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Eine Leserzuschrift machte mich auf die authentische Unterlage dieser abenteuerlichen Flucht aufmerksam. Der Titel jener sozialdemokratischen Broschüre aus dem Jahre 1876 lautet: "Die Märtyrer der Commune in Neu-Caledonien. Bericht zweier Entwichener." In kleinerer Druckschrift steht auf dem Titelblatt: "Der Ertrag dieser deutschen Übersetzung ist für die deportierten Communards und deren Familien bestimmt." Nicht zuletzt diese Dokumentation internationaler Solidarität war für mich der Anreiz, den Roman zu schreiben. Zu den von der Thiers-Regierung Deportierten gehörten auch Louise Michel, der weibliche "Garibaldi", wie Clara Zetkin sie nannte, ferner Natalie Lemel und der ehemalige Marineoffizier Kervizic sowie die Journalisten Grousset und François Jourde. Die letzteren zeichneten als Verfasser des Berichts, doch da Jourde zur Fichteninsel deportiert wurde, von der unmöglich zu entkommen war, ist anzunehmen, dass Grousset mit Kervizic flüchtete. Aus begreiflichen Gründen schwiegen sich die Geflohenen über Weg und Umstände ihrer Flucht aus, deshalb mussten sie aufgrund von Studien und einer Reihe von Andeutungen in dem Bändchen rekonstruiert werden. Die Unerschrockenen gelangten nach England, wo sie in der "Times" und anderen Zeitungen die öffentliche Meinung Europas für ihre Leidensgenossen auf Ducos und der Fichteninsel zu mobilisieren suchten. Auch ihrem beharrlichen Bemühen war es zu danken, dass sich die Versailler 1880 zu einer Amnestie genötigt sahen.
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Seitenzahl: 574
Veröffentlichungsjahr: 2015
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E.R. Greulich
Die Verbannten von Neukaledonien
Historischer Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
VORBEMERKUNG
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Impressum neobooks
Eine Leserzuschrift machte mich auf die authentische Unterlage dieser abenteuerlichen Flucht aufmerksam. Der Titel jener sozialdemokratischen Broschüre aus dem Jahre 1876 lautet: "Die Märtyrer der Commune in Neu-Caledonien. Bericht zweier Entwichener." In kleinerer Druckschrift steht auf dem Titelblatt: "Der Ertrag dieser deutschen Übersetzung ist für die deportierten Communards und deren Familien bestimmt." Nicht zuletzt diese Dokumentation internationaler Solidarität war für mich der Anreiz, den Roman zu schreiben.
Zu den von der Thiers-Regierung Deportierten gehörten auch Louise Michel, der weibliche "Garibaldi", wie Clara Zetkin sie nannte, ferner Natalie Lemel und der ehemalige Marineoffizier Kervizic sowie die Journalisten Grousset und François Jourde. Die letzteren zeichneten als Verfasser des Berichts, doch da Jourde zur Fichteninsel deportiert wurde, von der unmöglich zu entkommen war, ist anzunehmen, dass Grousset mit Kervizic flüchtete. Aus begreiflichen Gründen schwiegen sich die Geflohenen über Weg und Umstände ihrer Flucht aus, deshalb mussten sie aufgrund von Studien und einer Reihe von Andeutungen in dem Bändchen rekonstruiert werden. Die Unerschrockenen gelangten nach England, wo sie in der "Times" und anderen Zeitungen die öffentliche Meinung Europas für ihre Leidensgenossen auf Ducos und der Fichteninsel zu mobilisieren suchten. Auch ihrem beharrlichen Bemühen war es zu danken, dass sich die Versailler 1880 zu einer Amnestie genötigt sahen.
Das gewagte Unternehmen war eine von vielen ähnlichen Episoden am Rande des historischen Geschehens der Pariser Kommune, dennoch haben es die Beteiligten verdient, dass man sie und ihre mutige Tat der Vergessenheit entreißt.
Für die zeitweilige Überlassung jener Broschüre möchte ich dem Genossen Alfred Musil herzlich danken.
E. R. Greulich
Zehntausend Meilen hinter der Kimm
Der Sarg war aus Kistenholz, sechs Männer trugen ihn, gebückt unter der leichten Last, als drücke die Sonnenglut sie nieder. Ein langer Zug Deportierter gab dem toten Kommunarden das letzte Geleit, und dicht hinter dem Sarg schritten die wenigen Frauen des Lagers. In der ersten Reihe der Männer befanden sich der Journalist Paschal Grousset und dessen Freund, der ehemalige Marineoffizier Roger Kervizic, der öfter seinen Blick auf eine der Frauen richtete. Sie erschien größer, da sie erhobenen Hauptes ging. Als sie sich kurz umwandte, um den Zug zu überschauen, sah Kervizic die Trauer in ihren großen dunklen Augen. Louise Michels Gesicht wirkte herb, der selbstbewusste Blick, die lange gerade Nase, der dünnlippige Mund verrieten Intelligenz und Tatkraft.
Ein Engpass war erreicht, hier musste eine Felsstufe erklommen werden. Die Männer halfen den Frauen, Kervizic reichte Louise Michel die Hand. Sie sagte leise danke, dabei glitt ihr Blick prüfend über sein Gesicht, und er wusste, sie hatte einige Fragen auf dem Herzen.
Andere Männer übernahmen den Sarg, wie ein altersschwacher Nachen schwankte er vor dem schweigenden Zug her. Am Ende des mühevollen Aufstiegs hoben viele Hände den Schrein von den Schultern der Träger und stellten ihn sanft neben das Erdloch. Es war kaum einen Meter tief. Überall unter dem gelbgrauen Sand der Halbinsel trat bröckliges Gestein zutage. Es hatte die Kameraden des Verstorbenen Anstrengung gekostet, mit unzulänglichem Grabzeug die flache Grube auszuheben.
Dichtgedrängt standen die Trauernden auf dem kleinen Areal mit den vielen Kreuzen aus Treibholz, auf denen die eingekerbten Namen bald verwittert sein würden. Die Deportierten nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, speckige Mützen, ausgebleichte Kappen, selbstgeflochtene Sonnenhüte. Der Sarg wurde hinabgelassen, es polterte dumpf. Paschal Grousset trat an die Grube, er hielt die Hände zu Fäusten verkrampft. Nicht zum ersten Mal sprach er die Abschiedsworte für einen toten Kameraden, und jedes Mal hatte er versucht, durch alle Trauer Zuversicht hindurchleuchten zu lassen. Den Hass in seiner kurzen Rede dämpfte er nicht, er erinnerte daran, dass wieder einer fortgegangen war, zu den gemordeten Kämpfern an der Mauer der Föderierten, zu den Gefallenen auf den Barrikaden, zu den Toten der unvergesslichen zweiundsiebzig Tage.
Nacheinander traten die Frauen vor, jede streute weiße und rote Blüten auf den Sarg, Blumen, die an wenigen Sumpfstellen des Strandes von Ducos wuchsen. Die letzte Deportierte trat vom Grab zurück, und dumpf kam es aus vielen Mündern: "Es lebe die Kommune!"
Unbeweglich verharrten alle in einer Minute des Schweigens. Roger Kervizic stand etwas erhöht, sein Blick wanderte hinunter zur seewärts gelegenen Seite der Halbinsel. Dort unten, hinter dem spärlichen Pflanzenwuchs des Strandes, begann das blanke Wasser mit der Kette seiner Korallenbänke und dem weißen Gischtgürtel, und wo der Azur des Ozeans mit dem Grau des Horizonts verschmolz, zehntausend Meilen hinter der Kimm, lag Frankreich. Einen Augenblick vergaß Kervizic alles um sich, vom Wort Heimat herbeigezaubert, tauchten Gesichter und Bilder auf. Sehnsucht war sekundenlang heißer, körperlicher Schmerz, und sein Ich war erfüllt von dem einen Gedanken, die Flucht muss gelingen, muss, muss, muss.
Einige Kameraden ergriffen die primitiven, selbstgefertigten Schaufeln, schippten mit Bedacht; kein lautes Geräusch sollte die feierliche Ruhe stören. Grousset trat vom Grab zurück. Er hatte den ordnungsgemäßen Vollzug der Bestattung in der Verwaltung zu melden. In losen Gruppen zogen die Trauernden wieder hinunter in die Senke, zu den Zelten, Baracken, Bretterbuden.
"Nun, Freunde? Wann sticht die 'Plymouth' in See?" Louise Michel fragte es in gedämpftem Tonfall und trat mit den beiden Männern den Rückweg an.
"Es ist noch schwieriger geworden, Informationen zu bekommen", antwortete Grousset. "Madame Tichy, eine von den fünfundsiebzig Frauen, die ihren Männern hierher nachgeschickt wurden, hat nun auch ihre Arbeit in Nouméa verloren, nachdem man ihr dreimal hintereinander den Tagespassierschein zu spät aushändigte.
"Hoffentlich ist die 'Plymouth' nicht nur de jure ein britisches Schiff?" Louise Michels Besorgnis war nicht abwegig, es trieben sich genug Segler auf den Meeren herum, deren Ursprungsland sich ganz woanders befand, als Flaggen und Schiffspapiere auswiesen. Allerdings konnte man die Frage auch als Kritik für mangelhafte Nachrichtenarbeit auffassen. Deshalb schnurrte Kervizic ein wenig ironisch herunter: "Heimathafen der Viermastbark 'Plymouth' ist Bristol; dürfte nur mäßig hoch bei Lloyds versichert sein, da noch recht seetüchtig. Segelt unter dem Kommando des Kapitäns Anthony Darnbridge, der kein Freund der Versailler ist, weil er Thiers des versteckten Bonapartismus bezichtigt."
Louise Michel gefiel die freundschaftliche Ironie Kervizics, umso mehr, als nicht nur die Männer des Lagers sie mit betonter Ehrfurcht behandelten, sondern auch die siebzehn Gesinnungsgefährtinnen. Zudem mochte sie den welterfahrenen Leidensgenossen besonders. Mit der Figur eines Athleten, den blauen Augen und blonden Haaren erinnerte er an einen Wikinger. Louise Michel lächelte ein wenig wehmütig, wenn sie daran dachte, dass sie über vierzig Jahre alt war, er dagegen nicht viel älter als dreißig. Auf seinen Ton eingehend, sagte sie: "Wann die 'Plymouth' ausläuft, scheint mir allerdings am wichtigsten für euch."
