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Wie lebt man als "des Kaisers Waisenknabe"? Man lebt im Paradies. So wörtlich darf man das allerdings nicht nehmen. Das Paradies ist eine genossenschaftliche Arbeitersiedlung am Rande Berlins, gegründet als Alternative zu Mietskaserne und Hinterhof. Schön ist es hier, doch ganz am Rande lebt man denn doch nicht. Der Krieg bricht aus, und der Kaiser schickt den Vater an die Front. Rudolf, fünf Jahre alt, bleibt mit Mama Hanni zurück, und wenn Vaters zweite Frau auch nicht die böse Stiefmutter aus dem Märchen ist, seine Probleme hat er schon mit ihr. Voller Einfühlungsvermögen erzählt der Autor von einer Kindheit in schwerer Zeit. Dass Humor und Komik nicht zu kurz kommen, dass originelle Leute und originelle Erlebnisse eine Rolle spielen, dafür sorgt E. R. Greulich, seinen Lesern durch viele Bücher bekannt.
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Seitenzahl: 546
Veröffentlichungsjahr: 2014
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E.R. Greulich
Des Kaisers Waisenknabe
Kindheitserinnerungen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Epilog
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Impressum neobooks
Der Kaiser ist ein lieber Mann,
er wohnet in Berlin,
und wär' es nicht so weit von hier,
dann ging' ich heut' noch hin.
Wir sangen das aus voller Kehle,
denn Kinder glauben gern,
und die Melodie war so herzig.
Dass der Besungene
ein bisschen sehr anders
zu betrachten sein könnte,
Geschichtsbücher vermitteln Geschichte,
Biografien gelebtes Leben.
Keiner wird gefragt, ob er geboren werden will, und auch Rudolf hatte sich darein fügen müssen. Als er das Licht der Welt erblickte, zeigte der Kalender den sechsten Oktober des Jahres 1909. Licht der Welt klingt poetisch, der Ankömmling benahm sich eher prosaisch. So viel Hell stach ihm in die Augen, also kniff er sie zu und schrie. Das zeigt, wie subjektiv der Winzling die Dinge nahm. Denn objektiv gesehen, gaben sich die Umstände recht leidlich. Eine glückliche Mutter, ein sonniger Oktobertag, eine warme Stube, und selbst die Hebamme wusste nichts zu bemängeln. Zudem befand sich das Heim des Neugeborenen in der wunderschönen Stadt Berlin, in der Jahnstraße, nahe der Hasenheide, kurz vor der Grenze zu Rixdorf, das später Neukölln hieß.
Auch an der Wahl der Eltern hatte man Rudolf nicht beteiligt, wie es ja überhaupt höchst undemokratisch zugeht bei der Geburt eines Erdenbürgers. Erdenbürger! Welche Übertreibung für ein Menschlein, dessen Daseinsstatus damals bestenfalls als Untertan bezeichnet werden konnte. Was manch einem lebenslang anhängt. Ob es auch bei Rudolf der Fall sein würde, das dürfte vielleicht am Ende herausgefunden worden sein,
Vorerst lebte er noch im warmen Nest des Fühlens und Träumens, vom Denken nicht gequält, und was wir in den Anfangskapiteln erfahren, ist Ergebnis von Erinnern und erzählt bekommen, also rekonstruiert vom späteren, wie wir hoffen wollen, auch reiferen Helden des Romans. Dessen Trachten, Sinnen und Handeln dürfte besser zu begreifen sein, wird uns zur Kenntnis gebracht, von welchen Eltern ward er gezeugt, wie war es mit deren Eltern bestellt. Zur Entschuldigung des Autors sei gesagt, nicht einmal die kleine Schwester des Romans, die Novelle, kommt ohne eine Exposition aus, und bei einem ordentlichen Stück ist es nicht anders.
Die Mutter Martha war keine auffallend hübsche Person, ihre Schönheit hatte, wie meist bei gescheiten Frauen, etwas Verinnerlichtes. Aschblond, mittelgroß und zartgliedrig, war sie für die damalige Zeit recht selbstsicher, ihre Ausdrucksweise verriet überdurchschnittliche Bildung für ein Mädchen aus dem Arbeiterstand. Sie hatte das Lyzeum besucht. Der Vater Julius Saupt, ein rechtschaffener Sattlergeselle, meinte, die höhere Schulbildung schulde er der Martha, ältere der beiden Töchter und intelligenter als die hübsche Erna. Hier wird der Geschichtsbewanderte die Stirn runzeln: Tochter eines Arbeiters besucht das Lyzeum? Abermals Stirnrunzeln, wenn gesagt werden muss, der Sozialdemokrat Saupt habe von Bismarcks Sozialistengesetz profitiert. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich leicht. Julius hatte eine kleine Erbschaft gemacht, und die Gesinnungsfreunde drängten ihn, mit den ins Haus gefallenen Talern eine Destille zu kaufen. Er folgte dem Rat. Damit hatte er eine feste Kundschaft und die Partei ein festes Lokal, äußerlich nicht von anderen Berliner Budiken zu unterscheiden. Von der Neugier nach dem Leben seiner Großeltern getrieben, hatte der halbwüchsige Rudolf später einmal die Gegend aufgesucht. Er fand jene Kneipe so, wie vom Vater beschrieben. Neben der Eingangstür im Schaufenster ein Tönnchen und zu den grünen Zweiliterflaschen mit Patentverschluss der Hinweis: "Bier in Siphons auch außer dem Hause!" Damit kein Zweifel aufkomme, dass Schnaps ebenfalls vorhanden, stand quer über dem Schaufenster in weißen Buchstaben: "Destillation". Auf den Schildern links und rechts des Etablissements fehlte nicht das Angebot: "Weinbrände & Liqueure aller Sorten", wogegen ein großes Blechschild über dem Ganzen kundtat: "Saupt's Bierstuben". Das entsprach in etwa der Wahrheit, denn die beiden Vereinszimmer waren wenig größer als übliche Wohnstuben. Auch innen bot sich das Bild eines gemütlichen Lokals, und nur jemand mit sehr feinem Gespür hätte die besondere Atmosphäre wahrgenommen. Der Wirt kannte seine Gäste, die Gäste kannten sich, und tauchte ein Fremder auf, dann wurde dem auf den Zahn gefühlt, bis man wusste, woran man mit ihm war. Das diente dem Selbsterhaltungstrieb und bewahrte die Partei vor Schaden. Nach der Zeit des Sozialistengesetzes wurde der Brauch von Wirt und Gästen aus alter Gewohnheit noch einige Zeit beibehalten.
Julius Saupt zahlte seinen Parteibeitrag, las seinen "Vorwärts", disputierte mit den Stammkunden über Wahlaussichten, Lohndrückerei und Tarifstreitigkeiten und gab sich eher radikaler als in der Zeit, da er Sattler war. Deshalb wäre er bass erstaunt gewesen, hätte ihn jemand einen kleinen Besitzbürger genannt. Er war der Meinung, er habe eine längere Arbeitszeit sowie mehr Sorgen als seine Arbeiterkunden, und darum sei es rechtens, wenn er öfter einen Groschen beiseite legen könne. Aus den Groschen wurden Markstücke, und die sammelten sich in Sparbüchern. Es belastete das sozialdemokratische Gewissen Julius Saupts keineswegs. Man muss ja nicht immer an der Hungerkante entlangleben, um Proletarier zu sein. Hat er der Partei nicht mehr genützt als mancher Klugscheißer? Wenn man dabei selbst auch zurechtkommt, verstößt das etwa gegen das Parteistatut? Nach solchen Überlegungen fand sich Vater Saupt trefflich bestätigt im Bildungsanspruch für die Älteste. Die Saupts waren auf ihre hochfliegenden Pläne stolz und betonten es vor dem Enkel Rudolf, der sie auf ihre brieflichen Bitten hin - er war inzwischen Lehrling - besuchte. So viel Gewese um Studieren oder Nichtstudieren konnte dem Enkel kaum imponieren. Rudolf befand sich ohnehin in dem Lebensalter, wo derart selbstbezogene Strebsamkeiten gern als spießbürgerlich abgetan werden.
