Die unsinkbare Greta James - Jennifer E. Smith - E-Book

Die unsinkbare Greta James E-Book

Jennifer E. Smith

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Beschreibung

Gretas Musikkarriere steht auf dem Spiel: Kurz nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter hat sie einen Zusammenbruch auf der Bühne. Greta ist alles zu viel. Doch ob eine gemeinsame Auszeit auf See mit ihrem Vater Conrad die Lösung ist? Ähnlich geht es Ben Wilder, den Greta an Bord kennenlernt. Auch er steht an einem Scheidepunkt in seinem Leben. Diese Reise durch die atemberaubende Natur Alaskas wird alle drei für immer verändern. Aber werden sich Greta, ihr Vater und Ben trauen, ihren tief vergrabenen Träumen zu folgen?

  • Eine wundervolle Beziehungsgeschichte, die einfühlsam erkundet, was es bedeutet, seiner Leidenschaft und seinen Träumen zu folgen
  • Greta und ihr Vater auf der Suche nach Versöhnung: Können sie auf einer gemeinsamen Schiffsreise durch die unendliche Weite Alaskas die Wogen glätten?
  • »Voller Musik, Leidenschaft und Liebe: Ein Roman darüber, was Familie bedeutet, und über die Entscheidungen, die unser Leben prägen.« (Jill Santopolo)
  • »Eines der meisterwarteten Bücher 2022.« (Book Page)
  • »Eine Geschichte über Eltern und Kinder, Trauer und Glück, über harte Arbeit, Träume und Beziehungen. Eine Geschichte mit eindrucksvoller Prosa.« (Kirkus Reviews)

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Seitenzahl: 399

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Der Roman

Als ihre Mutter, die ihr erster und größter Fan war, unerwartet stirbt, verliert Greta den Boden unter den Füßen. Bei einem Auftritt kurz darauf bricht die 36-jährige Indie-Musikerin auf der Bühne zusammen. Videos davon gehen viral und plötzlich ist ihre Karriere in Gefahr. Eine Gefahr, vor der sie ihr Vater Conrad schon immer gewarnt hat. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Greta etwas Solides mit ihrem Leben angefangen.

Monate später ist sie noch immer in tiefer Trauer und haltlos, und so lässt sie sich darauf ein, Conrad auf die Kreuzfahrt nach Alaska zu begleiten, die ihre Eltern zu ihrem Ehejubiläum gebucht hatten. Eine Chance für Greta und Conrad, alte Wunden zu heilen und gemeinsam zu trauern.

Auf dem Meer, umgeben von der atemberaubenden Natur Alaskas, setzt sich Greta endlich mit ihrer Vergangenheit, ihrem Schmerz und dem Konflikt mit ihrem Vater auseinander. Kann und will sie weiterhin ihren Traum und ihre Liebe zur Musik leben? Und welche Rolle spielt Literaturprofessor Ben, der sich ebenfalls an Bord des Schiffes befindet?

Die Autorin

Jennifer E. Smith wuchs in der Nähe von Chicago auf und studierte an der University of St. Andrews in Schottland Kreatives Schreiben. Ihre Jugendbücher wurden bereits in 33 Sprachen übersetzt. Die unsinkbare Greta James ist ihr erstes Buch für Erwachsene. Heute lebt und arbeitet sie in Los Angeles.

Jennifer E. Smith

Die

unsinkbare

Greta

James

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Jennifer E. Smith

Die Originalausgabe erschien 2022 unter

dem Titel The Unsinkable Greta James bei Ballantine, New York.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Diana Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Arcangel Images

(Sybille Sterk; Angelo Cerantola)

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-29486-1V002

www.diana-verlag.de

Für Susan Kamil, die an dieses Buch geglaubt hat,

bevor ich überhaupt ein Wort geschrieben hatte.

We set out to be wrecked

(Wir sind aufgebrochen, um zu scheitern)

J. M. Barrie, The Boy Castaways

of Black Lake Island, London 1901

Vorher

Kapitel 1

Greta steht am Fenster eines Hotels in West Hollywood, als ihr Bruder zum dritten Mal an diesem Tag anruft. Auf einer Reklametafel gegenüber ist ein schnittiges weißes Segelboot auf türkisfarbenem Wasser abgebildet, offenbar eine Bierwerbung, und irgendwas an dem Bild – das Gefühl der Ungebundenheit – macht es ihr leichter, Nein zu sagen, als sie endlich abnimmt.

»Ach, komm schon«, sagt Asher. »Ist doch nur eine Woche.«

»Eine Woche auf einem Boot.«

»Es ist ein Schiff«, korrigiert er sie.

»Ich kann das im Moment überhaupt nicht gebrauchen«, sagt Greta und wendet sich vom Fenster ab, wo der rosafarbene Himmel eine verträumte Stimmung verbreitet. Sie ist eben erst von einem Fotoshooting für das Cover ihres zweiten Albums zurückgekommen, das jetzt erst im Juli herauskommen soll. Greta hätte den Termin der Veröffentlichung am liebsten noch weiter hinausgeschoben, aber da war nichts zu machen. Stattdessen wurde sie nach Los Angeles beordert, wo sie drei Tage in einer Lagerhalle verbracht hat, umschwirrt von Blitzlichtern und stirnrunzelnden Studiobossen in Anzügen und Turnschuhen, die Gesichter verkniffen von dem Stress, die Sache unter Dach und Fach zu bringen.

Ihren letzten Live-Auftritt hatte sie vor zwei Monaten, als sie eine Woche nach dem Tod ihrer Mutter auf der Bühne zusammengebrochen war, aber das Geschäft ist seitdem ganz normal weitergelaufen, mehr oder weniger ohne sie.

Auf dem Schreibtisch steht neben dem Hotelbriefpapier ein kleiner Teller mit Pralinen und einem Gruß des Hotelmanagers: Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind! Unwillkürlich muss Greta an ihre Mutter denken, die nicht mehr da ist, und es wird ihr mit einer Endgültigkeit bewusst, die ihr den Atem raubt.

»Warum fährst du nicht mit?«, fragte sie Asher, während sie sich vorzustellen versucht, wie es wäre, eine ganze Woche mit ihrem Vater auf einem Schiff zu verbringen. Die Kreuzfahrt entlang der Küste von Alaska war die Idee ihrer Mutter gewesen. Ein ganzes Jahr lang hat sie von nichts anderem geredet, bis im März in ihrem Gehirn eine Arterie platzte und die ganze Welt zum Stillstand kam.

Jetzt sind es nur noch vier Wochen bis zu der Kreuzfahrt. Und ihr Vater ist immer noch entschlossen, sie anzutreten.

»Wir können ihn das nicht allein machen lassen«, sagt Asher, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Das wäre einfach zu traurig.«

»Von allein kann keine Rede sein«, entgegnet Greta auf dem Weg ins Bad. »Die Fosters und die Blooms fahren schließlich auch mit, die werden sich schon um ihn kümmern.«

Sie betrachtet sich im Spiegel. Sie trägt immer noch das Make-up vom Fotoshooting: rote Lippen, weiße Haut, die grünen Augen mit Kajal schwarz umrandet. Ihr dunkles Haar, das sich normalerweise kaum bändigen lässt, ist jetzt glattgekämmt. Sie legt das Telefon auf dem Waschbecken ab, schaltet auf Lautsprecher und beginnt sich abzuschminken.

