Die Unsterblichen - Anne Boyer - E-Book

Die Unsterblichen E-Book

Anne Boyer

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Beschreibung

Ein wütendes Manifest gegen den Umgang mit Krankheit, ausgezeichnet mit dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis. Eine Woche vor ihrem 41. Geburtstag wird der preisgekrönten Dichterin Anne Boyer ein hoch aggressiver Brustkrebs diagnostiziert. Für die alleinerziehende Mutter, die sich von Scheck zu Scheck hangelt, ist diese katastrophale Erkrankung ein Anstoß, Sterblichkeit und die Geschlechterpolitiken von Krankheit neu zu denken. Boyer beginnt, sich schreibend mit dem Krebs und dem gesellschaftlichen Umgang damit auseinanderzusetzen. Die Unsterblichen ist zugleich erschütternder Bericht einer Überlebenden sowie eine groß angelegte Untersuchung von Krankheit im 21. Jahrhundert. Anne Boyer zieht antike Traumtagebücher zurate, analysiert die Kapitalisierung heutiger Gesundheitsversorgung, beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien rund um Krebs, mit Schmerz und wie man über ihn sprechen kann, aber auch mit selbsternannten Doloristen, die den Schmerz befürworten, mit Krebsfetischisten und den Lügen großer Unternehmen; sie unterzieht John Donne einer erneuten Lektüre, erfährt, dass ihr Chemotherapie-Medikament vor über hundert Jahren als Senfgas in Produktion ging, und findet schließlich Antworten in der Literatur anderer Autorinnen, die über ihre Erkrankungen und den nahenden Tod geschrieben haben: Kathy Acker, Audre Lorde, Susan Sontag, Virginia Woolf. Alle Genregrenzen weit hinter sich lassend, hat Anne Boyer ein zutiefst berührendes und poetisches Buch über Krankheit im gegenwärtigen Kapitalismus geschrieben.

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Anne Boyer

DIE UNSTERBLICHEN

Krankheit, Körper, Kapitalismus

Aus dem amerikanischen Englisch von

Daniela Seel

INHALT

Prolog

Die Tempelschläfer:innen

Geburt des Pavillons

Krankenbett

Wie das Orakel hielt

Lügen

Im Tempel der Tränen Giulietta Masinas

Vertanes Leben

Deathwatch

Epilog

Anmerkungen

Bibliografie

Selbst nicht, wenn ich zehn Zungen und zehn Münder hätte.

– Homer, Ilias

PROLOG

1972 dachte Susan Sontag über einen Essay nach, der »Über das Sterben von Frauen« oder »Frauentode« oder »Wie Frauen sterben« heißen sollte. In ihrem Tagebuch findet sich unter dem Stichwort Material eine Liste mit elf Toden, darunter der Tod von Virginia Woolf, der Tod von Marie Curie, der Tod von Jeanne d’Arc, der Tod von Rosa Luxemburg und der Tod von Alice James.1 Alice James starb 1892 mit 42 Jahren an Brustkrebs. In ihrem eigenen Tagebuch beschreibt sie den Tumor als »diese unheilige granitene Substanz in meiner Brust«.2 Sontag zitiert die Passage später in Krankheit als Metapher, dem Buch, das sie nach ihrer eigenen Brustkrebsbehandlung, diagnostiziert 1974 mit 41 Jahren, schrieb.3

Krankheit als Metapher nimmt Krebs nicht persönlich. Sontag schreibt »ich« und »Krebs« nicht im selben Satz. Bei Rachel Carson wird 1960 Brustkrebs festgestellt, als sie an Silent Spring arbeitet, einem der wichtigsten Bücher zur Kulturgeschichte von Krebs. Sie ist 53 Jahre alt. Auch Carson spricht nicht öffentlich über den Krebs, an dem sie 1964 stirbt.4 Tagebucheinträge aus der Zeit von Sontags Krebsbehandlung sind rar, und den wenigen, die sich finden, merkt man an, wie stark Brustkrebs das Denken beeinträchtigt, insbesondere durch die Chemotherapie, die schwere und langfristige kognitive Schäden verursachen kann. Im Februar 1976, während ihrer Chemotherapie, notiert Sontag: »Ich brauche eine mentale Turnhalle.«5 Der nächste Eintrag folgt Monate später, im Juni 1976: »Wenn ich wieder Briefe schreiben kann, dann …«6

In Jacqueline Susanns Roman Das Tal der Puppen aus dem Jahr 1966 stirbt eine Figur namens Jennifer, die sich vor einer Brustamputation fürchtet, nach ihrer Diagnose an einer freiwilligen Überdosis. »Mein ganzes Leben lang«, sagt Jennifer, »hat das Wort Krebs Tod, Schrecken und etwas so Fürchterliches bedeutet, dass es mich schaudern ließ. Und jetzt habe ich ihn. Aber das Komische daran ist, dass mir der Krebs selbst kein bisschen Angst macht – selbst wenn er sich als mein Todesurteil erweisen sollte. Es geht mir nur darum, wie er sich auf mein Leben […] auswirkt.«7 Auch die feministische Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman, Brustkrebsdiagnose 1932, begeht Selbstmord: »Ich habe Chloroform dem Krebs vorgezogen.«8 Jacqueline Susann, diagnostiziert mit 44, stirbt 1974 an Brustkrebs, dem Jahr von Sontags Diagnose.