"Der Kapitän weiß es selbst noch nicht", sagte Kervizic. "Es soll zeitraubendes Hin und Her mit einem der reichsten Händler von Quen geben, der in Nouméa verladen lässt oder in Yate, je nachdem, von welcher seiner Plantagen die Güter kommen."
Grousset bewunderte den Freund wegen seiner Geduld, denn er bereute manchmal, der gutherzigen Louise von seinen Fluchtgedanken gesprochen zu haben, ziemlich überzeugt, sie würde von dem abenteuerlichen Plan abraten. Aber sie hatte vorwurfsvoll festgestellt, endlich habe ein Kamerad den Einfall. Was wäre wohl notwendiger als die Flucht nach Europa, um dort das öffentliche Gewissen gegen die Schande von Neukaledonien aufzurütteln. Und ehe Grousset den Vorschlag aussprechen konnte, hatte sie bereits erklärt, wenn Roger Kervizic mitmache, sei das die beste Chance für ein Gelingen der Flucht. Insgeheim verglich Grousset Louise manchmal mit einer Glucke, die junge Entlein ausgebrütet hat. Ansonsten respektierte er ihre überragenden Eigenschaften nicht weniger als die meisten anderen Deportierten.
Kervizic gehörte zu den vorbehaltlosen Verehrern Louises. Er sah in ihr eine Jeanne d'Arc der Kommune. Sie gehörte zu jenen Menschen, die ohne besonderes Zutun stets schnell die geistigen Fäden einer Gemeinschaft in der Hand haben. Ihre sprichwörtliche Bescheidenheit war das Resultat bewusster Selbsterziehung. Sie fürchtete nichts mehr als die Verführung durch die Macht. Louise misstraute allen Ämtern und Institutionen, Parteien und Vereinigungen, überzeugt, früher oder später entwickelten sie sich zu Apparaturen des Machtmissbrauchs. Darin steigerte sie sich leicht ins Extrem. Über solche und ähnliche Fragen stritt sich Grousset gern mit ihr. Aber für sie gab es kein wichtigeres Thema mehr als das Fluchtunternehmen. Sie wollte es sowohl als revolutionäre Tat wie auch als politischen Auftrag verstanden wissen.
Kervizic sagte nachdenklich: "In zwei Tagen ist Neumond. Dann müssen wir hinüber zur 'Plymouth’. Weiß der Teufel, wann wir wieder eine ähnliche Chance haben."
In der Befürchtung, es könnte ein unersprießliches Wenn und Aber Louises geben, präzisierte Grousset: "Kurz nach elf Uhr abends müssen wir los. Die Hafenpolizei macht ihre Kontrollfahrten um acht, um elf, um zwei und um fünf Uhr. Wir hoffen, für den halben Kilometer nicht viel mehr als eine Stunde zu brauchen."
Louise Michel hatte aufmerksam zugehört, doch ehe sie eine Frage aussprechen konnte, nahm Grousset abermals das Wort. Als er heute wegen der Beerdigung auf der Verwaltung gewesen sei, habe ihn ein Kamerad, angesprochen, den er in seinem bejammernswerten Zustand nicht erkannt hätte. Die Verhältnisse auf der Ile de Pins müssten noch mörderischer sein als auf Ducos, denn einst sei Jourde, Journalist und Schriftsteller ein lebensprühender Kerl gewesen.
Auf der Ile de Pins, über fünfzig Kilometer entfernt von der Südostspitze Neukaledoniens, erinnerte Kervizic, würden sie weit weniger Chancen zur Flucht haben, obwohl die Deportation dorthin juristisch die mildere Variante der Verbannung darstelle.
Wegen angeblicher Unstimmigkeiten in seinen Papieren, fuhr Grousset fort, sei Jourde nach Ducos geholt worden. Sie konnten sich unbeobachtet sprechen und Jourde habe ihm Aufzeichnungen übergeben, da er fürchte, seine Tage seien gezählt. Grousset legte die Hand auf die Stelle, wo er im wasserdichten Brustbeutel neben den eigenen nun auch die Aufzeichnungen Jourdes bewahrte. "Das wird sich dem europäischen Gleichmut in die Haut brennen - wenn uns die Flucht gelingt."
Die Frauen hatten haltgemacht und warteten auf Louise Michel. Sie blieb stehen und sah Grousset an. "Es gibt keine bedeutsameren Aufgaben für einen Journalisten, als Menschengewissen wachzurütteln. Dann wandte sie sich an beide Freunde. "Seien Sie stark, geschickt und ausdauernd. Mein brennender Wunsch: Es soll Ihnen gelingen. Will einmal die Zuversicht Sie verlassen, dann denken Sie daran, Sie müssen Tausenden gefangener Kommunarden das Leben retten." Wie stets, wenn sie ergriffen war, hatte Louise Michel mit Pathos gesprochen. Bewegt drückte sie den Freunden die Hand und wandte sich rasch ab. In ihrer aufrechten Haltung ging sie den Kameradinnen nach, die der abseits gelegenen Frauenbaracke zustrebten.
Kervizic und Grousset sahen bereits den kleinen Trupp der Männer auftauchen, die, müde von der traurigen Arbeit des Begrabens, sich Zeit ließen auf ihrem Weg zurück ins Lager, zurück in die Misere des Untätigseins.
"Wie war denn der Vormittag, hat er sich gelohnt?", fragte Grousset.
Kervizic murmelte noch im Nachhinein einige Flüche. "Eine Satansarbeit." Das heillos verfilzte Tauwerk eines Segelkahns war in Ordnung zu bringen gewesen. Eines jener Boote, die Ducos mit Ware beliefern, wäre bei plötzlich einfallender Bö durch ein ungeschicktes Halsen beinahe gekentert. Der Besitzer, Cagonard, ließ die Ducos-Geschäfte durch seinen Superkargo abwickeln. Monsieur Volvet war ein besserer Handelsmann als Segler, und der Gedanke, was er auszustehen gehabt hätte, wäre die Ladung auf dem Grund der Bucht gelandet, hatte ihm arg zu schaffen gemacht.
Ein derart erschrockener Mann war ein dankbarer Gesprächspartner, und in der Unterhaltung hatte Kervizic vom Ärger des Kapitäns Darnbridge mit Cagonard erfahren, der verlangte, die "Plymouth" solle auch in Yate Fracht aufnehmen, bevor sie nach Europa zurück segele.
"Ich habe das ganze Boot gründlich durchstöbert." Kervizic grinste verschmitzt. „Schließlich brauchte ich Ersatztauwerk und Handwerkszeug. Ich fand beides." Er machte eine bedeutungsvolle Pause und berichtete mit fast knabenhaftem Stolz: "Außerdem ein Seemannsnähbesteck, Schwefelhölzer, ein Klappmesser und - den Clou des Ganzen - eine alte Landkarte von Neukaledonien. Ich habe alles in dreckige Guttapercha gewickelt, in einen löchrigen Eimer getan, obendrauf faulige Lumpen und das an den Posten vorbei zu den Abfalltonnen hinter dem Verwaltungsblock getragen. Keinem verlangte danach, den stinkigen Eimer zu durchsuchen. Aber nach Beendigung der Arbeit haben sie mich gleich am Ende des Landungsstegs gefilzt. Später holte ich mir dann von den Tonnen, was man wohl als ehrlichen Lohn für eine ehrliche Arbeit betrachten darf."
"Galgenvogel." Grousset stupste den Freund anerkennend, ehe er sich eilig entfernte. Wahrscheinlich würde er wegen seiner Verspätung auf der Verwaltung Ärger haben. Er erreichte den mit Richtpflöcken markierten Weg, der einst zur Straße hatte ausgebaut werden sollen und dann liegengeblieben war, versandet, wie alle begonnenen Projekte. Vom schnellen Gehen schweißnass, war Grousset trotzdem gut gelaunt, er dachte, wie Roger jene Kostbarkeiten aus dem Kahn zu schmuggeln gewusst hat, ist charakteristisch für ihn. Louise schätzt seine Lebenstüchtigkeit besonders. Erstaunlich, dass Roger aus einer jener begüterten Familien stammt, die meist ihre Kinder verhätscheln und für ein raues Leben untauglich machen. Vielleicht hat ihn gerade deswegen der Vater in eine der härtesten Schulen gegeben. Es klingt wahrlich nicht spaßig, was Roger von seiner Zeit als Seekadett erzählt. Kleinste Verstöße wurden mit der neunschwänzigen Katze geahndet. Klettern an rostigen Ketten oder Hangeln an Stahltrossen mochte blutige Hände geben, wer aber seinen Schmerz zeigte, der wurde vor versammelter Mannschaft lächerlich gemacht. Für gutes Schießen gab es Landurlaub, für schlechtes Schießen Arrest. Englisch und Spanisch waren Pflichtfächer, wer seine Lektion nicht gelernt hatte, bekam einen Tag lang nichts zu essen. Nicht zuletzt auch gegen derartige Menschenverachtung haben wir auf den Barrikaden gestanden, dachte Grousset, aber was hat den Freund stark gemacht? Dieser Widerspruch beschäftigte den Journalisten nicht zum ersten Mal. Die Kommissköpfe einer zum Abtreten reifen Gesellschaft drillten junge Männer zum Schutz dieser Gesellschaft. Niemand hätte sagen können, wie viele aufgrund der unmenschlichen Methoden zerbrachen, wie viele desertierten und dann fast zwangsläufig kriminell wurden. Der größere Teil ließ sich abrichten zum Kriechtier oder zum Hetzhund, der kleinere Teil gewann das andere Ufer. Rogers geistige Regsamkeit hatte ihm sicherlich geholfen, fortschrittliche Ideen aufzunehmen. Doch wann, wie ist das geschehen? Kann ein Mensch sagen, an dem und dem Tag bin ich Revolutionär geworden? Es gibt doch ebenso intelligente Burschen auf der Gegenseite, weshalb hat nicht auch ihnen das Licht der Erkenntnis geleuchtet?
