie zugeben, aber wahrscheinlich hofft er auf einen Wachstumsschub. Vor Kurzem hat er sich Hanteln gekauft, um ein paar Muskeln aufzubauen, und er hat angefangen, Proteinpulver in großen Vorratsdosen zu kaufen, das er sich in seine morgendlichen Milchshakes rührt.
Ich gehe zu den Zeitschriften und nehme mir eine GQ, ein Kreuzworträtselbuch und eine Ausgabe des Sydney Morning Herald, auf der ich schnell die Überschriften überfliege. Als ich mich umdrehe, fällt mein Blick auf einen Tisch mit literarischen Neuerscheinungen, in dessen Mitte ein Stapel des neuen Romans von Furia Flyte thront. Direkt daneben steht ein kleiner Pappaufsteller der Autorin, auf dem sie den Kopf kokett zur Seite neigt und ein geheimnisvolles Lächeln ihre Lippen umspielt. Sie ist ganz in Weiß gekleidet und schlingt die Arme um die Brust. Etwas an ihrer Pose wirkt erzwungen. Als hätte man sie dazu überredet, ihre Schönheit mit ihrer Arbeit in Verbindung zu bringen.
»Das passiert nur Frauen«, erzählte sie mir einmal, als ich sie über die unangenehmen Seiten der Verlagsbranche ausfragte.
»Vielleicht weil die Männer alle so hässlich sind«, warf ich ein, aber sie schüttelte den Kopf und zählte vier oder fünf Autoren auf, die sie attraktiv fand. Ich hatte die Namen noch nie gehört, ging ihnen aber später im Netz nach, um mir ein Bild davon zu machen, wie sie sich kleideten, wie sie ihre Haare trugen und wie sie sich der Welt präsentierten, um herauszufinden, was davon ich nachahmen könnte, damit Furia sich in mich verlieben würde, wie ich mich in sie verliebt hatte. Wenn ich mir die Bilder der besagten Autoren so ansah, wirkten ihre gequälten Gesichtsausdrücke, mit denen sie in die Ferne starrten, als hätte man sie gebeten, den Großen Fermatschen Satz zu erklären, vor allem verkrampft.
Jetzt ihrem Bild gegenüberzustehen, fühlt sich hingegen wie ein Schlag in die Magengrube an, eine komplizierte Mischung aus anhaltendem Verlangen und Wut. Seit dem Erscheinen ihres Romans – ihres vierten – habe ich ihn so gut wie möglich gemieden, was nicht leicht war, da er eifrig beworben wird. Ihr Bild tauchte auf der Titelseite verschiedener Wochenzeitschriften auf, und auf meiner Fahrt zur Arbeit musste ich gelegentlich den Sender wechseln, wenn sie als Gast einer Radioshow angekündigt wurde. Aus Angst, mit ihrem Roman konfrontiert zu werden, habe ich seit Weihnachten keine einzige Buchhandlung betreten, obwohl ich normalerweise, auch wenn ich nie ein großer Leser war, immer einen Thriller am Wickel habe. Irgendein masochistischer Drang zwingt mich jedoch in diesem Augenblick dazu, ein Exemplar ihres Romans in die Hand zu nehmen und den Klappentext auf der Rückseite zu lesen. Die grobe Handlung kenne ich bereits. Der Roman spielt im neunzehnten Jahrhundert im Westen Australiens und handelt von der Beziehung zwischen einer indigenen Viehtreiberin, einem fahrenden Gaukler und dessen Frau. Beim Lesen der Inhaltsangabe muss ich heftig schlucken. Die Vorstellung, die Widmung oder die Danksagung aufzuschlagen, überfordert mich, darum lege ich das Buch zurück auf den Stapel. In dem Moment greift eine Frau danach.
»Sie haben ihn doch nicht schon wieder aus den Augen verloren, oder?«, fragt sie, und ich sehe, dass die Polizistin von eben vor mir steht.
»Nein«, sage ich und nicke in Richtung der anderen Ladenseite, doch Emmet hat sich schon wieder in Luft aufgelöst, was mir erneut den letzten Nerv raubt. »Das darf doch nicht wahr sein«, murmle ich.