Julius und Luise Saupt hatten sich nicht mehr als zwei Kinder "erlaubt", und das wies zu der Zeit auf eine fortschrittliche Einstellung hin. Dass es zwei Mädchen waren, gefiel den Eltern sehr. Da brauchen wir dem Kaiser keine Soldaten zu stellen, erklärten beide, denn Söhne würden womöglich auf die eigenen Eltern schießen müssen. Das hatte Kaiser Wilhelm Zwo von allen Deutschen im Waffenrock gefordert. Sagte jemand, Mädchen unter die Haube zu bringen, mache aber auch Sorgen, so reagierten die Eltern selbstverständlich sozialdemokratisch. Die beste Aussteuer sei Wissen und Bildung, ein richtiger Arbeiter heirate nicht den Geldbeutel, sondern seine Liebe. Allerdings wäre die Mutter nicht böse gewesen, wenn Martha ihnen einen Rechtsanwalt, einen Arzt, notfalls auch einen Druckereibesitzer als Bräutigam präsentiert hätte. Rudolfs Großmutter war eine imposante Budikenvorsteherin mit großem Busen und breiten Hüften, und im Zorn wirkte sie majestätisch. Erwähnte Rudolfs Papa sie manchmal vor Freunden, dann nannte er sie gern "der Große Kurfürst".
Musste Julius sich geschäftlich außer Haus umtun, dann schmiss Luise den Laden. Ihre autoritäre Art wurde von den Gästen als durchaus angemessen betrachtet. Einmal expedierte sie einen Spitzel mit der Behauptung aus dem Etablissement, er habe sich ihr unsittlich genähert. Diese Art parteilicher Wachsamkeit verschaffte ihr einen legendären Ruf unter den Genossen.
Wenn wir nun erfahren, dass Martha nach dem Lyzeum nicht studierte, sondern sich in einen Kerl verliebte, der weder Akademiker noch Gewerbetreibender war, so ahnen wir etwas von dem, was sich zusammenbraute. Der unverhofft aufgetauchte Emil Treulich konnte unmöglich vor den kritischen Augen der ehrgeizigen Saupts bestehen. Übrigens war es nicht er, der mit der Tür in die Szene fiel, sondern - ein Hund. Kein Pudel, wie im Faust, sondern eine Deutsche Dogge, die mit irgendeinem Gast in die Kneipe schlüpfte und augenscheinlich ihren Herrn suchte. Nachdem sie sämtliche Winkel durchstöbert hatte, wartete sie fordernd an der Tür, bis ihr wieder geöffnet ward. Das wiederholte sich, und eines Spätnachmittags sprach Martha Saupt das fast kalbsgroße Tier an: "Sucht das Hündchen was zu fressen?" Sie hielt der Dogge eine jener Buletten hin, von denen ein kleiner Berg unter einer Glasglocke auf baldigen Verzehr wartete, doch das Tier betrachtete das gebratene Stück Hackfleisch eher abschätzig als begehrlich.
Man hörte draußen Lachen und Durcheinanderreden, die Tür ging auf, drei Männer traten ein. Sie schauten aus fröhlichen Augen, als sei heute alles Leid und Weh der Welt beurlaubt. Der Vorderste sagte wenig überrascht: "Da bist du ja, Striebold. Wollte dich die Dame mit 'ner Bulette bezirzen?"
"Allerdings." Die Dame schien nicht auf den Mund gefallen. Ob der Hund ihm gehöre, fragte sie. Der Gefragte bejahte und bemerkte nicht ohne Stolz, wer einen Hund vorzuzeigen habe, der nicht gut erzogen sei, der solle lieber Karnickel züchten. Er trat näher und sagte, er heiße Emil Treulich.
Mit diesen Worten erscheint der Vater unseres Helden auf der Bühne, und Sohn Rudolf erinnert sich ziemlich genau dieser gern erzählten Episode, weniger wegen des bedeutsamen Augenblicks, in welchem die Eltern sich zum ersten Mal sahen, als weil der Riesenhund Striebold dabei eine Rolle spielte.
Die beiden mit Emil Treulich Gekommenen hatten sich an einen freien Tisch gesetzt, und er nannte ihre Namen. Karge und Trautmann, wie auch er wackere Schriftgießer der Firma Gursch in der Gneisenaustraße.
Unentschlossen schaute Martha Saupt auf das verschmähte Hackfleisch. Emil Treulich sagte: "Du darfst", und Striebolds Zähne nahmen die Bulette sacht aus der Hand Martha Saupts. Die erkundigte sich, ob Emil Treulich immer erst Striebold losschicke zum "Spionieren". Er schüttelte den Kopf. Käme er nicht zur rechten Zeit, lasse seine Zimmerwirtin den Hund hinaus, damit der Herrchen suche.
Ein Blick zu Karge und Trautmann zeigte Emil, dass die ungeduldig wurden, und er fragte, ob sie nun von der schönen jungen Wirtin drei Glas bayerischen Biers haben könnten, dazu noch für jeden zwei Bratheringe mit 'ner Stulle trocken Brot.
Martha Saupt überspielte ihre Verlegenheit mit der sachlichen Auskunft, sie sei lediglich die Tochter des Hauses, die der Wunderhund Striebold in die Schankstube gelockt habe.
Wie in einem Schwank hob sich die Klappe im Fußboden hinter der Theke, und der Herr Papa tauchte auf. Zu spät, Cupido hatte seinen Pfeil verschossen. Sicherlich hätte es der kecke Liebesgott auch getan, wäre Julius Saupt nicht im Keller gewesen, obwohl der Familienvorstand mit seinem unnachsichtigen Blick sonst einiges auszurichten vermochte. Im Gegensatz zu seinem Weib war er keinesfalls füllig zu nennen und so gar nicht der Typ des schwammigen Schankwirts. Die Strenge seines Gesichts wurde unterstrichen durch den Bürstenhaarschnitt und einen eisgrauen Spitzbart, wie ihn August Bebel trug. Seine grauen Augen sahen Martha verweisend an, und das hieß, scher dich aus dem Schankraum. Sie tat, als bemerke sie es nicht, und gab die Bestellung an ihn weiter. Ehe sie hinter der Portiere vor der Tür zu den Wohnräumen verschwand, verabschiedete sie sich von Emil Treulich mit deutlich bedauerndem Blick, den der gedankenvoll erwiderte.
Der nächste Abend sah Emil Treulich dahinwandeln ohne Kollegen, ohne Striebold. Dass es einen Täter zum Tatort ziehe, ist umstritten, doch einen Verliebten zieht es magisch zum Ort, an welchem er von Amor erwischt ward. Emil nahm den Umweg über den Kreuzberg, dessen Parkanlagen sich hinzogen von der Riesenfläche des Tempelhofer Felds, auf dem alljährlich das Tamtam der Kaiserparade stattfand. Jetzt, kurz vor Ostern, hätte es eigentlich nach Frühling duften müssen, doch es stank nach gäriger Maische. Der Wind trieb die Ausdünstungen der Schultheiß-Brauerei in die Straßenschluchten Berlins. Stand man auf der Spitze des Kreuzbergs, neben Schinkels neogotischem Kriegerdenkmal, so waren in südlicher Richtung hinter Baumkronen die Gebäude der backsteingelben Bierfabrik zu erkennen. Einen kleinen Trost gegen die unselige Zweiheit - Bier und Krieg - schenkte der Blick nordwärts. Man schaute den künstlichen Wasserfall hinunter, tief in die Großbeerenstraße hinein, die sich im Dunst grauen Häusergewimmels verlor.
Der Maischegeruch trieb Emil Treulich von hier fort. In Wahrheit war das Unterbewusste in ihm längst auf dem Weg. Von der Katzbachstraße zur Monumentenstraße wandernd, überquerte er auf der Monumentenbrücke die breite Schlucht mit dem blitzenden Schienengewirr und war dann im Bezirk Schöneberg, an dessen Rande sich Saupts Bierstuben befanden.
Auf beiden Bürgersteigen herrschte reger Verkehr, die Straßenbäume prahlten mit Knospen und frischgrünem Blattwerk. Gedankenverloren wanderte Emil fürbass, und beinahe hätte er Martha Saupt umgerannt. Sie lachte herzhaft über seine gestotterte Entschuldigung und bemerkte: "Ohne Hund sehen Sie auch ganz passabel aus."
Emil gestand, dass er Striebold nach Hause geschickt habe, um in Saupts Bierstuben nicht aufzufallen.
"Ich habe gewusst, Sie werden kommen." Martha spielte die Selbstsichere. Deshalb sei ihr etwas eingefallen, was sie unbedingt am Nachmittag noch habe besorgen müssen.
