Die Unmutigen, die Mutigen - Juliane Stückrad - E-Book

Die Unmutigen, die Mutigen E-Book

Juliane Stückrad

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Beschreibung

»Danke, dass Sie sich für unser Dorf interessieren! »Ethnografie will mutig und lustvoll die vielen Wirklichkeiten unserer Welt erkunden. Ethnografie ist Poesie.« Seit 20 Jahren erforscht die Ethnologin Juliane Stückrad Gemeinschaften in der Provinz. Sie begleitet Menschen, die oft von Wut und Unmut beherrscht werden. Und die dennoch nie den Mut verlieren. Darüber hat sie ein bahnbrechendes Buch geschrieben. Auf einer Reise durch Peru wird der jungen Ethnologin Juliane Stückrad plötzlich klar, dass sie nicht die Rituale indigener Gesellschaften erforschen will. Ihr wahres Interesse gilt ihrer ostdeutschen Heimat, dem Leben am Rand und nicht zuletzt der eigenen Herkunft. Als teilnehmende Beobachterin erforscht sie von nun an die Lebens- und Arbeitswelt und den Wandel in vielen strapazierten Regionen. Sie geht auf Demonstrationen, sitzt mit den Dorfbewohnern am Tresen, besucht Familienfeiern und Gemeindefeste. Sie studiert Grabsteine, Autoaufkleber und Plakate. Ihr Buch präsentiert ungehörte und überhörte Geschichten, die gleichermaßen vom Mut wie vom Unmut künden. Geschichten, die Zugang zur Vielfalt ostdeutscher Lebenswelten bieten und Heimat als Veränderung, Erinnerung und Selbstbehauptung beschreiben.

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Juliane Stückrad

Die Unmutigen, die Mutigen

Feldforschung in der Mitte Deutschlands

kanon verlag

Die Namen meiner Gesprächspartnerinnen und -partner sind anonymisiert.

ISBN 978-3-98568-045-0

eISBN 978-3-98568-046-7

1. Auflage 2022

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2022

Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

Unter Verwendung eines Fotos von Ulrich Kneise

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

www.kanon-verlag.de

Juliane Stückrad

Die Unmutigen, die Mutigen.

Feldforschung in der Mitte Deutschlands

Meinen Eltern

Inhalt

Prolog: Ankommen

Teil I: Die Unmutigen

Kleiner Mann

Revolutionäre Situationen

Tote Ecken

Vergebliche Mühen

Elende Stasigegend

Teil II: Die Mutigen

Poesie des Feldes

Frommer Osten

Heimat feiern

Leben sammeln

Freude, schöner Götterfunken

Epilog: Rasten

Ausgewählte Literatur

Prolog:Ankommen

Ich durchwühle die vollgestopften Schränke in meinem Arbeitszimmer. Vor der Tür zum Balkon stapeln sich Ordner mit Steuer- und Versicherungsunterlagen, Mappen mit Urkunden und Zeugnissen, Manuskripte, Tagungsmitschriften, Materialsammlungen zu vergangenen Aufträgen, alte Ausgaben wissenschaftlicher Zeitschriften, Körbe mit Briefen und Kartons mit Erinnerungen an die Babyjahre meiner beiden Kinder. Genervt blicke ich erst auf das Chaos zu meinen Füßen, dann schaue ich zur Beruhigung durch die bodentiefe Scheibe der Balkontür nach draußen. Wie ich die Aussicht aus meinem Elternhaus liebe! Unterhalb des Gartens verläuft ein Tal mit Villenbebauung vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Gegenüber geht ein kiefernbewachsener Hang nach Südosten in dichten Wald über. Schaue ich nach Norden, breitet sich vor mir in einer weiten Senke meine Heimatstadt Eisenach aus.

Ich gebe mir einen Ruck und wende mich wieder meinem unordentlichen Schrank zu, denn ich bin auf der Suche nach dem Tagebuch, das ich im Winter 2001/02 während einer Reise durch Peru und Bolivien geschrieben habe. Ich finde viele Notizbücher voll mit Erinnerungen an andere Reisen, nur nicht dieses. Dann soll es so sein. Ich muss bei meinem Versuch, mich daran zu erinnern, wie mein Weg zur ethnografischen Erkundung Ostdeutschlands seinen Anfang nahm, offenbar darauf verzichten. Wenigstens finde ich das Fotoalbum wieder. Die Bilder sind ordentlich eingeklebt, nur die Bildunterschriften habe ich nicht mehr hinzugefügt. Ich betrachte die vielen Sehenswürdigkeiten und Landschaften, zu denen ich damals mit meiner Studienfreundin Katharina reiste.

Als wir die gemeinsame Reise planten, lag unser Studium der Fächer Ethnologie und Kunstgeschichte an der Universität Leipzig schon hinter uns. Aber eine richtige Vorstellung, was wir mit dem Studienabschluss anfangen sollten, hatten wir beide nicht. Katharina war in ihren alten Beruf in einem Verlag zurückgekehrt, und ich hatte ein knappes Jahr auf archäologischen Ausgrabungen im Süden Brandenburgs Geld verdient, um mir diese Reise leisten zu können. Dahinter stand die aus heutiger Sicht höchst naive Vorstellung, dabei irgendetwas wissenschaftlich Bemerkenswertes zu erleben, dazu dann eine ethnologische Feldforschung durchzuführen und mit dem Material ein Stipendium beantragen zu können. Es wurde eine wirklich eindrückliche Reise mit Weihnachtsfest in Cusco, Wanderung nach Machu Picchu, Flug über die Linien von Nazca, Silvester am Titicacasee und vielen anderen Erlebnissen, doch zum Forschen, so wie wir es uns vorgestellt hatten, kamen wir dabei natürlich nicht. Wir fanden aus der Rolle der Touristinnen nicht heraus. Tiefere Einblicke in die südamerikanischen Kulturen erhielten wir kaum, und im Laufe der Reise verebbten unsere ethnologischen Ambitionen mehr und mehr.

Ich durchblättere das Fotoalbum und finde ganz am Ende das Bild, das ich suchte. Es hält den Moment fest, so meine ich mich zu erinnern, in dem ich mich von dem Druck befreite, in Südamerika meine berufliche Zukunft begründen zu müssen. Das Foto zeigt mich vom Fußende aus fotografiert, flach auf dem Rücken in einem Bett liegend, dessen Kopfende mit neobarockem Schnitzwerk geschmückt ist. Glatt auf mir liegt eine gewebte Überdecke mit Rosenmuster. Ich blicke etwas belustigt in die Kamera. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, waren wir zu diesem Zeitpunkt der Reise allerdings nicht mehr so besonders guter Dinge. Peru wurde immer anstrengender für uns. In Ica war mein teurer Fotoapparat gestohlen worden und wenige Tage später an irgendeinem Busbahnhof Katharinas Handgepäck. Hinzu kamen ständige Magen-Darm-Infekte, die uns zu schaffen machten. Auch an dem Tag, als Katharina dieses Foto von mir machte, ging es mir nicht gut, und ich war froh, dass ich im Bett liegen konnte.

Die touristische Hauptroute im Süden des Landes hatten wir hinter uns gelassen und waren in den Norden gereist. Nun befanden wir uns in Huaraz, hatten dieses einfache Zimmer gefunden und trauten uns kaum auf die Straße. Es war Karneval, der hier durch den Brauch geprägt war, dass sich die Jugendlichen gegenseitig mit Wasserbomben bewarfen, und das mit der größtmöglichen Härte. Ob sich nicht ab und zu auch Urin in den Ballons befand, war nicht ganz klar. Wir zwei blonden, fremden Frauen waren willkommene Opfer.

Das Reisen erwies sich hier im Norden zudem als schwieriger als im Süden Perus. Die Regenzeit setzte ein, machte Straßen unsicher, und wir kannten mittlerweile den fragwürdigen Zustand vieler Busse. Unser schlecht vorbereitetes Vorhaben, an den für uns ethnografisch interessanten Anden-Osthang zu gelangen, rückte in immer weitere Ferne.

