Die unmögliche Demokratie - Birger Priddat - E-Book

Die unmögliche Demokratie E-Book

Birger Priddat

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Beschreibung

In einer Demokratie herrscht das Volk - klarer Fall? Wir alle wissen, dass Anspruch und Wirklichkeit hier auseinanderklaffen. Doch begreifen wir auch, warum? Die Schuldigen scheinen auf der Hand zu liegen: Einzelinteressen, Lobbyismus, Pfründe und natürlich politische und ökonomische Zwänge, die vor keiner Grenze halt machen und die kein Souverän mehr kontrollieren kann. Wir befinden uns auf dem Weg in die Elitendemokratie Ein klares Indiz, dass die Demokratie unmöglich geworden ist? Der Publizist Birger P. Priddat meint, dass wir die Demokratie doch noch möglich machen können. Doch dazu müssen wir lernen, wieder die Unruhe zu lieben.

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Birger Priddat

DIE UNMÖGLICHE DEMOKRATIE

Machtspiele ohne Regeln

Campus VerlagFrankfurt/New York

Inhalt

Einleitung

1 »Sanfte Demokratiemüdigkeit«?

Wer hat die Macht? Wer hat Einfluss?

2 Wahrscheinlich haben wir gar keine Demokratie

3 Demokratie als scheiternsfähiges Experiment

4 Elitendemokratie

5 Direkte Demokratie?

6 Schwarmintelligenz als Politik? liquid democracy?

7 Demokratie als Verantwortung

8 Wirtschaft, demokratisch?

8.1 Operieren politische Prozesse im Nichtwissensraum?

8.2 Hat die Wirtschaft die direkte Demokratie nicht schon eingeführt?

8.3 Wer glaubt noch an die Regulierungsfähigkeit der Politik

8.4 Sollten wir, anstatt den Staat zu bitten, nicht lieber die Wirtschaft selber drängen?

8.5 Wäre eine neue bürgerschaftliche Wirtschaftspolitik nicht politisch effektiver?

9 Neue Politische Ökonomie

10 Wozu Staat?

11 Institutionelle Sklerose: Der Politikprozess

12 Interessenvertretungen

13 Stress. Eine andere Demokratietheorie

Literatur

Über den Autor

Impressum

Einleitung

Ein Politiker redet:

»Was wir brauchen, ist mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Wohlstand!«

Zuruf aus dem Publikum:

»Wir auch!«1

Die Politik ist nicht nur verunsichert; viele Politiker verstehen die Prozesse nicht mehr, die sie entscheiden (EU, Finanzpolitik, Demographie et cetera). Die Bürger sowieso nicht. Inmitten der ausgerufenen Wissensgesellschaft haben wir in einem Kernbereich der Gesellschaft, in der Politik, ein massives Wissensproblem. Nichtwissen regiert. Die Bürger wollen allerdings vom Staat Lösungen, die ihre Zukunft sichern. Können wir aber noch einer Politik trauen, die nicht mehr versteht, was sie entscheidet, und sich somit vor den Bürgern gar nicht mehr verantworten kann?

Doch ist das nur ein Punkt in der Liste der Überprüfung der Demokratie, die vielfältig in letzter Zeit erörtert wird. Es ist mehr ein Unbehagen, weil niemand weiß, was man an deren Stelle setzen sollte. Dann bleibt es bei einem erst nur unguten Gefühl, uns selbst, als Bürgern, nicht mehr zu trauen.2 Christian Ortner spricht von einer Prolokratie3, in der die verblödeten Bürger4 sich selbst in ihrem Staat überfordern, ohne zu wissen, wie man das finanziert.

