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Venedig 1725: Im kalten Wasser eines Kanals wird eine der berühmtesten Frauen der Stadt ermordet aufgefunden. Kurz darauf wird der bekannte Maler Canaletto dem Dogen vorgeführt. Dieser interessiert sich brennend für ein Gemälde Canalettos, das den Fundort der Toten zeigt – und eine Szene, die eine bedeutende venezianische Familie in gefährliche Schwierigkeiten bringen könnte. Im Auftrag des Dogen soll Canaletto die Hintergründe seiner gemalten Beobachtung erforschen – und deren Zusammenhang mit dem Mord. Seine Nachforschungen führen den Maler in illustre Kreise, in denen seltsame Rituale stattfinden und sich zwielichtige Gestalten herumtreiben. Schon bald wird deutlich, dass hinter den Mauern der venezianischen Paläste viele Geheimnisse verborgen sind. Und manche dürfen niemals ans Licht kommen …
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Venedig 1725: Im kalten Wasser eines Kanals wird eine der berühmtesten Frauen der Stadt ermordet aufgefunden. Kurz darauf wird der bekannte Maler Canaletto dem Dogen vorgeführt. Dieser interessiert sich brennend für ein Gemälde Canalettos, das den Fundort der Toten zeigt – und eine Szene, die eine bedeutende venezianische Familie in gefährliche Schwierigkeiten bringen könnte. Im Auftrag des Dogen soll Canaletto die Hintergründe seiner gemalten Beobachtung erforschen – und deren Zusammenhang mit dem Mord. Seine Nachforschungen führen den Maler in illustre Kreise, in denen seltsame Rituale stattfinden und sich zwielichtige Gestalten herumtreiben. Schon bald wird deutlich, dass hinter den Mauern der venezianischen Paläste viele Geheimnisse verborgen sind. Und manche dürfen niemals ans Licht kommen …
Informationen zu Matteo Strukul sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Matteo Strukul
Historischer Kriminalroman
Aus dem Italienischenvon Ingrid Exo und Christine Heinzius
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Il cimitero di Venezia« bei Newton Compton editori, Rom.
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Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2024
Copyright © der Originalausgabe © 2022 Newton Compton editori s.r.l., Roma
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
This edition published in agreement with the proprietor throughMalaTesta Literary Agency, Milan
Covergestaltung: UNO Werbeagentur München
Coverfoto: © Shutterstock/Valery Sidelnykov, hoanggppham,
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
BH · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30859-9V001
www.goldmann-verlag.de
Für Silvia
Für mein geliebtes Venedig
1 Sante
2 Canaletto
3 Der Saal der Qualen
4 Eine Unterredung
5 Augen
6 Isaac Liebermann
7 Rat und Hilfe von einem Helden
8 Die Überraschung
9 Unterwegs als Spion
10 Im Caffè Florian
11 Murano
12 Schmerz
13 Maskerade
14 Geheimnisse
15 Der Bericht
16 Die Moeche
17 Angst
18 Der Pakt
19 Campo San Giacomo di Rialto
20 Die beiden Frauen
21 Der Ire
22 Fanatismus
23 Charlotte
24 Geständnisse
25 Der englische Gentleman
26 Die fünf
27 Im Zentrum der Macht
28 Obsession
29 Nachts
30 Anziehung
31 Ein schwieriger Tag
32 Der Verfolger
33 Glas
34 Treffen
35 Das Ghetto
36 Schurken
37 Die Untersuchung
38 Entscheidungen
39 Rechtfertigungen
40 Der Friedhof von Venedig
41 Das Blut
42 Symbol
43 Fragen
44 Nächtliche Sorgen
45 Verschwunden
46 Zurück zum Anfang
47 Reue
48 Eine Lösung suchen
49 Den Dogen überzeugen
50 Sachmet
51 Zwischen Masken und Knochen
52 Aktion
53 Herzen und Pistolen
54 Abrechnung
55 Ende des Spiels
56 Das Fest
57 Venedig
58 Das Versprechen
Anmerkungen des Autors
Danksagung
Glossar
Er prüfte sein Leben, und es erschien ihm abscheulich; seine Seele, und sie erschien ihm entsetzlich. Dennoch lag ein mildes Licht über diesem Leben, dieser Seele.
Victor Hugo, Die Elenden
Das wahre Talent ist immer gutmütig und treuherzig, offen, ohne Pedanterie; ein spitzes Wort von ihm schmeichelt dem Geist und trifft nie die Eigenliebe.
Honoré de Balzac, Verlorene Illusionen
Gespenstisch in seinem Dreispitz und altmodischen Gewand, gleich einem hageren, krummen Geist des Ancien Régime, beschwor der Chevalier eine ferne Erinnerung.
Joseph Conrad, Das Duell
Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.
Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas
Die Nacht war furchtbar gewesen.
Sante stand im Boot und brachte das große Ruder nach vorn. Über den Himmel zogen rosafarbene Streifen. Die Morgenröte spiegelte sich in der Lagune, und es sah aus, als würde sie die weiche Wölbung einer riesigen Qualle freigeben, die gleichsam im nassen Leib Venedigs ruhte. Bis vor ein paar Tagen war der glänzende Spiegel der Wasserfläche eine einzige gefrorene Scheibe gewesen. Das war auch früher schon vorgekommen. Die Alten erzählten, dass die Venezianer auch damals schon gezwungen gewesen waren, das Eis aufzuhacken, um aufs Wasser hinauszugelangen. Nachdem der eisige Überzug in den letzten Tagen feine, dunkle Risse bekommen hatte, waren Eisschollen entstanden, von denen nunmehr nur noch ein paar umhertreibende Platten übrig geblieben waren, bleichen Spuren eines Trugbildes gleich.
Die Temperaturen waren zwar ein wenig gestiegen, aber es herrschte immer noch eine furchtbare Kälte. Der Rio dei Mendicanti war durchgängig zu einem bleichen Band gefroren. Ein Stadtstreicher, dessen schwerer, dunkler Mantel so zerlumpt war, dass man meinen konnte, Motten hätten ihn Stück für Stück zerfressen, taumelte den Kanal entlang. In seiner Hand schaukelte mit schwachem Schein eine Laterne. Sante kümmerte sich nicht um ihn. Elendsgestalten waren in einer solchen Gegend nun wirklich keine Überraschung.
Gegenüber der Gondelwerft des Squero erhoben sich dunkle Gebäudemassen und verfallende Baracken in den Himmel, als hätten sich die Ärmsten der Armen im verzweifelten Versuch, Gottes Hand zu erreichen, damit abgemüht, ein Stockwerk auf das nächste zu schichten, um auf diese Weise seiner Gnade oder Vergebung teilhaftig zu werden – was leider jedoch nie geschehen war. Nicht dass sie daran irgendeine Schuld getragen hätten, ausgezehrt, wie sie waren, von Hunger und Not, als Huren einander wie Schwestern, bereit, jeden in dieser Gegend in Stücke zu reißen. Frisch gewaschene Wäsche- und Kleidungsstücke voller Flicken und Löcher hingen zum Trocknen draußen und wurden als steife Lumpen vom eisigen Wind aufgewirbelt und durch die Luft geklatscht, als gehörten sie dem Kreis der Verdammten an.
Während sich das flache Boot, ein typisch venezianisches sandolo, weiter durchs Wasser schob, breitete sich rings umher ein fiebriges Licht aus; mit ihm wich die Morgenröte dem kränklichen Aufzittern der Dämmerung. Hier und da stiegen zarte Rauchfahnen aus den Schornsteinen auf. Der dunkle Nachen kam ärgerlich langsam voran, doch Sante hatte keine Lust, kräftiger zu rudern. Es war eine schlaflose Nacht gewesen, er hatte die morschen Balken der Decke angestarrt, während ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Die Angst, er könnte vielleicht wieder kein Abendessen zusammenbringen, hatte ihn kein Auge zutun lassen. Nagender Hunger hatte ein Übriges getan.