Ich lag also lang ausgestreckt in diesem Bett und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte. Wurde die Reise nicht doch langsam zu gefährlich? Mit Katharina redete ich viel über zu Hause. Sie lebte in Dresden, ihrer Heimatstadt. Ich wusste, dass ich nach der Rückkehr aus Südamerika mit meinem Freund eine Wohnung in Südbrandenburg suchen und dann schon bald heiraten wollte. Wir waren erst wenige Wochen zusammen, als ich meine Reise antrat. Er kam aus Kiel, hatte Kunstgeschichte studiert, arbeitete als Bauhistoriker und war gut sechzehn Jahre älter als ich. Die Sehnsucht nach ihm wurde immer größer, nachdem ich ihn nun schon bald vier Monate nicht gesehen hatte. Und während ich Katharina von meinem Verliebtsein und meiner Arbeit in Brandenburg erzählte, von den Begegnungen mit den Einwohnern dort und wie mich die Strukturschwäche dieser ländlichen Gegend befremdet hatte, formte sich der Gedanke, dass nicht Südamerika das geeignete Forschungsfeld für mich bereithielt, sondern Südbrandenburg. Wir erkundeten noch die beeindruckende Landschaft in der Umgebung von Huaraz und kehrten, einige Wochen früher als geplant, nach Deutschland zurück.

In der Rückschau stellt sich mir die Frage, wann ich mich zum ersten Mal mit dem Forschungsfeld im Süden Brandenburgs auseinandergesetzt habe. Wann begann meine ethnographic arrival story eigentlich? Diese arrival stories stehen am Anfang vieler ethnologischer Monografien. Die Forscher beschreiben ihre mühevollen Anreisen, die ersten »exotischen« Eindrücke, vielleicht auch Missgeschicke oder Unsicherheiten. Damit vermitteln sie der Leserin, dass sie wirklich vor Ort waren und alles, was sie schreiben, selbst erlebt und beobachtet haben. Wenn ich es mir recht überlege, kann ich drei arrival stories erzählen. Dabei ist jene, die im Bett in Huaraz begann, eigentlich die zweite. Die Fremde, die ich ethnologisch erforschen wollte, öffnete mir die Augen für das vermeintlich Eigene, dessen Erkundung mir auf einmal so viel reizvoller erschien. In Gedanken traf ich schon in meinem Forschungsfeld in Südbrandenburg ein, als mein Körper noch in Südamerika weilte.

Die erste arrival story, die ich damals noch nicht als solche verstanden hatte, erlebte ich Anfang November des Jahres 2000. Ich sehe mich im Auto eines Freundes sitzen, der mir den Job auf der archäologischen Ausgrabung in Bad Liebenwerda vermittelt hatte. Wir fuhren zusammen von Leipzig in die brandenburgische Kleinstadt Uebigau. Für meinen Geschmack war er auf den Alleen viel zu schnell unterwegs, und ich fühlte mich etwas unbehaglich. Hinter Torgau hatten wir die Elbe überquert, und obwohl es schon dunkel war, wusste ich, dass wir durch eine flache Agrarlandschaft fuhren. Irgendwann durchfuhren wir einen sehr dunklen Kiefernwald. Das Scheinwerferlicht ließ die Stämme der Nadelbäume, die in Reih und Glied eng gepflanzt und so auch gewachsen waren, kurz hervortreten. Hinter uns blieb tiefe Dunkelheit zurück. Diese erstaunliche Finsternis vermittelte mir den Eindruck, dass ich zwar nur eine Stunde vom mir vertrauten Leipzig entfernt, aber irgendwie ganz weit weg war. Ich erinnere mich an ein Gefühl der Unsicherheit, das diese Fahrt begleitete. Es hing mit dem entlaufenen Mörder Frank Schmökel zusammen, nach dem gerade groß gefahndet wurde. Was, wenn er Zuflucht in genau dieser abgelegenen Gegend, in der ich mich überhaupt nicht auskannte, genommen hatte?

Die Nacht verbrachte ich schlaflos in einem kalten Zimmer in der Jugendherberge von Uebigau. Hatten die Montagearbeiter, die abends noch vor dem Haus geraucht hatten, auch richtig abgeschlossen? Ich zog mir meinen dicken Arbeitspullover über und lauschte auf die Geräusche im Flur und auf das Gluckern des Heizkörpers, der einfach nicht richtig warm werden wollte.

Am nächsten Tag stand ich im Morgengrauen und bei Minusgraden, in meinem alten orangen Anorak und mit einer Bommelmütze vor der Jugendherberge. Ich sollte ab 7 Uhr auf den Grabungsbus warten, mit dem irgendein Bernd mich abholen und nach Bad Liebenwerda mitnehmen würde. Ich glaube, ich wartete fast bis halb 8 und wurde nervös, weil ich nicht wusste, ob ich bei der Absprache mit der Chefin der Grabungsfirma alles richtig verstanden hatte. Die Kälte war mir schon in die Knochen gekrochen, als der Kleinbus vorfuhr. Ich stieg vorn ein. Der Fahrer stellte sich als Bernd vor, und damit war das Gespräch auch schon wieder vorbei. Er schien kein Interesse an einem näheren Kennenlernen zu haben, stattdessen dudelte Jazz aus dem Autoradio. Jazz ist wirklich nicht meine Musik, er macht mich irgendwie wütend. Schlecht geschlafen, Kälte, Jazz – ich war nicht besonders glücklich.

War es schon bei dieser ersten Fahrt, dass ein Sonnenaufgang mich etwas über die widrigen Umstände hinwegtröstete? Es könnte so gewesen sein. Die Sonnenauf- und -untergänge im Süden Brandenburgs beeindruckten mich zutiefst. In dieser Intensität kannte ich sie aus Eisenach und Leipzig nicht. Der Himmel nahm alle Rot- und Orangetöne an und verlieh der unspektakulären Landschaft, in der weite Agrarflächen von Kieferpflanzungen und begradigten Wasserläufen durchbrochen wurden, eine dramatische Stimmung. Nach dem Sonnenuntergang wurde es dann wieder sehr schnell sehr finster. Diese Dunkelheit, die es in den lichtverschmutzten Ballungsräumen Deutschlands so nicht mehr gibt, lernte ich erst später zu schätzen.

In der nächsten Woche hatte ich keine Mitfahrgelegenheit und nahm am Abend den Zug von Leipzig über Falkenberg/Elster nach Uebigau. Ich wusste, dass ich kurz hinter Falkenberg aussteigen musste. Im Zug gab es keine Ansagen, mittlerweile saß ich allein im Wagen, und der Bahnsteig des nächsten Halts hatte sich in spätherbstliches Dämmerlicht gehüllt. War das schon Uebigau? Ich öffnete die Tür und versuchte, die Buchstaben auf der weit entfernt stehenden Bahnhofstafel zu entziffern. Vergeblich. Ich stieg aus, um es besser erkennen zu können, die Türen schlossen sich hinter mir und der Zug fuhr an. Panisch lief ich in Richtung des Schildes und atmete tief durch. Darauf stand der richtige Ortsname. Aber nein, eigentlich befand ich mich nicht in der kleinen Stadt, sondern am Bahnhof, außerhalb. Nun erinnerte ich mich auch, dass mir einer der Grabungshelfer geraten hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Hätte ich bloß diesen Rat befolgt, denn nun musste ich an einer unbeleuchteten Straße entlanglaufen, vorbei an Gartengrundstücken und Wirtschaftsgebäuden. Einen Gehweg gab es nicht, und so wich ich auf den Grünstreifen aus, wenn Autos an mir vorbeirasten. Als ich den ersten Lichtkegel einer Straßenlaterne erblickte, lief ich erleichtert auf ihn zu. Wenigstens musste ich mich nicht mehr vor Frank Schmökel fürchten. Er saß mittlerweile hinter Gittern.