Hinzu kommt ein anderer Strang – die Verschiebung der Politik von der Volksvertretung (Parlament), also dem, was gemeinhin unter »Politik« verstanden wird, auf die Verwaltung, wie Hildegard Hamm-Brücher 1963 schon notierte: »Die Europäisierung, also die Einbindung der Beschlüsse der EU, hat auch zu einer Machtverschiebung weg vom Parlament und hin zur Exekutive geführt. Verstärkt wird diese Entwicklung noch durch die Neigung gewählter Vertreter des ganzen Volkes (Grundgesetz Art. 64) und nicht nur einer Partei (Bayrische Verfassung, Art. 13,2) die Entscheidungen der Exekutive, im Kern: des Kabinetts und seiner Ausschüsse, im Plenum nicht mehr zu kontrollieren, sondern nur noch abzusegnen. Die stille Entmachtung der Parlamente untergräbt die Souveränität der Wähler.«5

Dass die Bürger zu dumm seien und Herdeninstinkten folgten, nicht der Vernunft, lesen wir schon bei John Stuart Mill in seiner berühmten Schrift Über Freiheit6. Es ist die alte aristokratische Sicht der Dinge: dass nur reife Eliten regieren können (vielfältig nachgezeichnet bei Jacques Rancière7). Ortner redet von einem Rat der Weisen, der neben den Parlamenten etabliert werden solle, einmal demokratisch konstituiert, dann aber sich selbst rekrutierend.8 Das sind noch Konzepte der Aufklärung – bei Adam Smith der wise statesman –, letztlich vom Adel kopierte Bürgerelitenmodelle, die der Erziehung zur Urteilskraft eines gentleman bedürfen (tugendhafte Charaktere)9, wie auch Hegel sich den Staat ausgewählt besetzt vorstellte, um den Pöbel zu regieren10. Die niederen Stände, also auch heute noch in dieser Diktion die meisten Bürger, waren zu regieren, aber nicht zur Regierung befähigt gedacht. Liederlich und lasterhaft, ungebildet und des Urteils nicht fähig, galten sie nicht als politikfähig. Man befürchtete, dass sie allein ihren Leidenschaften frönen und keine Balance zwischen individuellem und allgemeinem Interesse beachten würden. Ähnlich lesen wir es heute. Die Kritik der Konsumgesellschaft zum Beispiel des 20. Jahrhunderts – von Marcuse über Galbraith, Riesman und Bell bis Baudrillard – war immer zugleich eine Kritik des vom Konsum geblendeten Individuums, das sich zur Entpolitisierung verführen ließ.11 Es ist nur eine andere Variante der ungebildeten und verführbaren Massen (transponiert in die Leidenschaft des Konsums): die »große zivilisatorische Katastrophe, deren Synonyme Konsum, Gleichheit, Demokratie oder Unmündigkeit sind«12.

Erst die Demokratien des späten 19. und des 20. Jahrhunderts bescherten das allgemeine Wahlrecht (von dem die Frauen noch zu Anfang ausgeschlossen blieben). Man wurde als Bürger zur politischen Wahl bestimmt, ohne nun den klassischen Tugendkanon erfüllen zu müssen. Dass man einfach wählen darf, gleichsam ohne Qualifikation, kommt vielen Beobachtern der heutigen Demokratie bereits wieder suspekt vor. Latent erscheint dahinter der Gedanke, nicht jedem das Wahlrecht zu geben (was wir ja schon bei Kindern und Jugendlichen wie bei Entmündigten praktizieren). Doch sind das erst nur Randerscheinungen, die allerdings das Verhältnis zwischen Eliten und Massen neu auf die Tagesordnung bringen. Es geht vielmehr um ein Inkompetenzproblem, das heißt um ein epistemisches: Weder Bürger noch Abgeordnete wissen, um welche Probleme es mit welcher Relevanz geht bei den komplexen Entscheidungen, die im nationalen wie im europäischen Politikraum zu fällen sind – inmitten einer Wissensgesellschaft. Da liegt es anscheinend nahe, über Technokratie nachzudenken13, das heißt über eine Aufhebung der Demokratie und die Delegation des Regierens an Experten, die dann auch nicht mehr allgemein gewählt werden, weil ja niemand weiß, was ein guter Experte ist. Die Technokratie ist jene Regierungsform, die die Frage der Kompetenz elitär löst, mit der einher laufenden Illusion, Wissenschaftler et al. sähen um der Sache willen von Eigeninteressen ab. Die Europäische Union hat dieses Konzept bereits anberaumt.14

Was im Namen des Volkes regiert wird, wird nicht durch das Volk regiert. In dieser Distanz bilden sich die repräsentativen Demokratien aus: sie delegieren die Herrschaft an Repräsentanten. Wahlen sind Zustimmungen. Danach setzt die Demokratie aus, ist in Regierung übersetzt, und bleibt einer Kontrollillusion unterlegen, in der nächsten Wahl abwählen zu können. Die Pointe dabei: Man setzt einen Teil des Personals ab, aber nicht die Eliten, die sich ersetzen. Es stellt sich also auch deshalb die Frage: Sind Demokratien Demokratien?