Grousset näherte sich eilig dem Verwaltungsgebäude, das gegen die starke Sonnenstrahlung durch einen weißen Anstrich geschützt war. Der begrünte Innenhof war eine Augenweide. In der Mitte des geräumigen Patios sprudelte ein Springbrunnen. Ingenieure und Techniker aus den Reihen der Deportierten hatten eine Apparatur installiert, ähnlich jenen Schöpfwerken mit Schneckengetriebe, die den Bauern am Nil seit Jahrtausenden ihre Felder bewässern. Durch ein Göpelwerk getrieben, wurde das Wasser aus einem Brunnenloch in der Nähe des Strandes geschöpft und zu einem Bassin im Felsgestein oberhalb des Verwaltungsbaues befördert, aufgrund der Fallkraft erzeugte es im Innenhof eine Fontäne, die angenehme Kühle und das Geräusch erfrischenden Regens spendete. Die Maden, wie die Deportierten die Leute der Verwaltung nannten, waren weniger an ihren Amtstischen zu finden als auf den Bänken des Laubenganges um den Patio. Häftlinge hatten diese Oase schnellen Fußes zu durcheilen, hätte sich einer hier nur fünf Minuten erquickt, drei Tage Arrest in dunklem Felsloch wären ihm dafür sicher gewesen.
Grousset vermied es grundsätzlich, den Patio zu betreten. Denn es gab Maden wie auch Offiziere, die aus sadistischem Spaß behaupteten, ein Gefangener habe die Hände ins Becken gehalten, sich die Stirn mit Wasser gekühlt.
Das Zimmer mit der Häftlingskartei, den Journalen für die Eingänge und für die Abgänge, wie man die Verstorbenen hierorts bezeichnete, lag im ersten Stock. Der amtlich bestallte Journalführer war wieder einmal nicht anwesend, das hieß, er erholte sich beim Brunnenplätschern vom schweren Tagewerk. Grousset verspürte keine Sehnsucht nach drei Tagen Arrest, also musste er warten. Er setzte sich so, dass er nicht überrascht werden konnte. Durch ein weitgeöffnetes Fenster drang das wohltuende Geräusch der Fontäne. Die Wasserkunst war ein Symbol dafür, was Hirne zu bewegen, Hände zu bewerkstelligen vermochten. Dass Ducos mehr Hölle als Oase wurde, lag nicht am Mangel von Arbeitskraft und Arbeitseifer. Bequemlichkeit und Schlamperei hatten jeden Tatendrang erwürgt. Nicht einmal die Gefangenenbaracken waren fertiggebaut worden.
Grousset empfand Genugtuung darüber dass der weiße Kastenbau, diese Zwingburg der Bedrücker, zugleich deren schwächsten Punkt bedeutete. Die Gefangenen, die hier arbeiteten, waren die Augen und Ohren der Kommunarden von Ducos.
Commissar Fenichon kam, und Grousset schnurrte seine Meldung herunter. Fenichon erkundigte sich voller Hohn, ob das Begräbnis etwa bis jetzt gedauert habe. Mit dem treuen Blick des erfahrenen Sträflings log Grousset dem Commissar ins Gesicht, seit einer Stunde sei er auf der Suche nach ihm; Fenichon war nicht dumm, hatte nur kein Gespür für versteckten Spott. Ständig forschte er nach einem doppelten Sinn in den Worten Groussets, manchmal, wenn er einen entdeckt zu haben glaubte, rächte er sich dafür mit wüsten Beschimpfungen. Heute war er zu allem zu träge. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass, wenn er seine Havanna aufgeraucht haben würde, für ihn Büroschluss sei. Diesen Genuss wollte er sich keinesfalls vergällen. Er hielt Grousset das Journal hin, der setzte seinen Schriftzug in die entsprechende Spalte, und Fenichon knurrte, er solle eilen, ihm aus den Augen zu kommen. Dieser Ärger mit den Abgekratzten stinke ihn so langsam an.
Das ist nun die Schlusszeremonie für einen dahingegangenen Kommunarden, dachte Grousset. Cochet hatte nicht wenige Zeichen seines Wirkens in der Zwingburg der Maden hinterlassen, an kunstvoll gefugten Treppengeländern, an Rahmen und Türen, Möbeln und Holzgerätschaft, all dem, was ein Gebäude bewohnbar macht. Zugleich Möbel- und Bautischler, Zimmermann und Drechsler, hatte er eine gutgehende Werkstatt in Paris besessen, doch weil seine Fortschrittsgläubigkeit ebenso stark war wie seine Werkbesessenheit, war er auf die Barrikade gegangen. Die entsetzliche Überfahrt, Hunger und Durst, allem hatte er widerstanden, gestorben war er, Mitte Fünfzig erst, als seine Hände zum Nichtstun verurteilt wurden, als die Arbeitslosigkeit zur härtesten Strafe auf Ducos wurde.
Grousset machte einen kleinen Umweg, vorbei an jener Plattform mit dem Göpelwerk. Der Esel, der es bewegte, hatte Bastkappen vor den Augen. Merkte er, dass er sich ständig nur im Kreis bewegte, er bliebe stehen, weder Schläge noch Schmeichelei brächten ihn von der Stelle, wusste Grousset, und er fand es nicht verwunderlich, dass es über den Esel vielerlei Fabeln gibt.
Das Plateau erlaubte einen unbegrenzten Rundblick über Reede und Hafen von Nouméa. Sehnsüchtig schaute Grousset hinüber zur "Plymouth". Es wäre wie ein Märchen, segelte das Schiff gleich davon, nachdem wir aufgeentert sind, dachte er. Leider geschehen Wunder selten, aber wie auch dieser Kapitän Darnbridge beschaffen sein mag, es heißt, er sei kein Anhänger der Versailler. Es heißt...? Man soll gleichlautende Informationen nicht anzweifeln, sonst könnten wir unsern Plan begraben. Schließlich basiert er darauf, dass wir dem Kapitän keine andere Wahl lassen, als zwei Menschen zu retten oder sie dem Tod auszuliefern.
Ein Offizier tauchte am Hauptweg zur Plattform auf, Grousset verschwand rasch in einen abschüssigen Seitengang, der in die Nähe des Strandes und von dort zum Lager führte. Die Sonne stand schon tief, Grousset traf einzelne Mitgefangene, tagsüber war das Lager eine menschenleere Einöde, alle hatten irgendeinen schattenspendenden Platz aufgesucht, der gegen die mörderische Tagesglut Schutz bot. Die Wüstenei machte auf den Uneingeweihten kaum den Eindruck eines Gefangenenlagers. Es stand nicht hinter jedem Gefangenen ein Wachtposten, man sah keine scherbengespickten Mauern, weder Stacheldrahtzäune noch Beobachtungstürme, das Areal der Frauen hatte lediglich eine symbolische Drahtumgrenzung.
Ein Gefangener löste sich von einer Gruppe an jener Sonnenschutzmauer, die Deportierte aus Felssplittern, Steinen und großen Muscheln aufgeschichtet hatten. Er kam auf Grousset zu und sagte: "Ich bin Emile Bapaume. Natalie lässt grüßen. Es geht ihr besser. Eine Pflegerin im Hospital tut für sie, was nur möglich ist."
"Natalie Lemel?" Grousset fragte, weil er Zeit gewinnen wollte, sich zu erinnern, woher ihm der Mann bekannt war.
"Natürlich", erwiderte der Gefragte, "ist denn noch eine andere Natalie im Hospital?"
"Du hast selber mit ihr gesprochen?"
Bapaume machte eine Kopfbewegung zu den Männern hin. „Jean Poctoire hat gestern im Hospital ein paar Fensterscheiben eingesetzt. Natalie lässt natürlich alle grüßen, aber Jean meinte, du kennst sie besser als die meisten."
Grousset fragte geradezu: "Bei welcher Gelegenheit sind wir uns eigentlich begegnet?"
"Als kaum noch Hoffnung auf den Sieg bestand." Bapaume sagte es mit dem Groll des vom Unrecht Geschlagenen. "Du kamst zu unserm Stützpunkt hinter der Barrikade in der Rue de Rivoli, glaubtest Kervizic ist bei uns. Wenigstens hattest du das neueste Exemplar deiner Gazette mitgebracht - und wohl auch das letzte. Ich habe mit dir geschimpft, ihr Federfuchser seht die Sache zu rosig. - Leider habe ich Recht behalten."
"Wer sah zu diesem Zeitpunkt noch richtig durch." Grousset ärgerte sich im selben Augenblick über seine lendenlahme Erklärung und stippte Bapaume freundschaftlich gegen die Brust. "Mangel an Verpflegung, Mangel an Munition, Mangel an Geschützen - sollten wir euch da noch das Herz schwer machen mit pessimistischen Artikeln?"
Ein wenig verweisend, fragte Bapaume: "Trinkst du nicht auch lieber reinen Wein?" Da seine direkte Art Grousset betroffen gemacht hatte, wurde. Bapaume versöhnlicher: "Lass gut sein, ihr habt es nicht böse gemeint." Er berührte den Journalisten am Arm. "Gehen wir ein Stück."
Bapaume erzählte, dass er den Namen Kervizic damals nicht zum ersten Mal gehört habe. Später habe er sich öfter gefragt, ob Grousset und Kervizic sich noch gefunden hätten.
Grousset beschäftigten Fragen über Natalie Lemel. Gibt es noch Hoffnung für sie? Wird man sie der Auszehrung noch einmal entreißen können?