»Er wird sich fühlen wie das fünfte Rad am Wagen«, fährt Asher fort, seine Stimme hallt durch das Bad. »Das ist doch deprimierend. Einer von uns muss ihn begleiten.«

»Genau«, sagt Greta. »Und das bist du.«

»Ich kann nicht.«

Sie richtet sich auf. Ihre Haut ist gerötet, aber sie sieht wieder aus wie sie selbst, was immer wieder eine Erleichterung ist. Sie schnappt sich ein Handtuch und tupft sich das Gesicht trocken. »Aber dich«, sagt sie, nimmt das Telefon vom Becken, geht aus dem Bad und lässt sich aufs Bett fallen, »mag er wenigstens.«

»Greta«, entgegnet Asher ungehalten. »Du weißt, dass ich nicht kann.«

Natürlich weiß sie es. Asher hat eine Frau und drei kleine Töchter. Er hat einen Job und einen Chef, eine normale Arbeitswoche, eine Personalabteilung und eine begrenzte Anzahl Urlaubstage, von denen die meisten draufgehen, wenn eins der Kinder krank ist. Er hat schon seit Jahren in keinem Flugzeug mehr gesessen.

Greta ist allein diese Woche schon dreimal geflogen.

Sie seufzt. »Wann genau war die Reise noch mal?«

»Ende Mai bis Anfang Juni.«

»Am fünften ist das Governors Ball-Music-Festival, da muss ich zurück sein«, sagt sie, so erleichtert über die Ausrede, dass es sich fast unanständig anfühlt, egal, wie sehr ihr vor dem Festival graut. Aber Asher ist unbeeindruckt.

»Da hast du Glück«, sagt er. »Die Rückreise ist am vierten.«

»Du weißt hoffentlich, dass das nicht irgendein Auftritt ist. Der ist wichtig.«

»Wichtiger als Dad?«

»Das ist nicht fair.«

»Du hast gar keine Wahl«, sagt Asher. »Du bist früh genug wieder in New York für deinen Auftritt. Außerdem hab ich mir sagen lassen, dass Alaska um diese Jahreszeit wunderschön ist. Vielleicht immer noch ein bisschen kalt, aber Dad wollte einfach nicht so viel Geld –«

»Asher …«

»Ja?«

»Ich glaub nicht, dass ich das kann.«

»Klar kannst du das. Du stehst doch auf Wasser. Weißt du noch, wie wir mal mit dem Kanu –«

»Ja, weiß ich noch.«

Er schweigt einen Moment. Dann sagt er: »Du würdest es ja auch nicht nur für ihn tun.«

Und damit kriegt er sie rum.

Samstag

Kapitel 2

Greta steht im breiten Schatten eines riesigen Schiffs und fragt sich, wie es möglich ist, dass so ein Ding nicht untergeht. Es ist ein schwimmendes Hotel, ein auf der Seite liegender Wolkenkratzer, ein Monolith, ein Ungetüm. Und es wird, so abwegig das ist, in den kommenden acht Tagen ihr Zuhause sein.

Der Name des Schiffs steht in großen Buchstaben auf der Seite des weißen Rumpfs. Er lautet Escape, »Flucht«, und ist das Einzige, was sie heute beinahe zum Lachen gebracht hätte.

Hunderte Menschen wuseln um sie herum. Mit teuren Kameras vor dem Bauch können sie es alle kaum erwarten, an Bord zu gehen und ihre Abenteuerfahrt nach Alaska anzutreten. Zu ihrer Linken verschmilzt die Skyline von Vancouver mit dem Himmel, grau und verhangen. Regen liegt in der Luft. Greta hatte hier mal einen Auftritt, hat aber kaum mehr von der Stadt gesehen als die Konzerthalle, in der sie gespielt hat.

»Es hat elf Decks«, sagt ihr Vater, der gerade mit einem Deckplan des Schiffs zu ihr tritt. Er trägt eine viel zu dünne Windjacke und eine Baseballmütze, ein Werbegeschenk der Bank, bei der er vor Kurzem ein Konto eröffnet hat. Gretas Mutter ist jetzt seit drei Monaten tot, und zum ersten Mal sieht ihr siebzigjähriger Vater genauso alt aus, wie er ist. »Und acht Restaurants. Vier davon mit Büfett.«

Gretas Mutter, wenn sie dagewesen wäre, hätte gesagt: Wow! Und: Ich kann’s kaum erwarten, die alle auszuprobieren! Sie hätte ihm den Arm gedrückt und mit leuchtenden Augen das Schiff bewundert, alle elf Decks.

Aber Helen ist nicht da. Nur Greta, die immer noch nicht glauben kann, dass Asher es geschafft hat, sie zu dieser Fahrt zu überreden.

»Cool«, sagt sie, bemüht, irgendwie begeistert zu klingen, was ihr offenbar nicht gelingt, denn ihr Vater verdreht nur resigniert die Augen und beugt sich wieder über seinen Plan.

Die Kreuzfahrt hatten sie zur Feier ihres vierzigsten Hochzeitstags geplant; sie hatten sich ein Jahr lang darauf vorbereitet und noch länger dafür gespart. Zum letzten Weihnachten, vor fünf Monaten, hat Helen Conrad einen Wandkalender mit Fotos von Gletschern geschenkt und er ihr einen neuen Fleecepullover als Ersatz für ihren alten, der ganz abgenutzt war, weil sie ihn immer bei der Gartenarbeit getragen hatte. Sie hatten sich einen schweren Feldstecher zugelegt, den man sich um den Hals hängen konnte, und Helen hat jeden Artikel über Alaska, der in der Zeitung erschien, ausgeschnitten, in einen Briefumschlag gesteckt und mit der Post – mit der Post! – an Greta geschickt, versehen mit einem Klebezettel mit der Aufschrift »Zu deiner Information«, so, als würde sie an der Kreuzfahrt teilnehmen.

Der neue Fleecepullover – himmelblau und babyweich – befindet sich in Gretas Reisetasche, die gerade aufs Schiff gebracht wird. Ihre Mutter hat ihn keinmal getragen. Sie hatte ihn für die Reise aufgehoben.

Das Schiffshorn ertönt, die Schlange bewegt sich vorwärts. Die anderen vier Erwachsenen hinter ihr – wie Greta sie für sich immer noch nennt, obwohl sie inzwischen selbst sechsunddreißig ist – sind bereits dabei, Pläne zu schmieden. Gerade überlegen sie, ob sie am ersten Abend ins Casino gehen oder sich das Musical ansehen sollen. Die vier sind seit Ewigkeiten mit Gretas Eltern befreundet, und beide Paare gönnen sich die Kreuzfahrt ebenfalls, um etwas zu feiern: Die Fosters sind kürzlich in Rente gegangen, und die Blooms werden in diesem Jahr beide siebzig. Aber die treibende Kraft war Helen, sie hat alle anderen mit ihrer Begeisterung für diese Reise angesteckt.

Ein Steward geht an ihnen vorbei, dreht sich nach ein paar Schritten um und kommt zurück. Er zeigt auf Gretas Gitarrenkoffer, den sie sich, als sie aus dem Taxi gestiegen sind, über die Schulter geschlungen hat.

»Brauchen Sie Hilfe damit, Ma’am?«, fragt er, und sie zuckt innerlich zusammen, als er sie mit Ma’am anredet. Sie trägt ein kurzes schwarzes Kleid, Turnschuhe und Sonnenbrille. Die Haare hat sie sich zu einem losen Knoten hochgesteckt und ihre Lederjacke über den Arm gelegt. Sie ist es nicht gewohnt, mit Ma’am angesprochen zu werden.