Schließlich richtete er den Blick auf die große Fassade von San Lazzaro und das Ospedale dei Mendicanti, die er an sich vorbeigleiten ließ.
Lange schon hatte er sich vorgenommen, nicht mehr in Castello zu wohnen. Dieses Sestiere war leider das berüchtigtste von ganz Venedig. Mit den Jahren war es zum Sündenpfuhl der Stadt geworden, die das brennende Verlangen nach ihrem eigenen Untergang zu haben schien und den Eindruck erweckte, sich im nächsten Moment in den Abgrund stürzen zu wollen. Die zügellosen Feste, der nicht enden wollende Karneval, Korruption und Laster waren in diesen Calli zu Hause, in denen jeden Tag neue Absteigen und Bordelle zu entstehen schienen. Alles schien Zeugnis von einem Wettlauf gegen die Zeit abzulegen, vom verzweifelten Versuch, die endgültige Auflösung zu erreichen.
Er wandte sich gedanklich seinem berechtigten Wunsch nach einem Umzug zu, der jedoch angesichts der ausufernden Wohnungspreise zum Scheitern verurteilt war. Einer wie er, ein einfacher Kupferschmied, konnte sich darauf keine Hoffnungen machen. Er musste sich vielmehr mit der bescheidenen Unterkunft begnügen, in der er mit seiner Frau und den drei Kindern lebte.
Wie er so müde vor sich hin ruderte, den Kopf noch voller Sorgen und Gedanken, spürte er, wie sein Boot gegen etwas Festes stieß. Der Aufprall war nicht besonders schlimm, doch vor Überraschung und wegen der Ablenkung durch die Gedanken, denen er nachgehangen hatte, drohte er das Gleichgewicht zu verlieren und ins Wasser zu fallen.
Das Gewicht mit einer ausgewogenen Drehung des Oberkörpers verlagernd, gelang es ihm jedoch, sich auf den Füßen zu halten. Gleichzeitig fiel sein Blick schon fast instinktiv auf die Wasseroberfläche. Auch wenn das gespenstische Licht der Morgendämmerung die Umgebung etwas erhellte, begriff er nicht sofort, worum es sich handelte.
Zunächst erblickte er ein seltsames Gewirr aus dunklen Algen. Doch als er genau hinsah, wurde ihm klar, dass es keineswegs das war, was er gedacht hatte. Im Wasser vor ihm trieb ein Schwall Haare. Und als der Körper sich um die eigene Achse drehte, sah er darunter ein Gesicht zum Vorschein kommen. Es war blass, ja vollkommen bleich, als hätte jemand ihm alles Blut entzogen. Ein verblichenes Gesicht, das einmal sehr schön gewesen sein musste. Nun jedoch machte es ihn erschauern, denn es trug den Hauch des Todes. Sante erstarrte mit offenem Mund, ein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken.
Dann appellierte er an seine Tapferkeit und streckte die Arme nach dem Leichnam aus. Seine Hände berührten den Hals und umfassten die Schultern.
Als er die Leiche unter Mühen zu sich heranzog, um sie ins Boot zu hieven, sah er etwas, das ihn fassungslos machte.
Nicht genug, dass die Frau tot war. Jemand hatte ihr mit wilder Wut die Brust aufgeschlitzt und das Herz herausgerissen.
Er betrachtete das Ergebnis. Und es gefiel ihm durchaus. Er bemerkte, dass diese Technik, die er immer weiter verfeinerte, ihm erlauben würde, Venedig in einem neuen Licht und aus verändertem Blickwinkel zu zeigen. Nicht mehr bloß die einfache Vedute, das Einfrieren des Augenblicks auf der Leinwand, sondern vielmehr – dank eines Spiels mit Perspektiven und Blickpunkten – eine veränderte Wiedergabe bestimmter Teile der Stadt, alles zu Ehr und Preis der Serenissima.
Antonio Canal betrachtete eingehend die Details des Gemäldes. Er hatte die räumlichen Gegebenheiten frei interpretiert, auch wenn die Darstellung, so wie von ihm beabsichtigt, eine aufmerksame und wahrheitsgetreue Neufassung der Realität war. Er hatte sich ganz und gar einem intensiven, üppigen Farbauftrag mit breiten Pinselstrichen verschrieben, für den größtmöglichen dramatischen Effekt im Chiaroscuro schwelgend.
So mancher brave Bürger befürchtete, er könne dem Theater abgeschworen haben, er habe es gar verbannt. Doch das war keineswegs der Fall! Allein schon der Gedanke, Venedig unabhängig vom Theater zu betrachten, wenn man es malte, grenzte an Verrat! Auch wenn es stimmte, dass er sich eine Pause von den Bühnenbildern für Alessandro Scarlatti gegönnt hatte, und es ebenso wenig zu leugnen war, dass er nach Möglichkeiten suchte, wie er mit seinen Entwürfen der neuen Oper von Antonio Vivaldi, La fede tradita e vendicata, am besten gerecht werden konnte.
Das war noch nicht offiziell, und das war auch gut so, wenn man den schon fast subversiven Gehalt der Komposition des großen Musikers bedachte, aber was seine Liebe zum Theater anging, gab es daran wenig zu deuteln. Er lächelte. Seit seine Bilder die gefragtesten von ganz Venedig waren, versuchten sich alle möglichen Leute als Kunstexperten und hielten Vorträge über sein Werk. Umso besser! Die Aufträge würden zunehmen, und genau diese Aussicht brauchte er, langsam, aber sicher.
Denn die Rechnungen zahlten sich nicht von allein. Und dabei ging es nicht nur um Pinsel, Leim und Grundiermittel, Farben und Leinwände – mitnichten. Wenn man wirklich gute Ware wollte, gingen die Preise ins Astronomische. Da waren die optischen Linsen für die Kamera, um nur eines zu nennen. Und dann das Haus. Ein weiteres Stockwerk für das Atelier. Die bisherige Behausung reichte nicht mehr, also hatte er sich entschieden, einen Palazzetto in Castello zu kaufen. Der hatte ein Vermögen gekostet, danach hatte er keinen einzigen Soldo mehr. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er schon im Monat nach dem Kauf das komplette Dach erneuern lassen musste. Glücklicherweise war dieser neue Auftrag reingekommen, dankenswerterweise vermittelt durch seinen Freund Alessandro Marchesini, dem Veroneser Maler, bei dem er großes Ansehen genoss; dieser hatte ihm geraten, seine Veduten an Stefano Conti, einen reichen Kaufmann aus Lucca zu verkaufen.
Ganz abgesehen davon, dass man auch in angemessener Kleidung auftreten musste, wenn man bei den Kunden einen guten Eindruck machen und neue Aufträge erhalten wollte. Und dann noch das Personal. Nicht dass er besonders viele Dienstboten beschäftigen würde! Nur eine Köchin, ein Dienstmädchen und einen Diener. Aber sie mussten dennoch bezahlt werden! Kurz gesagt: Es war alles nicht so einfach. Doch vor der Arbeit hatte er keine Angst; um genau zu sein, war er ganz vertieft in sein Schaffen, in das Bemühen, dem menschlichen Auge etwas nicht Vorhersehbares zu bieten oder Venedig zum ersten Mal so zu sehen, wie es wirklich war, wenn auch sublimiert in Farbe und Licht.
Was ihn an diesem Gemälde, das er im Auftrag von Stefano Conti angefertigt hatte, jedoch am meisten zufriedenstellte, war das Licht, das das Wasser des Canal Grande in einem lebhaften Grün leuchten ließ. Außerdem die Strahlen auf den Fassaden der Palazzi, ganz besonders der Schimmer auf dem Fondaco dei Tedeschi, der sich am linken Bildrand hell und klar abzeichnete. Er bildete den perfekten Bezugspunkt zur gegenüberliegenden ausgeleuchteten Fläche des kleinen Marktplatzes der Erbaria, die den Palazzo Camerlenghi von den Fabbriche Nuove trennte, die beide jeweils im Schatten lagen. Diese Harmonie von Hell und Dunkel hatte er auf der Grundlage einer Bleistiftzeichnung geschaffen, die er dann mit Feder und brauner Tinte überarbeitet hatte, dabei die Rialtobrücke von der Seite erfassend, zum Fondaco dei Tedeschi hin verlaufend, und zwar vermittels wiederholten Einsatzes einer einfachen Linsenkamera, einer Form von Lochkamera.