Bapaume wiederholte die Frage, und Grousset entschuldigte sich für seine Geistesabwesenheit. Jene Tage wurden wieder in ihm lebendig. "Zu gern hätte ich ihn schon in Paris kennengelernt. Während ich Louise mehrmals inmitten des Kampfgeschehens fand und über sie berichten konnte, jagte ich dem legendären Roger Kervizic vergebens hinterher. Immer war er schon wieder woanders eingesetzt, um Feindeinbrüche abzudämmen, Ausfälle vorzubereiten. Erst hier auf Ducos trafen wir uns. Er kam mit demselben Transportschiff, das auch Louise und Natalie brachte. Wir Gefangenen standen am Strand, die Wachtposten hatten es aufgegeben, uns zurückzuscheuchen, es war schon schwierig für sie, den Landesteg frei zu halten. Dort legte immer nur eine Schaluppe mit Deportierten an, die Posten brüllten und stießen sie, als hätten sie Galeerensklaven, vor sich. Tausende Augen schauten aufmerksam, ob unter den Ankommenden ein Freund oder Bekannter sei. Zurufe suchten die sich Dahinschleppenden aufzurichten. Als letzter kam Roger Kervizic, er hatte schwächeren Kameraden aus dem Boot geholfen. Provozierend aufrecht ging er, und alle wussten, warum er es tat. Der Posten am Schluss wusste es auch. Mal ging er neben Roger, mal hinter ihm, behauptete, er trödle bewusst, und beschimpfte ihn unaufhörlich. Es gab eine kleine Stockung. Um seinen Vordermann nicht zu treten, blieb auch Roger einen Augenblick stehen. Es war ganz in meiner Nähe. Der Posten baute sich vor ihm auf und blökte aufreizend: 'Weshalb tanzt du dauernd deinen eigenen Tanz, du Dreckhaufen?' Ich sah, wie sich Rogers Faust ballte. Nur ein Gedanke beherrschte mich, der darf wegen einer Unbedachtheit nicht vor die Hunde gehen. Als Kervizic die Faust anhob, warf ich mich zwischen ihm und dem Posten auf die Erde, erhob mich sofort wieder und brüllte: 'Verzeihung, Monsieur Sergeant, mir ist mein Schneuztuch auf die Erde gefallen.' Der Kupon war einen Augenblick verdutzt, ich verschwand schnell in der Masse der Kameraden, und Kervizic folgte schon wieder seinem Vordermann, als habe ihn nie der Jähzorn gebeutelt."
Bapaumes bärtiges Gesicht mit den leicht entzündeten Augen verzog sich in gutmütigem Spott. "Es war Lagergespräch, Kervizic war der Held des Tages. Eigentlich ungerecht, denn er hatte euch beide in Gefahr gebracht."
Ein wenig verlegen strich Grousset sich über den Nasenrücken. "Die öffentliche Meinung honoriert mutiges Verhalten, ob es taktisch richtig ist oder nicht. Wer seinen Peiniger niederschlagen will, der ist ein Held, basta! Haben wir es ähnlich nicht oft genug in den Tagen der Kommune erlebt?"
Bapaume spürte, dass Grousset es eilig hatte, und so stellte er nur noch eine Frage. Er, Bapaume, wolle sich mit einigen Kameraden eine ähnliche Erdhütte bauen, wie Grousset und Kervizic sie hätten. Ob Grousset einige Tipps dafür wüsste?
Grousset bedauerte insgeheim, dass er nicht sagen konnte, spart euch die Mühe, in zwei Tagen könnt ihr unsre Hütte übernehmen. Andrerseits war Bapaume ein Kamerad, den man nicht leichtfertig vertröstete. Also erklärte Grousset dem Bärtigen einige Kniffe und Pfiffe, sodass der ahnungsvoll schmunzelte, und das hieß, dieser Journalist versteht von seinem weltbefahrenen Freund zu lernen. Denn man wusste im Lager, es war Kervizic, der den Gedanken gehabt hatte, der Höllenglut in den Baracken und Zelten zu entfliehen, indem er in den sanften Abhang zum Strand hin eine Erdhütte hineinbaute. Material dazu lieferte das Meer. Wer sich die Mühe machte, ständig den Strand von Ducos abzulaufen, fand angespülte Planken, Bretter, Bohlen, Stämme und Äste.
Bapaume gab Grousset die Hand. "Eine Mühe, die sich auszahlt. Wer nicht jede Nacht zu Schweiß zerfließt, hat vielleicht Chancen, Ducos zu überstehen."
Als Grousset in die Hütte trat, saß Kervizic wie abwesend vor dem vergilbten Kartenblatt. Landkarten hatten ihn schon als Knaben fasziniert, von ihrer, Betrachtung angeregt, konnte man sich die tollsten Abenteuer ausdenken.
Grousset machte einen Scherz, der auf jene Jugendromantik anspielte, Kervizic erwiderte, wer Ducos ausgesucht habe, um Gefangene auf Nummer Sicher, zu wissen, sei ein verteufelt kluges Köpfchen gewesen.
"Fundamentale Erkenntnis", spöttelte Grousset, "leider nicht neu."
"Bis auf einige Einzelheiten", widersprach Kervizic, "die einem erst dann in aller Deutlichkeit klarwerden, wenn man die Karte studiert." Kervizic zeigte mit der Spitze des Klappmessers auf die buntbedruckte Leinwand. "Nehmen wir an, es gelingt, nachts schwimmend den Hafenkai zu erreichen. Dann sind wir auf der Hauptinsel Neukaledonien - aber der Heimat nicht näher als auf ihrer Halbinsel Ducos."
"Allerdings mit dem Vorteil, weniger hungern zu müssen. Flora und Fauna Neukaledoniens sind gegen Ducos paradiesisch und bieten genug Nahrung."
„Dafür wirst du gejagt wie ein wildes Tier, musst dich vor den Menschen verstecken, als seien sie Kopfjäger." Kervizics Falten auf der Stirn vertieften sich. "Ein Meer zwischen der Freiheit und den Gefangenen ist zuverlässiger als die dicksten Mauern. Gnädig überlässt man den Deportierten die Halbinsel; denn eine Flucht von Ducos scheint absurd. Aus dem Grund sind sich Maden und Wachhunde unserer so sicher."
"Zum Glück wollen wir nicht nach Neukaledonien, sondern nach Europa, wohin uns die brave Viermastbark 'Plymouth' bringen wird."
"Das ist unsere Chance", Kervizic murmelte es nicht gerade enthusiastisch. "Und wer Chancen nicht nutzt, ist sie nicht wert."
Er legte das Kartenblatt zusammen und schob es in einen Brustbeutel, ähnlich dem Groussets. Sie beratschlagten, was sie beim Weggang mitnehmen wollten. Es galt, sich so wenig wie möglich zu belasten. Andererseits konnten Dinge wie Zündhölzer oder ein Klappmesser lebenswichtig werden. Was sie im vereinbarten Versteck zurückließen, würde Louise Michel unter den Gesinnungsfreunden verteilen. Grousset schlug vor, eine Nachricht an Louise ins Versteck zu legen, dass Emile Bapaume die Erdhütte bekommen sollte.
"Wer ist Bapaume?" fragte Kervizic.
"Ich hatte ihn beim Stützpunkt hinter der Barrikade in der Rue de Rivoli kennengelernt. Inzwischen legte er sich einen Vollbart zu und hat sich bislang dahinter versteckt. Heute hat er mir Grüße von Natalie übermittelt."
"Deshalb soll er unsere Bude haben?"
"Er ist ein erfrischend kritischer Kopf."
"Kritische Köpfe gibt es mehr auf der Welt."
"Trotz seiner skeptischen Ader hat Bapaume bis zum Schluss gekämpft. Dazu gehört mehr, als wenn ein Brausekopf in blindem Eifer mitrennt."
Kervizic stand auf und trat vor die Hütte. Von See her wehte es frisch. Tief ein- und ausatmend reckte er sich. "Ja", sagte er, "dazu gehört mehr. Soll Bapaume die Hütte haben."
Ertrinken wäre der bessere Tod
Roger Kervizic stand regungslos und starrte hinüber zu den Lichtern Nouméas, nahe und doch Welten fern, Lockung und Drohung zugleich. Sacht, fast unhörbar liefen die Wellen auf den Strand, das Wasser der Bucht war wenig bewegt, zittrig spiegelten sich darin die Positionslaternen der Schiffe auf Reede. Kervizic sah es und sah es nicht. Würde dieser Darnbridge sie der Hafenpolizei übergeben oder die "Plymouth" mit ihnen nach Europa segeln? Schickte der Kapitän sie wieder ins Wasser, dann hieß das Flucht durch Neukaledonien zur nächsten Hafenstadt. Hunger und Durst leiden, in schwülen Mittagsgluten schwitzen, in kalten Nächten frieren. Sie müssten die Gefahr riechen und sie umgehen, die Gefahr hören und zurückweichen, doch wenn ihr nicht zu entrinnen war, galt es, den ersten Schlag zu führen. Der Gedanke erregte Kervizic nicht sonderlich. Er war mehrmals verwundet worden, jede Verwundung ein Versuch, ihm das Leben zu nehmen. Trotzdem hatte er nie Panik in sich aufkommen lassen, und nicht zuletzt deshalb war er der Überlebende geblieben. Roger Kervizic sah die Dinge nüchtern, dennoch war es ihm lieb, sagen zu können, er habe stets nur Notwehr geübt beim Verteidigen des Rechts, und wen er getötet habe, der sei das Opfer eigenen Denkmangels, denn für das Unrecht sterben sei noch dümmer, als für das Unrecht leben.
Wenn ihn die nächste Zukunft beschäftigte, dachte Kervizic weniger an sich als an den Freund. Seitdem sie sich zusammengetan hatten, fühlte er sich für Paschal verantwortlich. Zumindest einer musste nach London gelangen, und das war Paschal, der Mann der Feder. Ich muss an Kraft und Entschlossenheit hinzutun, wusste Kervizic, was dem Freund in heiklen Situationen abgehen mag. Immerhin habe ich einen Verbündeten: Manon Dupriaux. Welche Taten sind nicht schon um der Liebe willen vollbracht worden, und nichts hilft einem Mann besser, durchzuhalten, als die Liebe zu einer Frau. Kervizic erlebte es tagtäglich nicht nur am Freund, sondern auch bei all jenen Leidensgefährten, die nicht aufhörten zu hoffen, irgendwann ihre Liebe wiederzusehen. Er beneidete sie um diese Hoffnung. Seinen Schmerz, die Gedanken an den Tod Claudines, wünschte er in die hintersten Fächer seines Bewusstseins einzusperren, und doch erinnerte ihn so vieles an sie. Um sich abzulenken, überprüfte er noch einmal die Schwimmbündel aus Schilf und Binsen, die er aus dem Versteck geholt hatte. An der Unterseite geschickt verknüpft, sah das grünbraune Gewirr von oben aus wie ein von Wind und Wellen zusammengetriebener Haufen Strandpflanzen. Paschal nannte sie Storchennester und war skeptisch in Bezug auf ihren Nutzen. Doch gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit hatte Kervizic sie hergestellt, fest überzeugt von ihrer Nützlichkeit.