Bei der Dichterin Audre Lorde wird 1978 Brustkrebs festgestellt, auch mit 44. Anders als bei Sontag kommen bei Lorde die Worte »ich« und »Krebs« zusammen vor, vor allem in ihren berühmten Krebstagebüchern, in denen sie über ihre Diagnose und Behandlung reflektiert und festhält: »Ich möchte nicht, dass dieser Bericht nur von Leiden spricht. Ich möchte nicht, dass dieser Bericht nur von Tränen spricht.«9 Die vom Brustkrebs ausgelöste Krise »untersucht sie wie Kriegerinnen auf eine weitere zwar unerwünschte, aber nützliche Waffe«.10 Lorde stirbt 1992 an Brustkrebs.

Wie Lorde schildert die britische Schriftstellerin Fanny Burney, die ihren Brustkrebs 1810 entdeckt, ihre Brustamputation aus Ich-Perspektive. Ihre Brust wird ohne Betäubung entfernt. Sie ist während der gesamten Operation bei Bewusstsein.

… nicht tage- oder wochen-, sondern monatelang konnte ich über dieses grässliche Geschäft nicht sprechen, ohne es wieder durchleben zu müssen! Nicht einmal daran denken konnte ich ungestraft! Ich war krank, die kleinste Frage brachte mich durcheinander – sogar jetzt noch, 9 Monate später, bekomme ich Kopfweh, wenn ich an meinem Bericht sitze! Und dieser erbärmliche Bericht …11

»Aphoristisch schreiben«, notiert Sontag in ihr Tagebuch, als sie darüber nachdenkt, wie sie in Krankheit als Metapher über Krebs schreiben soll.12 Brustkrebs beunruhigt ein »ich«, das »von diese[m] grässlichen Geschäft« sprechen und »diese[n] erbärmliche[n] Bericht« abgeben will. Dieses »ich« wird manchmal vom Krebs zum Verschwinden gebracht und manchmal vorsorglich von dem Menschen, für den es steht, sei es durch Selbstmord, sei es durch Trotz, der es verbietet, »ich« und »Krebs« zusammenzudenken:

»Bei [geschwärzt] wurde 2014 Brustkrebs diagnostiziert, mit einundvierzig.«

Oder:

»Bei mir wurde 2014 [geschwärzt] diagnostiziert, mit einundvierzig.«

Bei der Schriftstellerin Kathy Acker wird 1996 Brustkrebs diagnostiziert, mit 49. »Ich werde diese Geschichte so erzählen, wie ich sie kenne«, beginnt »Das Geschenk der Krankheit« – ein ungewöhnlich offener Krebsbericht, den sie für den Guardian schrieb: »Es kommt mir immer noch komisch vor. Keine Ahnung, warum ich es überhaupt erzähle. Sentimental war ich nie. Vielleicht nur um zu sagen, es ist passiert.« Acker weiß nicht, warum sie die Geschichte erzählen soll und tut es doch: »Letzten April wurde bei mir Brustkrebs festgestellt.«13 Acker stirbt daran 1997, keine 18 Monate nach der Diagnose.

Obwohl Brustkrebs jede:n mit Brustgewebe treffen kann, sind es vor allem Frauen, die seinen Katastrophen zum Opfer fallen. Sie suchen Frauen heim als früher Tod, schmerzvoller Tod, Behinderungen infolge der Behandlung, Behinderungen als Spätfolgen der Behandlung, Verlust von Partner:innen, Einkommen und Leistungsfähigkeit; doch diese Katastrophen kommen auch aus dem gesellschaftlichen Unterboden der Krankheit – ihrer Klassenpolitik, ihren geschlechtsspezifischen Markierungen und rassenspezifischen Sterblichkeitsraten, ihrem rotierenden Wust aus wirren Anweisungen und brutalen Mystifizierungen.

Es gibt nur wenige Krankheiten mit ähnlich katastrophischen Folgen für Frauen wie Brustkrebs und noch weniger bringen ein vergleichbares Repertoire an Leid mit sich. Und dies betrifft nicht nur die Krankheit selbst, sondern auch, was thematisiert wird und was nicht beziehungsweise ob überhaupt etwas thematisiert wird oder nicht, und wie. Brustkrebs ist eine Krankheit, die auf verstörende Art nach der Form fragt.