»Vielleicht sollten Sie ihn an die Leine nehmen?«
»Das würde mein Leben deutlich einfacher machen.«
»Ich mache nur Witze«, sagt sie. »Ich habe selber ein solches Exemplar zu Hause. Einen Teenager, meine ich, nicht die Leine. Ich weiß also, wie die sind. Meistens ein verfluchter Albtraum. Zuckersüß, bis die Pubertät einsetzt, und dann – Bamm – verwandeln sie sich in Hannibal Lecter, nur ohne dessen Charme. Ich gehe meinem einfach aus dem Weg, bis er zwanzig ist. Vielleicht auch bis fünfundzwanzig.«
Als ich mich umschaue, entdecke ich Emmet vor einem Ständer mit Nackenkissen. Er hat sich eins um den Hals gelegt, und ich weiß, dass er mich bitten wird, es ihm zu kaufen. Just in diesem Augenblick kommt er in meine Richtung und hält mir das Kissen wie ein Friedensangebot entgegen, für das ich bezahlen soll.
»Dad«, setzt er an, aber ich unterbreche ihn sofort. Auf gar keinen Fall gebe ich achtzig australische Dollar für solchen Unsinn aus.
»Nein«, sage ich.
»Aber …«
»Emmet, nein. Im Flugzeug gibt es jede Menge Kissen. Diese Dinger da sind noch nicht mal bequem. Die sehen nur so aus.«
Er wirft einen kurzen Blick auf die Frau neben mir und beschließt, womöglich ihretwegen, keinen Aufstand zu machen. Ihm fällt jedoch das Buch auf, das sie in der Hand hält, und schon weiß er, wie er sich revanchieren kann.
»Sie sollten es kaufen«, sagt er zu ihr. »Es hat extrem gute Kritiken bekommen. Gut recherchiert. Unzuverlässiger Erzähler. Das lesen gerade echt alle.«
»›Alle‹ ist maßlos übertrieben. Ich jedenfalls nicht«, sage ich, aber dann geht er, ohne mich auch nur anzusehen, und während er das Kissen an seinen ursprünglichen Platz zurückbringt, breitet sich auf seinem Gesicht ein selbstzufriedenes Grinsen aus.
»So übel scheint er gar nicht zu sein«, sagt sie und dreht sich zu mir um, aber ich sage nichts. Schon bewundernswert, wie mein Sohn mir immer wieder ein Leck mich vor den Latz knallen kann, ohne die Worte tatsächlich auszusprechen.
»Stimmt, er ist ein richtiger Charmeur«, antworte ich und lache ein wenig in mich hinein.
Über Lautsprecher wird angesagt, dass das Boarding für unseren Flug in Kürze beginnt, also gehe ich zur Kasse, wo ich mehr Schokolade und gelatinehaltigen Süßkram bezahle, als ein Mensch mit Verstand in einem Monat verzehren sollte.
»Die auch noch«, sagt Emmet, der jetzt neben mir auftaucht und eine extragroße Packung Honey Soy Chicken Chips in den Korb wirft, mit der man eine vierköpfige Familie satt bekäme.
»Du weißt aber schon, dass es im Flugzeug Essen gibt, oder?«
»Ist doch schlau, sich selbst einzudecken.«
Es ist leichter, einfach zu kaufen, was er will. Denn ich bin müde. Ich bin angespannt. Ich begebe mich auf eine Reise, die sich als großer Fehler herausstellen könnte. Und doch, als wir jetzt zum Gate gehen, habe ich das starke Bedürfnis, meinen Sohn in den Arm zu nehmen, ihn an mich zu drücken und ihm zu erklären, wie wichtig die nächsten Tage für uns sind. Allerdings weiß ich, dass er mich aus lauter Scham bei der kleinsten Berührung wegstoßen würde. Dabei hat sich dieser Junge früher so wahnsinnig gern an mich gekuschelt, wenn wir uns samstagabends einen Pixar-Film ansahen, und kam bis zum Alter von neun oder zehn nachts zu mir ins Bett gekrabbelt und schlief erst wieder ein, wenn ich ihn fest im Arm hielt.
Die Wahrheit ist, dass er jetzt gar nicht hier wäre, wenn er die Wahl gehabt hätte, aber noch ist er in einem Alter, wo ich zumindest augenscheinlich das Sagen habe. Ursprünglich wollte er allein zu Hause bleiben, was für mich nicht infrage kam, und dann hatte er versucht mich zu überreden, ihn bei seinem besten Freund Damian schlafen zu lassen, während ich weg war. Doch auch das lehnte ich ab.
Darum ist er hier. Aber nur notgedrungen.
Bevor wir an Bord gehen, kommt es noch zu einem allerletzten Drama.