Mein erstes Ankommen »im Feld« war von Unwohlsein geprägt, das seine Ursachen in meiner Orientierungslosigkeit und Ängstlichkeit hatte. Ich befürchtete, dass die Entscheidung, hier in dieser trostlosen Gegend meine erste Arbeit nach dem Studium anzunehmen, in eine berufliche Sackgasse führte. Vielleicht hatte meine Unsicherheit in der übertriebenen Angst vor dem entlaufenen Mörder ihren Ausdruck gefunden. »Die Angst des Forschers vor dem Feld« heißt ein vielzitierter Aufsatz des Soziologen und Volkskundlers Rolf Lindner. Er beschreibt darin den psychischen Stress, den ethnologische Feldforschung hervorruft, und weist darauf hin, dass gerade der Erstkontakt mit dem Feld reich an Daten ist, weil die Reaktionen auf die Feldforscherin soziale Gegebenheiten offenlegen, unter denen die Forschung stattfindet.1 Nun verhielt es sich bei meinem Erstkontakt anders: Ich wusste noch nicht, dass ich mich im Forschungsfeld befand, und für die Südbrandenburger war ich keine Ethnologin, sondern im besten Fall eine Archäologin, die in der Erde forschte und nicht in ihren Gemeinschaften. Ich konnte daher keine Angst vor dem Feld entwickeln. Stattdessen hatte ich schlichtweg Angst, am falschen Ort zu sein. Und gerade diese Angst schärfte meine Sinne und ließ mich meine Umgebung aufmerksamer betrachten. Sie war Ausdruck der Fremdheit, die ich im Süden Brandenburgs nicht erwartet hatte. Dass diese Fremdheitserfahrung meinen ethnologischen Ehrgeiz herausforderte, ist eigentlich gar nicht so verwunderlich.

Mein Vertrag bei der Grabungsfirma wurde verlängert, der Frühling hielt Einzug, und ich übernahm eigene, kleine Grabungen. Mit dem Auto fuhr ich über das Land. Auf diese Weise erschloss sich mir der Süden Brandenburgs mehr und mehr, ohne dass ich seinen ethnografischen Wert schon erkannt hatte. Ich lernte, mich auf den Landstraßen und in den unterschiedlichen Kleinstädten der Region zu orientieren, sprach mit Bewohnern der Orte, in denen ich archäologische Untersuchungen durchführte, begegnete Bauarbeitern und erfuhr immer mehr vom Alltag meiner ortsansässigen Kollegen aus der Grabungsfirma.

Nachdem ich aus Südamerika zurückgekehrt war, begann meine dritte und eigentliche ethnographic arrival story. Ich wusste nun, dass ich eine Doktorarbeit über Ostdeutschland schreiben wollte, nur die thematische Eingrenzung blieb vage – »Lebenswege im Wandel« oder »Kulturen der Arbeitslosen«? Ich rief am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig an, wo ich im Jahr 2000 mein Studium abgeschlossen hatte, und bat um eine Beratung bei meinem ehemaligen Professor. Einige Tage später saß ich in seinem gediegen eingerichteten, etwas dämmrigen Büro mit hohen Bücherregalen und leicht verschlissenen Polstersesseln. Der Professor hörte mir geduldig zu, als ich ihm von meinen Eindrücken aus Brandenburg erzählte. Ich hatte die Hoffnung, dass er mir bei meiner Suche nach einem Weg zurück in die Wissenschaft helfen könnte. Denn obwohl ich durch die Grabungsarbeit meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, war mir klar, dass es sich nur um eine vorübergehende Tätigkeit handeln könne. Auf Dauer würde mich das Forschen nach menschlichen Spuren im Boden nicht begeistern. Ich brauchte die Begegnungen mit lebenden Menschen. Zum Ende unseres Gesprächs schlug mir der Professor vor, mich mit dem Schimpfen der Menschen in Ostdeutschland zu befassen. Hier sähe er einigen Forschungsbedarf. Erst Jahre später, als ich den Roman »Die Hoffnungsvollen« von Anna Sperk las, wurde mir klar, dass mir der Professor einen Themenvorschlag gemacht hatte, der viel mit ihm selbst zu tun hatte. Als Westdeutscher hatte er im Jahr 1994 den Lehrstuhl für Ethnologie übernommen. Anna Sperk beschreibt detailliert die Aufbruchsstimmung, die Verwerfungen und Konflikte jener Transformationsjahre an der Universität Leipzig, die auch die Forschung und Lehre am Institut für Ethnologie prägten.2

Nach unserem Gespräch erhielt ich eine E-Mail von meinem Professor, in der er mir riet, mich mit meinem Dissertationsvorhaben an den Lehrstuhl für Volkskunde/Empirische Kulturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu wenden, denn in der Volkskunde sei ich besser aufgehoben als am Institut für Ethnologie. Er empfahl mir wärmstens, Kontakt mit der dortigen Professorin aufzunehmen, die ihre Studenten und Doktorandinnen mit großem Engagement betreue.

Ich weiß noch, dass ich von seiner E-Mail enttäuscht war. Irgendwie fühlte ich mich abgewimmelt. Mit der Volkskunde hatte ich mich bis dahin kaum befasst, und zur Universität in Jena hatte ich überhaupt keinen Bezug. Die Stadt war zudem weiter entfernt von meinem neuen Lebensumfeld im Süden Brandenburgs.

Nach meiner Rückkehr aus Südamerika hatte ich schweren Herzens mein Zimmer in Leipzig aufgegeben und war mit meinem Freund in ein winziges Dorf im Elbe-Elster-Kreis gezogen. Es kostete mich einige Überwindung, einer mir unbekannten Professorin eine E-Mail zu schreiben, um ihr mein Anliegen zu schildern und sie um einen Termin zu bitten. Prof. Christel Köhle-Hezinger schrieb zurück und schlug ein Telefonat vor. Verunsichert wählte ich zum vereinbarten Zeitpunkt ihre Telefonnummer. Sie schwäbelte, klang aufmunternd, teilte mir aber mit, dass sie schon sehr viele Doktorandinnen betreue und eigentlich keine »Externen« mehr annehmen könne. Dennoch, so meinte sie, könne ich ja mal zu einem persönlichen Gespräch vorbeikommen. Mit diesem unverbindlichen Angebot begann für mich ein neuer wissenschaftlicher Weg, denn nach dem Gespräch in ihrem Büro in Jena wurde ich ab 2003 eine ihrer zahlreichen Doktorandinnen. Sie ermutigte mich in den folgenden Jahren beständig, an meine Forschung zu glauben. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich mein Dissertationsvorhaben im Jahr 2010 abschließen konnte.

Neben meinen Recherchen für die Dissertation besuchte ich ihre Seminare und wuchs so in das Fach Volkskunde hinein. Die Volkskunde hat an deutschen Universitäten viele Namen – Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie oder Vergleichende Kulturwissenschaft – und befasst sich vor allem mit europäischen Kulturen, beleuchtet deren historische Dimensionen und liefert Zugänge zum Verstehen unserer Alltagswelten. Während sich die Ethnologie vor allem mit den Weltanschauungen und Lebenswelten außereuropäischer Kulturen befasst. Die gewinnbringende Verbindung zwischen der Ethnologie und der Volkskunde fand ich in den Methoden der Feldforschung. Das Beobachten und Beschreiben anderer Kulturen ist ein hochgradig komplexer Vorgang, den man als Ethnografieren bezeichnet. Der Begriff Ethnografie beschreibt die Methodik, den Forschungsprozess und das Produkt, also den geschriebenen Text, gleichermaßen. Dabei ist es klar, dass wir das Feld nicht einfach beschreiben können, denn jede Beschreibung ist schon Deutung, ist Auswahl an Themen und Worten. Daher sagen Ethnografien nie nur etwas über diejenigen, die da erforscht wurden, sondern immer auch über die Forschenden aus. Die Beschäftigung mit dem Anderen ist ebenso eine Beschäftigung mit sich selbst. So hatte ich es theoretisch im Studium gelernt, doch begriff ich es erst wirklich durch die Praxis.