Er duckte sich hinter dem Strandgebüsch. Grousset näherte sich, rief flüsternd: "Roger?"
Kervizic richtete sich auf, und als er sah, wie der Freund zusammenzuckte, bemerkte er leise lachend, Leute in ihrer Lage sollten sich die Schreckhaftigkeit abgewöhnen. Rasch begannen sie sich auszuziehen und aus ihrer Kleidung handliche Bündel zu schnüren.
Mit einer Kopfbewegung wies Kervizic über die Bucht zur Stadt, wo nach und nach in den Fenstern der Häuser das Licht erlosch. "Die müssen jetzt schlafen gehen - aber wir dürfen baden." Nachdem er ihre Sachen unter den Storchennestern befestigt hatte, schob er sie ein Stück ins tiefere Wasser und bohrte schräg von oben ein fingerdickes Schilfrohr durch jeden Haufen.
"Und du meinst, wir brauchen die Dinger wirklich?" fragte Grousset. Sie standen beide nebeneinander, das Wasser ging ihnen bis an die Brust. Unwirsch erwiderte Kervizic: "Aber ja, Paschal. Bei Gefahr unter die Haufen tauchen und durch das Schilfrohr atmen. Versuch's noch mal."
Gehorsam verschwand Grousset unter Wasser. Wie schon mehrmals probiert, pustete er das hohle Schilfstück vom Wasser leer und fand, dass man ausreichend mit Luft versorgt wurde, hatte man sich an das längere Ein- und Ausatmen erst einmal gewöhnt. Auftauchend spie er heftig Wasser aus. Er hoffte inbrünstig, sie würden die fragwürdigen Luftspender nicht benutzen müssen.
Kervizic band sich die Leine um den Leib, an der er das Storchennest hinter sich herzuziehen gedachte, dabei ließ er Laute hören, die ein Lachen sein sollten. „Auf der 'Plymouth' werden sie uns mit Willkommensgirlanden empfangen."
Grousset prophezeite: "Selbstverständlich glaubt uns der Kapitän, dass wir nur harmlose Beachcomber sind."
"Es fehlen ihm drei Mann, deshalb müsste er uns mit Freudentränen begrüßen." Kervizic wies mit der Hand die Richtung zum fernblinkenden Hecklicht der "Plymouth" und warf sich mit kräftigem Schwung nach vorn.
Mit etwas weniger Elan tat es ihm Grousset nach. Da er bestenfalls ein mittelmäßiger Schwimmer war, bemühte er sich um gleichmäßige, kraftsparende Stöße. Nun, da das laue Wasser der Bucht von Nouméa seinen Körper umfloss und er eine Schwimmstrecke bewältigen musste, wie er sie aus freien Stücken so lang nie gewählt hätte, war das Schilfbündel ein Stück Zuversicht, gefertigt von Roger Kervizic, der zu den seltenen Naturen gehörte, denen auch noch etwas einfällt, wenn die meisten schon aufgeben. Grousset wusste von einigen gescheiterten Fluchtunternehmen, immer war, mehr oder weniger listenreich aber vergeblich, versucht worden, über die vielmals gesicherte Landenge nach Neukaledonien zu gelangen.
Es beruhigte und ärgerte Grousset zugleich, dass sich Kervizic in regelmäßigen Abständen umschaute. Als er selbst den Blick zurückwandte, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie nahe ihnen die Stein- und Sandödnis des Lagers noch war. Im Licht des südlichen Sternenhimmels sah, er die dunklen Baracken im Hintergrund und die sich ebenfalls dunkel abhebenden Grünstreifen des Strandes mit dem Schilf und dem Strauchwerk.
Diese Hecklaterne kam und kam nicht näher. Grousset spürte, wie seine Kräfte nachließen, und Zweifel beschlichen ihn, ob er es schaffen würde. Als ob Kervizic es bemerkt hätte, wartete er, bis Grousset heran war. Er lachte den Freund an und spie eine kleine Fontäne in die Luft. Sie hingen jeder an seinem Storchennest, ohne sich bewegen zu müssen, und Grousset rief sich zur Ordnung: Du kannst dich doch ausruhen, wann immer du willst.
Als könne er sich nicht lassen vor Übermut" spie Kervizic abermals einen Wasserstrahl in die Höhe. "Tummeln wir uns wieder ein bisschen."
Grousset schwamm, auf der Seite liegend, weiter, vom Brustschwimmen tat ihm der Nacken weh. Er nahm sich vor, die nächste Verschnaufpause so lange wie möglich hinauszuschieben, es musste für den Freund quälend sein, sich ständig zurückzuhalten.
Obwohl sie noch mehrmals haltgemacht hatten, fühlte sich Grousset dann mit einem mal wie ausgepumpt und seltsam gleichgültig, beharrlich bohrte immer wieder die Frage: Lohnt es, weiterzumachen? Auf Ducos verrecken nach und nach alle an Krankheit, Sehnsucht, Unterernährung. Ein stilles Ertrinken wäre der bessere Tod. Aber war er nicht schon mit dem Gedanken an Flucht nach Ducos gekommen? War er nicht begeistert gewesen, als Louise Michel Roger Kervizic als zweiten Teilnehmer vorgeschlagen hatte? Gewaltsam schüttelte er die Apathie ab, machte wieder energische Schwimmstöße. Nach einer Weile warf er sich auf die andere Seite und war überrascht. Deutlich sah er jetzt das rote Backbordlicht der "Plymouth", die, leise an ihren Ankerketten schwoiend, sich ein wenig gedreht haben musste.
Schon hoben sich die Aufbauten der Viermastbark erkennbar ab, als das Geräusch von Ruderschlägen an sein 0hr drang. Er tauchte instinktiv, und als er das Schilfrohr ertastet hatte, pustete er hastig das Meerwasser hinaus. Quälend langsam näherte sich dumpfes Dröhnen, dann war Rauschen und Sprudeln ganz in der Nähe. Ein klatschender Schlag drückte Grousset mitsamt dem Nest tiefer, und plötzlich bekam er keine Atemluft mehr. Einer hatte mit dem Ruder auf den Haufen geschlagen. Aus Spaß oder weil man den Mann darunter entdeckt hatte? Durch den Schlag musste das Schilfrohr geknickt worden sein, Grousset spürte mit Entsetzen, wie schnell sich die im Körper befindliche Luft verbrauchte. Ließ man sie sehr langsam ab, waren einige Sekunden herauszuschinden. Er tat es, und das Brausen in seinen Ohren wurde immer lauter, gleich würde ihm der Schädel zerspringen. Trotz der Furcht, mit dem Ruderblatt eins über den Kopf zu bekommen, tauchte er auf.
Die grellen Sonnen vor seinen Augen beendeten ihren rasenden Tanz, und nun sah er, dass sich das Boot bereits ein Stück entfernt hatte. Tief atmete-er die köstliche frische Nachtluft ein. Er fühlte sich erlöst und zugleich seltsam schwach. Das weiche, laue Wasser schien ihn mit saugenden Armen hinabziehen zu wollen, krampfhaft hielt er sich an dem Storchennest fest.
Mit schnellen Schwimmstößen erreichte ihn Kervizic. Er fluchte. Das Boot habe ihn ein Stück dwars zuerst passiert, rechtzeitig habe er tauchen und bald wieder hochkommen können, da sich die im Boot Groussets Schilfbündel zugewandt hatten. Derart qualvolle Minuten habe er selten durchgemacht. Die Burschen, offenbar vom Landgang zurückkehrende Seeleute, waren derart voll, dass sie auf der Reede suchend herumruderten, um ihr Schiff zu finden.
Grousset lächelte matt. "Hättest du lieber stocknüchterne Hafenpolizisten in einem Patrouillenkahn gehabt?"
"Fünf Minuten später, und wir wären auf der 'Plymouth' gewesen.
Vom Schreck sei es immer noch wie gelähmt, gestand Grousset. Kervizic nickte verständnisvoll. Jetzt könne man schon beinahe zur "Plymouth" hinüberspucken.
Endlich am Riesenleib des Segelschiffes konnten sie das nasse Holz mit Händen fassen. Es war behaftet mit Algen und Muschelgetier und dennoch ein besonderes Holz. Diese Planken bedeuteten ein Stück England.
Kervizic ließ seine Blicke schweifen. "Wo lässt sich am besten aufentern?“
Was für ein Spaß, wenn wir wieder zurückschwimmen müssten, dachte Grousset. Ihm war alles andere als spaßig zumute.
Kervizic tauchte neben ihm auf und berichtete, die Flut drücke das Schiff dem Hafen zu, deshalb verlaufe die Heckankerkette in günstiger Schräge. Sie schwammen zum Heck, und Kervizic hangelte nach oben, sein nasses Kleiderbündel auf dem Rücken.
Leise überstieg er die Schanzung und ließ sich auf den Planken niedergleiten. Er atmete heftig. Wehmütig dachte er: es gab Zeiten, da hattest du mehr Reserven. Sein Pulsschlag beruhigte sich, er suchte sich zu orientieren und überlegte, dass es am günstigsten wäre, ungesehen zum Kapitän zu gelangen. Der Gedanke war jedoch kaum zu Ende gedacht, als plötzlich ein Mann der Nachtwache vor ihm stand und ihn anfauchte: "Ehe die 'Plymouth' in See geht, bist du als blinder Passagier längst verreckt."