»Nein, danke«, sagt sie. »Ich komm schon zurecht.«

»Das Ding würde sie nicht mal loslassen, wenn sie über Bord gehen würde«, knurrt ihr Vater.

»Kann ich gut verstehen«, sagt Davis Foster hinter Greta. Er hält sich einen Stadtplan von Vancouver über seine Glatze, um sie vor dem einsetzenden Nieselregen zu schützen. »Wäre doch ’ne Schande, die Gitarre zu verlieren.«

Greta kennt die Fosters, seit sie in ihr Nachbarhaus gezogen sind, als sie zwölf war. Sie waren die ersten Schwarzen im Viertel, und Greta hatte sich sofort in ihren jüngsten Sohn Jason verliebt, der auf dieselbe Schule ging wie sie, allerdings zwei Klassen über ihr. Nähergekommen sind sie sich erst viel später, nachdem sie beide nach New York gezogen waren, aber auch da war es nie etwas Ernstes und immer nur, wenn sie gerade nicht in einer Beziehung steckten. Ihre Eltern wissen nichts davon, und zwar aus gutem Grund. Wenn sie davon erfahren hätten, dann hätten sie sofort angefangen, die Hochzeit zu planen, und das ist das Allerletzte, was Greta oder Jason vorschwebt.

Davis deutet mit dem Kinn auf den Gitarrenkoffer. »Dafür würdest du auf eBay garantiert ein Vermögen bekommen«, flachst er, woraufhin seine Frau ihm einen vor den Latz knallt. Er tut so, als würde er sich vor Schmerzen krümmen. »War ein Scherz.«

Mary ist groß und schlank und dunkelhäutig, ihr Kurzhaarschnitt lässt ihre Augen riesig wirken. Gerade sind sie auf Greta gerichtet. »Wir wissen alle, dass die Gitarre in deinen Händen viel mehr wert ist«, sagt sie mit einem Blick, der etwas Mütterliches hat. Mary und Helen waren auf Anhieb Freundinnen. Davis hat den schmalen Weg, der die Gärten der beiden Familien verbindet, immer als schwarzes Loch bezeichnet, denn wenn eine der beiden Frauen, eine Flasche Wein in der Hand, über diesen Weg das Grundstück wechselte, blieb sie in der Regel stundenlang verschwunden.

Greta kann Marys Entschlossenheit, sie zu beschützen, förmlich spüren. Es ist tröstlich, so als wäre ihre Mutter im Geiste noch da.

»Weißt du was?«, fragt Eleanor Bloom sie mit ihrem leichten irischen Akzent und strahlt vor Freude über ihren Einfall. Sie trägt einen Designer-Regenmantel, und trotz der feuchten Luft sitzt ihr langes silbergraues Haar wie immer perfekt. »Du solltest auf dem Schiff einen kleinen Auftritt machen. Ich fände es toll, dich mal auf der Bühne zu erleben.«

»Ich weiß nicht …«, sagt Greta, obwohl sie es genau weiß – auf gar keinen Fall wird sie auf einem Kreuzfahrtschiff spielen. Das würde sie niemals tun, und schon gar nicht jetzt.

»Im Programm hab ich gesehen, dass es am letzten Abend eine Varietévorstellung gibt«, fährt Eleanor unbeirrt fort. »Da kann jeder mitmachen. Was glaubst du, wie die sich über einen echten Profi freuen würden.«

»Da treten nur Profis auf, Schatz«, sagt ihr Mann in seinem üblichen nachsichtigen Ton. Todd ist ein Vogelnarr; er verbringt die meisten Wochenenden in irgendwelchen Sumpfgebieten, um Reiher und andere Wasservögel zu beobachten. Einmal im Jahr veranstaltet der Ornithologische Verein, dem er angehört, eine Reise in irgendeine abgelegene Gegend, wo man die Vögel nur mit einem Fernglas beobachten kann, aber in Alaska war er noch nie. Er hat ein Vogelbestimmungsbuch unterm Arm, das schon ganz eselsohrig ist. »Die engagieren richtig gute Leute für diese Kreuzfahrten«, erklärt er Eleanor. »Komiker, Zauberer, Tanzgruppen.«

»Aber keine Rockstars«, sagt Eleanor. »Keine Leute wie Greta James.«

Letzteres sagt sie, als stünde Greta nicht höflich lächelnd neben ihr, als redete sie über jemand ganz anderen: Greta James, die Gitarristin, die als Indie-Singer-Songwriter massenhaft Fans begeistert, und nicht Greta James, die Tochter von Conrad und Helen, die in einer offenen Garage zwischen Regalen voller Werkzeug Gitarrespielen gelernt hat, mit Ashers Rennmäusen als einzigem Publikum – die er nicht im Haus halten durfte, weil sie stanken –, und die sich plötzlich wieder wie ein junges Mädchen vorkommt, während sie auf den Beginn dieses skurrilen Familienurlaubs wartet, wie ein schlechter Ersatz für das wichtigste Mitglied dieser Reisegruppe.

Ihr fällt ein Mann auf, der sich in einer anderen Schlange anstellt. Er sticht aus diesem Meer aus älteren Herrschaften und jungen Familien heraus. Er hat einen kurzen Bart und ein kantiges Kinn, und er trägt eine Brille, die entweder total nerdig oder total hip ist; schwierig zu sagen. Als sie sieht, dass er eine altmodische Schreibmaschine unter den Arm geklemmt hat wie einen Football, verdreht sie innerlich die Augen. Doch dann bemerkt er ihren Gitarrenkoffer, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sein schüchternes Lächeln zu erwidern. Im nächsten Augenblick ist er in der Menge verschwunden.

»Überleg’s dir«, sagt Eleanor gerade, und Greta wendet sich ihr wieder zu.

»Danke, aber –«

»Da steht sie inzwischen drüber«, bemerkt ihr Vater und hebt eine Braue. Es klingt nicht wie ein Kompliment.

Ein kurzes Schweigen entsteht, dann sagt Eleanor, bemüht, nicht enttäuscht zu klingen: »Na ja, wahrscheinlich hast du recht. War nur so ein Gedanke.«

»Nein, nein«, sagt Greta und schüttelt den Kopf. »Es ist einfach … Es kommt so selten vor, dass ich mal ein paar Tage frei hab …«

Dabei wissen alle so gut wie sie, dass sie in letzter Zeit nichts als Freizeit hatte.

Mary sieht Greta voller Bewunderung an. »Ich weiß noch, wie du in dieser Garage nächtelang geübt hast –«

Davis lacht laut auf. »Gott, war das furchtbar. Aber du warst wild entschlossen, das muss man dir lassen.«

»Genau«, sagt Eleanor und wendet sich wieder Conrad zu. »Wie viele Menschen haben schon das Glück, ihren Lebensunterhalt mit dem zu verdienen, wovon sie als Jugendliche immer geträumt haben? Du kannst wirklich stolz auf sie sein.«

Conrad dreht sich zu Greta um, ihre Blicke begegnen sich, und sie sehen einander lange an. Schließlich nickt er.

»Ja«, sagt er. »Wir sind sehr stolz auf sie.«

Was eine zweifache Lüge ist. Er ist nicht stolz auf sie. Und es gibt kein Wir mehr.

Kapitel 3

Die Kabine ist so winzig, dass sie, wenn sie auf der Bettkante sitzt, mit den Fingerspitzen die gegenüberliegende Wand berühren kann. Aber das stört Greta nicht. Sie lebt seit vierzehn Jahren in New York, wo Platz Luxus ist, und beherrscht die Kunst des platzsparenden Wohnens. Das größere Problem ist das Fehlen von Fenstern. Als sie die Reise gebucht hat, gab es nur noch Innenkabinen. Während Conrads Kabine über eine verglaste Balkontür verfügt, wirkt Gretas wie eine Gefängniszelle: klein und beigefarben und rein funktional.