Das bedeute - Emil verbarg seine Freude nicht -, dass er eine Stunde das Glück ihrer Gegenwart genießen dürfe. Eine halbe Stunde, widersprach sie, und nur, wenn er zugebe, dass die Phrase "Glück Ihrer Gegenwart" ironisch gemeint sei. Er hob zwei Finger und versicherte, selten sei er so froh über ein unverhofftes Wiedersehen gewesen. Wie selbstverständlich nahm er ihren Arm, und selbstverständlich wusste er ein kleines Café, in dem sie ein Zweiertischchen fanden. Er bestellte zwei Sherry, aber Martha wünschte eine Tasse Kaffee. Als die Serviererin gegangen war, sah sie ihn strafend an. "Den Kaffee bezahle ich."
Er ließ die Mundwinkel hängen. "Nun möchte man mal den Kavalier spielen ... "
Den spiele er wohl öfter. Sie tat vorwurfsvoll. Aber bei ihr sei er an jemand geraten, dem das überhaupt nicht imponiere.
Ist die schön widerborstig, dachte Emil, und fragte gedehnt: "Spiele oft den Kavalier ...?"
Gestern habe er einen Sweater getragen, erinnerte Martha, heute einen Maßanzug. Nur ihretwegen, erklärte er, ob das nicht überzeugender sei als ein Kompliment. Martha gestand, dass sie gern wüsste, wer er wirklich sei. "Gestern ein Arbeiter, heute ein - nun ja, eher wie ein Bourgeois."
Emil nahm einen Schluck Sherry auf den Schreck. Diese Martha Saupt war so unbequem wie imponierend. Mit seinen neunundzwanzig Jahren befand er sich nicht mehr im Stande der Unschuld, doch solch ein Mädchen war ihm bisher nicht begegnet: Er holte tief Luft und sagte, seine Kleidung habe wohl mit gutem Verdienst zu tun. Nicht ohne Grund nenne man die Buchdrucker - wenn auch meist ironisch - Elite der Arbeiterschaft, weil gewerkschaftlich unübertrefflich organisiert. Kleinste Sparte, aber nicht die unwichtigste, seien die Schriftgießer. Deshalb heiße es auch "Verband der deutschen Buchdrucker und Schriftgießer". Und von dieser kleinsten Sparte gehöre er zu den wenigen mit der kompliziertesten Tätigkeit. Aus kochendem Blei habe er Typen des winzigsten Schriftgrads zu gießen. Von diesen Buchstaben messe der breiteste höchstens einen halben Quadratmillimeter. Trotzdem müsse das Schriftbild haarscharf und pieksauber sein.
Martha fand es aufregend. Emil tat gelassen. Aufregend werde es erst, wenn die Maschine zu spucken beginne. Zu Hause habe er wohl ein halbes Dutzend Arbeitssweater zu liegen, alle mit Bleipanzern auf der Brust. Nicht nur einmal habe es ihm die Augenlider zugeklebt, und ein Arzt musste es entfernen.
"Dagegen muss man doch was tun!" Martha zeigte sich ehrlich entrüstet.
Ihre Anteilnahme war ihm Honigseim. Natürlich, bekräftigte er, man müsse aufpassen. Wichtig an jeder Gießmaschine sei die Bleitemperatur, erst recht beim Guss der kleinsten Schrift. Da gehe es um zehntel Grad. Wer sich dieses Feingefühl nicht erwerbe, der sei eben kein Spitzenmann.
Sie nannte das nervenaufreibend, aber er schüttelte den Kopf. Aus sprödem Metall Tausende filigranzarte Dingelchen zu produzieren, ohne die kein Setzer setzen, kein Drucker drucken und kein Leser lesen könne, empfinde er als Kunst. Dürfte er seinen Beruf nicht mehr ausüben, ginge es ihm wie einem Maler, dem man Pinsel und Palette wegnimmt.
"Also doch Schwarze Kunst." Wenn sie spottete, blitzten in ihren Augen kleine Lichter auf. Er ging nicht auf ihren Ton ein. Das sei alles mal ernst gemeint gewesen, sagte er bedauernd, die Schwarze Kunst mit ihrem Buchdruckerwappen, das Gautschen und das Grußwort "Gott grüß die Kunst". Und wer sich eine der Gutenbergbibeln anschaue und behaupte, das sei kein Kunstwerk, der habe keine Ahnung. Aber leider, je mehr Technik aufkomme, desto rascher gingen alte Bräuche, Berufskniffe und -schliche verloren.
Von dieser Betrübnis Emil Treulichs hörte der Sohn Rudolf schon im Kindesalter, und sie blieb ihm im Gedächtnis, weil der Vater später, nach der Rückkehr aus dem Krieg, öfter darauf zurückkam. Dabei richteten sich die Klagen weniger gegen die Technik als gegen die Unfähigkeit, Technik zu nutzen, ohne die guten Traditionen auf den Kehricht zu werfen.
Ernsthaft fragte Martha, ob Emil Treulich etwa noch wie Gutenberg drucken wolle? Nachsichtig lächelte er. Sie habe vorhin "nervenaufreibend" gesagt. Nervenaufreibend sei, wenn man sich bremsen müsse, um den Akkord nicht zu versauen. Immer habe er etwas Gegossenes in der Hinterhand, den Speck. Dass der Speck nicht ranzig werde, dagegen hätten die Spitzengießer den blauen Montag. In fünf Tagen Akkord schafften sie die Wochenmenge, die als normal gelte, also niemanden reize, die Akkordsätze zu drücken.
Martha wollte nicht glauben, dass sich der Chef das gefallen lasse. Emil bemerkte darauf, der Chef wisse davon nichts, das würde mit dem Meister gezaubert. Selbst wenn es der Chef erführe, was wolle der machen? Feingießer seien überall gefragt, wenn in Berlin nicht, dann in Leipzig, Mainz oder Frankfurt am Main. Er als Mann ohne Kind und Kacks hätte nicht übel Lust, eine Weile mal die Gegend am lieblichen Main unsicher zu machen.
Ob er denn so mir nichts, dir nichts den Koffer packen würde, fragte Martha wie nebenhin. Ahnungslos bestätigte er, "warum nicht?" Unter Umständen auch den Rucksack und dann per pedes als Wandersmann mit Reiseunterstützung vom Verband durchs schöne Land.
Er würde tatsächlich ...? Martha bezwang nur mühsam ihre Enttäuschung, aber er schwärmte, verlockend wäre es auch, mit dem Fahrrad zum schönen Rhein zu strampeln.
Martha Saupt stand auf. "Dann strampeln Sie nur. Nach Mainz oder Frankfurt. Von mir aus nach Amerika." Die Nase in die Luft gereckt, verließ sie das Café.
Nach und nach zügelte sie ihre Schritte in der Hoffnung, er würde ihr folgen. Es war unbeherrscht gewesen, wusste sie, aber was sollte sie tun. Er macht mir den Hof und erklärt im gleichen Atemzug, dass er, hinaus in die weite Welt wolle. Auch dass er so sorglos in den Tag hinein lebt, ist nicht recht. Als ob er Not nie kennengelernt hat. Wenn ich da an die sorgenvolle Zeit Vaters als Sattler denke ...
Unauffällig schaute sie sich um. Weit und breit kein Emil Treulich zu sehen. Ihre Empörung flackerte kleiner, doch der Verstand protestierte, unterwerfen, bevor es richtig begonnen hat?
Wen der Schlaf flieht, den plagen Gedanken. Martha Saupt grübelte wahrlich mehr in der Nacht danach, als sie schlief. Das Flämmchen der Hoffnung wollte nicht erlöschen.
Wiederum gebrauchte sie zu Hause eine Ausrede, und so befand sie sich zur gleichen Zeit wie am Vortag auf dem selben Weg. Nicht Emil Treulich traf sie, doch Trautmann und Karge, und die begrüßten sie wie eine alte Bekannte. Sie sprachen vom Wetter und drucksten herum, bis Karge herausplatzte: "Is jestern etwa 'n bissken wat schief jejangen, Frollein Saupt?"