In Reaktion darauf kommt es häufig zu konkurrierenden Unkenntlichmachungen und Interpretationen und Korrekturen dieser Unkenntlichmachungen. Für Lorde, eine schwarze, lesbische, feministische Dichterin, ist es der Krebs, der unkenntlich macht, und das Schweigen um die Krankheit wendet sie ins Politische: »Meine Arbeit besteht darin, das Schweigen zu bewohnen, mit dem ich bisher gelebt habe, und es mit mir selbst zu füllen, bis es wie hellster Tag und lautester Donner klingt.«14 Für Sontag, eine großbürgerliche, weiße Kulturkritikerin, betrifft die Unkenntlichmachung das Persönliche. Wie sie unter möglichen Titeln für das, was Krankheit als Metapher werden sollte, festhielt: »Nur über sich selbst nachzudenken heißt, über den Tod nachzudenken.«15

Ein vierter Titel, den Sontag für ihr nie ausgeführtes Buchprojekt in Erwägung zog, war Frauen und Tod. Sie behauptet: »Frauen sterben nicht füreinander. Es gibt keinen ›schwesterlichen‹ Tod.«16 Aber Sontag hat Unrecht, denke ich. Ein schwesterlicher Tod wäre nicht, dass Frauen füreinander sterben: Das wäre ein paralleler, entfremdeter Tod. Ein schwesterlicher Tod wäre, wenn Frauen daran sterben, Frauen zu sein. Die queere Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die ihre Brustkrebsdiagnose 1991 mit 41 erhielt, schrieb über die Brustkrebskultur und ihren erschreckenden, brutalen Zwang zur Geschlechtlichkeit. Angesichts ihrer Diagnose habe sie gedacht: »Scheiße, jetzt muss ich wohl wirklich eine Frau sein.«17 Wie S. Lochlann Jain im Kapitel »Krebs-Butch« ihres Buches Malignant. How Cancer Becomes Us formuliert: »[E]in reizendes Diagnöschen droht dich reinzusaugen, in den archetypischen Tod, den der weibliche Körper stempeln geht.«18 Sedgwick stirbt 2009 an Brustkrebs.

Frauen sterben vielleicht nicht, wie Sontag behauptet, füreinander, doch ihre Brustkrebstode bleiben nicht ohne Opfer. Was wir zugunsten des Gemeinwohls aufgeben sollen, zumindest in unserer »Bewusstseins«-Ära, dieser lukrativen, mit rosa Schleifen verzierten Alternative zu »Heilung«, ist weniger das eigene Leben als die eigene Lebensgeschichte. Dem Schweigen um Brustkrebs, dem Lorde begegnete, entspricht heute der unablässige Sprachlärm, den Brustkrebs erzeugt. Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, in ein Schweigen hineinzusprechen, sondern darin, Widerstand gegen das alles übertönende Rauschen zu üben. An die Stelle von Sontags und Carsons Unwillen, sich selbst mit der Krankheit in Verbindung zu bringen, wie es dem Schweigen um Brustkrebs seinerzeit entsprach, ist heute eine Pflicht für die betroffenen Frauen geworden, es ständig zu tun.

Obwohl ich, wie Acker, von mir behaupten möchte, nicht sentimental zu sein, verbindet dieser Satz mich und meinen Brustkrebs in einer, wenn nicht sentimentalen, so doch ideologischen Geschichte:

»2014 wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert, mit 41.«

Die Frage nach der Form ist also auch eine politische. Eine ideologische Geschichte ist immer eine, bei der ich, wie Acker, nicht weiß, warum ich sie erzählen soll, und es doch tue. Dieser Satz mit seinem »ich« und »Brustkrebs« speist ein »Bewusstsein« von bedrohlicher Allgegenwart. Schweigen ist nicht mehr die größte Hürde bei der Suche nach Heilung, wie Jain beobachtet: »Das Überall von Krebs führt heute zu einer Brühe des Nirgends.«19

In die rosarote Landschaft des Brustkrebsbewusstseins wird regelmäßig nur eine Art von Menschen, die Brustkrebs hatten, zugelassen: die Überlebenden. Diese Gewinner:innen machen berichtend Beute. Die Geschichte des eigenen Brustkrebses zu erzählen heißt, eine Geschichte des Überlebens zu erzählen, ganz im Sinne des neoliberalen Selbstmanagements – eine Geschichte darüber, wie man das atomisierte Individuum richtig spielt, selbstuntersucht und -mammografiert, und einer dank Wohlverhalten, 5-km-Läufen, grünen Bio-Smoothies und positivem Denken geheilten Krankheit. Wie Ellen Leopold in ihrer Geschichte des Brustkrebses A Darker Ribbon zeigt, ändern sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1990er-Jahren auch die Erzählkonventionen zu Brustkrebs: »[D]ie äußere Welt gilt als gegeben, eine Kulisse, vor der sich das eigene Drama abspielt.«20