Dank eines kleinen Lochs und einer Linse vermochte er das Abbild einer Landschaft, die Ansicht eines bestimmten Abschnittes, eine Piazza, einen Campo oder einen Kanal auf einem mattierten Spiegel zu erhalten, welche sich dann auf einem transparenten Blatt Papier nachzeichnen ließen. Er verwendete diese Vorrichtung mit Vorliebe, um die Umrisse von Architektur und Plätzen festzuhalten. Doch beschränkte er sich eben nicht darauf, sie einfach nur wiederzugeben; er vervielfältigte die Perspektiven, was eine Ausdehnung des Raums zur Folge hatte, und durch unbefangenen Einsatz von Farbe und Hell-Dunkel-Kontrasten gestaltete er die Wirklichkeit neu. Seine Gemälde waren nichts weniger als seine Vision einer Stadt, die auf der Welt einzigartig war.
Er seufzte. Vor den Fenstern seines Palazzetto sah er den Schnee in kleinen Flocken fallen. Der bleigraue Himmel hatte den Nachmittag bereits zum Abend werden lassen, und die Eiseskälte der letzten Tage schien einfach nicht weichen zu wollen. Antonio nahm sich vom Tischchen mit den Säbelbeinen eine Tasse mit heißer Schokolade, die seine Köchin Flora zubereitet hatte. Er hatte das Rezept im Haus von Tomaso Albinoni kennengelernt, der die Schokolade über alles schätzte. Der Komponist war so freundlich gewesen, ihm die Anleitung zur Zubereitung zusammen mit der Einladung zur Uraufführung seiner neuesten Oper zukommen zu lassen. Die ersten Ergebnisse waren nicht so ganz perfekt gewesen, aber nach ein paar Versuchen war ein wunderbares Getränk entstanden: warm, cremig, einen einhüllend. Daran zu nippen und dabei die weißen Flocken fallen zu sehen, hatte oftmals das Aroma eines verbotenen Vergnügens.
Die Hände um eine schöne Tasse aus Meissener Porzellan gelegt, wärmte er sich auf, mit geschlossenen Augen das bittersüße Aroma der Schokolade genießend. Er ging gerade zum Kamin hinüber, als Alvise, sein Diener, sich an der Tür bemerkbar machte. Kaum hatte Antonio ihm gestattet einzutreten, stand dieser schon im Arbeitszimmer.
Wenn Alvise ihn bei seiner Arbeit störte, musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein.
Daran konnte kein Zweifel bestehen, denn Alvise war bleich, das Gesicht verzerrt, die Lippen zu einer schmalen roten Linie aufeinandergepresst. »Mio Signore«, sagte er ehrerbietig.
»Alvise?«
»Nun …«, begann der Diener zögerlich.
»Was ist passiert?«, wollte Antonio wissen, während Alvise ihm das Schreiben aushändigte.
Das Papier trug das Siegel der Serenissima Repubblica, den geflügelten Markuslöwen.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Mio Signore, ich habe keine Ahnung«, erwiderte Alvise. »Was ich Euch sagen kann, ist, dass der Hauptmann der Polizeischergen bei der Tür auf Euch wartet.«
»Warum? Was will er?«
»Er sagte, er soll Euch zum Dogenpalast bringen.«
Ohne sich weiter aufzuhalten, griff sich Antonio einen langen Mantel, den er über die Lehne eines Sessels geworfen hatte, und einen dunklen Dreispitz. Er zog feste Schuhe an, und bereits einen Augenblick später war er an der Tür.
Über eine lange Reihe von Treppen gelangte er in den Hof.
Da sah er unter dem Dreispitz den schiefen Blick des Anführers der Schergen aufleuchten. »Signor Antonio Canal, bekannt als Canaletto, ich bitte Euch, mir zu folgen«, brachte der bloß vor.
»Wohin und weswegen?«, wollte Antonio wissen, und das gewiss nicht, um die Anweisungen zu hinterfragen, sondern nur, um sich eine Vorstellung davon machen zu können, was vor sich ging.
»Zum Dogenpalast«, fuhr der Hauptmann ihn an und bestätigte damit, was Alvise bereits gesagt hatte. »Wie aus dem Schreiben hervorgeht, das Ihr in Händen haltet, möchte seine Exzellenz Matteo Dandolo, Inquisitore Rosso, Euch in einer bestimmten Angelegenheit sprechen.« Es war die Art von Antwort, die keinen Widerspruch duldete.
So schloss sich Antonio, eskortiert von zwei Schergen und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dem Hauptmann an und folgte ihm zur Piazza San Marco.
Wie er da bei Einbruch der Abenddämmerung durch heftiges Schneetreiben ging, um zu wer weiß was Stellung zu nehmen, hatte Antonio das deutliche Gefühl, dass das Schlimmste noch bevorstand.
Ah«, sagte der Staatsinquisitor und klang überrascht, als Antonio Canal, durchnässt von Schnee und Nebel, die Camera del Tormento, den Saal der Qualen, betrat. »Da seid Ihr ja, mio Signore! Eskortiert und mir übergeben, so wie befohlen. Wenigstens ist auf die Polizeischergen in dieser verdammten Stadt noch Verlass.« Mit diesen Worten entließ er den Hauptmann der Wache mit einem Kopfnicken.
Sobald Matteo Dandolo, der Staatsinquisitor der Serenissima Repubblica, mit Antonio allein war, schien er sich zu entspannen. Wenigstens einen Augenblick lang. »Nehmt Platz«, sagte er mit ausladender Geste. Dabei rauschte die rote Robe durch die Luft wie der Flügel eines Raubvogels. Mit seinem purpurfarbenen Handschuh wies er auf einen unbequemen Holzschemel.
Antonio ließ sich das nicht zweimal sagen und setzte sich, weiterhin abwartend. Er versuchte, sich nicht zu sehr von der kargen und einschüchternden Umgebung beeindrucken zu lassen. Er wusste genau, was der Name des Raumes zu bedeuten hatte, doch er vertraute auch auf seinen Ruhm als Maler, der eine wirksame Abschreckung vor jedweder übereilten Entscheidung sein würde. Nicht einmal der Staatsinquisitor würde ihn, einen der wichtigsten Künstler von Venedig, ungestraft einer Folter mit dem Seil unterziehen, das geradewegs vor der Nase hing. Egal, um welche Anklage es sich auch handeln mochte. Aufmerksam beobachtete er den Mann, den er vor sich hatte. Zweifelsohne war der Inquisitor ein Mensch mit immensem Ego, und sein pompöser Auftritt bestätigte das voll und ganz. Es war besser, ihm die Bühne zu überlassen und sich darauf zu beschränken, ihm Paroli zu bieten. Umso mehr, als er nicht die blasseste Ahnung hatte, was der Grund für diese Einberufung war. Sein Blick fiel auf die wenigen entzündeten Kerzen: Sie verbreiteten ein warmes Licht rings umher und ließen einen Großteil der Umgebung im Schatten. In der Tiefe des Raums genau ihm gegenüber war das Dunkel besonders intensiv und beunruhigend.