Martha tat erhaben. Wieso? Dürfe man bei dem Herrn keine andere Meinung haben? Beide beteuerten, so sei der Emil gar nicht. Im Gegenteil, mit keinem lasse sich so lustig streiten wie mit ihm. Martha gab sich ungläubig und entlockte den beiden weitere Einzelheiten. Von allen lasse sich Emil anpumpen. Jeder in der Bude wisse natürlich, dass er zum Gauvorstand des Berliner Buchdruckerverbands gehöre, und so kommen die Kollegen mit jedem Ärger zu ihm, und keinen lässt er abfahren. Darum habe er es auch geschafft, fast alle Mädchen und Frauen in Packerei und Versand gewerkschaftlich zu organisieren. "Allet, wat recht is", schloss Karge das Loblied, "Emil is'n Kerl, mit dem jeht man durch dick und dünn."
Es hörte sich gut an, trotzdem bremste sie: "Und außerdem liebt er Wein, Weib und Gesang."
Trautmann protestierte lachend. "Nee, nee, keen Wein, Emil liebt mehr det helle Bayerisch Bier."
Karge hob bedeutsam den Daumen. "Und wat den Jesang anjeht, Frollein Saupt, er hat 'nen properen Bariton, singt in der "Typographia", unserm Buchdruckerjesangverein."
"Apropos Jesang", entsann sich Trautmann, "am Sonnabend hat "Typographia" Ostervergnüjen in der Neuen Welt, woll'n se da nicht hinkomm', Frollein Saupt?"
Martha zierte sich anstandshalber, doch nahm sie dann hastig die Eintrittskarte, die ihr Trautmann hinhielt. Sie musste an die Gesichter der Eltern denken, würde sie die um Erlaubnis fragen. Sei es drum. In aufwallendem Trotz bezahlte sie die Karte und verabschiedete sich betont freundlich von den zwei hilfreichen Kollegen des Emil Treulich.
Sorgsam verstaute Martha die Karte im Handtäschchen, sicherer Pfand für ein Wiedersehen, doch freute sie sich auch auf das Fest in der Neuen Welt. Da war ständig was los, Berlins Lebenslust veranstaltete dort 'ne Menge Tremoli". Beliebt waren am Jahresanfang die Bockbierfeste, die Kostüm- und Maskenbälle, und was es alles an Vorwänden gab, die Leute ins Vergnügen zu locken. Jetzt, zu diesem Zeitpunkt, ahnte Martha noch nicht, dass sie und Emil bald auch als Eheleute die stadtbekannte Gaststätte in der Hasenheide besuchen würden, etwas später dann mit dem Söhnlein Rudolf, das somit bereits im zarten Kindesalter die Neue Welt bestaunen konnte. Ob 1. Mai oder Pfingstfest, die Anlässe vergaßen sich, bleibenden Eindruck hinterließen auf den Kleinen die imposanten Gebäude mit Sälen für tausend und zweitausend Menschen, die hin und her sausenden Kellner und die Kapelle mit der großen Pauke und den goldenen Trompeten.
Am Abend jenes Ostersonnabends strömten festlich gekleidete Familien in den riesigen "Kleinen Saal", so bezeichnet, weil der andere noch größer war. Im Vorraum erwartete Karge Martha und brachte sie zu dem Tisch, an dem bereits Karges Frau, Trautmann und dessen Frau saßen.
Martha bekam ihren Platz neben einem leeren Stuhl, reserviert für Emil Treulich, der sich bereits hinter der Bühne befand. Erwartungsvoll nahm sie es wahr, dieses unbestimmbare Gesumm, mit den ständig hochschäumenden Spritzern hellen Lachens und klirrender Gläser, dem Tirilieren der Klarinette, dem Brummen der Bassgeige, jenen vertrauten Tönen beim Stimmen der Orchesterinstrumente.
Nachdem sie beim Kellner ein Malzbier bestellt hatte, las sie das Programm. An fünfter Stelle stand dort: "Osterspaziergang, aus dem dramatischen Gedicht Faust von Johann Wolfgang von Goethe, Rezitation: Kollege Emil Treulich". Martha hätte am liebsten auf die vorangehenden Programmnummern verzichtet, so gespannt erwartete sie den Auftritt des Bruders Lustig. Kurz darauf fand sie es ungerecht. Durch ihre Klavierstunden musikalisch hellhörig, spürte sie bei den ersten Liedsätzen, dass dieser Chor mit Recht als einer der besten Berlins galt, was nicht zuletzt das Verdienst des bekannten Chorleiters Alexander Weinbaum war. Martha fragte sich, weshalb Männerchöre häufig bewitzelt, Opernchöre dagegen ernst genommen wurden. Beeindruckend, wenn über hundert Männerstimmen leise zu werden verstanden wie Blätterraunen oder den riesigen Raum noch zu weiten schienen mit der Tonfülle eines sieghaften Marschliedes.
Den Verbandsvorsitzenden hatte sie sich anders vorgestellt. Kein Bäuchlein, keine Bürokratenglatze. Albert Massini wirkte eher intellektuell und sprach dialektfrei mit weittragender Stimme, die er theatralisch zu steigern vermochte. Er sprach ohne Manuskript. Über den schwindenden Winter, vom Frühling besiegt, so, wie einst der böse Feind Kapital von den Heerscharen der deutschen Arbeiterschaft bezwungen sein würde. Das Wort Arbeiterklasse kam nicht über seine Lippen. Er wies auf den historischen Boden hin, auf dem sie hier das Osterfest feierten. Schon vor hundert Jahren habe Turnvater Jahn in der Hasenheide begonnen, die Jugend auch körperlich zu ertüchtigen mit Freiübungen und Geräteturnen. Mit etwas Pathetik erinnerte Massini an die Massenveranstaltungen Berliner Arbeiter am selben Ort, mit August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Paul Singer. Man wisse schon, und nicht zuletzt die diszipliniert organisierten Buchdrucker hätten ein Gespür dafür, wann zu kämpfen, und wann zu feiern sei, und so wünsche er allen Kollegen und ihren Frauen, allen lieben Gästen ein vergnügliches Beisammensein in der Gesellschaft Berliner Schwarzkünstler.
Als die Arbeitermarseillaise erklang, sangen die meisten den Refrain mit. Der "Osterspaziergang" war eine klug gewählte Überleitung zum zweiten Teil des Programms. Die Sänger blieben auf der Bühne, Emil Treulich trat nach vorn. Er hat Mut, dachte Martha, Bruder Lustig hat Mut. Ist es nicht tollkühn, das vor tausend Menschen zu sprechen? Der tollkühne Rezitator beginnt beinahe gemächlich, jene Frühlingslandschaft zu malen, als sehe er sie vor seinen Augen ausgebreitet. Dann steigert er, unmerklich fast, das Tempo, sein Mund formt bewegt die Worte des Dichters, und die Menschen im Saal erleben mit ihm die Welt des Frühlingsfestes, die Weite und die Enge, das Helle und das Dunkle bis zum erlösenden Ausklang: "Hier ist des Volkes wahrer Himmel -. Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!"
Martha war derart überrascht, dass sie zu klatschen vergaß. Ein erstaunlicher Mann.
Ob sie zu viel behauptet hätten, erkundigte sich Karge. Martha schreckte aus ihrem Nachdenken und antwortete, sie frage sich nur, woher der Emil Treulich auch noch Zeit finde für die Chorproben, die Gewerkschaftsaufgaben und ähnliche Dinge. Karge lachte geschmeichelt, als sei das Kompliment ihm gemacht worden. Tja, der Emil lese auch oft Nächte hindurch. Während sich brave Väter mit Familienkram abplackten, schlage sich der abgefeimte Junggeselle mit der Literatur herum. Den ersten Teil des "Faust" könne er auswendig.
Was für ein Mensch, dachte sie, geradezu das Gegenteil von jenen primitiven Vierschrötern, als welche die Arbeiter in den Witzblättern gern dargestellt werden. Zu der Sympathie kam nun der Wunsch, von Emil Treulich mehr zu erfahren. Marthas weiblicher Instinkt hatte vom ersten Augenblick an gespürt, dass er ein Mann war, auf den Frauen fliegen. Trotzdem bat sie ihm manches ab. Schürzenjagd als Lebensinhalt, das war eine mehr als oberflächliche Einschätzung gewesen.
Gleichsam wie eine fröhliche Aufforderung zu einer Osterwanderung, sang der Chor "Wer recht in Freuden wandern will" als Schlusslied nach einigen Balladen und Scherzliedern, zwischen denen Emil Treulich Gedichte aus dem Buch "Die zehnte Muse" rezitiert hatte.