Nur über sich selbst nachzudenken, heißt also nicht, nur über den Tod nachzudenken, sondern, unter diesen Umständen, über einen bestimmten Typ von Tod oder todesartigem Zustand, der keine Politik, kein gemeinschaftliches Handeln, keine Geschichtsschreibung kennt. Die industrielle Brustkrebsätiologie, die misogyne und rassistische Medizingeschichte und -praxis sowie die nach Bevölkerungsschichten ungleiche Verteilung von Brustkrebsleiden und -sterben kommen in der gegenwärtigen Brustkrebserzählung nicht vor. Nur über sich selbst nachzudenken, mag heißen, über den Tod nachzudenken, aber über den Tod nachzudenken heißt, über alle nachzudenken. Wie Lorde formulierte: »Ich trage eine Liste mit Namen von Frauen, die nicht überlebt haben, in mein Herz tätowiert, und da ist immer noch Platz für einen weiteren Namen – meinen eigenen.«21

1974, im Jahr ihrer Brustkrebsdiagnose, notiert Sontag in ihr Tagebuch: »Ich habe erkannt, dass mein Denken bisher sowohl zu abstrakt als auch zu konkret war. Zu abstrakt: Tod. Zu konkret: ich.« Daraufhin führt sie »einen Begriff dazwischen, der sowohl abstrakt als auch konkret« ist, ein. Dieser Begriff – angesiedelt zwischen ich und dem eigenen Tod, dem Abstrakten und Konkreten – ist »Frauen«. »Und dadurch«, sagt Sontag, »hat sich eine ganz neue Welt des Todes vor mir aufgetan.«22

DIE TEMPELSCHLÄFER:INNEN

1.

Als die Radiologietechnikerin den Raum verlässt, drehe ich meinen Kopf Richtung Bildschirm, um jegliches Neoplasma, die Nervennetzwerke, die kleinen beleuchteten Schriften, die meine Pathologie und/oder Zukunft und bevorstehendes Ende verzeichnen könnten, auszudeuten. Der erste Tumor, den ich je sah, war eine runde Verdunklung auf diesem Bildschirm, aus der ein rissiger Finger ragte. Von meinem Untersuchungstisch aus machte ich ein Foto davon mit meinem iPhone. Dieser Tumor war mein eigener.

Krank sein, in dieser plötzlichen Erfahrung überschnitten sich Klinik und Empfindung. Ich trug dasselbe grüne Trägershirt zu abgeschnittenen Jeans wie jeden Sommer. Dann Überraschung, dann Fachbegriffe, unerbittlich und überzeugend, die die Klimakontrolle heißlaufen ließen, diese ernste Frau im grauen Anzug, emphatisch im Blick auf den Untergang, dann Panik, klinische Details, erstaunte GChats mit meinen Freund:innen. Eine Ermittlerin tritt in mein Leben, rausgeputzt wie eine ganze Institution, sagt, sie ermitteln bezüglich Empfindungen, die jemand (ich) bisher noch nicht erfahren musste, aber nun erfahren wird.

Dinge und Handlungen aus einer Ordnung herauszunehmen und sie als Elemente einer anderen Ordnung neu zu klassifizieren, ist wie Wahrsagerei. Einer Wahrsagerin zeigen Vögel, die nach Norden fliegen, künftiges Glück an und Teeblätter erzählen von zwei Liebenden und der Dritten, die ihnen Verderben bringt. Danach ist Vogelflug frei von der Bedeutung »Zug«, und Tee, der zu einer Erzählung über das bevorstehende Ende einer Liebe wurde, wollen wir nicht mehr trinken.

Ein Ding oder mehrere aus einer Ordnung herauszunehmen und sie als Elemente einer anderen neu zu klassifizieren, hat auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Diagnostik, die unseren Körpern Informationen entnimmt und das, was aus unserem Inneren kam, dann in einer Ordnung neu bestimmt, die uns von fernher aufgedrängt wird. Mein Knoten gehörte einmal zu mir, doch sobald die Radiologin ihn als BI-RADS 5 eingestuft hatte, wurde er zum Tumor, für immer heimisch in der Ordnung der Onkologie.1 Wie die vom Sinn ihres Fliegens befreiten Vögel und der befreite Tee ist ein Mensch mit Diagnose befreit von dem, was sie einmal als sich begriffen hat.

Mit Bestimmtheit für krank erklärt zu werden, während man sich mit Bestimmtheit gesund fühlt, bedeutet, gegen die Härte von Sprache zu prallen, ohne auch nur eine Stunde weicher Unbestimmtheit zu erhalten, um sich darin mit präventiver Sorge à la Jetzt hast du keine Lösung für ein Problem, jetzt hast du einen konkreten Namen für ein Leben, das entzweibricht zu beruhigen. Eine Krankheit, die sich nicht darum scherte, sich den Sinnen anzukündigen, erstrahlt in ihrem Bildschirmleben, da Licht Schall ist und Information, verschlüsselt, unverschlüsselt, in Umlauf, analysiert, bewertet, erforscht und verkauft. Auf den Servern zerfällt oder verbessert sich unsere Gesundheit. Früher waren wir in unseren Körpern krank. Heute sind wir krank in einem Körper aus Licht.