Ethnografie wurde für mich im Laufe der Jahre weit mehr als eine wissenschaftliche Methode der Datenerhebung und des Schreibens. Ethnografie wurde zur Überlebensstrategie in unangenehmen Situationen: ethnografisches Schreiben als Therapie. Der ethnografische Blick auf die Welt kann zu einer Lebenseinstellung werden. Es ist die Lust am Schauen, die Neugierde, die Freude am Beschreiben, ein Verstehenwollen von Zusammenhängen hinter den Fassaden des Alltags. Wenn die Welt zu nah heranrückt und Momente der Unübersichtlichkeit verunsichern, hilft Ethnografie, Distanz aufzubauen und Überblick zu erhalten. Ethnografie kann auch Nähe herstellen und erleichtert den Zugang zu den Lebenswelten der Anderen. In diesem Wechselspiel aus Nähe und Distanz erscheint auch das Eigene immer wieder neu und fremd.

Mit dem Umzug nach Südbrandenburg baute ich mir mit meinem Freund ein gemeinsames Zuhause auf. Wir heirateten im Sommer und richteten unseren Alltag in dem kleinen Dorf ein. Begleitend dazu wollte ich Feldforschung in dieser ländlichen, brandenburgischen Region betreiben. Was ich vorhatte, bezeichnet man als ethnography at home, die die Forscherin vor besondere Herausforderungen stellt, denn sie verlangt nach bewussten Entscheidungen: Wann ist meine Umgebung Alltagswelt, und wann erkläre ich sie zum Forschungsfeld? Mit meiner Doktormutter hatte ich das Thema der Dissertation konkretisiert. Ich wollte über die Kultur des Unmuts im Süden Brandenburgs schreiben. Dieser Unmut äußert sich häufig im Schimpfen. Da in der Regel spontan geschimpft wird, bin ich oft aus Alltagshandlungen gerissen worden und musste geistesgegenwärtig in die Rolle der Feldforscherin schlüpfen.

Aus einer solchen Begebenheit ging auch der Titel meiner Dissertation hervor: Im Sommer war ich sehr früh mit Roland, einem Grabungshelfer, auf dem Weg zu einer Grabung in einem kleinen brandenburgischen Dorf. Roland hatte ich gleich zu Beginn meiner Tätigkeit bei der Grabungsfirma kennengelernt. Wir waren beide als Grabungshelfer eingestellt worden, verstanden uns gut und arbeiteten gern zusammen. Roland war Mitte vierzig und lebte mit seiner Frau, zwei Söhnen und seinem betagten Vater in einem nur wenige Höfe zählenden Dorf, das nicht weit von dem Ort gelegen war, in dem wir unsere Bleibe gefunden hatten. Dank Rolands Freude am Erzählen erfuhr ich im Laufe der Zeit immer mehr Geschichten über seine Nachbarn, über Freunde und ehemalige Kollegen und wurde auf unterhaltsame Weise mit der Gegend, in die es mich verschlagen hatte, und ihren Bewohnern vertrauter.

Da es an diesem Sommertag sehr warm werden sollte, begannen wir schon früh mit der Arbeit. Die Sonne ging gerade auf und tauchte die Landschaft in ein goldgelbes Licht. Doch Roland ließ sich von diesem fantastischen Naturspektakel nicht beeindrucken, stattdessen beklagte er sich in einem fort über die politischen und gesellschaftlichen Zustände, die er für die prekären Lebenssituationen, die sich in seinem Umfeld häuften, verantwortlich machte. »Die schlechte Lage in Deutschland, das kann doch nicht sein. Die müssen doch richtig viel Steuern einnehmen. Wo gehen die denn hin? Danach fragt aber keiner.« Es war nicht seine erste Unmutsäußerung dieser Art. Seit der Wiedervereinigung war sein Leben durch wechselnde Phasen der Arbeitslosigkeit, Umschulungen und schlecht bezahlte Jobs geprägt.

Ich schätzte ihn als intelligenten Gesprächspartner, der mich mit kuriosen Geschichten und seinem Sarkasmus oft zum Lachen brachte. Zu jeder Gelegenheit kannte er passende Sprüche und Anekdoten. Als einmal ein Bagger beim Schachten eines Fundamentgrabens die Mauer des Nachbarhauses eindrückte, schaute er durch das entstandene Loch in den Keller und rief: »Hallo, hier ist die Kellerinspektion.« Während wir uns an einem Imbisswagen etwas zur Mittagspause kauften, schilderte er, wie sich der Einkaufsbus, der immer in seinem Dorf hielt, zur Seite neigte, wenn die dicke Nachbarin einstieg. Oder er erzählte von seiner Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn, die damit begann, dass er in Dienstuniform, mit langen Haaren unter der Eisenbahnermütze und schwerer Tasche in der Hand zusammen mit anderen Lehrlingen durch Delitzsch ins GST-Lager3 marschieren musste.

Doch an diesem goldenen Sommermorgen hatte er keine Lust auf Schwänke und Schnorren, er machte seinem Unmut Luft. Was »in diesem Staat alles so falsch läuft«, wollte ich jedoch zu solch früher Stunde nicht erörtern. Es nervte mich, und ich wies ihn darauf hin, dass er die ganze Zeit schimpfe. Er erwiderte knapp: »Ichschimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit.« Seine Antwort löste in mir Scham aus, denn ich hatte das Gefühl, ihn mit meiner Kritik verletzt zu haben. Meine Bewertung seiner Ausführungen als Schimpfen stellte den Wahrheitsgehalt seiner Erfahrungen und damit auch sein Leiden an der Welt in Frage. Im folgenden Schweigen spürte ich die Verstimmung, die zwischen uns entstanden war. Mir wurde bewusst, wie sehr sich seine Wirklichkeit von meiner unterschied. Durch diese Störung in unserer Kommunikation wechselte ich von der Alltags- in eine Feldforschungssituation.

Dieses Erlebnis öffnete mir die Augen für mein Forschungsziel: Ich wollte den Wirklichkeiten der schimpfenden Menschen meiner Wahlheimat auf die Spur kommen.

1 Lindner, Rolf: Die Angst des Forschers vor dem Feld. In: Zeitschrift für Volkskunde (ZfV) 1981, 1, S. 51–66, hier S. 61.

2 Sperk, Anna: Die Hoffnungsvollen. Halle 2017.

3 Gesellschaft für Sport und Technik: Organisation der DDR, die der vormilitärischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen diente.

Teil I:Die Unmutigen

»Genau, platt, alles platt gemacht und abgesahnt.

[…] Man könnte sich maßlos uffregen über den

Scheißstaat hier. […]

’ne völlig neue Republik hätte entstehen müssen,

völligen Neuanfang machen müssen, und nicht

anders. […]

Das ganze gescheiterte System vom Westen

ham se hier übergestülpt.«

Kleiner Mann

Nach meiner Rückkehr aus Südamerika hatte ich mich selbstständig gemacht, um neben Ausgrabungen auch andere Aufträge, etwa für die Konzipierung von Ausstellungen oder Buchprojekte, zu erhalten. Zum einen entsprach das meinen Neigungen, zum anderen wollte ich den sich langsam abzeichnenden Rückgang von Aufträgen in der Archäologie kompensieren. Doch vorerst blieben archäologische Ausgrabungen meine Haupteinnahmequelle. Auf einer dieser Grabungen sammelte ich dann auch die ersten Erfahrungen mit der Datenerhebung zur Ethnografie des Unmuts. Ich hatte ein neues Aufnahmegerät dabei, um auszuprobieren, wie die Kollegen auf mein Forschungsinteresse reagieren würden. Geplant war nur ein Probeinterview, um die Technik zu testen. Doch die Aufnahme sicherte sehr wertvolle Daten. Das hatte ich einmal mehr Roland zu verdanken. Es war Mittagspause, ich schaltete mein Aufnahmegerät ein und fragte, eher zum Scherz, als dass ich wirklich Ergebnisse erwartete: »Roland, warum schimpfst du?« Er antwortete: »Schimpfen macht Spaß.«

Wie ich durch die spätere Lektüre zahlreicher Arbeiten zu verbalen Aggressionen lernte, verwies mein lebenskluger Kollege mit dieser kurzen Bemerkung auf einen nicht zu unterschätzenden Aspekt von Unmutsäußerungen, denn das Wort schimpfen leitet sich vom mittelhochdeutschen schimpf ab, das Scherz, fröhliche Munterkeit und Kurzweil bedeutete. Ritterlicher Schimpf waren Kampfspiele. Schimpf galt als das Gegenteil von Ernst. Doch wie schnell die Stimmung kippt, wenn es mit den Scherzen zu weit getrieben wird, zeigt sich daran, dass durchaus auch ernsthafte Kämpfe als Schimpf bezeichnet wurden. Schimpf erhielt im Laufe der Jahrhunderte über die Verwendung für Hohn und Spott zunehmend eine ehrverletzende Bedeutung. Im 18. Jahrhundert sprach man zwar noch von Schimpf und Ernst, aber auch schon von Schimpf und Schande.