Ein Sicherheitsbeamter steht neben den Sitzen, die wir zuvor belegt haben, und starrt auf unsere Rucksäcke. Nach dem ganzen Theater, weil Emmet nicht auf sie aufgepasst hatte, hatte nun ich sie vergessen, als wir zum Relay-Shop gegangen sind. Der Sicherheitsbeamte, der aussieht, als sollte er für seinen Schulabschluss büffeln, statt Vollzeit zu arbeiten, dreht sich zu mir um, und im ersten Moment denke ich, dass ich ihm mit seiner Akne helfen könnte, wenn er mich darum bitten würde. Ich bin zwar kein Dermatologe, sondern Kinderpsychologe, aber ich erinnere mich noch gut an mein Medizinstudium und weiß, welche Behandlung das Problem beheben würde.
»Ist das Ihr Gepäck, Sir?«, fragt er.
»Ja, entschuldigen Sie«, sage ich. »Ich war auf der Toilette, und dann wollte mein Sohn etwas aus dem Laden. Ich hätte dran denken müssen.«
Der Junge wirft einen Blick auf Emmet.
»Ist das dein Vater?«, fragt er.
»Ich habe diesen Mann noch nie zuvor in meinem Leben gesehen«, sagt Emmet, und ich verdrehe die Augen.
»Ach, ich bitte dich«, sage ich.
»Er ist einfach zu mir rübergekommen und hat angefangen, auf mich einzureden und …«
»Emmet, halt den Mund.«
Der Wachmann schaut zwischen Emmet und mir hin und her. Er mag zwar noch jung sein, aber sicherlich sieht er die Ähnlichkeit zwischen uns.
»Na gut, er ist mein Dad«, sagt Emmet und kichert ein wenig, woraufhin ich immerhin lächeln muss. Ich höre ihn zu gern lachen.
»Darf ich Ihre Ausweise sehen?«, fragt der Wachmann, und ich nehme sie aus meiner Gesäßtasche und reiche sie ihm. Er braucht ewig, um die Bilder und Namen mit uns abzugleichen, und ich bin kurz davor, ihn zu fragen, ob irgendetwas nicht stimmt, halte mich aber zurück, weil ich weiß, dass es nur wenige Orte auf der Welt gibt, die noch weniger geeignet dafür sind, ein Fass aufzumachen, als Flughäfen. Eine falsche Bewegung, und das war’s. Dann wird einem nicht nur der Flug gestrichen, sondern man steht lebenslang auf einer Flugverbotsliste.
»Sie wissen, dass Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen lassen sollten, oder?«, fragt er und dreht sich wieder zu mir um.
»Ich weiß«, sage ich. »Ich schlafe noch halb.«
»Stört es Sie, wenn ich mal einen Blick hineinwerfe?«
Seine Frage klingt einigermaßen höflich, und am liebsten möchte ich antworten: »Ja, es stört mich«, doch ich weiß, dass er dann wahrscheinlich einen Kollegen hinzurufen und Emmet und mich in einem separaten Raum verhören wird. Dreißig Minuten später würde unser Flugzeug über die Startbahn rollen – und zwar ohne uns –, und genau das darf nicht passieren. Auf keinen Fall dürfen wir diesen Flug verpassen.
»Aber natürlich«, sage ich mit einem aufgesetzten Lächeln, und er taxiert mich kurz, bevor er meinen Rucksack öffnet. Es ist nicht viel drin: Der Ausdruck eines Papers, das ich für eine medizinische Fachzeitschrift schreibe. Mein Laptop. Ein Thriller von Lee Child. Pfefferminzbonbons und Handdesinfektionsmittel. Als er sich jedoch Emmets Rucksack schnappt, wächst mein Ärger. Das kommt mir sogar noch übergriffiger vor – es gefällt mir nicht, dass er in die Privatsphäre meines Sohnes eindringt –, aber zum Glück sind Emmets Besitztümer noch harmloser als meine.
»Seien Sie beim nächsten Mal vorsichtiger«, sagt er und richtet sich nun zu seiner vollen Größe auf. »Wenn Gepäck einfach irgendwo herumliegt, stellt es ein Sicherheitsrisiko dar.«
»Das habe ich meinem Dad auch gesagt«, erwidert Emmet. »Aber er hört nie auf mich.«
»Haben Sie Ihre Bordkarten?«, fragt der Beamte, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut zu schreien, dass er mich mal am Arsch lecken kann, aber die Passagiere der ersten Klasse steigen bereits ein, also habe ich keine andere Wahl, als mein Handy zu entsperren und ihm die Onlinetickets zu zeigen.
»Aaron Umber«, liest er laut vor. »Und Emmet Umber«, sagt er und überfliegt die meines Sohnes. Da alles in Ordnung ist, reicht er mir die Bordkarten zurück. »Guten Flug«, sagt er so streng, dass es eher wie ein Befehl und nicht wie eine höfliche Floskel klingt. Fast so, als würde er andernfalls zurückkommen und uns eines Verbrechens beschuldigen.