Willkommen, Messgeräte mit Namen aus Buchstaben: MRT, CT, PET. Ohrenschützer auf, Kittel an, Kittel aus, Arme rauf, Arme runter, einatmen, ausatmen, Blut abnehmen, Kontrastmittel spritzen, Zauberstab rein, Zauberstab an, bewegen oder bewegt werden – Radiologie macht aus einem Menschen aus Fleisch und Blut eine Patientin aus Licht und Schatten. Es gibt leise Radiologietechniker:innen, lautes Rattern, warme Decken, Piepen wie im Film.

Ein Bild in einer Klinik ist keins: Es ist Bildgebung. Wir, die wir durch die Ultraschallwellen und ihre Momentaufnahmen, durch Lichttricks und Bestrahlungen, durch fantastische spritzbare Kontrastmittel zu Patient:innen werden, sind kraft der mir durch das universelle Einen-Körper-zu-haben-Gesetz zufallenden Macht ab heute die Bildgeblinge zu nennen. »Kommen Sie mit einer vollen Blase«, sagen die Radiologietechniker:innen am Telefon zu den Bildgeblingen, sie wollen in unser interessantes Inneres sehen. Derselbe Ultraschall, der ein neues Leben in einer Gebärmutter finden kann, kann darin auch embryonischen Tod finden.

Wir werden krank und unsere Krankheit fällt unter die harte Hand der Wissenschaft, fällt auf Objektträger souveräner Mikroskope, fällt in süße Lügen, fällt in Mitleid und PR, fällt in neue Browserfenster und neue Bücher im Regal. Und dann ist da dieser Körper (mein Körper), der kein Gefühl für Unbestimmtheit hat, ein Leben, das aufbricht unter der fremden Terminologie der Onkologie, dann in den Riss dieser Sprache hinein, fällt.

Es gibt Menschen, die sich in ihren Körpern unwohl fühlen und nichts tun, und es gibt Menschen, die sich in ihren Körpern unwohl fühlen und ihre Symptome in Suchmaschinen eingeben und nichts weiter. Dann gibt es Menschen, die es sich leisten können, das, was wehtut, unter Expert:innen herumzureichen, die mit Diagnoseangeboten wetteifern. Diese Gruppe von Menschen verfolgt eine Reihe Symptome auf ein Versprechen hin, fragt nach Tests, bezweifelt Antworten, nimmt weite Strecken in Kauf, um Spezialist:innen zu konsultieren, die vielleicht erkennen können, was los ist.

Wenn Symptome lange genug herumgereicht werden, wird einer Schar Beschwerden vielleicht die Gnade eines Namens zuteil: eine Krankheit, ein Syndrom, eine Empfindlichkeit, ein Suchbegriff. Manchmal ist das Heilung genug – als genügte es, sich berufen zu können, um etwas wieder gut zu machen. Jemandem ein Wort zu geben, um sein:ihr Leiden zu bezeichnen, ist manchmal die einzige Behandlung dafür.

In einer Welt, wo sich so viele Menschen so unwohl fühlen, gibt es einen geläufigen vagen Zustand des Sich-krank-Fühlens, der zumindest die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft der Nichtnäher-Bezeichneten gewährt. Beschwerden ohne Diagnose formen eine Gefühlslandschaft aus undefinierten Schmerzen und körperlichen Gebrechen, die von keiner Kategorie Krankheit in Zaum gehalten werden. Die Art von Krankheit, die keinen Namen hat, ist die Art, die in der Schwebe gehalten wird oder im Geläufigen oder abgeschoben in eine Nachbarschaft zur Psychiatrie.

Ein Körper, der unter unerklärlichen Beschwerden leidet, zeigt sich der Medizin in der Hoffnung auf ein Vokabular, um von seinem Leiden zu sprechen. Wenn diesem Leiden keine hinreichende Sprache entgegengebracht wird, müssen die daran Leidenden gemeinsam eine erfinden. Solche Kranken ohne Diagnose haben eine Literatur namenloser Krankheiten hervorgebracht, eine Poesie sogar, und ein Narrativ ihrer Suche nach Antworten. Als Reaktion auf das, woran Medizin versagt, hecken sie Diäten aus, probieren Einschränkungen ihres Lebensstils, und in diesem Mix aus Ernährungskuren, regulierender Schonung und rotierenden Arztkontrollen vagabundieren Gesundheit und Krankheit aus dem Gebiet der Medizin, widerstehen Leiden wie Heilung.

Krebs dagegen taucht selten ohne Ankündigung auf. Krebs wirbelt herein in einer Welle von Spezialist:innen und Spezialtechnologie. Er erreicht uns durch Kontrolle und Erklärung. Unsere Sinne sagen uns fast nichts über unsere Krankheit, aber die Ärzt:innen verlangen von uns zu glauben, dass das, was wir weder sehen noch fühlen können, uns umbringen kann, und so glauben wir.