Als hätte Dandolo seine Gedanken erraten, stellte er ihm die rhetorischste aller Fragen: »Ihr wisst, warum ich Euch habe herbringen lassen?«
»Eigentlich nicht, Euer Exzellenz.«
Der Inquisitor lächelte. »Natürlich. Ich gebe Euch selbstverständlich keinerlei Schuld«, sagte er mit einem Ausdruck der Genugtuung. »Erst recht, da die Angelegenheit recht komplex ist. Nicht nur einer, sondern zwei Magistratsbeamte müssen Euch befragen.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, betrat, als hätte das Dunkel ihn hervorgebracht, Giovanni Morosini, der Capitan Grando, den Raum. Er war das Oberhaupt der Signori di Notte al Criminal und somit der zweite hochstehende Magistrat, zu dessen Aufgaben es gehörte, die Ermittlungen zu all den Delikten zu koordinieren, die nach Sonnenuntergang begangen worden waren. Er trug einen langen Mantel, der völlig durchnässt war, und einen Dreispitz, der ebenso nass war. Als er ihn abnahm, kamen darunter dunkle Haare zum Vorschein, von denen große Tropfen herabrannen. Seine Kleidung konnte jedoch das Futteral des Schwertes nicht verbergen, das unter dem Mantel hervorschaute wie eine etwas verstörende Schwanzspitze aus Eisen. Kniehohe Stiefel und Strümpfe aus schwarzem Samt vervollständigten sein Erscheinungsbild, am Gürtel schimmerte zudem der perlmuttbesetzte Griff eines Dolches.
Die Sache wurde ernst. Allzu ernst. Auch wenn Antonio sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, worauf diese Geschichte hinauslaufen sollte.
»Signor Morosini muss sich Euch nicht vorstellen, nicht wahr?«, sagte der Inquisitor, während der andere nach all dem eisigen Schnee, den er auf seinem Weg durch die Calli abbekommen hatte, husten musste. »Ihr wisst genau, wer er ist. Aber lasst mich Euch eins sagen, Signor Canal: Ihr enttäuscht mich. Doch, wirklich. Und wisst Ihr, warum? Wenn man es sich so anschaut, seid Ihr in Eurer Karriere so weit gekommen, wie es sich viele nur wünschen können. Ihr seid heute bei Weitem der meist geschätzte Künstler der Serenissima. Canaletto nennt man Euch. Und es gibt niemanden, der Euren Namen nicht mit Hochachtung, ja ich würde sogar sagen Ehrfurcht, aussprechen und Eure Werke preisen würde, die mehr als alle anderen den Ruhm Venedigs mehren. Daher frage ich Euch: Warum? Warum habt Ihr das getan?«
»Was getan?« Antonio hatte eigentlich nicht mit einer Gegenfrage antworten wollen, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, worum es ging.
»Warum habt Ihr ausgerechnet den Rio dei Mendicanti gemalt?«, rief Morosini aus und betonte dabei die drei Worte des Namens, als stellten sie in ihrer Zusammenstellung eine fürchterliche Unflätigkeit dar.
Antonio begriff immer noch nichts. Doch in jedem Fall versuchte er zu antworten. Er sprach über das, was geschehen war. »In den letzten Jahren habe ich beschlossen, mich einem ganz bestimmten Genre der Malerei zu widmen: der Vedute. Ich bediene mich dafür einer Lochkamera, mithilfe derer ich Proportionen und Perspektiven der Palazzi und Campi, der Kanäle und Piazze festhalte, um im zweiten Schritt der malerischen Ausarbeitung meine Auswahl zu verdichten. Es gibt keinen bestimmten Grund dafür, warum ich den Rio dei Mendicanti gemalt habe. Ich fand das Sujet dieser Vedute einfach reizvoll, um daran einige Techniken auszuprobieren. So wie ich es auch bei der Piazza di San Marco und dem Canal Grande zwischen Palazzo Balbi und Rialto gemacht habe.«
»Wollt Ihr uns weismachen, dass Ihr willkürlich auswählt, was Ihr malen wollt?«
Antonio räusperte sich. »Nein, das meine ich nicht. Ich wähle eine bestimmte Ansicht, einen perspektivischen Fluchtpunkt, und zwar unter dem Aspekt, wie schwierig sie umzusetzen ist und welche Möglichkeiten sie bietet, eine visionäre Sicht auf unsere geliebte Stadt zu werfen – dabei den malerischen und darstellerischen Kanons folgend, die dafür am meisten in Betracht kommen.«
»Ja, gewiss. Nur dass Ihr bisher die prachtvollen Orte der Serenissima gewählt habt, nicht eine der übelsten und verrufensten Wasserstraßen, die sie zu bieten hat. Mit schmutziger Wäsche, die im Wind hängt, und den Behausungen der Elenden im Vordergrund. Erscheint Euch das angemessen?« Es war bei dieser Frage vollkommen klar, dass der Inquisitor keine Antwort erwartete. »Ganz zu schweigen davon, dass Ihr mit Vivaldi an einem subversiven Werk arbeitet.«
»Subversiv?«
»Uns ist zu Ohren gekommen, dass Antonio Vivaldi – der beste Komponist Venedigs und einer, den die Serenissima seit seinen Anfängen in ihrer Mitte aufgenommen und ermutigt hat, bis er schließlich zu einem der größten Vertreter der europäischen Musik wurde –, dass dieser also eifrig an einer Oper arbeitet. In dieser Oper soll es um eine Thronfolge gehen, um die sich Ränke und Racheakte reihen. Dabei soll es sich um eine Allegorie der Kämpfe zwischen den Patrizierhäusern der Serenissima handeln, die begierig unter sich aufteilen, was sie von der Republik erbeutet haben.«
»Eure Exzellenz, ich weiß nicht, worauf Ihr Euch bezieht.«
»So, das wisst Ihr nicht?«, herrschte ihn Morosini an.
»Ich möchte behaupten, dass das Thema, das der Maestro gewählt hat, in keiner Weise subversiv ist.«
»Das zu beurteilen überlasst Ihr besser uns, meint Ihr nicht?«, unterbrach ihn Dandolo in äußerst schneidendem Ton.
»Natürlich«, stimmte Antonio zu. »Was ich sagen kann, ist, dass ich ein paar Skizzen für das Bühnenbild gemacht habe, doch dann habe ich diese Arbeit aufgegeben, denn wie ich schon mehrmals sagte, habe ich mich vom Theater losgesagt, da es Fiktion ist. Ich hingegen möchte mich als Künstler an der Wiedergabe der Wirklichkeit schulen.« Hier log Antonio, was ihm zuwider war. Er wollte jedoch auch nicht zu viel riskieren, in Anbetracht dessen, welche Wendung die Befragung genommen hatte.
Der Inquisitore Rosso nickte. »Nun gut, ich will Eure Erklärung gelten lassen. Auch wenn ich von verschiedenen Seiten höre, dass Eure ›Lossagung‹ vom Theater bloß so dahingesagt ist, eine Behauptung, die Ihr in die Welt gesetzt habt, um in aller Ruhe weiter Bühnenbildentwürfe malen zu können. Und doch will ich Euch den Grund für diese Fragen nennen und Euch somit erklären, aus welchem Anlass ich Euch rate, von nun an nicht weiter an einem Verhalten festzuhalten, das alles andere als untadelig ist.« Dann warf Dandolo Morosini einen Blick zu und fügte hinzu: »Daher wird Euch künftig der Chef der Signori di Notte al Criminal beratend zur Seite stehen.«
Der Capitan Grando räusperte sich. Er ging auf die Flammen des Leuchters zu, die Hände nach ihnen ausgestreckt. Es sah so aus, als hätte er das dringende Verlangen nach ein bisschen Wärme. Als er zu sprechen begann, wandte er Antonio den Rücken zu und machte auch keine Anstalten, sich umzudrehen.