Sieben Nächte, denkt sie. Es sind nur sieben Nächte.

Sie legt den Gitarrenkoffer aufs Bett. Dort liegt ein dicker schwarzer Ordner, der einen ausführlichen Reiseplan enthält. Den Rest des Abends und den ganzen nächsten Tag werden sie auf See sein und die Inside Passage befahren. Dann werden sie nacheinander Juneau, Glacier Bay, Haines und Icy Strait Point anlaufen, und auf der Rückfahrt nach Vancouver werden sie noch einmal einen ganzen Tag auf See verbringen.

Für jeden Hafen, den sie anfahren, gibt es ein laminiertes Blatt mit Empfehlungen für Stadtrundfahrten, Restaurants, Spaziergänge und Sehenswürdigkeiten. Außerdem enthält der Ordner eine lächerliche Menge an Informationen über das Schiff selbst: Deckpläne, Speisekarten, Anweisungen für Terminbuchungen im Spa, detaillierte Beschreibungen der Restaurants und Bars sowie sämtlicher Programmpunkte wie Lesungen und Spieleabende. Man könnte sich eine ganze Woche lang mit der Planung der einwöchigen Reise beschäftigen.

Greta klappt den Ordner zu. Das Schiff wird bald ablegen, und wenn es so weit ist, möchte sie nicht in seinem Bauch hocken. Wenn sie sich schon auf Kreuzfahrt begibt – und inzwischen sieht es ja danach aus, dass sie das tatsächlich tut –, will sie es mitbekommen, wenn es losgeht.

Genauso hätte ihre Mutter es schließlich auch gemacht.

An Deck, unter tief hängenden grauen Wolken, sitzen einige Passagiere dick eingemummelt auf Adirondack-Stühlen, aber die meisten stehen an der Reling und betrachten die Skyline von Vancouver oder die Berge auf der anderen Seite der Bucht. Greta findet einen Platz zwischen einem älteren Paar und einer Gruppe Frauen in pinkfarbenen T-Shirts mit dem Aufdruck Fünfzig ist das neue F-Wort, die lachend einen Flachmann rundgehen lassen.

Greta lehnt sich an die Reling und atmet tief ein. Es riecht nach Salzwasser und Fisch, und tief unten am Kai stehen winzige Figuren, die wie verrückt winken, so als würden die Passagiere an Bord sich auf eine gefährliche Expedition begeben statt auf eine achttägige Luxuskreuzfahrt.

Über ihnen kurven ein paar Möwen, und die Brise ist salzgesättigt. Greta schließt einen Moment lang die Augen, und als sie sie wieder öffnet, spürt sie, dass jemand sie ansieht. Sie dreht sich in die Richtung und sieht ein Mädchen von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren ein paar Meter weiter an der Reling stehen. Sie hat hellbraune Haut und schwarzes Haar, und sie blickt Greta mit zusammengekniffenen Augen an.

»Hi«, sagt Greta.

Das Mädchen reißt die Augen auf, begeistert und zugleich verlegen. Sie trägt pinkfarbene Sneakers und Skinny Jeans mit Löchern an den Knien.

»Sind Sie … Greta James?«, fragt sie unsicher.

Greta hebt belustigt die Brauen. »Ja.«

»Wusste ich’s doch!« Das Mädchen lacht überrascht auf. »Wow. Cool. Echt krass. Ich kann’s nicht glauben, dass Sie auf diesem Schiff sind.«

»Ehrlich gesagt, ich auch nicht«, sagt Greta.

»Ich steh total auf Ihr Album. Und letztes Jahr war ich auf Ihrem Konzert in Berkeley.« Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus. »Sie lassen echt die Fetzen fliegen, ey. So hab ich noch nie ’ne Frau abrocken sehen.«

Greta muss lächeln. Sie hätte nie gedacht, dass es eine Schnittmenge gibt zwischen Leuten, die auf Kreuzfahrt gehen, und Leuten, die ihre Konzerte besuchen. Sie füllt große Konzertsäle, ihre Songs werden im Radio gespielt, und sie hat Fans auf der ganzen Welt; sie war sogar schon auf den Titelblättern verschiedener Musikzeitschriften. Aber außerhalb von New York oder Los Angeles wird sie kaum jemals auf der Straße erkannt, schon gar nicht von einem so jungen Mädchen.

»Machst du auch Musik?«, fragt sie das Mädchen, das begeistert nickt. Dabei wirkt sie weder verlegen noch bescheiden, die Antwort lautet schlicht und einfach: Ja. Sie macht Musik.

Greta erinnert sich noch gut, wie sie in dem Alter war, voller Selbstvertrauen, als sie feststellte, dass eine Gitarre mehr ist als ein Spielzeug, ja mehr noch als einfach nur ein Instrument. Sie wusste, dass die Gitarre ihr eine Tür öffnete und sie talentiert genug war, um es damit weit zu bringen.

Ihr Vater hat ihr ihre erste Gitarre gekauft. Da war Greta acht. Eigentlich war das Instrument ein Geschenk für Asher gewesen, denn der war da schon zwölf, aber der interessierte sich schon damals für kaum etwas anderes als Football. Es war eine Westerngitarre, sie war gebraucht und eigentlich viel zu groß für Greta; sie würde Jahre brauchen, bis sie groß genug war dafür. Manchmal blieb Conrad, wenn er von der Arbeit kam, vor der offenen Garage stehen, eine brennende Zigarette in der Hand, und sah ihr dabei zu, wie sie versuchte, die Töne zu finden. Wenn sie ein paar richtige traf, klemmte er sich die Zigarette zwischen die Lippen und klatschte Beifall.

Damals war er noch begeistert davon, dass sie spielte. Damals war Musik noch kein kontroverses Thema zwischen ihnen. Jeden Abend nach dem Abendessen legte er eine alte Billy-Joel-Platte auf, und beim Geschirrspülen sangen sie laut »Piano Man« mit, während Helen lachte und Asher die Augen verdrehte.

Das Mädchen kratzt an der abblätternden Farbe der Reling. »Ich versuch grade, ›Birdsong‹ zu schaffen«, sagt sie. Birdsong ist eins der weniger populären Stücke auf Gretas EP, und die Entscheidung für dieses Stück macht das Mädchen Greta noch sympathischer.

»Das ist ziemlich kompliziert.«

»Ich weiß«, sagt das Mädchen. »Viel komplizierter als ›Told You So‹.«

Greta lächelt. Told You So war das erste Stück ihres Debütalbums, das als Single herauskam, und inzwischen ist »Was hab ich dir gesagt« so populär, dass es selbst Leute kennen, die noch nie von Greta James gehört haben.

»Du stehst wohl nicht so auf die Mainstream-Sachen, was?«

Das Mädchen nickt ernst. »Ich steh mehr auf Stücke, die ehrlicher sind«, sagt sie.

Greta lacht. »Alles klar.«

Als eine Schiffssirene zweimal laut dröhnt, zucken alle an Deck zusammen und sehen sich um. Die Motoren lassen das gigantische Schiff vibrieren und bringen das Wasser tief unter ihnen zum Schäumen. Irgendwo knackt es in unsichtbaren Lautsprechern.