»Sie erzählen mir«, sagte ein alter Mann im Infusionszimmer der Chemotherapie zu mir, »dass ich Krebs habe, aber«, er flüsterte jetzt, »ich habe da so meine Zweifel.«

Doch wir wussten, dass etwas nicht stimmte, dass die Welt (katastrophal) nicht stimmte, dass wir (katastrophal) nicht stimmten, dass etwas (irgendetwas) überall katastrophal nicht stimmte.

Wir waren krank im Glanz völliger Gesundheit und völlig gesund in einer krank machenden Welt.

Wir waren einsam und doch unfähig, die notwendigen Bindungen einzugehen, um unsere Einsamkeit zu überwinden.

Wir waren überarbeitet, doch unsere Arbeit berauschte uns.

Ich dachte, ich sei (in gewisser Hinsicht) krank geworden, dass mir (in gewissem Sinn) unwohl sei, dass ich kollabierte in einem Anfall faustischen Größenwahns inmitten einer Welt aus Teufelspakten.

2.

Aelius Aristides, ein griechischer Rhetor, geboren zur Zeit Kaiser Hadrians, versuchte seine Krankheit dadurch zu heilen, dass er auf Äskulap, dem Gott der Heilkunst, geweihtem Boden schlief und den Einsagungen seiner Träume folgte. Aristides, der mit 26 Jahren erkrankte, lebte jahrelang unter den Tempelschläfer:innen im Äskulaptempel in Pergamon. Die Kranken warteten dort auf göttliche Weisungen, die sich ihnen im Schlaf offenbarten, und folgten ihnen, wenn sie erwachten. Heute schlafen wir in heiligen Stätten, deren Götter wir vergessen haben, mit Statistik als unserer heimlichen Mystik.

Unser Jahrhundert glänzt mit der Erzeugung von Alpträumen und versagt bei der Deutung von Träumen. Im Schlaf breche ich zusammen mit einem Onkologen, der meinen Kleidungsstil lobte, bei Whole Foods am Lake Merritt in Oakland ein. Oder Madonna besucht zwei meiner Seminare mit nackten Brüsten. Ich habe in einem Dorf zu tun und schleppe zu viel Ausrüstung mit, Prominente sind da, aber ich erinnere mich nicht, wer. Ich gerate in eine Diskussion über Gott und die Welt und ein Mann, mit dem ich diskutiere, schickt mir eine Nachricht: »Ich rätsele noch, aus welchem Zentrum du kommst.«

Jemand mit frischer Diagnose und Internetzugang wird zum:zur Informationstempelschläfer:in. Prognosen suchen uns heim wie ein niederer Gott. Wir verbringen den Tag in den Abgrund des Bildschirms starrend, die schiere Menge beklemmt, versuchen durch die Stäbe aus Diagrammen zu atmen, den Kopf voll mit Stichprobenumfang und Überlebenskurven, die Augen schwer, der Körper ehrfürchtig vor der Mathematik.

Der frisch gelegte Chemoport schmerzt. Die Schwestern erzählen mir, wenn man jung ist, schmerzen Chemoports mehr. Sie erzählen mir, dass alles an Krebs, wenn man jung ist, scheinbar mehr schmerzt. Ich widerstehe Baden und Körperpflege, höre auf, mich frei zu bewegen. An die anderen Körperteile denke ich nicht, daran, zu was sie weiterhin fähig sind, denn der eine, der schmerzt, blendet die anderen aus dem Bewusstsein aus. Jemand schickt mir einen Link zu einem Krebsheilmittel aus Backsoda. Eine ehemalige Studentin fragt mich per E-Mail, ob ich Saftfasten kenne.

Aelius Aristides schreibt sein Buch über die ihm von Äskulap gesandten Träume, Hieroi Logoi, in den frühen 170er-Jahren, viele Jahre nach seiner Erkrankung und während der bangen späten Regierungszeit Marc Aurels.2 Äskulap war, heißt es, der Sohn einer Sterblichen und Appollons, der von einem Zentaur aufgezogen und in der Heilkunst unterrichtet wurde. In einer Version der Geschichte ist Äskulap ein so erfolgreicher Arzt, dass Hades ihn aus Angst vor einer leeren Unterwelt töten lässt. Hieroi Logoi ist aber nicht nur ein Protokoll seiner Orakelträume, sondern auch ein autobiografischer Bericht darüber, was es heißt, einen Körper zu haben, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Heilige Träumer:innen trugen Papyrus in den Inkubationsraum: Römer:innen, scheint es, hatten Träume, um sie aufschreiben zu können. Aristides gibt an, in seinem Traumtagebuch, das ihm als Rohmaterial für sein Buch dient, über 300.000 Zeilen aufgezeichnet zu haben. Gelehrte nennen das Tagebuch, das wir nie werden lesen können, später »die verworfene Art«, eine Geschichte zu erzählen.3