Endlich trat er in aufgeräumter Stimmung an den Tisch. Martha dachte, Beifall wirkt manchmal wie Sekt. Als habe er den Gedanken erahnt, bestellte er beim Ober Champagner und bat die Freunde, mit ihm auf den gelungenen Abend anzustoßen. Er sah Martha übermütig in die Augen. "Auf den Glücksfall, Sie hier wiederzusehen." Da ihr der Vorschlag, Brüderschaft zu trinken, so sicher wie das Amen in der Kirche schien, suchte sie der Prozedur zu entgehen. "Wenn Sie wollen, dürfen Sie du zu mir sagen."
Wenn sie schon nichts vom Gläserkreuzen halte, parierte er, um den Kuss komme sie nicht herum. Sie hatte noch nie einen Mann geküsst und war rührend bemüht, den Spaß nicht durch alberne Ziererei peinlich werden zu lassen. Emil spielte den Beglückten, und die Kollegen am Tisch scherzten, dies schaue beinahe nach Verlobung aus.
Sie war nicht erschrocken über das Wort. Die ungeschickte Berührung ihrer beider trockenen Lippen empfand sie als gegenseitiges Versprechen. Als sie dann tanzten, war ihnen, als seien English Waltz, Schieber, Wiener Walzer, Polka eigens für sie komponiert. Martha schwebte auf rosa Wolken, und sie fand: Es gibt Stunden, da ist das Wort vom siebenten Himmel herrliche Wahrheit.
Was beide der Nacht an Zeit gestohlen, vermochte auch die Droschke nicht zurückzugewinnen, in der Emil die Martha nach Hause brachte. Schwester Erna hatte den Wohnungsschlüssel an verabredeter Stelle deponiert, und die Älteste schlich auf Zehenspitzen ins Bett. Dennoch wurde ihr spätes Heimkommen bemerkt, und Luise Saupt intonierte morgens eine Moralpauke. Julius Saupt appellierte mehr an die Vernunft und malte in düsteren Farben, was einem unbescholtenen Mädchen geschehen könne, das sich von raffinierten Kerlen umgarnen lasse. Martha wunderte sich selbst, wie wenig die Tiraden sie berührten. Geradezu mitleidig dachte sie, ach ihr, wenn ihr wüsstet ...
Wenn die Vergangenheit aus heitren Büchern lacht,
wird uns das Heute hell.
Welch eine Lust, zu leben. Martha und Emil kannten das Wort Ulrich von Huttens, und wären sie gefragt worden, sie hätten geantwortet, es drücke ihr jetziges Lebensgefühl aus. Zwar ist dies der übliche Zustand von Verliebten, doch es gab einiges, das nicht gerade lustig genannt werden konnte. Martha hatte es vor den Eltern nicht verheimlicht, dass sie "mit Emil ging". Julius und Luise begannen einen gezielten Kleinkrieg dagegen, und - erreichten das Gegenteil. Zwei fortschrittlich zu nennende Leute, verfielen sie dennoch demselben Fehler, den vor ihnen unzählige Eltern machten. Es wollte nicht in ihren Kopf, dass ein angeschwärzter Geliebter für die Liebende nur um so heller glänzt. Warum hätte es bei -Martha Saupt anders sein sollen? Wie würde sie, Martha, reagiert haben, hätte Emil ihr eines Tages Lebewohl gesagt mit der Begründung, sie sei seinen Eltern nicht genehm? Sie fand die Gründe ihrer Eltern nicht stichhaltig. Zu deutlich war deren Enttäuschung, dass ihre Älteste sich "dem erstbesten an den Hals geworfen" hatte. So bastelten sich die alten Saupts aus übertriebener Vorsorge eine prächtige Sorge, die sich auswuchs zur heftigen Abneigung und später wandelte zum Hass.
Ein derartiger Hass musste dem um zwei Lebensalter jüngeren Rudolf unverständlich sein. Wir erfuhren schon, dass er die Großeltern in den Mittzwanziger Jahren besuchte, und sehen nun, warum es ihm die Lust zu weiteren Begegnungen auf Jahre hinaus verdarb. Die anfangs stockende und konventionelle Unterhaltung geriet bald in ein unschönes Fahrwasser. Großmutter Luise begann mit Episödchen und Stückchen über Emil Treulich, dessen Name nicht über ihre Lippen kam, und sie beendete ihren hämischen Bericht: "Das war der feine Herr, der leider dein Vater geworden ist." Als er die heftige Abwehr in Rudolfs Gesicht sah, nahm der Großvater das Wort. Emil Treulich sei ein zügelloser Ichmensch gewesen, mit einem Wort, ein gewissenloser Lump, der ihnen nicht nur die Tochter gestohlen habe, er sei auch schuld an ihrem Tod. Rudolf war empört. Des Vaters Sterbestunde stand wieder vor ihm, eine tiefe Narbe war aufgerissen worden. Er schrie es den beiden Alten in die Ohren. Ich kenne meinen Papa besser, ich habe mit ihm gelebt, er ist der beste Vater der Welt gewesen. Als Rudolf die Tür hinter sich zuwarf, hatte er Tränen in den Augen.
Es wurde Martha bald zur Gewissheit, dass sie sich entscheiden musste. Das war nach einer heftigen Auseinandersetzung, in der die Älteste den Eltern vorgeworfen hatte: "Ihr seid ungerecht! Gegen Erna, gegen Emil, gegen mich!"
Die verblüfften Gesichter erzürnten sie erst recht. "Eure Hoffnungen habt ihr immer an mich gehängt, immer nur Martha, Martha, Martha. Ist Erna weniger wert, weil sie fünf Jahre jünger ist?"
Die abwiegelnde Geste des Vaters stimmte sie nicht versöhnlicher. "Ihr kennt Emil nur als Kneipenbesucher. Wisst ihr, was er im Beruf leistet? Was er für den Verband tut? Welche Begabungen in ihm stecken? Woher nehmt ihr das Recht, ihn zu verurteilen?"
Die Mutter öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Martha kam ihr zuvor. "Ist das denn wahre Elternliebe, wenn ihr tut, als sei ich ein unreifer Backfisch? Traut ihr mir überhaupt nichts zu, keinen guten Einfluss auf einen Mann, der mich liebt?"
Martha rannte aus dem Zimmer, sie kannte die Antworten bis zum Überdruss, und sie fühlte sich im Recht. Jede Zeit hat ihre Jugend-Rebellion. Überzeugt stritt Martha für sich und ihre Liebe, doch ihr Aufbegehren war auch Teil des allgemeinen Aufbegehrens der Jungen, das seit der Jahrhundertwende in vielfältigen Formen rumorte, im "Wandervogel", der Gemeinschaft aufmüpfiger Kinder des Groß- und Kleinbürgertums, oder in den Jugendbildungsvereinen der Arbeiterschaft.
Martha hätte gelächelt über solche Gedanken. Politik und Herzensangelegenheiten, was hatten die miteinander zu tun? Sie gehörte keinem Jugendbildungsverein an, obwohl einmal wöchentlich im kleineren Vereinszimmer einer tagte. Von dessen Vorhandensein wusste Martha so gut wie nichts, keiner hatte gewagt, die Wirtstochter für den Beitritt zu gewinnen. Anders dagegen die Klassenkameradinnen Marthas aus dem Lyzeum, Ilse und Olga, die irgendeinem Bund wandernder Mädel angehörten. Sie hatten Martha aufgefordert, an einer Fahrt ins Schlaubetal teilzunehmen. Der Schar munterer Mädchen mit Wimpelspeer, Lauten und Geigen fiel es nicht schwer, ihrem Gast die Wanderung zum Erlebnis zu machen. Junisonne lachte, die Gegend war romantisch in ihrer grünen Wildnishaftigkeit. An einem einsam gelegenen Waldsee wurde beschlossen, Mittagsrast zu machen und zu baden. Martha sagte, dass sie keinen Badeanzug mithabe, und die Mädchen Emmi und Isolde sagten es auch. Dagegen schauten die andern sieben kampfentschlossen, besonders die Wortführerin Ilse. Hier sei man vor unbefugten Augen sicher, ihr Körper lechze danach, endlich einmal wieder unbekleidet in die silberne Flut zu tauchen. Schließlich hätten sie es bisher öfter so gehalten. Während dieser energischen Darlegung löste Ilse das schwarze Samtmieder, stieg aus dem buntbestickten Bauernrock und befreite sich flink auch vom übrigen "Zivilisationsplunder". Martha schaute woanders hin. Sie sah trotzdem, Ilse war bildschön, und das besiegte keineswegs ihren Widerstand. Ilse belehrte sie, nur Spießerheuchelei könne der Grund sein, wenn eine Evastochter es ablehne, sich frei dem Sonnenlicht darzubieten. Gern hätte Martha etwas Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob sie ein Spießer sei, aber da wateten schon die ersten Mädchen lachend, kreischend und spritzend ins klare Nass. Sie zögerte noch immer, obwohl sich inzwischen auch Emmi und Isolde den Badenden zugesellt hatten. Ilse steckte ihre langen, schweren Zöpfe zum Kranz und bemerkte gnädig, natürlich würde niemand gezwungen, etwas zu tun, was er verachte.