»Seht Ihr, Signor Canal, Ihr werdet es nicht glauben, doch vor zwei Tagen erst führte ein Mann sein Boot bei Tagesanbruch den Rio dei Mendicanti hinauf. Sein sandolo stieß gegen irgendetwas. Anfangs war ihm nicht klar, worum es sich handelte, dann entpuppte sich das Objekt als die Leiche einer jungen Frau. Nun wird man sicher sagen, dass dies nichts Neues ist. Wie viele Leichen von Prostituierten finden sich wohl in den Kanälen von Venedig in diesen elenden Zeiten? Allzu viele. Und es ist eine Schande, glaubt mir. Arme Geschöpfe, die gezwungen sind, vom Einzigen zu leben, was diese erbarmungslose Stadt im Übermaß zu bieten hat: die Unzucht. Doch diesem Mädchen wurde das Herz herausgerissen. Barbarisch ermordet, auf eine Weise, die einem den Atem stocken lässt. Und versenkt in der eisigen Lagune. Das Eis hat dafür gesorgt, dass der Leichnam erhalten blieb, sodass jemand sie ›das Alabastermädchen‹ taufte. Doch nicht darüber wollte ich mit Euch sprechen.« Nun endlich drehte sich das Oberhaupt der Signori di Notte al Criminal um und sah Antonio an. »Sondern darüber, dass es doch zumindest außergewöhnlich ist, dass gerade in diesen Tagen Euer Rio dei Mendicanti solch großes Interesse in der Stadt erweckt.« Die letzten Worte standen als unsagbar schändliche Andeutung im Raum.
Antonio hielt nicht länger an sich. »Und dafür habt Ihr mich rufen lassen? Dafür, dass ich einen Schauplatz in Venedig gemalt habe, an dem die Leiche einer armen Frau gefunden wurde?«
»Ihr müsst zugeben, dass es ein merkwürdiger Zufall ist«, betonte der Inquisitore Rosso.
»Gewiss! Doch wie Ihr ganz richtig sagt, handelt es sich um einen Zufall. Eins ist sicher, ich habe bestimmt schon andere Schauplätze dieser Stadt gemalt, an denen bestimmt ebenfalls bereits Tote gefunden wurden.«
»Natürlich. Doch diese Eigentümlichkeit, den Rio dei Mendicanti als Bildmotiv zu wählen, ist sowohl mir wie dem Capitan Grando seltsam erschienen«, wiederholte Dandolo. »Ganz abgesehen von Eurer Beteiligung am Bühnenbild für die Oper von Vivaldi, die Ihr zugegeben habt. Was angesichts des Themas kein gutes Licht auf Euch wirft. Signor Canal – kurz gefasst möchte ich Euch Folgendes sagen: Wir werden Euch ein wenig im Auge behalten. Vermeidet also unangemessene Verhaltensweisen. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Ihr in irgendeiner Weise in den schrecklichen Mord an der Frau verwickelt seid, doch hört auf, dem Volk derart frevelhafte Überzeugungen einzuflüstern.«
»Was meint Ihr?«
»Ich bitte Euch, Ihr habt mich verstanden. Ein erfolgreicher Maler wie Ihr, mit gepuderter Perücke und verbrämten Kamisolen mit kostbaren Knöpfen«, sagte Dandolo und wies auf den samtenen Unterfrack, der vornehm mit Perlen verschlossen wurde, »hat es doch nicht nötig, das Elend und die Trostlosigkeit vom Rio dei Mendicanti darzustellen, erst recht nicht, wenn genau dort ein barbarisch verstümmelter Leichnam gefunden wird!«
»Wie hätte ich das wissen sollen? Ich habe schon vor Monaten an diesem Gemälde gearbeitet.«
»Sicher! Und vielleicht ist auch diese Frau schon vor etlichen Wochen getötet worden«, merkte Morosini an. »Ich muss Euch nicht erklären, dass sich eine Leiche in eisigem Wasser sehr viel besser hält als in warmem. Jedenfalls«, fuhr der Capitan Grando fort und räusperte sich, »klagt Euch niemand an, egal weswegen. Unterlasst jedoch nach Möglichkeit jedes Verhalten, das Euch schaden und das Vorstellungsvermögen der Venezianer anregen könnte. Haben wir uns da klar ausgedrückt?«
»Und ob«, antwortete Antonio.
»Umso mehr, als sich die Fantasie allzu leicht beflügeln lässt. Ihr wisst, wen man als Erste des Mordes beschuldigt hat?«
Antonio hatte keinen blassen Schimmer.
»Die Juden«, sagte der Inquisitor. »Man wirft ihnen vor, das Blut von Christen zu trinken und gehorsame Dämonen Satans zu sein. Überflüssig zu sagen, dass das Ghetto in Aufruhr ist. Wie sollte es anders sein? Das ist das Letzte, was wir gebrauchen konnten, denn es wird keine Überraschung für Euch sein, dass es nicht nur unserem Empfinden für zivilisierten Umgang zuwiderlaufen würde, die Juden zu vertreiben, es wäre auch ein tödlicher Schlag für die geschundene Wirtschaft der Republik. Ein Schlag, den wir uns, offen gesagt, nicht leisten können. Und dann ist da noch die Frage des Gesamtbildes, Signor Canaletto – vergesst niemals das Gesamtbild! Fügt also zum Beschriebenen die Pockenepidemie hinzu, die dieser Stadt aufs Äußerste zusetzt, und Ihr werdet voll und ganz verstehen, dass Venedig keine Missverständnisse oder unglücklichen Zufälle gebrauchen kann, insbesondere wenn sie Angst oder Hass schüren könnten.«
Antonio nickte. Was sollte er sonst tun?
»Sehr schön, ich freue mich, dass Ihr mir zustimmt«, fuhr der Inquisitor fort. »Seht Ihr, Signor Canal, meine vorrangigste Aufgabe im Dienste der Serenissima Repubblica besteht darin, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, den status quo ante, um genau zu sein. Aufgrund dessen bin ich befugt, alles und alle zu entfernen, die dem friedlichen Zusammenleben der Allgemeinheit im Weg stehen. Sollte ich auch nur den Verdacht hegen, dass jemand oder etwas in dieser Hinsicht ein Hindernis darstellt, habe ich die Berechtigung, es zu entfernen. Der Capitan Grando kann selbstverständlich ebenso verfahren, wenn auch mit anderen Mitteln. Er arbeitet eng mit mir zusammen. Wir haben Euch heute rufen lassen, weil wir mit sofortiger Wirksamkeit verhindern möchten, dass Euer Verhalten zu einem Hindernis wird. Doch ich vertraue darauf, dass Ihr mich voll und ganz verstanden habt. Sofern das so ist, seid Ihr hiermit entlassen«, sagte er schließlich. »Und ich bitte Euch ausdrücklich, mit niemandem über unsere Unterredung zu sprechen. Sollte es einen Verstoß gegen diese Schweigepflicht geben, hätte er Konsequenzen. Der Hauptmann der Wachen wird Euch zur Scala dei Giganti zurückbegleiten.« So als sei diese Andeutung einer Drohung eine schlichte Feststellung, verabschiedete Matteo Dandolo Antonio Canal und erteilte ihm die Erlaubnis, sich zu entfernen.
Der Herr über die Polizeischergen wartete an der Tür auf ihn, während Antonio sich mit den Worten »Exzellenz« und »Capitan Grando« gleich zweimal verneigte, ehe er in Begleitung Morosinis den Raum verließ.
Draußen ging es durch lange, schwach beleuchtete Gänge, durch wundervolle Salons und kleine Amtsstuben. Am oberen Ende der Scala die Giganti ließ ihn das Oberhaupt der Polizeikräfte allein weitergehen.
Antonio ging zwischen den beiden wunderbaren Statuen von Sansovino hindurch die Treppe hinab. Es hatte aufgehört zu schneien, und es hatte den Anschein, als sei die Kälte diese Nacht weniger streng. Canaletto beeilte sich, durch die Porta della Paglia ins Freie zu gelangen, als jemand hinter ihm seinen Namen rief.
Noch ehe er sich umdrehen konnte, stand ein Mann in tadellosem Rock vor ihm. »Signor Canal, der Doge möchte Euch sprechen, sofort.«
Antonio glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Macht Ihr Scherze?«, fragte er der Verzweiflung nah.