»Guten Tag, liebe Passagiere«, ertönt eine knarzende Stimme. »Hier spricht Kapitän Edward Windsor. Ich möchte Sie alle herzlich an Bord willkommen heißen. Bevor wir den Hafen verlassen, werden wir eine kurze Sicherheitsbelehrung durchführen. Bitte holen Sie Ihre Schwimmwesten und begeben Sie sich an Ihre Sammelstelle.«

Alle Leute setzen sich in Bewegung, und das Mädchen sieht sich um. »Ich geh mal lieber zu meinen Eltern. War super, Sie kennenzulernen. Vielleicht treffe ich Sie ja noch mal?«

Greta nickt. »Wie heißt du?«

»Preeti.«

»Hat mich auch gefreut, dich kennenzulernen, Preeti«, sagt sie. »Ich halte Ausschau nach dir, wenn ich mal fachsimpeln will, okay?«

Preeti strahlt, dann hebt sie die Hand zum Abschied und läuft los.

Greta holt ihre Schwimmweste aus der Kabine und trifft als Letzte ihrer Gruppe an der Sammelstelle ein. Ihr Vater zieht missbilligend die Brauen zusammen, als er sieht, wie lässig sie die Schwimmweste über eine Schulter geworfen hat. Er war im Vietnamkrieg Marineoffizier im Pazifik und nimmt solche Dinge sehr ernst.

Greta ist umgeben von einem Meer aus leuchtendem Orange; alle haben ihre Schwimmwesten an, sogar Davis Foster, der über zwei Meter groß ist und so breite Schultern hat, dass die Weste an ihm aussieht wie ein Exemplar für Kleinkinder. Greta zieht sich ihre Weste über den Kopf, hakt die Verschlüsse ein und hofft, dass sich nicht noch mehr Fans in der Menge befinden. Dass sie jemand mit Schwimmweste fotografiert, hat ihr gerade noch gefehlt.

»Auch wenn Sie wahrscheinlich nie in eine Notlage geraten werden, ist es wichtig, vorbereitet zu sein«, verkündet ein Mann, der sich als ihr Deckmanager vorstellt.

Hinter ihm sieht Greta die orangefarbenen Aufbauten der Rettungsboote, die am Rand des Schiffs aufgereiht sind wie Baumschmuck. Seelenruhig beschreibt der Mann die Katastrophen, die in dieser schwimmenden Stadt schlimmstenfalls – wenn auch höchst unwahrscheinlich – passieren können. In demselben Tonfall hat der Arzt mit ihr über das Aneurysma ihrer Mutter gesprochen, nachdem Greta darauf bestanden hatte, mit ihm zu telefonieren – am Flughafen in Berlin, wo sie gerade während eines Festivals vor Zehntausenden Fans aufgetreten war. Da lag ihre Mutter schon im Koma, und die Diskrepanz zwischen dem, was der Arzt sagte, und der Gelassenheit, mit der er sprach, war so krass, dass Greta am liebsten ihr Handy quer durch die Abfertigungshalle geworfen hätte.

»Sollten Sie zufällig beobachten, dass eine Person über Bord geht«, sagt der Mann gerade beinahe gut gelaunt, »werfen Sie ihr einen Rettungsring zu, rufen Sie laut ›Mann über Bord!‹ und informieren Sie sofort ein Besatzungsmitglied.«

Die Leute lachen leise, schließen flüsternd Wetten darüber ab, wer als Erster über Bord gehen wird. Davis packt Mary so plötzlich an den Schultern, dass sie aufschreit. Eleanor ergreift ängstlich Todds Hände, aber Todd beobachtet gerade einen kleinen, schillernden Vogel, der über den schmalen Streifen Himmel fliegt, den man vom Zwischendeck aus sehen kann.

»Eine Purpurschwalbe«, murmelt er fasziniert, während er unter der Schwimmweste nach seinem Fernglas nestelt, doch als er es endlich an die Augen hebt, ist der Vogel schon weg.

Greta fummelt an den Gurten ihrer Weste und sieht sich um. In einiger Entfernung entdeckt sie in der Menge den Mann, der vorhin die Schreibmaschine unterm Arm hatte. Gerade hebt er sein Handy, um diese Sicherheitsbelehrung und das Drumherum zu fotografieren. Dann lässt er das Handy wieder sinken und fängt an, etwas in die Tastatur einzugeben. Greta fragt sich, wem er die Fotos wohl schickt. Dann fragt sie sich, warum sie sich darüber Gedanken macht.

»Du hörst ja überhaupt nicht zu«, raunt ihr Vater ihr zu und versetzt ihr einen Rippenstoß, und als der Mann in ihre Richtung blickt, kommt sie sich vor wie eine Zwölfjährige. Doch er lächelt nur, dann wenden beide ihre Aufmerksamkeit wieder dem Deckmanager zu, der immer noch detailreich alle Gefahren beschreibt, in die sie vielleicht – aber nicht wahrscheinlich – in den kommenden acht Tagen geraten können.

Kapitel 4

Obwohl so viel von Büfetts geredet wurde, hat Gretas Vater für den ersten Abend für alle einen Tisch im elegantesten Restaurant des Schiffs gebucht. Um eine Tanzfläche herum erstreckt sich ein gedämpft beleuchtetes Meer aus weißen Tischdecken. Durch die Fenster dringt diesiges Licht. Hier im hohen Norden geht die Sonne erst nach neun unter, und der Abendhimmel färbt sich gemächlich erst rosa, dann orange, dann grau.

»Also, Greta«, sagt Eleanor Bloom, als ihre Getränke gebracht werden. Sie trägt einen eleganten schwarzen Hosenanzug und war schon beim Frisör.

Greta findet schon lange, dass Eleanor eigentlich viel zu mondän ist für ihr spießiges Viertel in Columbus, Ohio. Sie hat Todd vor Jahrzehnten in New York kennengelernt, wo sie mit ein paar Freundinnen aus Dublin ein paar Tage verbrachte. Er war dort wegen einer Versicherungskonferenz, und beide sind am Times Square in ein Gewitter geraten. Greta hat sich schon immer gefragt, wie ein Mann wie Todd – sehr gutmütig, aber extrem langweilig – es geschafft hat, eine Frau wie Eleanor dazu zu bewegen, seinetwegen aus Irland in die USA zu ziehen. Aber anscheinend war ihr erster Mann ein Albtraum, und bei Todd hat sie wohl eine Beständigkeit gefunden, die ihr den Raum zum Glänzen bietet. Was sie mit Vergnügen ausnutzt. »Wie sieht’s aus mit deinem hinreißenden Freund?«

Greta trinkt langsam einen Schluck Wein, während sie überlegt, was sie antworten soll. Sie haben sich vor drei Monaten getrennt, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, trotzdem bringt die Frage nach ihrem Freund sie ganz durcheinander. Ebenso wie das Wort hinreißend. Greta fallen alle möglichen Adjektive ein, um Luke zu beschreiben – intelligent und reizbar, sexy und unerträglich –, aber hinreißend gehört wirklich nicht dazu.

»Na ja, wir …«, setzt sie an. Dann trinkt sie noch einen Schluck Wein. »Wir haben uns entschlossen …«

»Sie haben sich getrennt«, sagt Conrad etwas gezwungen heiter. »Habt ihr die E-Mail nicht gekriegt?«

Greta spürt, wie ihre Wangen heiß werden. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie Conrad gekränkt hat. Sie und Luke haben sich kurz nach der Beerdigung getrennt, in einer Phase, als sie und ihr Vater kaum geredet haben. Aber sie wollte, dass er es erfuhr, und zwar von ihr selbst, ehe Asher es ausplaudern konnte, und deswegen hatte sie ihm eine E-Mail geschrieben.