Unsinn, dachte Martha ärgerlich, weshalb sollte ich verachten, was man in der Badewanne als selbstverständlich betrachtet. Schnell wie selten war sie aus den Sachen und mitten unter den Schwimmenden.
Es war mehr als ein kühner Sprung ins kalte Wasser, es war jugendliches Aufbegehren gegen dumpfe Ängste vergangener Zeiten, die Mädchen empfanden es als ein Stück Befreiung. Martha gab ihnen recht, und es beunruhigte sie, dass zugleich auch Beklemmung in ihr war.
Die Angelegenheit machte Martha auch noch auf andere Art zu schaffen. Sie gestand sich ein, dass sie Ilse um ihre Überlegenheit beneidete. Es ist eine Erklärung, aber kein Trost, fand sie, dass Ilses Eltern schwerreiche Leute sind. Aber was macht einer, der arm ist? Da gibt es nur eins, Mangel an Geld und Gut wettmachen durch Geist und Gaben. Emil bewies es, einer kann sich Achtung erringen, ohne Macht und Reichtum zu besitzen. Emil hatte sich nicht durchgeboxt zu jenen, die im Wohlstand leben, indem sie ihre lieben Mitmenschen ausnutzen. Selbst bezahlter Angestellter der Kollegenschaft zu sein, war seiner Selbstachtung zuwider gewesen. Martha glaubte ihm, dass er mehrmals Gelegenheit gehabt hätte, von seiner ehrenamtlichen Funktion in eine hauptamtliche zu wechseln. Natürlich musste die Verbandsarbeit getan und also auch honoriert werden. Die "Bonzen" besaßen sein Mitleid. Was für ein Opfer, vom interessanten Beruf überzuwechseln zu öder Büroarbeit. Das Argument, dass dafür Existenzsicherheit und Lebensstellung winkten, belächelte Emil. Produktive Arbeit brauche er als Lebenselement. Mit Hand und Kopf zu wirken, nur das schenke ihm Schaffenslust.
Martha sah dies so wie Emil, und es brachte sie einander noch näher.
Einige Monate nach der Osterfeier der "Typographia" verlobten sie sich. Da war weder Leichtfertigkeit von der einen noch raffinierte Verführungskunst von der anderen Seite im Spiel. Martha war überzeugt, irgend wann müsse eine Frau ihre Liebe auch körperlich beweisen. Sie besuchte Emil in seinem Logis, wissend, wie taktvoll dessen Zimmerwirtin war. Das war auch nötig, Martha hatte genug andere Hemmnisse zu überwinden, und es sei gesagt, nach fraulichem Versteckspiel, gekrampften Scherzen und geglückten Zärtlichkeiten geschah dann, was sich beide gewünscht hatten.
Von nun an versuchten sie die Ursachen aufzuspüren für Eigenschaften, die dem andern nicht gefielen. Da gab es Emils noble Art, mit Geld umzugehen, die Martha von Anfang an kritisch vermerkt hatte. Sie war der Meinung, wer nicht über Millionen verfüge, habe Grund, mit seinen Groschen hauszuhalten. Geld bedeutet vergegenständlichte Anstrengung, die Achtung davor heißt Sparsamkeit. Wenn Emil von seiner Kindheit und Jugend erzählte, fanden sich unschwer auch Ursachen seiner Generosität. Not als nackte Existenzbedrohung hatte er nicht kennengelernt. Sein Vater Fritz Treulich war in früher Jugend aus Ostpreußen nach Berlin gekommen und hatte hier Mathilde gefunden, die, aus derselben Provinz stammend, genau wie der Fritz nur die Herrschaften getauscht hatte. Draußen hatte sie als Magd gedient, hier war sie Dienstmädchen; Fritz, vorher Kutscher eines adligen Herrn, war nun Kutscher bei einem Rollfuhrunternehmen. Wie Tausende mit ihnen, fühlten sie sich anfangs verlassen in der lauten, verrückten Stadt - und gingen dennoch nicht zurück. Fritz und Mathilde heirateten, bester Schutz gegen das Einsamsein, und nun fühlten sie sich schon ein kleines bisschen als Berliner. Der erste Junge kam. Als er sprechen gelernt hatte, sprach er fließend Berlinisch, die Eltern lernten es von ihm und fühlten sich noch ein bisschen mehr als Berliner. Das ging viermal so, in etwa Zweijahresabständen wurden die Treulichs mit Knaben beschenkt, bis dann der Gott der Fruchtbarkeit Einsehen zeigte und endlich ein Mädchen durchgehen ließ, die Mathilde, die zum Unterschied von der Mutter Tilla gerufen wurde. Tillas Eltern benahmen sich nun schon, als seien sie uralte Berliner. Der Ostpreußenton, unverkennbar in seinem gemächlichen Singsang, war fast völlig abgeschliffen vom schnell-frechen Berlinisch.
Die Siegermilliarden nach dem Deutsch-französischen Krieg schwemmten eine Woge hektischer Rührigkeit in die nüchterne Hauptstadt, und selbst für den letzten Dienstmann fielen noch Brosamen vom Tisch der behänden Wundertäter, die das französische Gold zum allmächtigen Zauberstab werden ließen. Es wurde gebaut wie nie zuvor. Die Maurer, Zimmerleute, Putzer, Hucker und Klempner schufteten nun im Akkord, und sie brauchten nicht mehr anschreiben zu lassen und zahlten ihre Schulden bei den Bäckern, Schlächtern, Grünkramhändlern, Schneidern und Schuhmachern. Das Ganze nannte sich Handel und Wandel, das große Geld heckte Mehrwert, und der Mehrwert heckte neue Verdienstmöglichkeiten. Auch für Fritz Treulich. Er sagte dem Rollfuhrunternehmen Valet und wurde Kutscher für Ziegel, Sand und Kalk. Weil sich jetzt der Arbeitstag lohnte, wurde er verdoppelt und zählte nun sechzehn Stunden. Da blieben immerhin noch acht Stunden zum Schlafen. Manchmal brachte der älteste Sohn Wilhelm das Mittagessen, manchmal Mutter Mathilde. Wenn sie den Überstundenkutscher Fritz trösten wollte, wehrte er ab. Beim Herrn von Wenzendorff sei er auch meist sechzehn Stunden auf den Beinen gewesen, für noch nicht mal ein Dankeschön. Jetzt müsse er zwar meist hurtiger dran, doch dafür bekomme er vom Chef einen Lohn, von dem er in Ostpreußen nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Die Treulichs wurden direkt großkotzig und zogen von der Kellerwohnung ins Hochparterre. Die neue Wohnung hatte drei Zimmer, Innentoilette mit Wasserspülung, eine richtige Korridortür mit Zugklingel sowie Gasanschluss für Zimmerlampen nebst Gaskocher. Die Portiersverpflichtung war für Mathilde gedacht, denn eine Mutter mit nur fünf Kindern und im besten Alter, wird die sich etwa auf die faule Haut legen? Die Treulichs verließen sich da mehr auf sich als auf den lieben Gott, obwohl sie beim Grafen stets pünktlich hatten zum Kirchgang antreten müssen. In Berlin besuchten sie dann keine Kirche mehr, obschon es nicht wenig Gotteshäuser gab, evangelische, katholische, jüdische, die Schrippenkirche der Heilsarmee und den Barackentempel der Guttempler. Fritz Treulichs Motto lautete: Ich wünsche nichts vom lieben Gott, also schulde ich ihm nichts. Dies nun war ein Irrtum, denn jedes Jahr kassierte der Staat die Kirchensteuer. Auf die harte Frage, weshalb Fritz aus dem Verein nicht austrete, gestand er: "Vor der letzten Konsequenz hat man eben Schiss." Das -nackte Selbstbekenntnis suchte er dann zu bemänteln mit dem Scherz: "Man weeß eben nich, wat wir nich wissen, und villeicht is 'n Juthaben an höchster Stelle ooch nich schlecht." Wie auch immer, nachweisbar war in keiner der offiziellen Kirchen gebetet worden, der Herr möge dieses neue Sodom und Gomorrha Berlin züchtigen. Trotzdem fuhr Gott mit Feuer und Schwefel - bildlich gesehen - unter die Sippschaft der Jobber, Wechselfälscher, Zinsprofiteure, Bankrottspezialisten und Luftschlossarchitekten. Da gab es groß Geschrei und Wehklagen, manch Neureicher ward wieder arm, Leute aus Villen und Prachtbauten kamen über Nacht an den Bettelstab, und die kiebigsten Hasardeure schossen sich eine Kugel in den schlauen Kopf.