Auch das Tibetische Totenbuch enthält Weisungen, wie man Träume als prognostische Botschaften deuten kann. Seine Autor:innen prophezeien den Tod, wenn man träumt, von Krähen oder gepeinigten Geistern umgeben zu sein, von einer Horde Toter mitgeschleift zu werden, nackt zu sein mit abgeschnittenem Haar. Durch die Krebsbehandlung bin ich oft halb nackt und ohne Haar. Auf PubMed suche ich unterdessen nach Indizien für meine verbleibende Lebenszeit, und je mehr ich lese, desto mehr überkommt mich die Angst, irgendwo unterwegs zu sterben, während einer dieser teuren und teuflischen Therapien, dann wechseln sich über Stunden Statistiken mit Online-Shopping und Perückenrezensionen ab – alles unbefriedigend. Ich stelle mir Unmengen künstliches Zeug an mir vor, dann Unmengen anderes künstliches Zeug in mir, dann Unmengen mir noch bevorstehendes künstliches Zeug, dann weitere Unmengen künstliches Zeug, das sich bildet, dann wieder andere Unmengen künstliches Zeug, das sich zurückbildet.

Der griechische Arzt Galen schrieb, Aristides habe zu jenem seltenen Typ Mensch gehört, der eine starke Seele, aber einen schwachen Körper hat. Aristides schrieb, lehrte und redete weiter, noch als »sein ganzer Körper dahinsiechte«4. Ich google meine Krankheit und fühle mich allein in der Surrealität ihrer ungeheuren Erzeugungskraft. Obwohl es zur Stärke meiner Seele keine Meinungen gibt, bin ich ein normaler Typ Mensch, was heißt, dass ich meinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen muss. Also schreibe, lehre und rede auch ich weiter, als ich krank bin. In den kurzen Pausen, die meine To-do-Liste mir lässt, forsche ich verzweifelt dem Tod nach, der einen Studie, die mir sagt, dass ich leben werde. Ich habe einen hyperrealistischen Todestraum, weiß aber, dass ich seinen Weisungen nicht folgen darf. Ich wache auf und suche nach der Ausnahme für meinen sterblichen Körper. Ich lese die Ergebnisse eines Prognoserechners, LifeMath5, schlafe wieder ein, träume vom Tod in seinen Kurven.

An dem Tag, als ich ihn bemerkte, schrieb ich an der Geschichte, an der ich immer schrieb, darüber, wie wir wieder zusammen waren und es nicht sein sollten und ich hoffte, wir könnten bald damit aufhören. Wir waren nicht glücklich. Wir konnten nie zusammen sein, ohne ins Bett zu gehen. Wir konnten nie miteinander ins Bett gehen und glücklich sein. Wir konnten nie glücklich sein, wenn wir nicht zusammen waren, und darum waren wir immer zusammen, traurig und im Bett. Wir kannten uns seit Jahren und unser Kennen hatte die Form eines strapazierfähigen Netzes aus Wir sollten nicht angenommen, in dem sich beiderseits extravagante Ausprägungen selbst zugefügten Leids verfingen.

Zuerst kam der Sex, dann der Befund, dann fuhren wir Rolltreppe zum Ticketschalter im Kino, dann telefonierte ich mit meiner Ärztin wegen eines Termins, dann schrieb ich in mein Tagebuch, dass ich hoffte, wir kämen endlich dem Punkt näher, an dem unser beider Gegenwart auf dieser Erde uns nicht mehr unglücklich macht. Ich schrieb nicht, dass wir ein Ding in meiner Brust gefunden hatten oder wie der Actionfilm hieß, den wir ansahen, nachdem wir das Bett verlassen hatten.

Meine Angst kam nicht vom Krebs, über den ich damals fast nichts wusste. Meine Angst kam aus einer Suchmaschine. Ich fürchtete mich vor dem, was Google ausspuckte, als ich »Knoten in der Brust« eingab, fürchtete mich vor der Krankheitskultur, die in Blogs und Foren florierte, fürchtete mich davor, wie Menschen zu Patient:innen gemacht wurden, mit Karteinummern und Unterschriften, mit Leiden, Neologismen und Zusprüchen. Mets. Foobs. NED.6 Ich fürchtete, am ersten Tag, um meinen Wortschatz.

Von all dem, was passiert war, notierte ich mit akribischer Vermeidung nur die Nebensächlichkeiten, die eine unternimmt, die sich aus einem Grund fürchtet, den sie unterschlägt: wie ich Wäsche wusch, den Boden wischte, Betten machte, mir schwor, über eine verfahrene Liebe wegzukommen; ich erzählte mir eine Geschichte, um eine andere nicht erzählen zu müssen.