Er hatte nicht darauf geantwortet, und weder er noch sie haben seitdem ein Wort darüber verloren.

»Oh, das tut mir leid«, sagt Mary. Als sie sich ein Brötchen aus dem Korb nimmt, klimpern ihre Armreifen. Greta ist noch nie jemandem begegnet, der so viel mit den Augenbrauen ausdrücken kann wie Mary Foster. Jetzt gerade sind sie bis zum Haaransatz hochgezogen. »Deine Mutter hat ihn sehr gemocht.«

Das stimmt zwar überhaupt nicht, aber sie hat Verständnis für die Bemerkung.

Ihre Eltern sind Luke nur zweimal begegnet. Das erste Mal auf der Party anlässlich der Veröffentlichung ihres Debütalbums in New York, aber da hat sie ihn nur als ihren Produzenten vorgestellt, aus Angst, sie könnten ihn sonst aus den verschiedensten Gründen ablehnen – wegen der Zigarette hinter seinem Ohr, den Tattoos auf beiden Armen, wegen seines australischen Akzents oder seinen verächtlichen Bemerkungen, wenn jemand über eine Band redete, die er für zweitklassig hielt.

»Wir haben schon so viel von Ihnen gehört«, hatte Gretas Mutter an dem Abend mit einem tapferen Lächeln gesagt, während sie ihm die Hand schüttelte. »Und das Album ist großartig. Die Musik, die Sie beide machen, ist einfach wunderbar.«

Worauf Luke laut loslachte. Greta sieht immer noch Conrads Gesicht vor sich, die Enttäuschung in seinen Augen, als er begriff.

Das zweite Mal war am 4. Juli. Inzwischen waren sie fest zusammen, und sie nahm ihn zu den Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstags mit nach Columbus. Zwei Tage lang machte er alles richtig: Er sammelte zusammen mit Gretas Nichten beim Festtagsumzug Bonbons auf, er half ihrer Mutter, jede Menge Muffins mit winzigen amerikanischen Flaggen zu dekorieren (in einen steckte er eine australische Flagge), und er schenkte ihrem Vater eine Flasche von seinem Lieblingswhisky. Er schaffte es sogar, sich mit Conrad über dessen Job als Anzeigenrequisiteur für die Gelben Seiten zu unterhalten, ohne durchblicken zu lassen, dass längst kein Mensch mehr die Gelben Seiten benutzte.

Am letzten Morgen traf sie ihn auf der Veranda an, wo er gerade versuchte, den kaputten Grill zu reparieren; er stand darüber gebeugt, wie er sonst über das Mischpult im Studio gebeugt die Regler betätigte, bis ihre Songs einigermaßen so klangen, wie sie sie in ihrem Kopf hörte, und sie wunderte sich darüber, dass so etwas Alltägliches wie das Hantieren mit dem Grill immer noch so sexy sein konnte.

Später, als sie auf das Flugzeug warteten, das sie zurück nach New York bringen sollte, legte er einen Arm um ihre Schultern und sagte: »Ich freue mich auf zu Hause«, und als sie murmelte: »Ich auch«, legte er mit einem tiefen Seufzer den Kopf in den Nacken. »Wenn das mein Leben wär – ich würd mir die Kugel geben.«

Dasselbe denkt Greta natürlich auch jedes Mal, wenn sie ihre Eltern besucht. Und genau aus diesem Grund hat sie als junges Mädchen Abend für Abend in der eiskalten Garage Gitarre gespielt, genau aus diesem Grund ist sie zum Studium nach Südkalifornien an der Westküste gegangen und hinterher auf direktem Weg von dort nach New York. Genau das hat sie all die Jahre angetrieben – die Angst festzuhängen, die Angst vor dem Stillstand, vor der Mittelmäßigkeit. Und es treibt sie heute noch an, auch wenn dadurch die Mauer zwischen ihr und ihrem Vater immer höher wächst, Backstein für Backstein, einer für jede Facette ihres unkonventionellen Lebens, einer für jede Entscheidung, die sie weiter weg von Ohio brachte, weg von einem Acht-Stunden-Job und einem Bausparvertrag und einem weißen Lattenzaun, weg von der Art, wie sich das Leben ihres Bruders entwickelte – nämlich wie das Leben der meisten Leute –, zuerst ein fester Beruf, dann die Hochzeit und schließlich die Kinder, alles auf Sicherheit ausgerichtet und vorhersagbar.

Aber Luke diesen Gedanken aussprechen zu hören – Luke, der nur aus Einmachgläsern trinkt, der immer eine Strickmütze trägt, selbst im Sommer, der bei Wind und Wetter eine Zigarette anzünden kann und die Texte aller ihrer Songs aufsagen kann –, das war zu viel.

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte sie, während sie durch das Fenster zusah, wie ihr Flugzeug ganz langsam an die ziehharmonikaartige Fluggastbrücke andockte. Es wunderte sie immer wieder von Neuem, dass man innerhalb weniger Stunden von Columbus, Ohio, nach New York gelangen konnte, denn meistens kam es ihr vor, als existierten die beiden Orte auf verschiedenen Planeten.

Luke richtete sich leicht auf. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte er, und sein australischer Akzent kam stärker durch, wie immer, wenn er abfällige Bemerkungen macht. »Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie du das als Kind ausgehalten hast, von jetzt ganz zu schweigen.«

»Ich sag ja auch nicht, dass ich zurückwill – ich sag nur, dass es so schlimm nicht ist.«

»Was? Die Siedlung, wo deine Eltern wohnen?«

»Nein, sie zu besuchen.«

»Mich trennen fünfzehntausend Kilometer von meinen Eltern«, sagte er grinsend, »und das reicht immer noch nicht.«

Damals wusste sie es nicht, aber das war der erste Schnitzer.

Mary, die ihr gegenübersitzt, sieht sie immer noch erwartungsvoll an.

»Es hat nicht sollen sein«, sagt Greta.

»Oder du wolltest es einfach nicht mehr«, sagt ihr Vater.

»Conrad«, ermahnt ihn Mary in genau demselben Ton, den Helen angeschlagen hätte, und Greta schenkt ihr ein dankbares Lächeln. Aber es ist keine Überraschung. Und es ist auch nicht neu.

Sie wendet sich ihrem Vater zu, der ein zerknittertes Hemd trägt, jetzt, da ihre Mutter ihm die Hemden nicht mehr bügelt. Er sieht sie auf dieselbe Weise an, wie er es schon seit zwanzig Jahren tut: als wäre sie eine Rechenaufgabe, die er nicht lösen kann.

»Was ist?«, fragt er scheinheilig, so als wollte er nicht denselben Streit vom Zaun brechen, den sie schon tausendmal hatten. Es geht nicht um Luke. Es geht nicht einmal um die Frage, wann sie sich endlich häuslich niederlässt und heiratet, obwohl das dazugehört. Es geht darum, dass sich das Leben, das er sich für sie wünscht, grundsätzlich von dem Leben unterscheidet, das sie sich selbst wünscht; und die Musik ist das Vehikel, das sie immer weiter von seinen Vorstellungen wegträgt.

»Du mochtest ihn doch noch nicht mal«, sagt Greta, und obwohl sie es leichthin sagt, schwingt etwas Stahlhartes in ihrer Stimme mit.