1. »Sanfte Demokratiemüdigkeit«?

Man spürt in der Bundesrepublik Deutschland eine sanfte Demokratiemüdigkeit, wie Harald Schmidt es vorsichtig formuliert15: »Man hat sich in vielen Sitzungen in Berlin zu etwas durchgerungen. Im Grunde könnte man großzügig entscheiden, wenn man über die Parteigrenzen hinweg die Sache mit den Fachleuten abdealen könnte, aber jetzt muss ich raus und muss es meiner Basis erklären. Und das wird zäh«16. Die Politik entscheidet, zwar in umständlichen und langwierigen Verfahren, aber sie entscheidet, und die Basis, die Überzeugungsteilhaber der Politik, bleibt schwierig17, uneinsichtig, ist nicht in der Lage, nachzuvollziehen, in welchem Pragmatismus moderne Politik sich zu bewegen hat, um zu Entscheidungen zu kommen. Pragmatismus heißt, in den immer wiederholten Worten Angela Merkels: es gibt keine Alternative. Das heißt wir entscheiden, dass wir nicht entscheiden, und nennen das alternativlos. Wer etwas alternativlos nennt, begründet es nicht, sondern setzt es. Man muss ihm vertrauen, also sein eigenes Urteil aussetzen. Daran kann man sich gewöhnen. Dieser Vorgang ist die Einleitung in die Abgewöhnung der Demokratie.

Demokratien haben zwar den Vorteil, dass man eine Regierung ohne Blutvergießen auswechseln kann18, aber die Vermittlung von Entscheidungen zerrinnt in einem political divide, einer Wissensschere innerhalb der Parteien wie innerhalb der Gesellschaft selbst. Der mühsam errungene Kompromiss in langen und vielschichtigen Verhandlungsdiskursen, der einen temporären Konsensus zu erzeugen vermag (als konstitutives Merkmal von modernen Demokratien), verengt sich auf eine Politikelite, die, mit externen Fachleuten (und Beratern), diesen Konsensus immer noch und zum Teil relativ schnell erreichen, aber abgekoppelt von der Parteibasis und den Wählern respektive Bürgern. Der Konsensus reicht nicht mehr weit – und er wäre, wenn wir uns Bruno Latours Lösungskonstruktion ansehen, selber komplex.

Der französische Soziologe Bruno Latour entwirft ein kompliziertes System aus zwei Kammern: einer einbeziehenden und einer ordnenden Gewalt, mit je zwei Aufgabenbereichen: Perplexität (Forderung der Außenwelt)/Konsultationen (Forderung der Relevanz) sowie Hierarchie (Forderung der Öffentlichkeit)/Institution (Forderung der Schließung).19 Der Wissenseintrag ist groß (verteilt über die je zwei Funktionen der zwei Kammern: Wissenschaftler, Politiker, Ökonomen und Moralisten).20 Wahrscheinlich sind solche Konstruktionen komplexitätsgerecht, aber sie bringen eine neue Gewaltenteilung zwischen dem demokratischen Moment und dem epistemischen oder Wissensbeherrschungsteil (wobei die Moralisten die Aufgabe »der Inklusion des jeweils Ausgeschlossenen« bekommen und »die Wiederaufnahme des Shuttleverkehrs zwischen den beiden Kammern, damit sie nicht völlig getrennt sind«)21. Latour entwirft eine spekulative Politikverfassung, die die Problemlage besser anzeigt als viele der sonstigen Entwürfe, aber für den Gebrauch überkomplex erscheint. Es ist eine konstitutionell gedachte Fassung eines politischen Mehrebenensystems, wie Politologen das existierende europäische Politikgeflecht bezeichnen.