Etliche Großkopfete waren wirklich klein geworden, stellte Fritz Treulich fest, etliche aber noch größer. Vielleicht war es ein Trost, dass die Armen nichts verloren hatten, denn wer kein Geld hat, kann es nicht verlieren. Die Kleinen guckten trotzdem in die Röhre, obwohl die Gründerzeit Berlin groß gemacht hatte, räumlich gesehen. Einst kleine Stadtbezirke waren angeschwollen wie Kürbisse auf Mistbeeten. Häuserzeilen um Häuserzeilen waren emporgeschossen, die Straßenzüge ähnelten Schluchten und die Höfe Verliesen. Denn die Mietskasernen waren weniger zum Wohnen gebaut worden, sondern mehr als Kapitalanlage. Dieses neue, größere Berlin war mit blanken Händen hochgemauert worden, im forschen Rhythmus, "een Steen - een Kalk". Die Randbezirke, wie Rixdorf oder Wedding, waren nun Stadt, richtige Großstadt, die Wohnhöllen, die Wohnhöhlen und die erträglichen Wohnungen bevölkerten sich, und haste nich jesehn, war Berlin zur größten Proletarierstadt des Deutschen Reiches, Fritz Treulich aber arbeitslos geworden. Tausende neben ihm zogen das gleiche Los. Über Nacht entstand die berühmte Reservearmee, den Unternehmern wie vom Himmel gefallen, den preußisch-deutschen Behörden ein Gräuel, da es eine Minderheit von Widerborsten in dieser Armee gab. Die Mehrheit bestand aus Leuten wie Fritz Treulich. Sie wussten noch gar nicht, dass sie Proletarier waren, träumten den Traum, mit Fleiß und Spucke könne man sich einen bescheidenen Wohlstand schaffen. Fritz Treulich hätte es nicht wahrhaben wollen, dass in ihm noch immer ein Stück Untertan steckte, weil es keineswegs genügt, dem gnädigen Herrn nur mit den Beinen davonzulaufen. Warum träumten er und unzählige Soldaten jener Reservearmee nicht den größeren Traum: Appell an alle Beschäftigungslosen zur großen Parade auf dem Tempelhofer Feld! Sie dachten an keinen Appell, und das schenkte ihnen ruhigen Schlaf. Nicht aber dem Herrn von Bismarck. Krautjunker und Schlotbarone wussten nur zu gut, ihr "Eiserner Kanzler" war ihnen beim Blick in die Zukunft immer drei Nasenlängen voraus. Dem Fürsten mit der untrüglichen Witterung für eigene und Klassenvorteile war keinesfalls entgangen, dass nicht alle Angehörigen jener Armee schliefen, auch nicht alle, die zufällig noch eine Arbeitsstelle hatten. Auch bei denen wurde aufgemuckt. Wahlen zeigten es, die Demonstrationen und die Streiks. Darum bescherte der Fürst 1878 dem Deutschen Volk das Sozialistengesetz, und im gleichen Jahr bescherte das Schicksal den Treulichs einen Sohn. Die Eltern gaben dem Nachkömmling den Namen Emil. Die Geschwister Treulich waren anfangs betroffen von der späten Ankunft eines Brüderchens, doch wie es meist zu gehen pflegt, um so höher schoss dann die Geschwisterliebe ins Kraut. Emil gedieh zum aufgeweckten Knaben, der unbewusst von den Vorteilen des Spätgekommenen profitierte. Er begriff schnell und lernte viel, denn mit keinem andern der Treulichjungen hatte man sich so viel abgegeben wie mit ihm. In reichlichem Maße genoss er Nestwärme, ein damals ungebräuchliches, dabei so treffendes Wort. Die Großen befassten sich mit ihm weniger aus Pflichtgefühl, eher weil er ihnen Spaß machte. Gar manches wurde dem Kleinen zugesteckt, was sich die Geschwister vom Munde abgespart hatten. Das Familienbudget erholte sich recht langsam von den Auswirkungen der Gründerzeitskandale, und Fritz Treulich stöhnte manches Mal, vier Stunden auf Arbeitssuche zu gehen sei schlimmer, als sechzehn Stunden zu schuften. Er hatte dann immer öfter Aushilfskutscher spielen dürfen, meist bei einem Fuhrunternehmen für Umzüge, bis er dort fest eingestellt wurde. Der gemächliche, aber doch spürbare Umschwung schien den bescheidenen Traum Fritz Treulichs vom bescheidenen Wohlstand zu rechtfertigen, zumal er bald merkte, einem Kutscher konnte nichts Besseres passieren, als bei einer Umzugsfirma beschäftigt zu sein, die hauptsächlich Aufträge von den "feinen Leuten" aus dem Westen der Stadt bekam. Die Gutsituierten entdeckten fast immer, dass sie mancher Dinge längst überdrüssig waren, und sie gaben meist noch ein Trinkgeld dazu, verpflichtete sich der Fuhrmann, das Überflüssige auf den Müll zu expedieren. Fritz Treulich aber hatte Abnehmer unter Trödlern, Pfandleihern, Antiquitätenhändlern und Antiquariaten, rettete manches auch für Freunde, Verwandte und Bekannte. Es war ein warmer Regen, ein dünner zwar, doch ließ sich davon etwas besser leben. Ein freundlicher Kutscher und sorgsamer Möbelverstauer musste man sein, dann blieb, wenn der Möbelwagen voll war, genau übrig, worauf man bei Besichtigung der Wohnung ein Auge geworfen hatte. Das konnte eine Stechpalme sein, ein blühender Oleander oder irgendeine andere Topfpflanze, die meist schon vom kooperierenden Gärtner bei Fritz Treulich bestellt worden war. Bedauernd wies dann der brave Kutscher auf das übrig gebliebene gute Stück und fragte treuherzig, ob es die Firma mit dem Handwagen zur neuen Wohnung nachbringen solle. Da war plötzlich den Eigentümern der bisher liebevoll gehegte Zimmerschmuck lästig, und wenig später tauchte einer der vier flüggen Söhne mit dem Handwagen auf und karrte das schnöde Zurückgelassene zu jenem Gärtner.
Einer nach dem andern entwuchsen die älteren Brüder den Schuljungenhosen, und der Vater gab sie in eine Lehre, getreu dem alten Spruch: Handwerk hat goldenen Boden. Emil wuchs zu einem hellen Jungen heran, und nicht selten wurde er jetzt zum Handwagenschieben mitgenommen. Eifrig bemühten sich die Brüder, dem jüngsten die nötigen Schliche beizubringen, doch Emil fand diese Gaunerkomödien unwürdig. Die Brüder tippten sich gegen die Stirn. "Wer so penibel is, der kommt zu nischt." Emil widersprach, auch wer ehrlich bleibe, müsse nicht verhungern. Max, Emil um fünf Jahre voraus, ärgerte sich. "Ach, du Klugscheißer, hast denn du schon mal Kohldampf jeschoben?"