»Keineswegs. Ihr werdet ihn gewiss nicht warten lassen wollen, oder?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Antonio und biss sich auf die Lippen.
Also ging er, ohne noch etwas hinzuzufügen, die Treppe wieder hinauf, die er gerade erst herabgekommen war.
Ganz offensichtlich hatten die Schwierigkeiten eben erst begonnen.
Da seid Ihr ja endlich!«, rief der Doge mit gewisser Ungeduld. »Ich dachte schon, ich bekäme Euch gar nicht mehr zu Gesicht.«
Antonio war vollkommen fassungslos. Nichts hätte er weniger erwartet als eine Unterhaltung mit dem Dogen höchstpersönlich. Er verbeugte sich, und einen Moment lang war sein Blick ganz gefangen von der Pracht der Gemächer – die wundervoll geschnitzten Decken, die riesigen Marmorkamine, reich verziert mit Schmuckelementen, mit Bordüren und Stuckgesimsen. Er bewunderte die Nussbaumtruhen mit Reliefarbeiten, einen Tisch mit Goldlackierung und Säbelbeinen und den entzückenden kleinen Salon, in dem der Doge ihn erwartete. Und zwar nicht allein, um genau zu sein. Neben ihm saß auf einem Polstersessel aus blauem Samt eine schwarz gekleidete Dame. Auch wenn sie eine moretta, eine schwarz samtene, ihr Gesicht bedeckende Maske, trug, war doch zu erahnen, dass ihr Antlitz feine Züge hatte. Eine aufwendig frisierte Flut roter Locken betonte ihre weibliche Ausstrahlung. Nach dem geurteilt, was Antonio sehen konnte, war sie von faszinierender Schönheit. Das irritierende Detail der Maske machte dieses nächtliche Mysterium noch größer und unergründlicher. Zumindest kündigte sich dieses neue Rätsel in einem glanzvollen und eleganten Rahmen an, und das war gegenüber der Düsternis der Camera del Tormento ja ein Fortschritt.
Jedenfalls war keine Zeit zu verlieren. »Eure Durchlaucht«, sagte er an den Dogen gewandt und verbeugte sich, »wie kann ich Euch dienlich sein?«
»Ah, ausgezeichnet, das ist es, was ich hören will. Mir zu dienen, mein Freund, ist der richtige Ausdruck, und glaubt mir, dies zu tun, bedeutet, auch der Serenissima von Nutzen zu sein. Mögt Ihr ein Glas Malvasia?«
Antonio dachte, dass ihm an dieser Stelle ein Schluck Wein guttun würde, und nickte.
»Sehr gut. Schenkt ein Glas für mich und eines für Signor Antonio Canal ein«, forderte der Doge, und sofort füllte ein Mundschenk, der wer weiß woher aufgetaucht war, zwei Gläser aus mundgeblasenem Muranoglas und reichte sie dem Dogen und seinem Gesprächspartner. Seine Durchlaucht leerte ihren in wenigen Schlucken und ließ sich erneut nachschenken. Dann entließ er den Diener. Plötzlich legte Alvise Mocenigo die Lebhaftigkeit an den Tag, für die er auf dem Schlachtfeld berühmt war. Auch wenn er nicht mehr jung war, war er doch ein Mann von schlanker Statur und einem offenen und direkten Blick. Zweifelsohne ein Soldat, sogar der Eroberer der türkischen Festung von Imotski.
»Also«, ergriff der Doge erneut das Wort, »lasst mich Euch den Grund für diese Zusammenkunft erklären. Spart Euch vor allem die Mühe, mir zu erzählen, dass Ihr, einbestellt vom Inquisitore Rosso, eben erst in der Camera del Tormento wart, denn das, mein Freund, weiß ich bereits. Tatsache ist, dass eines Eurer Bilder jüngstens für mehr als nur ein wenig Verstimmung gesorgt hat. Ihr fragt Euch natürlich warum, und ich kann Euch gleich sagen, dass der Grund nicht das arme Mädchen ist, das zwei Abende zuvor tot aufgefunden wurde, genau an der Stelle, die das Gemälde zeigt.«
Antonio konnte eine gewisse Verblüffung nicht verhehlen. Dasselbe Bild und zwei verschiedene Gründe, ihn deswegen ins Gericht zu nehmen. Es war zum Verrücktwerden.
»Das habt Ihr nicht erwartet, nicht wahr?« Es wirkte, als wollte der Doge ihm extra zusetzen. »Aber so ist es. So tragisch das Schicksal der Ärmsten auch sein mag, der Grund, aus dem auch ich mit Euch über dieses Bild sprechen möchte, ist ein ganz anderer. Sofern es möglich ist, beschäftigen wir uns mit den Lebenden, lautet mein Motto. Daher frage ich Euch: Erinnert Ihr Euch, auf der Seite des Ospedale drei Männer gemalt zu haben, die die Köpfe zusammenstecken? Der Kleidung auf dem Bild nach scheinen es vornehme Männer zu sein.«
»Das ist richtig, sie tragen Gehrock und Dreispitz«, erwiderte Antonio.
»Sehr gut. Genau darauf wollte ich hinaus: Sind diese Männer Eurer Fantasie entsprungen, oder sind es, wie ich vielmehr fürchte oder glaube, reale Personen aus Fleisch und Blut? Ich habe von Eurem Einsatz der Lochkamera gehört und frage mich deshalb, ob diese drei wirklich dort beim Rio dei Mendicanti waren, als Ihr sie abgebildet habt.« An dieser Stelle schwieg der Doge. Und Antonio Canal musste zum zweiten Mal an diesem Abend sein Werk rechtfertigen. Doch wenn er sich den Fragen des Inquisitore Rosso und des Capitan Grando nicht entzogen hatte, konnte er es beim Dogen erst recht nicht tun. »Eure Durchlaucht, ohne mich lang mit einer technischen Erklärung der Art und Weise, wie ich meine Werke anfertige, aufzuhalten, kann ich Euch Folgendes sagen: Ich habe diesen Bildausschnitt zahlreiche Male studiert. Von verschiedenen Standpunkten aus habe ich mithilfe der Lochkamera Skizzen und Entwürfe angefertigt, bei mindestens drei Gelegenheiten habe ich die Herren gesehen, über die wir hier sprechen.«
»Bei drei Gelegenheiten, sagt Ihr?«
»Immer am selben Wochentag. Immer zur selben Stunde. Wie Ihr bereits sagtet, arbeite ich ganz getreu nach der Realität. Nachdem ich diese Herren nun mal beim Ospedale dei Mendicanti und dem benachbarten Nebenkanal gesehen hatte, habe ich beschlossen, sie ins Gemälde aufzunehmen, um einmal mehr der Wahrhaftigkeit Genüge zu tun, an der mir so gelegen ist.«
»Ihr habt gut daran getan, Signor Canal, wäre da nicht …«, bei diesen Worten schien der Doge zum ersten Mal zu zögern, »der Mann, den wir von hinten sehen, der im ockerfarbenen Rock, damit wir uns richtig verstehen, ähnelt sehr, wie soll ich das sagen …«
»Meinem Ehemann.« Die in Schwarz Gekleidete hatte das gesagt. Ihre Stimme, die tiefer war, als Antonio erwartet hätte, klang unvorteilhaft, weil die Schöne mit den Zähnen den Knauf im Innern der moretta umfasst hielt, die ihr Gesicht bedeckte. Ihre Stimme klang daher gepresst und misstönend wie eine Messerklinge, die über eine Eisenkette gezogen wird. Einen Moment lang schien die Situation wie erstarrt, und düsteres Schweigen erfüllte den schönen Salon des Dogen.
»Und das bedeutet …«, murmelte Antonio.