»Aber du mochtest ihn«, entgegnet Conrad. »Und deswegen versteh ich nicht, was passiert ist.«

Passiert ist, würde sie am liebsten antworten, dass ihre Mutter gestorben ist. Passiert ist, dass Helen in ein Koma gefallen und die Welt untergegangen ist.

Aber das ist natürlich nur ein Teil davon. Das ist die Ursache.

Und das ist die Wirkung: Greta war mitten in einem Konzert, einem einstündigen Auftritt bei einem Musikfestival in Berlin, und als ihr Bruder immer und immer wieder versucht hat, sie anzurufen, ist Luke irgendwann rangegangen. Bis ihr Auftritt beendet war, hatte er ihr bereits einen Flug nach Columbus gebucht.

»Nur für mich?«, hat sie ihn ganz benommen von dem Schock gefragt, als sie mit Luke hinter der Bühne stand, immer noch ganz verschwitzt und aufgeputscht, immer noch unfähig, die Nachricht aufzunehmen.

Ihre Frage schien ihn zu wundern, was lächerlich war, schließlich waren sie seit zwei Jahren ein Paar, und sie dachte, dass man in solchen Situationen gemeinsam handelt, dass das der Sinn einer Partnerschaft war.

»Na ja«, sagte er und fuhr sich durchs Haar. Die nächste Band war auf die Bühne gegangen, und draußen vor dem Zelt tobte der Applaus. »Ich meine, das ist doch ’ne Familienangelegenheit, oder? Ich war mir nicht sicher, ob du mich dabeihaben willst.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Du fliegst also einfach zurück nach New York, oder wie?«

»Nein«, sagte er, und wenigstens besaß er den Anstand, sich zerknirscht zu zeigen. »Ich dachte, wo ich schon mal hier bin, bleib ich bis zum Ende des Festivals.«

Das ist passiert, würde sie jetzt gern sagen.

Oder zumindest: Damit hat es angefangen.

Luke hat das Streichholz angezündet, aber Greta war diejenige, die eine Woche später alles abgebrannt hat. Aber das kann sie ihrem Vater nicht sagen. Also sagt sie stattdessen: »Es ist kompliziert.«

Conrad hebt die Brauen. »Wieso kompliziert? Es war das Übliche. Du lernst jemanden kennen, bist eine Weile mit ihm zusammen, dann fängst du an, dich zu langweilen und machst Schluss.«

»Du siehst das zu einfach, Dad.«

»Klar.«

Greta lässt den Wein in ihrem Glas kreisen. Sie haben vier Zuhörer, und allen vieren ist die Situation zunehmend unangenehm. »Manchmal spielt das Leben einem übel mit.«

»Das liegt daran, dass dein Leben beziehungsuntauglich ist.« Er nimmt seine Speisekarte und schlägt die Seite mit den Vorspeisen auf. »Eine Beziehung passiert nicht einfach. Man muss ihr Raum geben.«

»Mir gefällt mein Leben«, sagt sie zähneknirschend.

»Na, das sollte es aber auch«, sagt Davis, und als sich ihm alle zuwenden, fügt er achselzuckend hinzu: »Stimmt doch. Sie hat ganz objektiv ein fantastisches Leben.«

Als junger Mann war Davis Pianist in einem Jazz-Trio, und er hat zahllose Geschichten von den alten Zeiten in Chicago zu erzählen, von mit Freunden durchzechten Nächten. Greta weiß, dass er ein glückliches Leben führt – er liebt seine Frau, und er hat drei erwachsene Kinder, die alle ganz großartig sind, und bis er vor wenigen Wochen in Rente gegangen ist, war er der beliebteste Briefträger des Viertels –, aber wenn die Sprache auf ihr Leben als Musikerin kommt, bekommt er diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck zwischen Neid und Wehmut.

Der Kellner erscheint, sie bestellen und geben ihre Speisekarten ab, und Greta denkt, das Thema ist beendet. Doch dann fängt Conrad, der die ganze Zeit in sein Whiskyglas gestarrt hat, wieder von vorne an.

»Du weißt doch, dass ich nur dein Bestes will, oder?«, fragt er, und in dem Moment sieht er so alt und unglücklich aus, dass Greta beinahe Ja gesagt hätte. Aber sie bringt es nicht fertig.

»Nein«, sagt sie. »Du willst, dass ich so ein Leben führe wie Asher.«

»Ich möchte nur, dass du glücklich bist.«

»Du möchtest, dass ich heirate und mich häuslich niederlasse. Das ist nicht dasselbe«, entgegnet sie.

Mary schiebt ihren Stuhl zurück und legt ihre Serviette auf den Tisch. »Wisst ihr was?«, fragt sie. »Ich glaube, wir beide tanzen mal ein Ründchen.«

»Vor dem Essen?«, fragt Davis entgeistert.

»Ja«, antwortet sie bestimmt, und die Blooms stehen ebenfalls auf.

»Wir auch«, sagt Eleanor und nimmt Todds Hand. »Ich brauch ein bisschen Bewegung.«

»Ich kann keinen Walzer«, protestiert Todd, folgt ihr aber trotzdem auf die Tanzfläche.

Greta und Conrad sehen erst einander an und betrachten dann den Tisch – die hingeworfenen Servietten, die leeren Brotteller, die mit Lippenstift beschmierten Weingläser –, bis Greta am liebsten losprusten würde. Stattdessen räuspert sie sich und sagt: »Hör zu, ich weiß, du wünschst dir, ich wäre mehr wie Asher, aber –«

»Das ist es nicht –«

»Komm schon«, sagt sie etwas freundlicher. »Mom ist nicht mehr da, wir können also wenigstens ehrlich miteinander umgehen.«

Er seufzt. »Du willst also, dass ich ehrlich zu dir bin?«

»Ja«, antwortet Greta mit etwas Überwindung.

»Also gut.« Er dreht sich so auf seinem Stuhl, dass er ihr besser gegenübersitzt. Das Licht hinter ihm ist weich und verschwommen, und unter den Tänzern, die sich in den Fensterscheiben spiegeln, sieht sie Davis, der Mary herumwirbelt. Sie zwingt sich, Conrad anzusehen, der die gleichen grünen Augen hat wie sie, den gleichen undurchdringlichen Blick. »Du weißt, dass deine Mutter dein größter Fan war –«

»Dad«, sagt Greta. Sie hat einen Kloß im Hals, denn auch wenn sie es war, die ihre Mutter ins Spiel gebracht hat, findet sie es gemein, dass er sich jetzt auf sie beruft. »Nicht.«

»Was nicht?«, fragt er verblüfft.

»Es geht nicht um sie«, sagt Greta. »Es geht um dich und mich.«

»Ganz genau«, sagt er kopfschüttelnd. »Ich weiß, dass sie das mit deiner Musik besser verstanden hat als ich, aber sie hat sich auch Sorgen gemacht.«

Greta bemüht sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Er soll ihr nicht anmerken, wie sehr sie das trifft. Sie hat es schon vor langer Zeit aufgegeben, ihn überzeugen zu wollen, und es irgendwann hingenommen, dass er von ihren Träumen nichts hält. Im Gegensatz zu ihrer Mutter. Und das hat ihr gereicht.

»Du weißt ja nicht, wovon du redest«, sagt sie.

»Sie war dein größter Fan«, wiederholt er, und auf einmal scheint er ganz weit weg zu sein. »Aber sie hat sich auch Sorgen um dich gemacht. Weil du immer allein bist und immer auf Achse und dich im Musikgeschäft durchschlagen musst, das voller Unwägbarkeiten ist. Sie hat es vielleicht besser überspielt als ich, aber es war nicht so … Nicht nur ich hatte immer meine Bedenken. Sie auch.«

Greta sitzt still da und lässt seine Worte auf sich wirken. Nach einer Weile beugt er sich vor, sein Gesichtsausdruck hat sich verändert.