Ich fragte Roland weiter, was am Schimpfen denn Spaß mache, und er entgegnete: »Na, das ist auch die einzige Sache, wo man mal Druck ablassen kann. Der kleene Mann, der nacksche.« Als ich mich über das Sprachbild des »kleenen, nackschen Mannes« amüsierte, erläuterte er es weiter: »Der kleene, nacksche Mann, der dasteht, kein Hemd mehr anhat, der hat ja niemanden mehr, der ihn verteidigt. Na, is doch so. Da muss er sich selber mal ein bisschen Dampf ablassen.«

Roland erkannte sich offensichtlich in der berühmten Figur des kleinen Mannes wieder. Ich begegnete jenem kleinen Mann mehrfach im Feld, und auch andere Ethnologinnen, die durch den »ostdeutschen Dschungel« streiften, trafen auf ihn. In der Sozial- und Kulturgeschichte ist er kein Unbekannter. Die Literatur widmete ihm bedeutende Werke. Und bei so manchem Politiker ist der kleine Mann heiß begehrt. Wenn es darum geht, seine Gunst als Wähler zu gewinnen, wird gern in seinem Namen gesprochen. Ob Roland wusste, welch ambivalenter Ruf dem kleinen Mann anhaftet?

Auf der einen Seite ist dieser zu bedauern: Er rackert sich ab und kommt dennoch nicht voran, denn von denen da oben wird er belogen und betrogen. Wie in dem Bauwagen, während einer anderen Grabung an der Kirche von M.-Dorf, nahe der Grenze zu Sachsen, wo ich ein Gespräch zweier Arbeiter mithörte. Einer beschwerte sich über die Politiker. »Die haben doch alle keine Ahnung da oben, die wissen doch nicht, was der kleine Mann macht, der kann blechen.« Da bleibt dem kleinen Mann nichts anderes mehr übrig, als schimpfend und murrend sein Recht auf Distanz zu den herrschenden Verhältnissen zu verteidigen.

Auf der anderen Seite muss er sich harte Kritik gefallen lassen, denn ihm wird Selbstverzwergung angelastet. Er habe es sich in seiner Opferrolle bequem gemacht, um keine Verantwortung für das eigene Tun übernehmen zu müssen, und suche die Schuld an seiner bedrückenden Lage immer bei anderen.

Frau Raum, eine Südbrandenburgerin im mittleren Alter, die sich etwas als Haushaltshilfe hinzuverdiente, hatten wir über eine Freundin kennengelernt. Während sie mir beim Saubermachen zur Hand ging, lief im Radio in der Küche ein Bericht über Flüchtende, die in Marokko in der Wüste ausgesetzt worden waren. Das veranlasste sie zu folgender Meinungsäußerung: »Na ja, so wie das in Deutschland ist, ist es ja auch sonst nirgends. Die können allekommen, und der kleine Mann kann dafür mit seinen Steuern zahlen. So geht’s ja auch nicht. Die paar, die Arbeit haben, müssen dafür mit ihren Sozialabgaben herhalten. Auch wenn die sagen, es gebe noch andere Töpfe, das Geld ist doch nicht da. Sicher, ich verstehe die Menschen, die in ihren Ländern nicht leben wollen, wenn es so schlimm ist. Ich würde vielleicht auch wegwollen. Aber so wie hier in Deutschland geht es auch nicht. Ist doch so!« Der kleine Mann, wie er hier von Frau Raum beschworen wird, birgt durchaus ernstzunehmende Gefahren in sich, wenn er der Ansicht ist, andere nehmen ihm, der schon so schlecht dasteht, noch etwas von seinen knappen Ressourcen weg.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass der kleine Mann gerade in der DDR, dem Arbeiter- und Bauernstaat, so hartnäckig überlebte. Im »Land der kleinen Leute«, so lassen Untersuchungen zum »ostdeutschen Eigensinn« vermuten, half die Rolle des kleinen Mannes dabei, sich von den Zumutungen durch die da oben zu distanzieren.4 Die Einteilung der Welt in oben und unten macht sie in gewisser Weise für den kleinen Mann auch verstehbarer. Daran hat auch der Wechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus nichts geändert. War der kleine Mann in der DDR den Entscheidungen der Funktionäre ausgeliefert, so findet er sich im wiedervereinigten Deutschland erneut in einer machtlosen Position wieder. Rolands Ausführungen folgend, ist der kleine Mann aufgrund der wirtschaftlichen Ausbeutung nun auch noch nackig und damit noch schutzloser.

Bei aller Kritik am kleinen Mann verkörpert er eben doch das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts herrschender Verhältnisse. Wie konnte aus Roland, einem Mann von kräftiger Statur, mit blondem Haar, markanter Nase und hellem Blick ein »kleener, nackscher Mann« werden? Er hatte zu DDR-Zeiten bei der Bahn gelernt und einen guten Abschluss gemacht. Die Abwesenheit von zu Hause und die Fahrerei zur Arbeit gefielen ihm dabei weniger. Als er das Angebot erhielt, im heimischen Forst für ein besseres Gehalt zu arbeiten, zögerte er nicht lange und nahm die körperlich sehr anstrengende Tätigkeit eines Harzers an, der Baumharz aus Kiefern abzapfte, das in der chemischen Industrie der DDR benötigt wurde. Roland erzählte mir einmal von der guten Arbeitskleidung, die er am ersten Arbeitstag beim Forst erhalten hatte. Die Hervorhebung dieser Ausstattung vermittelte mir einen Eindruck vom Wert, der dieser Tätigkeit beigemessen wurde. Harzen ist ein Handwerk, das in der DDR wichtig war, im heutigen Deutschland aber nicht mehr existiert. In Kiefern wurden Kerben geschnitten und das herauslaufende Harz abgeschöpft. Kiefern in den ostdeutschen Wäldern mit fischgrätenförmigen Einschnitten erinnern noch an diesen Beruf, der bald nach 1989 verschwand, weil diese Form der Harzgewinnung nicht mehr rentabel war. Roland wurde arbeitslos. Er schulte zum Tischler um. Einmal brachte er uns einen ausgesprochen formschönen, sehr sorgfältig gearbeiteten Beistelltisch mit, den er während der Umschulung gefertigt hatte. Er fand aber auch in diesem Beruf keine Anstellung. Irgendwann war er als Grabungshelfer bei der Archäologie-Firma gelandet. Als es dann immer weniger Baustellen und Grabungen gab, verlor er auch dort wieder seine Arbeit und schlug sich jahrelang als schlecht bezahlter Leiharbeiter in einem Betrieb für Elektrotechnik durch. Roland erwartete eigentlich nicht viel von einer guten Arbeitsstelle. Es berührte mich, als er einmal sagte, dass es schön wäre, eine sichere Arbeit zu haben, die er mit dem Rad erreichen könnte, wo er vielleicht noch einen eigenen Spind hätte und es Duschen für das Personal gäbe. Ich fragte mich, ob das zu viel verlangt sei vom Leben, während andere große Karrieren, elegante Büros in internationalen Führungsetagen, hohe Gehälter, Prominenz und Macht anstrebten. Rolands Wunsch dagegen wirkte so bescheiden und für ihn doch nicht erreichbar.

Möglicherweise wird bei der Debatte um den kleinen Mann ein Aspekt übersehen, der aber durchaus wichtig für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ist. Es ist der Aspekt der Bescheidenheit in den Erwartungen an ein gelingendes Leben. Ist es nicht ein Fehler, diese Bescheidenheit des kleinen Mannes als Schwäche oder Bequemlichkeit zu deuten? Könnte nicht so mancher von Anspruchsdenken und Unzufriedenheit Getriebene von der Genügsamkeit des kleinen Mannes lernen?