Kervizic setzte auf Matrosengehorsam, im Ton des befehlsgewohnten 0ffiziers herrschte er den andern an: "Wer spricht von blinden Passagieren? Wir sind Schiffbrüchige, die ein Recht auf Hilfe haben. Lassen Sie die Strickleiter hinunter, ehe mein Kamerad ertrinkt.“
Eingeschüchtert tat der Mann wie befohlen. Dann wurde ihm das Seltsame der Situation bewusst, brüsk drehte er sich zu Kervizic um. "Schiffbrüchige? - Im Hafen?"
Der Gefragte erwiderte sehr leise und sehr streng: "Nur der Kapitän ist befugt, Erklärungen entgegenzunehmen. Wissen Sie das nicht?"
Gerade die leise Zurechtweisung reizte den andern, laut zu werden. "Halte hier ich die Heckwache oder der Kapitän?"
Einen Augenblick unterbrach Kervizic das schwierige Geschäft, seine feuchte Kleidung anzuziehen, er trat auf den Mann zu und sagte fast flüsternd: "Wären Sie der Kapitän, würden Sie mich ja wohl nicht so anbrüllen. Bemühn Sie sich um Manieren, Mann."
Der Janmaat reagierte plötzlich wurstig. "Was muss ich mich mit irgendwelchen Halunken rumärgern, soll doch der Bootsmann ...“
Noch ehe er sich ganz umgewandt hatte, um die Verantwortung an seinen nächsten Vorgesetzten weiterzugeben, zitierte Kervizic akzentuiert: "Paragraph sechs des Internationalen Seerechts: Über jeden aufzunehmenden Schiffbrüchigen entscheidet allein der Kapitän des Schiffes." Der Sailor zögerte, obwohl er nicht wusste, dass der Paragraph erfunden war. Kervizic stieß nach. "Sie werden das, Gesetz nicht brechen und uns zum Kapitän bringen.“
Grousset war eben über die Schanzung gestiegen und dabei, seine nassen Sachen auszuwringen. Kervizic half ihm beim Anziehen, während der Mann der Heckwache zusah und maulte, so was von Unverfrorenheit habe ihm bisher noch keins der Sieben Meere vor die Füße gespült. Es lag uneingestandene Anerkennung darin. "Wenn die Herren Schiffbrüchigen mir bitte folgen wollen."
Die Schritte des Janmaats verloren bald an Forsche, mit eingezogenem Kopf stieg er den Niedergang zur Kapitänskajüte hinab. Er klopfte an die Tür und rief, als sei er selbst in Seenot: "Käpt'n! - Hier sind zwei Schiffbrüchige!"
Zunächst herrschte Stille, dann ertönte lautes Fluchen, das so lange anhielt, bis der Kapitän Licht gemacht und in seine Kleider gefahren war. Endlich wurde die Tür aufgerissen, und der Bordgewaltige polterte: "Herein mit den Hundsföttern!"
Der Mann der Nachtwache zog rasch und leise die Tür von außen zu.
Kapitän Anthony Darnbridge stand mitten im Raum. Die Fäuste in die Seiten gestemmt, musterte er die beiden mit zornsprühenden Augen, sein gepflegter Backenbart schien vor Grimm zu zittern. "Verunreinigt dieser Gossenkehricht meinen Kahn und erklärt sich mitten im Hafen zu Schiffbrüchigen!"
"Der Marin muss sich verhört haben, Kapitän", sagte Kervizic.
"Wir sind Seeleute ohne Schiff. Es hieß, die 'Plymouth' laufe morgen früh aus, und da sind wir vorsichtshalber noch nachts aufgeentert.“
Die Stimmung des rüstigen Sechzigers mit dem eisgrauen Haar schien umzuschlagen. Er lachte. So etwas von Arbeitswut habe er noch nicht erlebt.
Aufmerksam betrachtete er die feuchte Kleidung der beiden. "Ihr seid Sträflinge von Ducos."
Kervizic überlegte, hier half nur die Flucht nach vorn. "Und wenn es so wäre, Sir? In diesen Breiten habe ich noch kein Schiff getroffen, das nicht Mangel an tüchtigen Seeleuten gehabt hätte. Man sagt, der 'Plymouth' fehlen drei Mann."
"So - sagt man?"
Rasch fügte Kervizic hinzu: "Wir hätten gern noch den dritten mitgebracht, Sir, leider konnte der Bursche nicht schwimmen."
Diese Schlagfertigkeit gefiel Darnbridge, und während er den selbstsicheren Fahrensmann nicht ohne Wohlgefallen betrachtete, roch er geradezu, dass dieser Bursche auf der See zu Hause war, ein Janmaat nach seinem Geschmack. Insgeheim bedauerte er, dass er sich keine romantischen Anwandlungen erlauben konnte, und erklärte bärbeißig: "Spätestens morgen früh ist Großalarm. Die Spürhunde des Mister Governor werden auch mein Schiff bis auf den letzten Winkel durchsuchen. Tut mir leid - ich muss euch von Bord jagen."
"Sir", Kervizic schaute dem Grauhaarigen unverwandt ins Gesicht. “Damit besiegeln Sie zwei Todesurteile."
Darnbridges Augen wichen dem Blick Kervizics nicht aus. "Die habt ihr selbst besiegelt - als ihr ins Wasser gestiegen seid. Bin ich Jesus von Nazareth, dass ich für eine philanthropische Regung das Schiff, die Ladung und mein Kapitänspatent aufs Spiel setze? Würden Sie das an meiner Stelle tun?"
Mit der Frage versucht er uns in die Ecke der Verlierer zu drängen, dachte Grousset, man muss diesem Taktiker etwas entgegensetzen. Schade, dass ich nicht besser Englisch spreche. Er machte ein ehrfürchtiges Gesicht. "Jede Planke der 'Plymouth' bedeutet britisches Hoheitsgebiet, Sir, auch in außerenglischen Gewässern. Niemand darf dieses Schiff durchsuchen, wenn der Kapitän es nicht wünscht."
Kervizic machte ein gequältes Gesicht; Darnbridge lachte belustigt. "Thanks, Mister, für Ihre Hochachtung vor britischem Selbstbewusstsein. Aber dann könnte ich gleich Segel setzen. Glauben Sie, dass ich auch nur noch eine Tonne Ladung bekomme, wenn ich der Hafenpolizei den Zutritt verweigere?"
In der Befürchtung, der Freund würde einen weiteren Fehler machen, stimmte Kervizic dem Kapitän rasch zu. "Im Gegenteil, je verdächtiger einer ist, desto zuvorkommender muss er die Kontrolleure behandeln. Auf einem anderen Blatt steht - verzeihen Sie, Sir, wenn ich daran erinnere -, dass es auf jedem Schiff Verstecke gibt, die auch der beste Schnüffler nicht findet."
Darnbridge stemmte beide Hände in die Hüften, anscheinend eine Körperhaltung, die er gern einnahm. Er brauchte Argumente gegen die beiden - für sein schlechtes Gewissen. "Glauben Sie, eine ganze Mannschaft denkt wie der Kapitän? Da ist zum Beispiel mein Erster Offizier, Guillol, Franzose und wütender Royalist. Euer Glück, dass er Landgang hat, ihr wärt das gefundene Fressen für ihn."
"Ungefähr die schwierigste Sorte Mensch, die ich kenne", erklärte Kervizic sachlich. "Ließe sich der nicht mattsetzen. Sir, indem Sie uns offiziell von Bord weisen? - Heimlich entern wir wieder auf und gehen ins Versteck. Auf See kommen wir dann heraus, und Sie können uns vor versammelter Mannschaft herunterputzen."
Ein wenig traurig sah Darnbridge den hartnäckigen Janmaat an. "Wir stechen morgen früh nicht in See. In diesem schlampigen Nouméa dauert alles dreimal so lange wie in zivilisierten Weltgegenden. Inzwischen würdet ihr in eurem Versteck umkommen.
Grousset vermochte nicht mehr an sich zu halten. Eindringlich sagte er in seinem deutlichsten Englisch: "Natürlich, wir haben Angst um unser Leben, Sir. Aber wichtiger - die Welt muss erfahren, was auf Ducos geschieht."
Der Alte fand Groussets Argumentation ungeschickt, und Kervizic tat ihm leid. "Da schau an, Kapitän Darnbridge als Komplice von Verschwörern."
"Pardon, Sir, wir suchen Menschlichkeit, keine Komplizenschaft." Kervizic sagte es tiefernst, im Innern froh, dass er durch den Hohn des Kapitäns den Spieß umdrehen konnte. „Niemand nahm an, dass Sie ein Gesinnungsfreund der gefangenen Kommunarden seien, Doch nie und nimmer würde ich glauben, Sie ließen sich zum Gehilfen eines Thiers machen."
Das hatte getroffen, der Kapitän brüllte: "Schon der Gedanke daran ist eine Unverschämtheit! Haben Sie vergessen, wo Sie sich befinden? Auf britischen Schiffen ist der Kapitän Vertreter Ihrer Majestät der Königin, souverän gegenüber jeder andern Staatsmacht!"
Treuherzigen Gesichts beteuerte Kervizic: „Niemals hatte ich die Absicht, Ihnen zu nahe zu treten, Sir. Ich wollte an Ihre Hochherzigkeit appellieren, weil ich genau an das dachte, was Sie uns eben deutlich in Erinnerung gerufen haben."
Nachdenklich strich sich der Kapitän den Bart. Nach einem kurzen, für die beiden viel zu langen Schweigen, sagte er sehr bestimmt: "Ich lasse euch vom Schiff bringen - ganz offiziell."
Kervizic versuchte abermals, etwas einzuwenden, Darnbridge schnitt ihm das Wort ab: "Ihr glaubt doch nicht, dass euer Besuch auf der 'Plymouth' geheimgeblieben ist? - Wenn es euch gelingt, an Land ein Versteck zu finden, bis wir auslaufen, dann lässt sich über eine Anmusterung reden." Er öffnete die Tür und rief nach dem Bootsmann Brissac.