»Es tut mir leid«, sagt er. »Ich wollte dich nicht –«

»Schon gut.«

Das Stück endet, und es wird begeistert applaudiert. Conrad räuspert sich. »Ohne sie hatten wir beide es noch nie leicht miteinander, nicht wahr?«

»Ja«, sagt sie. »Das stimmt.«

»Und jetzt ist es noch schwieriger.«

Sie nickt, überrascht, wie schnell sich ihre Augen mit Tränen füllen.

Aber er hat recht. Es ist alles schwieriger, jetzt.

»Aber ich freue mich, dass du mitgekommen bist«, sagt er, und Greta muss lachen.

Conrad legt den Kopf schief. »Was ist?«

»Ich habe gerade gedacht, ich hätte nicht mitkommen sollen.«

»Tja«, sagt er achselzuckend. »Ich bin trotzdem froh, dass du’s getan hast.«

»Wirklich?«, fragt sie und mustert ihn eingehend, doch dann kommen die Fosters und die Blooms zurück an den Tisch; sie sind ganz aufgekratzt vom Tanzen. Der Kellner bringt den Salat, draußen wird es dunkler, und das Schiff fährt in die Nacht hinaus, und erst später fällt Greta auf, dass er ihre Frage gar nicht beantwortet hat.

Kapitel 5

Nach dem Essen geht Greta in ihre Kabine. Sie setzt sich im Schneidersitz auf ihre Koje, die Gitarre auf den Knien. Die anderen haben sich entschlossen, ihr Glück im Casino zu versuchen, aber das Gebimmel und Gescheppere all der Spielautomaten wäre nach so einem Tag zu viel für Greta gewesen.

Ein Plektron zwischen den Lippen, stimmt sie ihre alte akustische Martin. Diese Gitarre nimmt sie selten mit auf Reisen, sie ist sperriger als die schlanken E-Gitarren, die sie für ihre Auftritte benutzt. Aber sie begleitet sie schon seit ewigen Zeiten, und sie hat etwas Tröstliches, wie ein altes, zerlesenes Buch. Greta hat sie sich während des Studiums gekauft, von dem jahrelang gesparten Trinkgeld, das sie als Kellnerin im Olive Garden bekam. Und obwohl sie inzwischen Dutzende Gitarren besitzt – die meisten schlank und glatt und voller kraftvoller Soundmöglichkeiten –, greift sie immer noch häufig zu diesem guten alten Stück und genießt es, die Töne zu spüren, die durch ihren Körper strömen wie Erinnerungen.

Sie schlägt einen Akkord an, und der Klang ist in der Enge der Kabine hell wie ein angezündetes Streichholz. Nach ein paar weiteren Akkorden wird ihr bewusst, dass sie die ersten Takte von »Astronomy« gespielt hat. Sie hebt die Hände, als hätte sie etwas Heißes angefasst, und die Stille kehrt zurück wie die Ebbe nach der Flut.

Bisher ist das Stück mehr ein Phantom als ein Song. Sie hat auf dem Heimflug aus Deutschland angefangen, es zu schreiben, noch ganz überwältigt von der Nachricht, dass ihre Mutter ein Aneurysma hatte. Sie konnte keinen Schlaf finden. Als sie versuchte, etwas zu trinken, zitterten ihre Hände. Der Himmel draußen war pechschwarz und beunruhigend sternlos. Ihr Magen revoltierte.

Sie schloss die Augen und dachte an die im Dunkeln leuchtenden Sterne, die an der Decke ihres Kinderzimmers geklebt hatten, daran, wie ihre Mutter jedes Mal auf die Sterne zeigte, nachdem sie ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte. Die Erinnerung hatte etwas Hoffnungsvolles, und sie nahm ihr Notizheft heraus und fing an zu schreiben, versuchte die Dunkelheit mit jeder Zeile ein bisschen weiter von sich wegzuschieben, und es war wie ein Gebet.

Nachdem sie den Atlantik überquert hatten, hatte sie eine ganze Seite Text, und in ihrem Kopf spukte eine Melodie herum. Der Song handelte davon, dass man seinen eigenen Weg im Leben finden musste, aber in Wirklichkeit war er – wie alle Songs – viel persönlicher, eine Erinnerung daran, wie sie als Kind mit ihrer Mutter im Bett gelegen und unter den leuchtenden Sternen über sich ihren Geschichten gelauscht hatte.

Der Song war noch nicht fertig, aber er war wie der Beginn von etwas Neuem.

Nur von was?

Als sie jetzt zu spielen beginnt, geht sie gezielter vor. Sie lässt die Anfangsmelodie von »Prologue« erklingen, dem ersten Stück ihres neuen Albums, das demnächst herauskommt. Diesen Song will sie auf dem Governors-Ball-Festival am kommenden Wochenende zum ersten Mal spielen. Es ist ein ganz anderes Stück, schnell und explosiv, und selbst von der akustischen Gitarre aus erfüllt es die ganze Kabine.

Sie weiß, der Song wird ihr Comeback sein. Ihre Chance auf Erlösung. Und doch kommt er ihr schon jetzt vor wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, etwas, das sie in einem anderen Leben geschrieben hat, als ihre Mutter noch lebte und sie selbst voller Zuversicht war.

Es klopft an der linken Kabinenwand. Sie hört auf zu spielen. Nach ein paar Minuten fängt sie wieder an, diesmal leiser. Aber dann klopft es wieder, diesmal nachdrücklicher. Seufzend legt Greta die Gitarre aufs Bett, nimmt den Fleecepullover ihrer Mutter vom Haken an der Tür und verlässt die Kabine. Sie hat plötzlich das dringende Bedürfnis nach frischer Luft.

Draußen herrscht immer noch Dämmerlicht, alles ist neblig und grau. Greta geht über das Promenadendeck, bis sie eine ruhige Stelle an der Reling findet. Sie lehnt sich vor, der Wind lässt ihre Augen tränen. Tief unter ihr ein weißer Streifen schäumendes Wasser entlang des Schiffsrumpfs, und die Bugwellen breiten sich aus, bis sie im Nebel verschwinden. Sie werden den ganzen nächsten Tag auf dem Schiff verbringen, müssen auf dem Meer ausharren bis zum nächsten Morgen, wenn sie in Juneau einlaufen. Es kommt Greta vor wie eine Ewigkeit.

»Ich muss die ganze Zeit an die Titanic denken«, sagt jemand.

Greta dreht sich um und sieht den Schreibmaschinenmann an der Reling stehen. Er trägt eine grüne wasserdichte Jacke mit Kapuze, und sein braunes Haar ist vom Wind zerzaust.

»Die echte oder die aus dem Film?«

»Ist doch egal, oder?«, antwortet er grinsend. »Die sind schließlich beide untergegangen.«

Eine Weile betrachten sie schweigend den dunkler werdenden Himmel. Als Greta sich von der Reling abstößt und zurück in ihre Kabine gehen will, blickt er wieder in ihre Richtung.

»Irgendwie seltsam, oder?«

»Was?«

Er zuckt die Achseln. »Weiß auch nicht. Hier draußen zu sein. Auf einem Schiff. Im Dunkeln. Mitten auf dem Meer rumzudümpeln. Hat irgendwie was Einsames.«