Als ich Roland während meines Probeinterviews nach dem Grund des Schimpfens gefragt hatte, betonte er dessen entlastende Funktion. Er griff dabei auf ein Erklärungsmodell zurück, das im Alltagswissen weit verbreitet ist, weil viele das Gefühl kennen, dass ein reinigendes Gewitter durchaus guttun kann. Schimpfen wird dann zum Ventil angestauten Unmuts. In der Aggressionsforschung ist dieses sogenannte »Dampfkesselmodell« aber umstritten, da die entlastende Erfahrung meist nur kurzfristig wirkt. Vielmehr verstärken sich aggressive Impulse langfristig, wenn sie vom Umfeld akzeptiert und vielleicht sogar gutgeheißen werden, sodass der Schimpfende immer häufiger auf aggressives Verhalten zurückgreift. Schimpfen wird zur Gewohnheit, was zur Folge haben kann, dass nicht nur die negative Wahrnehmung der Welt Unmut hervorruft, sondern Unmut auch die Wahrnehmung der Welt negativ prägt.

Schimpfen ist also nicht nur Ausdruck eines spontanen Affektes, sondern entsteht vor dem Hintergrund von Vorstellungen und Erfahrungen. Daher kommt dem sozialen Umfeld beim Hineinwachsen in die Kultur des Unmuts eine wesentliche Bedeutung zu. Der kleine Mann wurde wahrscheinlich schon von einem kleinen Mann erzogen. Wird er wiederum kleine Männer zeugen? Sonderbar dabei ist, dass mir die Figur der kleinen Frau nirgendwo begegnete. Ich vermute aber ganz stark, dass sie sich, jenseits aller Genderdebatten, auch in der Figur des kleinen Mannes wiederfindet oder in der Gruppe der kleinen Leute aufgeht.

Wie meine an Roland gestellten Fragen während des Probeinterviews schon zeigten, konzentrierte ich mich bei der Erkundung des Unmuts auf die Ausdrucksform des Schimpfens, weil diese am besten zu dokumentieren ist. Alle abwertenden Beschreibungen der Eigenschaften oder Handlungen anderer und der wahrgenommenen Welt definiere ich als Schimpfen. Dabei verwende ich Schimpfen als Oberbegriff für die Fülle an verbalen Äußerungen, die Unmut kundtun. Es wird geklagt, gejammert, genörgelt, gescholten, gemeckert, verunglimpft, gelästert, verhöhnt, verspottet, bewitzelt …

Bevor geschimpft wird, empfindet der Schimpfende – der homo maledicens – Unmut. Der Begriff setzt sich aus dem Präfix Un- und dem Grundwort Mut zusammen. Die Vorsilbe kehrt den anschließenden Begriff ins Gegenteil oder sie kann der Steigerung eines negativ belegten Grundwortes dienen. Ursprünglich benannte das Wort Mut triebgesteuertes Verlangen und seelische Erregtheit im Sinne von Zorn. Seit dem 16. Jahrhundert wird es auch für Tapferkeit benutzt. Aufgrund der Wortherkunft umschreibt Unmut heute viele Nuancen von Stimmungen: Die Verneinung von Mut im Sinne von Verzagtheit, Schwäche, Betrübtheit oder Lustlosigkeit. Gemeint sein kann aber auch die Übertreibung von Mut wie im Zorn oder in der Zwietracht.

Unmut ist demnach ein negativ wahrgenommener Gemütszustand, der in verschiedenen Gefühlslagen – von der depressiven Verstimmung bis zur zügellosen Wut – auftreten kann. Unmut entsteht, wenn die Dinge nicht so erscheinen, wie wir sie uns wünschen. Die Kultur des Unmuts ist im Spannungsfeld zwischen der Erwartung an ein gutes Leben und den eigentlichen lebensweltlichen Erfahrungen angesiedelt. Diese Unmutskultur ist bestimmend für die Wahl der Mittel, mit der wir dieses Spannungsverhältnis zum Ausdruck bringen. In welcher Situation entscheiden wir uns für welche Reaktion? Wann schweigen wir beklommen, wann brüllen wir los, oder wann schlagen wir zu? Wie werden diese Reaktionen bewertet?

Schimpfen als eine Ausdrucksform des Unmuts ist dementsprechend der Versuch, die Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung verbal zu überbrücken. Das heißt, dass wir durch die Untersuchung der Kultur des Unmuts etwas von der Kultur des Wünschens erfahren. Wir erhalten Einblicke in die Erwartungen der Menschen an ein gutes Leben und ihr Streben nach Zufriedenheit. Die Schimpfenden verraten uns etwas von ihren individuellen und kulturell bedingten Fähigkeiten, mit der Unvollkommenheit zu leben, und erzählen im Unmut letztlich von ihren Utopien.

Schimpfen begegnete mir im Forschungsfeld in verschiedenen Situationen. So konnte ich im Alltag Zeugin von Unmut werden. Manchmal war ich nur Beobachterin, manchmal selbst das Ziel der Verbalattacken, denn archäologische Grabungsteams können durchaus zu Wutobjekten werden, wenn ihnen die Schuld an Bauverzug und Mehrkosten angelastet wird.

Während einer bauvorbereitenden Ausgrabung im Zentrum von S., einer mittelgroßen Industriestadt im Osten des Elbe-Elster-Kreises, hörten wir einige Vorbeigehende über Steuergeldverschwendung und die Sinnlosigkeit unserer Arbeit schimpfen. Einige verhöhnten uns: »Ich werfe euch mal ein paar alte Knochen rein, damit ihr endlich was findet.« Einmal beförderte der kräftige Tritt eines Passanten eine leere Weinflasche quer über die Grabungsfläche. Sie flog nur knapp am Kopf eines Grabungshelfers vorbei. Worte reichen als Ventil für den Unmut eben nicht immer.

Ein anderes Mal saß ich abends völlig erschöpft auf einem Sandhaufen am Rande einer Grabungsfläche in einem Dorf und schrieb. Ich war allein und hatte schon sehr früh angefangen zu arbeiten, da uns nur ein Tag Zeit für die Maßnahme blieb und der Boden reichlich Befunde barg, die sorgfältig dokumentiert werden mussten. Ein Mann beobachtete mich von seinem Grundstück aus. Als ich seinen Blick erwiderte, rief er: »So wie du arbeitest, will ich mal Urlaub machen.« Damals kränkte mich dieser Satz sehr, und ich rief gereizt zurück, wie lange ich schon arbeite und wie müde ich sei, so als müsse ich mich rechtfertigen. Er verzog sich lachend in sein Einfamilienhaus. Heute sehe ich so eine Bemerkung gelassener. Und schlecht ist der Spruch eigentlich nicht. Ich verwende ihn mittlerweile selbst gern. Wie ich überhaupt so manch hilfreiche Lebensweisheit auf den Baustellen Südbrandenburgs lernte, zum Beispiel: »Essen wir erstmal, gearbeitet ist dann schnell.«