Wir hingegen befinden uns in der eigentümlichen Lage, dass die Politik in komplexen Lagen dennoch Entscheidungen zustande bringt, die aber nicht mehr getragen werden von allen, die diese Politik gewählt oder auf andere Weise legitimiert haben. Die Mühen der Ebenen der Politik erzeugen Basis-Ekel, mit der Folge, dass die Politik, die sich oben schnell zu Entscheidungen zusammenraufen kann, sich als elitär empfindet, ohne Elite zu sein. Es ist eine Erfahrung der Kompetenz, die man mit den unteren Chargen der Politik weder teilt noch meint teilen zu können. Mit den unteren Chargen der Politik kommuniziert man über die Medien, aber nicht mehr tatsächlich.

Weil aber die Wähler (und Parteimitglieder) die Ämter definieren, die Politiker einnehmen, denken nicht wenige über autokratischere Formen der Politik nach, natürlich nicht über Diktaturen oder andere Formen von Tyranneien, aber schon eher über moderate Formen sozialen oder demokratischen Königtums (unser Gewährsmann Harald Schmidt nennt Helmut Schmidt als Modell eines aufgeklärten Monarchen)22. Oder, wie der italienische Staatspräsident angesichts der Unfähigkeit der Parteien (April 2013) eine Regierung zu bilden, über ein Expertengremium, das die Verfassungsreform ausarbeiten soll.

Solche Gedanken entstehen in Phasen sanfter Demokratiemüdigkeit, deren eine Seite wir erwähnten: die der Politikmüdigkeit von Politikern. Auf der anderen Seite – der der Wähler – haben wir es mit anderen Formen der Demokratiemüdigkeit zu tun: man glaubt nicht mehr an die Versprechen der Politik (oder nur solchen Versprechen, die glaubwürdig daherkommen. Glaubwürdigkeit ist hier aber nur ein Name für Meinungskohärenz, nicht für tatsächliche Realisierungskompetenz). Weil man der Politik nicht mehr vertraut, vertraut man solchen Politikern, die autokratisch auftreten: als simulierte Manager von Politik.

In Italien im Frühjahr 2013 hat das härtere Formen angenommen: viele Wähler wollen diese Politik nicht mehr. »Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass eine Partei mit so bescheuerten Namen und unsystematischen Programmen (die Partei Movimento 5 Stelle (M5S) von Beppe Grillo; B.P.) Erfolg haben könnten? Und wer hätte gedacht, dass die alten Parteien schlecht wirtschaftenden Banken eine Billion Euro überweisen und dem Volk dann erzählen, es habe über seine Verhältnisse gelebt und müsse die Bankschulden begleichen? Die alten Parteien sind nicht mehr das, was sie einmal zu sein glaubten, und die neuen Parteien sind noch zu unbedarft, um als echte Erneuerung durchzugehen. Hier bahnt sich eine Neuordnung an. Die Postdemokratie, die wir bisher aus klugen Aufsätzen und Ländern östlich der Karpaten oder westlich des Atlantiks kannten, tritt im alten Kerneuropa erstmals in Erscheinung. Casaleggio (der eigentliche Gründer der M5S; B.P.) ist sich ganz sicher: »Das, was in Italien geschieht, ist nur der Beginn eines viel radikaleren Wandels, der bald alle Demokratien ergreifen wird«.23 Die sanfte Demokratiemüdigkeit, die noch schläfrige deutsche Form, ist in Italien längst in Rebellion umgeschlagen (oder in den Exodus, die aktive Verweigerung des Mitmachens dieser Politik).24 Was dürfen wir von Spanien erwarten, in der die Parteien bei den Jüngeren den schlechtesten Punktewert von allen gesellschaftlichen Instanzen in den Meinungsumfragen haben?25

Die Rebellion ist eine neue Entwicklung. Die – inaktive – Kehrseite ist der Wunsch nach Entschiedenheit, die als Führung begriffen wird, das heißt als Entlastung der Bürger von Politik, deren Zustandekommen ihnen als solchermaßen komplex und erwartungsfern vorkommt, dass sie es lieber delegieren möchten. Die Form der Delegation ist bedeutsam: man wünscht sich einen Führer