»Das bedeutet, dass der Ehemann dieser Dame – es genügt, wenn Ihr wisst, dass er zu den nobelsten Kreisen des venezianischen Patriziertums gehört – in den Elendsvierteln verkehrt. Denn wie wir alle wissen, wimmelt es in dieser Gegend von Bordellen und heruntergekommenen Gestalten übelster Sorte. Unnötig zu sagen, dass die Dame hier anonym bleiben möchte, wie man sich aufgrund der moretta ja bereits denken kann. Ebenso klar dürfte sein, dass sie natürlich wissen möchte, was ihr Mann in dieser Gegend zu schaffen hat. Immer vorausgesetzt, dass es sich wirklich um ihn handelt. Ich darf annehmen, dass Ihr ihn durch die Linse Eurer Kamera gesehen habt.«
»Nicht nur das.«
»Ah.«
»Ich verwende auch ein Fernglas und verschiedene Linsen, um mir ein möglichst klares Bild vom Schauplatz des Geschehens zu machen, dem, was letztlich die Vedute ausmacht, die gemalt werden soll.«
»Natürlich.«
»Was ich Euch sagen kann, ist, dass dieser Mann lange kastanienbraune Haare hatte und einen ockerfarbenen Gehrock sowie einen Dreispitz trug. Was mir vor allem aufgefallen ist, ist, dass er einen speziellen Gang hatte. Als ich ihn dort ankommen sah, erschien es mir offensichtlich, dass er leicht hinkte. Er humpelte kaum wahrnehmbar, einem weniger achtsamen Auge wäre dieses Detail vielleicht entgangen, doch jemandem mit mehr Erfahrung, jemandem, der den – gestattet mir den Ausdruck – indiskreten Blick zum Mittel seiner Kunst macht, fiel das natürlich auf.«
Mit Mühe nur unterdrückte die schwarz Gekleidete einen Schrei. Sie krümmte sich, als hätte sie einen schweren Schlag auf die Brust erhalten, und sie so niedergeschlagen zu sehen, weckte Antonios Mitgefühl.
»Meine Liebe!«, rief der Doge aus und beeilte sich, ihr seinen Arm zu reichen. Doch mit großer Würde und unerschütterlicher Anmut fing sie sich wieder. Sie führte eine Hand zur Maske, dorthin, wo sie den Mund verbarg. Antonio hätte gerne etwas gesagt, um ihr Mut zu machen. Doch stattdessen hatte er sich ohne jegliches Taktgefühl, ohne den Schmerz zu bedenken, den seine Beschreibung hervorrufen könnte, zu einer kühlen Analyse von bestimmten Merkmalen und Details hinreißen lassen. Wie ungeschickt und unpassend das gewesen war!
»Er ist es wirklich«, sagte die Dame mit hauchdünner Stimme. »Seit seiner Verwundung im Morea-Krieg geht mein Mann so.«
Dieses Mal bemerkte Antonio über die Veränderung durch die Maske hinaus noch einen ungewöhnlichen Beiklang. Genau hätte er es nicht sagen können, doch es schien ihm so, als sei schwach, kaum wahrnehmbar, ein ausländischer Akzent zu hören.
»Also besteht kein Zweifel mehr, meine Liebe«, sagte der Doge mit beinahe ersterbender Stimme. »Ich habe bis zuletzt gehofft, dass wir uns irren.«
»Aber …«, setzte Antonio an.
»Ich weiß, was Ihr sagen wollt, Signor Canal«, kam ihm Alvise Mocenigo zuvor. »Dass nämlich die bloße Anwesenheit eines Herrn an einem bestimmten Ort noch nichts zu sagen hat, doch glaubt mir: Wenn auch nur der geringste Verdacht besteht, derjenige, über den wir hier sprechen, könnte diesen Teil der Stadt aufsuchen, wäre das verheerend für die Familie.«
»Verstehe.«
»So wie die Dinge stehen, sehe ich mich verpflichtet, Euch um einen Gefallen zu bitten. Und zwar nicht für mich, sondern für die Dame, die Ihr vor Euch seht, und für Venedig.«
Alvise Mocenigo seufzte. Es war klar, dass er keine Wahl hatte und dass er lange darüber nachgedacht haben musste, was zu tun sei. Antonio hatte das Gefühl, dass es nun Schwierigkeiten geben würde. Er hatte gehofft, mit der schlichten Ermahnung davonzukommen, sich der Obrigkeit gegenüber so gehorsam wie möglich zu verhalten – denn genau darum ging es –, doch jetzt würde höchstwahrscheinlich etwas viel Schlimmeres kommen.
»Nun schön, Signor Antonio Canal, worum ich Euch, den herausragenden Maler, von dem man sich in der ganzen Stadt Wunderdinge erzählt, bitten möchte, ist, dass Ihr für mich und im Namen der Republik Nachforschungen anstellt.«
»Nachforschungen?«
»Ganz genau. Im Detail möchte ich gern, dass Ihr herausfindet, warum der Mann vom Gemälde sich abends in der Nähe des Ospedale dei Mendicanti aufhält.«
Antonio war verblüfft. Wie konnte ihn der Doge um so etwas bitten? Selbstverständlich war ihm alles erlaubt. Doch es war nun einmal so, dass er, Antonio, dafür gar nicht die Befähigung hatte. Ganz abgesehen davon, dass es darum ging, einen Mann zu verfolgen, von dem er nichts wusste und der aus seiner Sicht vollkommen unschuldig war. Und selbst wenn er es nicht wäre – wer war er, das Gegenteil zu behaupten? Welche Befugnis hatte er? Diese Fragen bestürmten Antonio alle auf einmal, und er musste seinen ganzen Verstand zusammennehmen, um eine passende Antwort geben zu können. »Eure Durchlaucht, selbst wenn ich wollte, fürchte ich, dass ich nicht besonders von Nutzen sein könnte …«
»Ihr weigert Euch?«
Antonio nahm im Ton des Dogen eine verdeckte Drohung wahr. Es lag auf der Hand – wie zum Teufel konnte er auch nur daran denken, einer Bitte seiner Durchlaucht nicht nachzukommen? War er verrückt geworden?
»Ich wollte damit sagen, dass ich für eine solche Tätigkeit nicht besonders befähigt bin, denn seht Ihr, es ist nicht mein Metier.«
»Umso besser.«
»Tatsächlich?«
»Sicher. Gerade weil Ihr ein Maler seid, wird Euch niemand verdächtigen, und das gibt Euch mehr Handlungsfreiheit. Ganz abgesehen davon, dass Ihr, wenn ich nicht irre, nicht weit von dort entfernt wohnt. Oder bin ich vielleicht falsch unterrichtet?«
»Keineswegs.«
»Ah! Das will ich auch nicht hoffen! Nun gut, auch wenn es nicht Euer Metier ist, bitte ich Euch herauszufinden, was den Mann vom Gemälde zum Rio dei Mendicanti treibt. Trifft er sich mit jemandem? Sucht er einen bestimmten Ort auf? Unterhält er Beziehungen zu ausländischen Spionen? Gewiss, das sind nur Vermutungen, einige davon sind vielleicht sogar gewagt, aber lieber irre ich mich, als später zu entdecken, dass ich eine solche Eventualität nicht genügend beachtet habe. Seht Ihr, Signor Canal, Informationen sind das Wichtigste, denn Wissen ist Macht. Zudem möchte, so viel dürfte Euch inzwischen klar sein, die hier anwesende Dame gerne wissen, wer ihr Gatte wirklich ist.«
Antonio holte tief Luft. Dieses Anliegen brachte ihn in eine hässliche Lage. Wie sollte er das bewerkstelligen? Vor allem aber: Jemanden zu beschatten oder auszuspionieren – um nichts anderes ging es ja –, war das Letzte, was er tun wollte.
»Natürlich ist mein Ersuchen absolut inoffiziell. Es wird nirgends auftauchen, und Ihr werdet von mir dazu absolut nichts schriftlich bekommen.«
»Verstehe.«
»Dies wird eine noch größere Geheimhaltung gewährleisten«, ergänzte der Doge.