Wurde ich Ziel verbaler Attacken, konnte deren ethnografische Dokumentation eine entlastende Funktion entfalten. Zwar fühlte ich mich verletzt, aber nicht ohne Rachegedanken notierte ich alles. Die Aufzeichnung des Unmuts konnte mich darüber hinwegtrösten. Hatte mir der Schimpfende letztlich nicht einen Gefallen getan, indem er mir wertvolles Datenmaterial lieferte? Am eindrücklichsten blieb mir ein Erlebnis nach der Geburt meiner Tochter in Erinnerung. Ich lag noch erschöpft, aber glücklich mit meinem Baby im Arm im Krankenhausbett, als der Kinderarzt das Zimmer betrat. Laut und aggressiv begann er über das bundesdeutsche Medizinsystem und die Säuglingsversorgung zu schimpfen, stellte den Vergleich zur, seiner Meinung nach, besseren Mütterberatung in der DDR her und kritisierte damit indirekt auch mich. Aufgrund irgendwelcher Indizien – vielleicht mochte er meine Hebamme nicht – vermutete er wahrscheinlich einen alternativen Lebensstil bei mir und verband damit einen unverantwortlichen Umgang mit dem Neugeborenen: »Sie glauben gar nicht, was man hier so erlebt, da gehen die Frauen nach drei Tagen, das wird auch noch unterstützt von den Hebammen. Die Mutti sagt noch, das Kind gefällt mir nicht, die Hebamme meint, alles sei okay. Nach zwei Tagen haben die fast ein totes Kind. Ich sage Ihnen, es ist Irrsinn. (…) Das Gesundheitssystem war so gut organisiert, dass die Wessis das jetzt wieder fordern. Letztens ist mir auf einer Tagung der Kragen geplatzt: ›Ihr seid doch nur neidisch auf das Versorgungssystem, das wir hier hatten‹, hab ich gesagt. Aber das konnte ja 1990 nicht schnell genug abgebaut werden. Und die Ostdeutschen haben damals noch Applaus gegeben. Jetzt schreien sie nach Mütterberatung.« Ich konnte die unangenehme Situation nur ertragen, indem ich jedem seiner Worte gespannt folgte, um es mir besonders gut zu merken, damit ich es im Anschluss aufschreiben konnte. Das Beispiel belegt, dass mir natürlich nicht nur kleene, nacksche Männer in untergeordneten sozialen Positionen schimpfend im Feld begegneten, sondern durchaus auch Menschen in gut etablierten Positionen.

Hier offenbart sich eine Eigenart ethnografischer Unmutsforschung. Schimpfen tritt oft unvorbereitet auf. Hätte ich in diesem Moment mein Aufnahmegerät herausgeholt und angeschaltet, wäre das Schimpfen des Arztes sicherlich bald verstummt. Er hätte höchstens noch mein Verhalten beschimpft.

Somit war ich gezwungen, das intensive Zuhören und zügige Aufschreiben möglichst gleich im Anschluss an das Schimpfereignis zu lernen.

Zudem bemerkte ich bald, dass ich mit bestimmten Reizthemen Schimpfen provozieren konnte. So reichte es zumeist, wenn ich meinem Gegenüber sagte, dass ich zum Elbe-Elster-Kreis forschte, denn die Deindustrialisierung der Region, Massenarbeitslosigkeit und der damit verbundene Wegzug vieler junger Bewohner seit 1990 hatten in den frühen 2000er Jahren eine zutiefst pessimistische Sichtweise auf das eigene Lebensumfeld befördert. So rief ich bestimmte, meinem Forschungsinteresse dienende Äußerungen hervor. Dessen sollte man sich bei der ethnografischen Datenerhebung bewusst sein. Ethnologen beeinflussen mit ihrem Auftauchen, Fragen, Schauen, Reden und Schreiben immer das Forschungsfeld.

In der Anfangszeit der Ethnologie wurde in den ethnografischen Texten die Rolle des Forschers im Feld wenig reflektiert. Vielmehr sollten die Leser den Eindruck erhalten, dass der Ethnologe keinen Einfluss auf die Gemeinschaften, bei denen er forschte, nahm und diese ganz in ihrem »natürlichen Zustand« erlebte. Dank der seit geraumer Zeit stattfindenden kritischen Auseinandersetzung mit der Feldforschung können sich Ethnologen nun als aktiver Part des Forschungsfeldes, das sie zusammen mit den »Einheimischen« gestalten, betrachten. Meines Einflusses auf die jeweilige Forschungssituation war ich mir stets sehr bewusst und dokumentierte diesen ebenso wie meine Beobachtungen.

Dabei arbeitete ich mit einem Methodenmix, der Tonaufnahmen und deren Transkriptionen, Beschreibungen von teilnehmenden Beobachtungen, Gesprächsmitschriften und Gedächtnisprotokolle mit eigenen Gedanken, die ich im Feldtagebuch zum Forschungsprozess festhielt, verband. Ich recherchierte zu schriftlich fixiertem Unmut, wie ich ihn in Zeitungen, Heimatkalendern, auf Flugblättern oder in Kreistagsunterlagen fand. Auf diese Weise trug ich im Laufe von gut vier Jahren vielfältiges Datenmaterial zusammen, das ich dann im Zuge des Schreibprozesses interpretierte.

Begleitend zu meiner eigenen Datenerhebung versuchte ich mir einen Überblick über die umfangreiche Literatur zu Ostdeutschland zu verschaffen und stellte dabei erstaunt fest, dass sich die Ostdeutschen wohl als das am besten erforschte Volk der Welt bezeichnen können.

Doch war der Elbe-Elster-Kreis nicht nur mein Forschungsfeld, er wurde für meine Familie auch zur Wahlheimat. Zuvor wusste ich reichlich wenig über diesen Landkreis im Süden Brandenburgs, der an Sachsen und Sachsen-Anhalt grenzt. Städtenamen wie Falkenberg/Elster oder Doberlug/Kirchhain kannte ich lediglich von den Durchsagen am Leipziger Hauptbahnhof. Nun lernte ich die Kreisstadt Herzberg/Elster mit der bedeutenden gotischen Backsteinkirche kennen. Beim Besuch des Museums in Finsterwalde erfuhr ich, was es mit der zusätzlichen Ortsbezeichnung »Sängerstadt« auf sich hat. Das Lied »Wir sind die Sänger von Finsterwalde« stammt aus einem Singspiel, das 1899 vom Komponisten Wilhelm Wolff in Berlin geschrieben wurde. Das Stück geriet bald in Vergessenheit, aber das Lied mit seiner eingängigen Melodie und dem einfachen Text entwickelte sich schnell zum Gassenhauer und machte Finsterwalde deutschlandweit bekannt. Wenn ich mit meinem Grabungswagen nach Finsterwalde fuhr, kam mir beim Ortseingangsschild unvermittelt das Lied in den Sinn:

»Wir sind die Sänger von Finsterwalde,

wir leben und sterben für den Gesang.

Dass wir die Sänger sind, das weiß ein jedes Kind,

wir leben und sterben für den Gesang.«

In der Kurstadt Bad Liebenwerda hatte ich auf dem Grundstück der ehemaligen Burg an meiner ersten Grabungskampagne in der Region teilgenommen. Im Museum der Stadt staunte ich über die bedeutsame Marionettensammlung, die von der Puppenspieltradition, die diese Stadt und die Region haben, zeugt.

Ganz im Süden des Kreises liegt Mühlberg/Elbe, ein verschlafenes Städtchen, nach dem die historisch bedeutsame Schlacht bei Mühlberg im Jahr 1547 benannt ist, in deren Folge Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen durch Soldaten der Truppen Karl V. in einem Wald bei Falkenberg/Elster gefangengenommen wurde.

Obwohl wir den Elbe-Elster-Kreis intensiv erkundeten, fühlten wir uns dort nicht wirklich heimisch. Im Laufe der Forschung und vor allem während des späteren Schreibens, das schon nicht mehr im Feld, sondern nach dem Umzug in meine Heimatstadt Eisenach, stattfand, erkannte ich immer deutlicher, wie meine eigenen Befindlichkeiten in den Forschungsprozess einflossen. Deren Reflexion erschien mir notwendig, da ich mit meiner Forschung den Anspruch der Generalisierbarkeit der Ergebnisse verband. Den Leserinnen wollte ich die Möglichkeit geben, die Darstellung als mein eigenes Erleben einzuordnen, um die Plausibilität der Interpretation der Daten besser beurteilen zu können.

Ich erinnere mich, wie ich in meinem kleinen Arbeitszimmer unter dem Dach des elterlichen Hauses auf dem Sofa lag. Ich hatte seit den frühen Morgenstunden an meiner Dissertation gearbeitet. In die Erinnerung an diese intensive Schaffenszeit ist seither das Gefühl einer tiefen Müdigkeit eingeschrieben. Die Kinder waren damals noch im Vorschulalter und der Alltag vom frühen Morgen bis zum späten Abend angefüllt mit Familienleben, Haushalt und der Arbeit am beruflichen Vorankommen.