Man sagt uns, Krebs sei ein Eindringling, der bekämpft werden muss, oder ein falscher Charakterzug oder ein überambitionierter Zelltyp oder eine Analogie auf den Kapitalismus oder ein Naturphänomen, mit dem man leben muss, oder ein Sachwalter des Todes. Man sagt uns, er sei in unserer DNA, oder man sagt uns, er sei in der Welt, oder man sagt uns, er siedle in einer verstrickten Mixtur aus Genen und Umwelt, die niemand dingfest machen kann oder will. Man gibt uns von allen Wahrscheinlichkeiten nur die lärmende Hälfte, die seine Ursachen in uns selbst sehen will, und nie die stille Seite, dass seine Quellen die von uns geteilte Welt durchdringen. Unsere Gene werden geprüft, unser Trinkwasser nicht. Unser Körper wird untersucht, aber nicht unsere Luft. Man sagt uns, er niste in den Verwirrungen unserer Gefühle, oder man sagt uns, er niste in den Zwangsläufigkeiten unseres Fleischs. Man sagt uns, es gebe einen Unterschied zwischen krank und gesund, zwischen akut und chronisch, zwischen leben und sterben. Die Krebsnachrichten erreichen uns über dieselben Bildschirme wie die Wahlnachrichten, in E-Mails, zeitgleich mit Einladungen zu LinkedIn. Die rigorosen Markierungen der Radiolog:innen sind dieselben wie die von Drohnenpilot:innen. Das Bildschirmleben von Krebs entspricht dem Bildschirmleben von jeglichem medial vermittelten globalen Terror und auch seiner Unwirklichkeit.

Krebs fühlt sich nicht wirklich an. Krebs fühlt sich an wie ein Alien, das unsere industriell-kapitalistische Gegenwart zum Kontakt treibt: mittel-astral, semi-sinnlich, ganz Entsetzen. Die Krebsbehandlung ist wie ein Traum, aus dem wir nur halb erwachen, um festzustellen, dass Halbschlaf ein weiteres Kapitel im Buch dieses Traums ist, eines Traums, der Zeugnis und Gefäß für Wachen und Schlafen ist, jegliche Freude und allen Schmerz, den unerträglichen Widersinn und mit ihm allen eruptierenden Sinn, jeder Moment des Traums zu unermesslich, ihn zu vergessen, und jede Erinnerung Amnesie.

Die Brustchirurgin sagte, der größte Risikofaktor für Brustkrebs sei es, Brüste zu haben. Sie wollte mir den Erstbefund der Biopsie nicht mitteilen, wenn ich allein käme. Meine Freundin Cara arbeitete für zehn Dollar die Stunde und konnte nicht freinehmen, ohne Geld zu verlieren, das sie zum Leben brauchte, also fuhr sie in ihrer Mittagspause raus zu der Vorortpraxis, damit ich meine Diagnose bekam. Wenn du nicht Kind oder Elternteil des- oder derjenigen oder mit ihm oder ihr verheiratet bist, gewährt das Gesetz in den USA niemandem, frei zu nehmen, um sich um dich zu kümmern.7 Wenn du außerhalb der Einfriedung namens Familie geliebt wirst, kümmert es das Gesetz nicht, wie sehr – selbst mit der gesamten nicht beurkundeten Liebe der Welt um dich musst du noch leben, als sei deine Pflege gestohlene Zeit. Als Cara und ich im oberlichthellen Beige des Sprechzimmers saßen und auf die Ärztin warteten, gab Cara mir das Springmesser, das sie in ihrem Portemonnaie trug, damit ich mich unter dem Tisch daran festhalten konnte. Was die Ärztin nach diesem bühnenhaften Vorspiel sagte, war, was wir schon wussten: Ich hatte mindestens einen Tumor, 3,8 Zentimeter groß, in meiner linken Brust. Ich gab Cara ein schweißklammes Messer zurück. Dann fuhr sie wieder zur Arbeit.

Den Rest des Befunds erhielt ich, nachdem ich von der Chirurgin zum Onkologen überwiesen worden war. In Siddhartha Mukherjees Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie ist es die Königin von Persien – Atossa –, die zur exemplarischen Brustkrebspatientin wird und aus dem Jahr 500 v. Chr. durch die Zeit reist auf der Suche nach Behandlungsmöglichkeiten. Bei diesem ersten Besuch beim Onkologen – auch mein erstes Mal in einem Wartezimmer voller Chemotherapiepatient:innen, keine:r davon königlich – erschien mir Mukherjees Gedankenexperiment einer fixen, zeitlosen, aristokratischen Leidenden, die austauschbare Medizinhistorien besucht, als anschauliches Sinnbild für die Unterlassungen unserer gegenwärtigen Krebskultur. Krebs ist keine in einem ahistorischen, sich in einer Kurve technologischen Fortschritts vorwärts bewegenden Körper verewigte Gleichförmigkeit.8 Kein:e Patient:in ist souverän, und alle Leidenden, die von der Krebstherapie wie die von den erschöpfenden Pflegeroutinen gezeichneten, sind auch von unseren historischen Umständen gezeichnet, die sich in einem spezifischen Geflecht sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen zeigen.

Die Geschichte der Krankheiten ist nicht die Geschichte der Medizin – es ist die Geschichte der Welt –; und die Geschichte davon, einen Körper zu haben, könnte gut auch die Geschichte davon sein, was den meisten von uns im Interesse weniger zugemutet wird.