Brissac klingt gut, könnte ein Franzose sein, dachten die Freunde. Als der Bootsmann auftauchte, erschraken sie über dessen piratenhaftes Aussehen. Seine plattgedrückte Nase erinnerte an die eines Boxers. Über Brissacs linke Stirnseite zog sich eine Narbe wie von einem Säbelhieb, die er mit einer Welle seines krausen Haargewuschels zu verdecken suchte.
Einer von der Mannschaft mit dem Namen Kenton wurde zum Rudern geholt, und der Kapitän gab die Anweisung: "Schaluppe zu Wasser lassen." Kervizic und Grousset gingen zum Vorschiff, Darnbridge und Brissac folgten ihnen, der Kapitän flüsterte mit dem Bootsmann.
Umgeben von vier Leuten, die das Boot abgehievt hatten, und den beiden Männern der Nachtwache, warteten die Freunde verbissen schweigend. Der Kapitän trat hinzu, sagte laut und vernehmlich: "Bootsmann, Sie bringen die Beachcomber an Land und übergeben sie der Hafenpolizei. Die beiden haben sich strafbar gemacht, indem sie unerlaubt das britische Segelschiff 'Plymouth' betraten. Ist das klar, Bootsmann?"
"Yes, Sir."
"Haben Sie eine Pistole, Bootsmann?"
"No, Sir.!“
"Hier, nehmen Sie meine. Beim geringsten Fluchtversuch schießen Sie. Wir haben uns verstanden, Bootsmann?"
"Yes, Sir." Brissac steckte das Schießeisen gelassen hinter den Bauchgurt. Nacheinander kletterten die drei hinab zu Kenton, der stieß das Boot von der Bordwand ab und begann zu rudern, Brissac saß am Steuer.
Bis zum Kai werden wir nicht viel mehr als zehn Minuten haben, überlegte Kervizic, im Augenblick lässt sich kaum etwas Besseres tun, als die Stimmung zu erkunden. Er wandte sich an Brissac und Kenton: "Natürlich müsst ihr den Befehl des Käpt’n, ausführen. Aber er hat euch nicht verboten mit, uns zu sprechen."
Schweigen antwortete, Kenton legte sich ins Zeug, als könnte er die zwielichtigen Passagiere nicht schnell genug loswerden.
"He, Bootsmann, sind Sie stumm?" Kervizic fragte es provozierend liebenswürdig. "Sicherlich kennen auch Sie das ungeschriebene Gesetz, dass sich Seeleute in der Not beistehen."
Kenton ließ ein ungutes Lachen hören. "Der steht keinem bei außer dem Alten. Yes, Sir, vorn, und Yes, Sir, hinten. Der weiß schon, weshalb, braucht ihn euch bloß anzusehen. Arschklar, dass der was auf dem Kerbholz hat. Mir stinkt der Scheißfranzose!"
Kervizic hatte anfangs aufgehorcht, in Kenton einen möglichen Verbündeten gesehen, doch dass dessen Hass in Chauvinismus umkippte, war ein übles Zeichen. Voll eisiger Zurückweisung fragte er: "Was sind denn das für Töne von einem Seemann? Scheißfranzose!- Wir sind auch Scheißfranzosen!"
Von diesen Galgenvögeln hatte Kenton Zustimmung erwartet. Krötig schlug er zurück. "Nimm dein Maul in Acht, du Ganove."
Die Enttäuschung nach der zermürbenden Schwimmtour hatte in Grousset so viel Groll angehäuft, dass er sich nicht mehr zu beherrschen vermochte. "In 'ner andern Situation bekämen Sie für den Ganoven das Fell versohlt!"
Kenton nutzte die Gelegenheit zu billigem Triumph. "Das Fell gegerbt kriegt ihr! Die Polizei in Nouméa weiß, was man mit Ungeziefer macht!"
Kervizic bedauerte aufrichtig, dass er falsch saß, und drückte es unmissverständlich aus: "Kehrte mir dieser Hanswurst nicht den Rücken zu, ich würde ihm den Hals stopfen.“
Kenton legte die Ruder ein, sprang auf und drehte sich zu Kervizic um. "Was möchtest du, Bastard?"
Kervizic war ebenfalls aufgesprungen, das Boot schwankte heftig, und Brissac brüllte: "Ruhe jetzt, sofort hinsetzen!" Warnend klopfte er auf die Pistole. Unwillig nahmen die beiden wieder ihre Plätze ein. Streng sagte der Bootsmann zu Kenton: "Du hast Befehl, uns an Land zu rudern. Niemand hat dir den Auftrag gegeben, Reden zu halten."
Kenton wollte etwas erwidern, doch Brissac überschüttete ihn mit einer Kanonade von Vorwürfen in französisch, die übergingen in ein Selbstgespräch, anscheinend an die Fische im Hafenwasser gerichtet. "Lasst euch nicht reizen von dem Armen im Geiste er versteht nicht Französisch ist aber gefährlich wie alle Idioten. Natürlich geht's nicht zur Polizei ihr müsst versuchen nach Yate zu kommen wo es leichter ist anzuheuern meine Narben hab ich mir auf Pariser Barrikaden geholt, würde euch gern helfen weiß leider nicht wie.“ Ans Ende der scheinbaren Tirade ohne Punkt und Komma setzte Brissac einen saftigen Fluch, und es war danach still im Boot.
Kenton hatte misstrauisch zugehört, und es war Groll in ihm, dass er die Sprache dieser eingebildeten Brüder von der sogenannten Grande Nation nicht beherrschte.
Groussets Gemütszustand besserte sich bei den Eröffnungen Brissacs beträchtlich, jedenfalls war Yate eine Chance, und eine kleine Chance ist immer besser als ein großer Strick.
Kervizic war skeptisch, wünschte mehr über den Bootsmann zu erfahren und tat, als spräche er zu Grousset: "Man wüsste gern, in welcher Einheit, unter welchem Kommandeur gekämpft und in welchen Abschnitten eingesetzt gewesen."
Die Antwort kam ohne Zögern.
Das eine oder andere Wort in der fremden Sprache hatten Kentons Misstrauen vertieft, er spürte, dass da ein Spiel mit gezinkten Karten gespielt wurde. "Auf der 'Plymouth' wird Englisch gesprochen!" bellte er. "Wer noch ein Wort Französisch quatscht, wird es bereuen."
Der Bootsmann spie demonstrativ ins Wasser. "Bist du beauftragt vom Käpt'n oder ich? Also schnauze ich die Gefangenen in der Sprache an, die sie am besten verstehen. Und du wirst mir da nicht dreinreden." An die Freunde gewandt, sagte er in dienstlich scharfem Ton: "Wir sollten ihn nicht unnötig reizen, nachher haben wir Zeit zum Sprechen."
Kenton ruderte wieder hastig, verbissen murmelte er vor sich hin: "Coyoten, verdammte Coyoten, ihr werdet euch noch wundern."
Die größeren Schiffe ankerten wegen ihres Tiefgangs auf der Reede, im Hafen selbst lagen Küstensegler, Frachtschaluppen und Fischtrawler. Kenton bremste die Fahrt des Bootes mit den Ruderblättern, geschickt steuerte Brissac vorbei an Markierungsbojen, Dückdalben und Ankertauen und lenkte zur kleinen Plattform am unteren Ende einer schmalen Treppe. Die Freunde sprangen auf die Steinquader, Brissac folgte ihnen, da sagte Kenton hinter ihnen: "Moment, Gentlemen!"
Brissac wandte sich gereizt um. "Was ist?"
Kenton begann schon das Boot zu vertäuen. "Ich komme selbstverständlich mit, werde dich doch mit den gefährlichen Subjekten nicht allein lassen, Bootsmann."
Brissac zog die Pistole aus dem Gurt, klopfte auf das Holz des Kolbens und fragte in irritierend leisem Tonfall: "Was meinst du, weshalb mir der Käpt'n das Ding übergeben hat?" Plötzlich brüllte er, dass Kenton zusammenfuhr: "Und das Kommando dazu!" Weniger laut fuhr er fort: "Da ich keine Lust "habe, zur 'Plymouth' zu schwimmen, wirst du das Boot bewachen. - Das ist ein Befehl, Kenton!"
Während der Auseinandersetzung war Kervizic langsam die Stufen hinaufgestiegen, winkte Grousset, ihm zu folgen, und flüsterte: "Wenn wir jetzt verschwinden, könnte Brissac Kenton die Schuld geben, und das Komplott mit Darnbridge bleibt geheim."
Kenton hatte die Vertäuung wieder gelöst, stieß das Boot von der Plattform ab und höhnte: "Du wirst nicht mehr zurückkommen zur 'Plymouth', Musjö Brissac. Ich werde dem Käpt'n sagen, du hast, dich mit deinen Kumpanen aus dem Staub gemacht." Kenton wirtschaftete heftig, er war dabei, das Steuerruder aus der Aufhängung zu heben, um das Boot allein, besser dirigieren zu können. "Denk ja nicht, dass der Alte dir Glauben schenkt, solltest du wieder auf der 'Plymouth' aufkreuzen. Du hast dich verraten. Mich hast du kujoniert, aber mit den Strolchen gemeinsame Sache gemacht."
Wir haben den Hundsfott unterschätzt, fuhr es Kervizic durch den Kopf, und anstatt etwas für uns zu tun, müssen wir nun Brissac helfen. Er nahm kurz Anlauf und jumpte mit langem Hechtsprung ins Wasser. Nicht weit vom, Boot kam er hoch, mit wenigen Schwimmstößen erreichte er es am Bug und begann es mit schneller Beinarbeit der Plattform zuzutreiben. Das hatte Kenton am wenigsten erwartet, er geriet in Panik. Anstatt sofort gegenzurudern, hob er ein Ruder, um es Kervizic über den Kopf zuschlagen. Er traf die Bordkante, das Ruder splitterte. Kervizic war zum Heck getaucht und trieb das Boot der Plattform näher. Kenton sprang zum Heck, aber er erwischte den zum Bug tauchenden Kervizic wieder nicht.