»Danke«, sage ich und mache mich auf den Weg zu unserem Gate, wo die junge Frau hinter dem Schalter gerade die Fluggäste der Businessclass nach vorne bittet.
»Sir«, sagt der Sicherheitsbeamte, als ich noch keine sechs Schritte weit gekommen bin, und ich drehe mich um.
»Was?«, frage ich und erhebe frustriert die Stimme. Langsam reicht es mir, gleich platzt mir der Kragen. Für Notfälle bewahre ich zu Hause Valium auf und habe für den Fall, dass sich die Woche als schwieriger erweist als erwartet, ein paar Tabletten in meinen Koffer geschmissen. Ich hätte auch welche griffbereit in meinem Rucksack haben sollen. »Was ist denn jetzt noch?«
»Haben Sie nicht etwas vergessen?«
Ich ziehe die Stirn in Falten, unsicher, was er meint, sehe dann aber, dass Emmet wieder auf dem Platz sitzt, auf dem ich ihn ursprünglich zurückgelassen habe. Er steckt sich gerade seine AirPods in die Ohren und denkt wahrscheinlich überhaupt nicht an die Zeit. Barsch rufe ich seinen Namen, und er springt auf, gehorcht mir ausnahmsweise mal und kommt mit. Als beide Bordkarten ohne weiteren Zwischenfall gescannt werden, macht sich Erleichterung bei mir breit.
Während wir über die Gangway zum Flugzeug gehen, fällt mir auf, dass Emmet mir noch nicht zum Geburtstag gratuliert hat.
Seit Emmet heute Morgen aus dem Bett gezerrt worden ist, hat er zwar wenig mehr als ein paar Grunzlaute von sich gegeben, trotzdem merke ich, dass die Business Class Eindruck bei ihm schindet. Einmal pro Jahr fliegt er nach Dubai, seit Rebecca vor zehn Jahren dorthin gezogen ist, aber immer Economy Class. Obwohl sie für die Fluggesellschaft arbeitet, die ihr problemlos ein Upgrade besorgt hätte, hat sie stets darauf bestanden, dass es unsinnig sei, solche Privilegien an ein Kind zu verschwenden. »Warten wir doch lieber, bis er es zu schätzen weiß«, meinte sie, und die Sache schien mir einen Streit nicht wert, zumal sich immer ein Steward oder eine Stewardess um ihn kümmerte.
Auch wenn er sich nie geweigert hat, die lange Reise zu machen, hat seine Lust auf diese Besuche in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Wahrscheinlich lässt er sie bald ganz bleiben, aber das ist ihre Sache, nicht meine. Der lange Flug ist nicht das Problem, sondern die Wut auf seine Mutter, eine Wut, die sich nun schon seit einiger Zeit in ihm staut, wahrscheinlich seit die Pubertät so richtig reinhaut. Allzu beunruhigt bin ich deshalb nicht. Schließlich ist es für mich von Vorteil, dass er nicht viel Interesse an der Welt außerhalb von Sydney zeigt, wo der Strand und unser Haus in North Bondi die Dreh- und Angelpunkte seines Lebens bilden.
»Ganz nett, oder?«, sage ich, als wir uns setzen. Auf jeder Seite gibt es jeweils einen Einzelsitz am Fenster, aber ich habe einen der Doppelsitze in der Mitte gebucht, zwischen denen eine Trennwand hochgezogen werden kann.
»Ziemlich cool«, gibt er zu und würdigt kurz den Komfort unserer Umgebung, bevor er den Moment kaputt macht, indem er nach links zu einem freien Einzelsitz schaut. »Meinst du, da sitzt jemand?«
»Warum?«
»Kann ich mich da rübersetzen, wenn niemand kommt?«
Kurz schließe ich die Augen und ermahne mich, tief Luft zu holen, bevor ich antworte. In bestimmten Momenten finde ich nichts auf dieser Welt schwieriger, als der Vater eines Teenagers zu sein.
»Aber warum würdest du das wollen?«, frage ich.
»Weil man da am Fenster sitzt. Das ist noch besser.«
»Wie wär’s, wenn du dich einfach über den Sitz freust, den ich gebucht habe?«
»War ja nur ’ne Frage.«
Es frustriert mich, dass er selbst hier, in dieser luxuriösen Umgebung, so weit wie nur möglich von mir weg sitzen will. Für mich ist es nichts Neues, dass Kinder in seinem Alter allerlei Ansprüche stellen, aber ich finde schon, dass ihn ein gelegentliches Danke, Dad nicht umbringen würde.