»Das ist mir klar«, sagte Antonio lakonisch. »Und doch muss ich Euch um eine Zusage bitten«, fügte er mit gewisser Geistesgegenwart hinzu.
»Ich weiß nicht, welche Zusage Ihr meinen könntet, aber sagt es nur, und Ihr bekommt sie.«
»Wie ich Euch sagte, werde ich von den Männern des Staatsinquisitors und denen von Capitan Grando beobachtet. Sie werden mein Verhalten nach Maßgabe dessen, was sie mir eben erst sagten, überprüfen wollen. Es liegt auf der Hand, dass mir, sollten sie mich bei der Beschattung erwischen oder dabei, mir heimlich Neuigkeiten oder Informationen über den Mann auf dem Gemälde zu verschaffen, Verhör oder Schlimmeres droht. Daher möchte ich völlige Handlungsfreiheit. Einen Geleitschein brauche ich nicht. Mir reicht Euer Wort.«
»Betrachtet dies als erledigt. Ihr werdet unantastbar sein.«
»Einverstanden.«
»Und Ihr habt mir pünktlich und regelmäßig Bericht zu erstatten. In genau sieben Tagen werdet Ihr zur selben Stunde zu mir kommen und mich über Eure Fortschritte informieren. Und das jede Woche.«
»Ich werde zur Stelle sein.« Bei dieser Antwort zermarterte Antonio sein Hirn, wie er das hinbekommen sollte. Doch was konnte er sonst schon antworten? Konnte irgendjemand in Venedig dem Dogen eine abschlägige Antwort geben? Er glaubte nicht, doch selbst wenn es jemals so eine Person gegeben haben sollte, er war es bestimmt nicht.
»Sehr gut, dann ist auch das geregelt«, schloss der Doge. Dann, an die Dame in Schwarz gewandt: »Geduld, meine Liebe, bald werden sich Eure Zweifel zerstreuen. Zumindest werden wir den Grund für die allwöchentliche Abwesenheit Eures Gatten herausfinden.«
Die Dame schwieg. Antonio konnte nicht begreifen, was geschehen war. Er kam sich vor wie in einem Albtraum, aus dem er so bald wie möglich aufzuwachen hoffte. Doch er wusste, dass er stattdessen, kaum hatte er die Gemächer des Dogen verlassen, erst den ganzen Wahnsinn dieses absurden Vorhabens erfassen würde.
»Nun denn, Signor Canal, ich danke für Eure Aufmerksamkeit und erwarte Euch wie vereinbart heute in sieben Tagen mit den ersten Resultaten.« Noch während er das sagte, war bereits ein Diener in den kleinen Salon getreten, im Begriff, Antonio zur Tür zu geleiten.
»Eure Durchlaucht«, sagte Letzterer, verbeugte sich und mit einem Nicken an die Dame in Schwarz gewandt: »Meine Ehrerbietung, Signora.« Daraufhin wurde Antonio Canal zum zweiten Mal an diesem Abend zur Scala dei Giganti begleitet.
Er war sich nicht sicher, ob das der richtige Mann für diese Aufgabe war, aber zumindest würde er keinen Verdacht erregen. Ein Maler. Sie hatten einen Maler engagiert. Eine gleichzeitig geniale und aberwitzige Entscheidung.
Es fiel dichter Regen, und in einer versteckten Ecke des Campiello zu stehen, den breitkrempigen Hut tief in die Augen gezogen, zu warten und dabei zu versuchen, nicht zu sehr aufzufallen, war keine Kleinigkeit. Erst recht nicht für einen wie ihn, der nicht einmal Venezianer und außerdem wie ein Ausländer gekleidet war. Wenigstens war der Platz nur schlecht beleuchtet, und sein Mantel, der ebenso schwarz war wie die Trikothosen, die brache, und die Stiefel, die er trug, hatten den Vorzug, ihn mit dem Dunkel der Nacht verschmelzen zu lassen.
Im Grunde wüsste er ja schon, wie er sich jemand vom Hals schaffen würde, der versuchen sollte, ihm krumm zu kommen.
Er mochte diese Stadt nicht. Es war klirrend kalt, die Lagune teilweise gefroren, Eisschollen trieben auf dem tiefschwarzen Wasser, darüber Nebelschleier. Das ging ihm furchtbar auf die Nerven, mehr, als er erwartet hätte.
Er erinnerte sich an das Reiten ohne Sattel durch unendliche grün wogende Wiesen, deren Gras nach und nach unter der sengenden Sonne verbrannte. Er fuhr mit der Zunge über den dichten Schnurrbart. Er konnte beinahe das scharf-würzige Aroma der Suppen und die pikanten Paprikanoten schmecken. Er schnaubte, es regnete weiterhin in Strömen, und er behielt die Fenster fest im Blick, auf denen sich die Lichter des Hauses funkelnd in den Tropfen spiegelten. Der Maler war noch wach.
Jetzt würde er bestimmt nicht mehr ausgehen, nicht zu dieser Stunde, mitten in der Nacht.
Genauso gut konnte er nun gehen und morgen früh wiederkommen. Er war kurz davor, das auch zu tun, als jemand ihn übel anraunzte. »Ihr da, was zum Teufel macht Ihr hier, Signore, zu dieser nächtlichen Stunde, und starrt die Fenster anderer Leute an?«
»Wieso?«, gab der Mann im schwarzen Mantel prompt zurück. »Ist das vielleicht verboten?«
»Nicht wenn Ihr dabei keine schlechten Absichten habt. Doch dem Schwert nach zu urteilen, das Ihr am Gürtel tragt, habe ich das Gefühl, dass Ihr Ärger suchen könntet, umso mehr, als, das solltet Ihr wissen, Duelle im gesamten Gebiet der Serenissima Repubblica verboten sind.«
Der Mann schüttelte den Kopf. So ein Pech aber auch! Er hatte sich wie ein echter Anfänger ertappen lassen. Derjenige, der mit ihm sprach, war genauso gekleidet wie er, aber im Gegensatz zu ihm selbst trug dieser die Haare unter dem Dreispitz kurz und wohlfrisiert, außerdem eine weiße Maske. Was für ein Mann hatte es nötig, sein Gesicht zu verbergen?
Doch dieser schien nicht das geringste Problem mit seinem Aussehen zu haben, im Gegenteil, ohne Umschweife erklärte er: »Ich bin der Signore di Notte al Criminal im Sestiere von Castello, und aufgrund der Tatsache, dass Ihr ein Schwert tragt, werde ich Euch nun meinen Männern übergeben, und Ihr werdet wegen des Vergehens gegen die Gesetze der Serenissima die Nacht in der Zelle verbringen. Morgen werden wir dann weitersehen.«
Während er das sagte, zählte der Mann in Schwarz seine Gegner. Der Polizeibeamte vor ihm war sicher geübt in Waffen. Zudem hatte er mindestens vier Wachen bei sich. Doch die würden kein Problem darstellen. Sie trugen schlammverschmutzte Mäntel und breitkrempige Hüte, die völlig durchgeweicht waren. Sie sahen aus wie Männer, die von nichts anderem träumten, als sich endlich schlafen zu legen.
Er würde sich nicht an die Regeln halten. Das tat er nie. Daher trat er aus der Nische, in der er sich versteckt gehalten hatte, zog eine Pistole mit kurzem Lauf und feuerte auf den ersten Rüpel, der sich ihm entgegenstellte. Die Bleikugel drang in den Oberarm des Ärmsten ein und zerfetzte die Schulter, dass Blut und Knochensplitter nur so durch die Gegend spritzten. Der Mann stieß einen unmenschlichen Schrei aus, wie ein Tier, das gerade abgeschlachtet wurde, und stürzte zu Boden. Tot war er nicht, aber er würde gewiss kein Schwert mehr ziehen....Ende der Leseprobe