Jetzt ist das Boot nahe genug, dachte Grousset und sprang. Er verfehlte sein Ziel. Das Wasser schmeckte nach faulem Fisch und toter Katze. Nun hatte es Kenton mit zweien zu tun, die vereint das Boot an die Plattform zu bringen trachteten. Es gelang, Brissac warf sich auf Kenton, und sie rauften verbissen, bis die Freunde ins Boot gelangt waren. Ein Kinnhieb Kervizics machte Kenton still und friedlich, vorsorglich banden sie ihm die Hände.
"Der Käpt'n dürfte höllisch erfreut sein, wenn er hört, was dieser Franzosenfresser ausgeheckt hat", bemerkte, Grousset und fragte bekümmert, wie Brissac mit einem Ruder zum Schiff zurückgelangen wolle. Er werde halt wriggen, erwiderte der Bootsmann, noch immer schnaufend vom Kampf. Verlegen entschuldigte er sich, als letzter eingegriffen zu haben. "Ich kann nämlich nicht schwimmen", gestand er kleinlaut.
Eine Gruppe angetrunkener Seeleute tauchte oben auf der Kaimauer auf, und einer rief: "Ist jemand, in den Bach gefallen?“
"Er hat zu viel puren Rum geladen", antwortete Brissac scheinbar belustigt, „wollte ihn mit Hafenwasser verdünnen!"
„Schade", kam es von der Kaimauer, "wir dachten, es gibt was zu keilen, hätten gern dabei geholfen!"
"Spart es euch auf. In Sydney und Yokohama gibt es auch noch Schnaps. - Macht's gut, Jungs!" Brissac stieß das Boot ab, und wriggte zur nächsten Treppe, um den Krakeelern aus dem Blickfeld zu kommen. Dort wies er auf den bewusstlosen Kenton, "Er ist uns auf die Schliche gekommen;" Ärgerlich fuhr er fort: "Klar, ich sollte euch laufenlassen, aber ohne Zeugen. Kenton war die schwache Stelle in der Rechnung. Er hat noch was auf dem Kerbholz, deshalb dachte der Alte, er würde am fügsamsten sein. Der Käpt'n wollte alles so arrangieren, dass er gegenüber den Behörden in Nouméa gedeckt ist und damit auch gegen seinen Ersten, Guillol. Sollte aber in England ruchbar werden, er habe dem Thiers-Regime zwei Gefangene ans Messer geliefert, dann hätte er mich als Zeugen gegen diese Behauptung."
Kervizic sagte ärgerlich: "Darnbridge laviert, aber uns bringt er in eine verteufelte Lage. Als ob wir uns jederzeit unsichtbar machen könnten."
Obwohl er die Bitterkeit Kervizics begriff, bemühte sich Brissac um Gerechtigkeit. "Nach der Gefangennahme bin ich den Versaillern wieder entwischt, konnte mich durchschlagen bis Boulogne und auf der 'Plymouth' anheuern. Der Alte hat gerochen, was mit mir los war und ich musste ihm versprechen, kein Wort über meine Vergangenheit zu verlieren. Mit euch ist das heikler. Damals, gab, es noch keinen Guillol an Bord. Er ist ein übles Subjekt, würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, euch ans Messer zu liefern. Und wenn es auch belämmert ausschaut, im Augenblick hat der Käpt'n die beste Lösung gefunden."
"Wobei wir den interessantesten Teil der besten Lösung auf dem Buckel haben", bemerkte Kervizic. Um keinen Disput zu entfachen, sagte er, dass noch drei Schiffe auf dem Wasser der Bucht schaukelten, die für das Vorhaben in Frage kämen, ein norwegischer und ein dänischer Schoner, sowie eine amerikanische Viermastbark. Sollte man nicht versuchen...?
Brissac schüttelte den Kopf. "Was die Teerjacken in den Hafenkneipen von ihren Prinzipalen erzählen, spricht Bände. Denen traue ich zu, dass sie euch ausliefern. Könnte sein, es springt dabei eine nette Belohnung heraus."
Kervizic wurde ungeduldig. "Aber die Zeit brennt uns auf den Nägeln, und ..."
"Ich bleib bei meinem Vorschlag Yate", unterbrach ihn Brissac. "Ganz sicher nimmt euch der Käpt'n da lieber als hier im vermaledeiten Nouméa. Und womöglich kriegt ihr schon einen Eimer nach Europa, bevor wir dort anlegen, Die Chaussee nach Yate soll eine der ordentlichsten auf Neukaledonien sein, es ist in drei, vier Tagen zu machen."
"Falls uns ab und an gebratene Taube oder andres Nahrhaftes in den Mund fliegt", bemerkte Grousset.
Brissac fuhr sich sorgenvoll durch das Haargewuschel. "Ihr müsst es schaffen, euch einen Tag zu verbergen. Morgen Abend würde ich euch etwas Proviant für den Fußmarsch bringen."
Von Zweifeln geplagt, wiegte Kervizic den Kopf. "Sowie sie unsre Flucht entdeckt haben, ist hier der Teufel los. Man wird den letzten Winkel Nouméas nach uns durchstöbern."
Brissac legte .den Finger an die platte Nase. "Das sollen sie ja gerade. Dann haben sie sich morgen Abend ausgetobt und glauben, ihr seid längst über alle Berge. Dabei habt ihr außerhalb der Stadt im Dickicht, in irgendeiner Höhle oder einem Maisfeld den Abend abgewartet."
Die Freunde schwiegen unentschlossen. Grousset knurrte der Magen, ein Hungeranfall machte ihm die Knie weich, sein Gehirn assoziierte das Wort Mais mit anderen Früchten des Bodens, und scheinbar zusammenhanglos erklärte er, dass er notfalls auch rohe Kartoffeln essen würde.
"Morgen nach Dunkelwerden kommt ihr wieder zur Treppe. Im Mauerwerk dahinter sind Löcher und Nischen. Für den Fall, dass wir uns verpassen sollten, hinterlege ich, was ich auftreiben kann, und auch, wann wir auslaufen werden - sollte das Datum inzwischen bekannt sein." Brissac hob die Schultern. "Was Besseres weiß ich nicht."
Kervizic, dem ihr Plaudern schon zu lange gedauert hatte, bekräftigte: "Also ab durch Nouméa und hinein in die nahrhafte Landschaft."
Die Freunde wollten eben die Treppe hinauf, als Brissac etwas einfiel. "Einen Augenblick!" rief er und kramte in seiner Hosentasche, darauf legte er Grousset einige Geldstücke in die Hand. "Mehr habe ich leider nicht bei mir, aber für Brot und Speck reicht es erst mal."
Ein wenig gerührt, dachte Grousset, zu dumm, dass nachts kein Laden geöffnet hat. Kervizic war nicht weniger beeindruckt von der kameradschaftlichen Geste. Er stand neben Grousset, sie sahen zu, wie Brissac niederkniete und Kenton den Puls fühlte.
"Er schläft noch", sagte der Bootsmann, „hoffentlich träumt er schlecht." Energisch stieß er das Boot ab. "Bis morgen Abend!" Er spuckte sich in die Hände, packte das Ruder und wriggte davon.
Vom Unglück, nicht füsiliert worden zu sein (Aus dem Tagebuch des Paschal Grousset)
Gibt es einen verlässlicheren Freund als das Tagebuch? Wer brächte so viel Langmut für Abrechnungen mit sich und den andern auf; wer hätte so viel Geduld für die Bekenntnisse, Gedanken- und Erinnerungen eines Abenteurers wider Willen? Ich, Paschal Grousset, -Pamphletist und verhinderter Romancier, Zeitungsschreiber und Kommunard, würde ersticken, könnte ich nicht schreiben. Dieses zerflederte Bändchen ist mein einziges Kapital, gut für etliche Novellen und Romane. Allerdings würde enttäuscht sein, wer einen chronologischen Abriss vom Entstehen und Untergehen der Pariser Kommune erwartete oder, den Bericht eines Barrikadenkämpfers. Ich habe nicht mit der Waffe in der Hand gekämpft. Was ich bei Verhaftung, Verurteilung und Verbannung erleben musste, lässt mich das nachträglich bedauern. Das Grundthema meiner Aufzeichnungen ist sehr persönlicher Art, in und zwischen den Zeilen ist häufig zu lesen: Manon. Bei meiner Verurteilung stand sie in Gedanken neben mir und flüsterte beschwörend: Kein Trauern über tote Zeit! Nutze sie, deine Flucht zu betreiben. Für immer ohne dich, Paschal, kann ich nicht leben.
Ich, ein Mann von siebenunddreißig, balle nachts manchmal die Fäuste in ohnmächtiger Wut. Durch Manon wurde mir schmerzhaft bewusst - und die Einsamkeiten während der Verbannung vertieften das Gefühl: die Erde wäre ein toter Planet, gäbe es die Liebe nicht.
Weil ich die höchsten Höhen erleben durfte, fluche ich denen, die uns trennten, und denke manchmal, was wäre mir erspart geblieben, wäre auch ich an der Mauer der Föderierten erschossen oder mit den Kameraden in der Ebene von Satory umgebracht worden. Auf die Barrikade zu gehen ist tapfer, wie viel Tapferkeit aber gehört dazu, eine Niederlage durchzustehen? Nur Hoffnung auf Vergeltung hält die meisten deportierten Kommunarden in Neukaledonien aufrecht. Unser Herz gehört dem vergewaltigten Paris, dem betrogenen Frankreich, wer uns aus dem Mutterboden riss und über zehntausend Meilen weit hinter die Wasserwüste des Stillen Ozeans fortschaffen ließ, wie groß muss dessen Furcht vor uns sein. Die kleinen Wachsoldaten und Beamten der korrupten Verwaltung verachten wir, unser Hass gilt den Schlächtern in Uniform und Zivil. Sage niemand, aus mir spreche nur die Verbitterung des Geschlagenen. Wir sind historisch im Recht, also auch moralisch. Der Fortschritt wäre keine ethische Kategorie, gäbe es nicht den ständigen Kampf der Fortschrittlichen gegen das Gestern. Die Gewalt des Gestern schlägt zu, wenn aus dem Traum Wirklichkeit zu werden droht.