Vom Schreiben waren mir die Augenlider schwer geworden und ich erhoffte mir von einem kurzen Schlaf Erfrischung, damit ich weiterarbeiten konnte, solange meine Tochter noch Mittagsschlaf hielt und mein Sohn im Kindergarten war. Ich schlief nicht wirklich und befand mich in einem Zustand zwischen Denken und Träumen. Dabei grübelte ich über eine Theorie des Schimpfens, und meine Gedanken kreisten um die Frage der Forschungsperspektive. Plötzlich hatte ich die Einsicht, dass der Unmut der Menschen im Elbe-Elster-Kreis sehr viel mehr mit mir zu tun hatte, als ich es mir bisher eingestand. Wie von Ferne kommend, nahmen meine Überlegungen mehr und mehr Form an, ich stand auf und schrieb zügig über »Den Unmut und die Forscherin«. Ich weiß noch, dass ich mich danach wieder auf das Sofa legte und vor Erleichterung und Erschöpfung weinte.

Im Studium hatten wir das methodische Problem der biografischen Einbindung intensiv behandelt. Doch erst am eigenen Leib erfuhr ich die psychologische Dimension der ethnologischen Feldforschung. In meinen folgenden Feldforschungen achtete ich daher noch stärker darauf, welche Rolle ich selbst im Feld einnahm und wie die eigene biografische Prägung meine Wahrnehmung und den Forschungsprozess beeinflussten.

So musste ich mir eingestehen, dass mich die Tatsache, es nach dem Studium »nur« in eine Region wie den Elbe-Elster-Kreis geschafft zu haben, mehr belastete, als ich zugab. Auch hatte ich mir einen Wohnortwechsel innerhalb Deutschlands weniger problematisch vorgestellt. Fremdheit ist im Forschungsprozess sicherlich eine wesentliche Motivation, doch im Alltag ist sie schnell belastend. Ich empfand sie auf verschiedenen Ebenen: Am augenfälligsten war die räumliche Fremdheit, die sich mit dem Unterschied zwischen den Landschaften und zwischen städtischer und ländlicher Lebensweise erklären ließ. Zudem traf ich nicht auf das soziale Umfeld, in dem ich mich sicher bewegen konnte. Mit meinen Erfahrungen und Interessen fand ich nur mühsam Anschluss an die sozialen Netzwerke der Einheimischen. Neben der räumlichen Fremdheit musste ich mich also auch mit sozialer Fremdheit auseinandersetzen. Die Ethnologie hatte mich mit der Problematik des Ethnozentrismus vertraut gemacht. Und so konnte ich meine neuerdings wichtig gewordene Abgrenzung als Thüringerin zu den Brandenburgern noch gut einordnen. Doch ich musste begreifen, dass der Soziozentrismus bisweilen viel schwerer wiegt.

Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie regionale Besonderheiten konnte ich noch klar benennen, denn in Form von Architekturen, Speisen oder Dialekten gehören sie zur sicht-, fühl- und hörbaren Welt. Dagegen blieben die Unterschiede in der Sozialisation für mich weniger greif- und lokalisierbar. Im Unsichtbaren verborgen, offenbaren sie sich als Gefühle der Distanz. Ich begriff, dass ich die Rolle der Ethnologin nicht nur einnahm, um eine wissenschaftliche Datenerhebung durchzuführen, sondern auch, um mir mit der Ethnografie inmitten dieser Fremdheit ein Handlungsfeld zu schaffen, in dem ich mich zu Hause fühlte. Alles, was mich befremdete, hatte nun das Potenzial, Datenmaterial zu werden über das ich Macht besaß. Doch dabei sah ich mich mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert: Mein Unwohlsein in der fremden brandenburgischen Welt offenbarte mir auch verdeckte Teile meiner selbst, die vom Schimpfen der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises offengelegt wurden.

Ich stamme aus einer evangelisch geprägten Familie und wuchs zusammen mit meinem dreieinhalb Jahre älteren Bruder in kritischer Distanz zum SED-Regime auf. Begeistert nahm ich als 14-Jährige an den Montagsdemonstrationen in meiner Heimatstadt Eisenach teil, feierte zusammen mit Freunden und Verwandten die Öffnung der nahegelegenen Grenze und das Ende der DDR. Meinem Bruder blieb dadurch der gefürchtete Wehrdienst in der NVA5 erspart. Wir genossen die Freiheiten, die sich auf einmal boten, in vollen Zügen. So waren die ersten Jahre der Transformation dicht an Erlebnissen – wilde Partys, die erste große Liebe, Schulstress, das Studium, Reisen in die Welt. Es war nicht die Zeit zum Innehalten und zur Selbstbefragung, eher eine Zeit des eifrigen Orientierens an den Anforderungen der neuen Zeit seit der Wiedervereinigung. Im Elbe-Elster-Kreis traf ich Menschen, die an keiner Montagsdemonstration teilgenommen hatten. Sie lebten fernab der Grenze und kannten nicht die überschwängliche Freude der Begegnungen in den Tagen nach dem 9. November 89. Die revolutionäre Euphorie, die meine Familie und meine Freunde über so manche Verwirrung der frühen Transformation getragen hatte, gehörte nicht zu ihrem Erfahrungsschatz. Für viele meiner Gesprächspartner in Brandenburg war die sogenannte »Wende« vor allem mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, dem Abbau von Infrastruktur und der Abwanderung ihrer Kinder und Enkel verbunden. Ihr Klagen über die neuen Verhältnisse forderte mich heraus, verlangte mir ab, nach Gegenargumenten zu suchen, und führte so zur Selbstbefragung.

Deutlicher spürte ich nun die Verunsicherung bezüglich unserer Lebensplanung und fürchtete, selbst in prekäre Verhältnisse abzurutschen, wenn die archäologischen Aufträge zurückgingen und wir in dieser vermeintlich abgehängten Region einfach mit abgehängt werden könnten. Selbstzweifel waren die ständigen Begleiter beim Blick auf meinen beruflichen Werdegang. Hatte ich nicht alle Chancen durch meine Ausbildung gehabt? Ich musste mir eingestehen, sie wahrscheinlich nicht richtig genutzt zu haben. Die Schuld dafür gab ich mir, meinen mangelhaften wissenschaftlichen, intellektuellen und sozialen Kompetenzen. Ich konnte nicht das »System« dafür in die Verantwortung nehmen, weil ich es nicht in der Form angreifen wollte wie die Schimpfenden. Im Herbst 1989 war ich »auf die Straße gegangen« und hatte das Ende der DDR gefeiert, nun lebten wir in der ersehnten Demokratie und mussten auch mit den Konsequenzen klarkommen. Unsere Naivität angesichts der neuen marktwirtschaftlichen Strukturen, unsere Verwirrung über den Verlust so vieler Alltagspraxen – alles hatte ich verdrängt. Auf einmal, hier in der Fremde der eigenen Kultur, im strukturschwachen Osten, kam es wieder ans Licht. Ich fühlte es deutlicher denn je, ich war nicht nur »Ossi« im selbstironischen Witz und beim mehr oder weniger kritischen Geplänkel mit Westdeutschen. Ich war eben auch ein enttäuschter, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagter »Ossi«, der sich auch nach so vielen Jahren noch nicht mit dem neuen System, seinen Institutionen und Kommunikationsformen identifizieren konnte. Diese Seite an mir störte mich, sie passte nicht in mein Selbstbild, weil ich mich eben nicht im Kreis der kleinen Leute wiederfinden wollte. Ich empfand Wut auf die Menschen, die in meinen Augen ständig am Meckern waren, nicht selbstkritisch die Schuld am Scheitern bei sich suchten, sondern frei heraus immer andere, die Wessis, die Politiker oder das »kapitalistische System« für ihre Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit verantwortlich machten. Die fremden Schimpfenden zeigten mir Tag für Tag, dass ich beruflich einen Kompromiss eingegangen war, von dem ich nicht wusste, wie lange ich damit leben konnte und wollte; der mich in eine Gegend geführt hatte, die meinen Ansprüchen an ein städtisches, kulturell aktives Leben kaum gerecht werden konnte und mich, abgesehen von den Sonnenauf- und -untergängen, nicht einmal landschaftlich besonders ansprach.