Eindringlich berichtete er, was es heißt, mit knurrendem Magen in den Abfällen der Markthalle nach Essbarem zu stöbern, einen Apfel vom Obststand zu klauen oder eine Schrippe aus dem Brötchenkorb eines Bäckers. Emil hörte es nicht zum ersten Mal, war aber weniger von der Darstellung des Hungers beeindruckt als davon, wie der die Moral ins Wanken zu bringen vermochte. Er fand es scheußlich, dass ein knurrender Magen einen Menschen verändert. Um so verstockter schwor er sich, lieber verhungern zu wollen, als andern etwas wegzunehmen. Die Brüder fanden sich mit dieser sonderbaren Denkart irgendwann ab und meinten, wer gute Zensuren nach Hause bringe und in vielen andern Dingen ein fixer Junge sei, dem müsse man schon eine Narrheit nachsehen. Weniger leicht nahm es Vater Fritz. Er liebte besonders seinen Jüngsten, und gerade deshalb befürchtete er, der müsse mit solcher Pingeligkeit unter die Räder kommen. Manchmal ereiferte er sich so, dass Mutter Mathilde dazwischen ging, ein Junge wie Emil habe krumme Touren nicht nötig. Das sei es ja eben, begehrte der Vater auf, je fixer einer ist, desto leichter müsste es ihm fallen, das Glück ein bisschen zu korrigieren. Natürlich nur, wenn das Auge des Gesetzes gerade woanders hinschaut.
Mutter Mathilde machte auf solche Weisheiten hin eine abschätzige Geste, zog Emil ins andere Zimmer und sprach begütigend auf ihn ein. Leider sehe der Vater viel Unrechtes bei den Leuten mit Geld, und das mache auf die Dauer konfus. Trotzdem solle Emil sich von seinen redlichen Grundsätzen nicht abbringen lassen. Ein verschwundener silberner Löffel habe schon manchen ins Gefängnis gebracht. Wer dort lande, sei gezeichnet, und aus dieser Bredouille komme keiner mehr raus. Das war mehr zweckmäßig als moralisch gedacht, vielleicht aber half es trotzdem etwas. Das eigentliche Geheimnis, warum Emil so beharrlich das Steckenpferd der Rechtschaffenheit ritt, kannte niemand. Man hätte ihn eine Leseratte nennen können, wenn darunter nicht ein Kind verstanden würde, das ständig hinter dem Ofen hockt und in die Bücher starrt. Er war das Gegenteil, ein Hansdampf, einer der Anführer im Kietz bei allen Spielen und Streichen. Trotzdem las er viel. Ob es nun die stilleren, bedächtigeren Romane waren oder aufregende Abenteuergeschichten, immer gab es Helden, die für das Gute kämpften. Ihre Redlichkeit machte sie stark, und wenn sie unterlagen, dann gingen sie mit Anstand unter. Emils Fantasie machte sie zu lebenden Vorbildern, ihre Grundsätze brannten sich ihm ein, und daraus erwuchsen eigensinnige Auffassungen wie: Was mir nicht gehört, darf keinerlei Erwägungen zulassen, was man damit anfangen könnte. Wie frei und überlegen machte dagegen das Nachsinnen darüber, was man sich selbst schaffen, erwerben oder erobern kann. Anfangs waren es Knabenwünsche, wie die Kommandogewalt über die Straßenclique. Das raue Klima ringsum sorgte bald für die Erkenntnis, dass Träume nur der Anfang sind. Sollen sie Wahrheit werden, muss man etwas tun. Da gab es den Cliquenpfiff auf fünf Fingern, wer den nicht beherrschte, kam nicht in die Clique. Emil übte wochenlang, sogar das Lesen kam darüber zu kurz, doch er ließ nicht locker, bis er auf einem, zwei, drei, vier und fünf Fingern pfeifen konnte.
Ehe sich's die Familie versah, befand sich der Emil im letzten Schuljahr und ward zum Problem: Wer weiß eine Lehrstelle?
Dreißig Jahre später sah es für Emils Sohn Rudolf nicht anders aus, obwohl sich das Firmenschild des Staates geändert hatte. Es hieß noch immer: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Dass es manchmal hilfreiche Leute gibt, macht die Sache weniger trostlos. Im Fall des Emil war es der älteste Bruder Wilhelm, der bei der Suche nach einer Lehrstelle fündig wurde. Wilhelm hatte in Friedrichshagen auf einer Bootswerft gelernt und war bald ein gesuchter Mann. Als Besitzer einer Segeljolle trat er einem Segelklub bei, dessen Mitglieder zu den "besseren Leuten" gehörten, wie der Volksmund verallgemeinernd die besser Verdienenden nennt. Wilhelm war der einzige Arbeiter, aber auch der einzige Fachmann im Klub und gern gelitten, getreu dem Spruch: Der Zimmermann im Haus erspart die Axt. Es ist bequem, am Sonntagabend um eine Instandsetzung bitten zu können, von der man weiß, dass sie am kommenden Wochenende ausgeführt sein wird. Einer der "Stammkunden" Wilhelms im Klub war der Prokurist Herr Muser, von der Schriftgießerei Gursch im Südwesten Berlins. Von ihm erfuhr Wilhelm Treulich, was die Schriftgießerei bedeutet, was ein Schriftgießer verdient und dass die Firma Überdurchschnittliches fordere, wenn sie Lehrlinge einstelle. Wie nebenhin erzählte Wilhelm dem Bruder, was er von Herrn Muser alles über die Schriftgießerei erfahren habe. Dass ein angehender Schriftgießer ein aufgeweckter Kopf und belesener Mensch sein müsse. Diese geschickt geworfenen Haken setzten sich in der Seele des Jüngsten fest, und bald wagte er die Frage, ob Wilhelm nicht ein gutes Wort für ihn bei Herrn Muser ...
Wie jeder normale Junge hatte Emil schon frühzeitig verkündet, welchen Beruf er einst auszuüben gedenke. Zuerst hatte er Straßenfeger werden wollen. Die Männer hantierten mit so herrlich breiten Besen, schoben praktische Handkarren, und alle Leute waren freundlich zu ihnen, weil sie Rinnsteine säuberten, sowie die Bürgersteige von Papier reinigten und von Hundekot, in Berlin Apothekerscheiße genannt, weil von Drogisten und Apothekern in weißtrockenem Zustand gefragt und gesammelt.
Als Emil dann die Indianerbücher von Cooper verschlang, von Gerstäcker und auch das Zeug des Vielschreibers Karl May, da stand für ihn fest, dass er als Trapper in den Wilden Westen gehen, vielleicht auch einer der Regulatoren von Arkansas sein würde.
Die ersten Bilder und Beschreibungen von elektrischen Straßenbahnen erschienen in den Zeitungen, und Emil durchzuckte die Erkenntnis, nichts anderes als Straßenbahnkondukteur komme für ihn in Frage. So einer musste immer wissen, wohin die Bahn zu fahren sei, schließlich kannte Emil Berlin an allen Enden, in allen Ecken. Den Traum vom Dompteur träumte er am längsten. Den schwarzen Kater Quitsch hatte er abgerichtet, durch einen Reifen zu springen und eine Leiter hinauf- und hinunterzuklettern; den weißen Spitz Fatzke ließ er auf den Hinterbeinen tanzen, einen Salto schlagen und sich, auf dem Rücken liegend, totstellen. Fatzke und Quitsch waren die beiden Hauptattraktionen der Zirkusvorstellungen. Der Hinterhof wimmelte dann von Kindern. Sie begeisterten sich aber auch an Emils Vorträgen. Mit der Ballade "John Maynard" rührte er sie zu Tränen, der "Erlkönig" verschaffte ihnen angenehmes Gruseln. Freigebiger Beifall beschwingte Emil, und der Hof wollte sich auch dann nicht leeren, wenn er das Programm wiederholt hatte. Dann halfen ihm Erwachsene, die in nicht geringer Zahl Zaungast spielten. Mit drastischen Drohungen säuberten sie den Hof von allen Gören und prophezeiten dem jugendlichen Alleinunterhalter eine große Zukunft. Einmal schaute auch Vater Fritz zu. Er war nicht wenig stolz, wie es dem Jüngsten gelang, mit seinen Schnurrpfeifereien sogar Erwachsene anzulocken. Nachdem er Mutter Mathilde vom Hofzirkus berichtet hatte, lautete sein Resümee: "Wenn der dusslige Bengel in sein Zylinder sammeln würde, könnte er 'ne Menge Jeld machen."
Die Mutter sprach mit Emil darüber, doch der erklärte, würde er es für Geld machen, hätte er keine Freude mehr daran.
Irgendwann verdrängten andere Interessen das Zirkusspiel, bis Bruder Wilhelm dann die Neugier Emils geweckt und mit Herrn Muser gesprochen hatte. Emil musste sich bei der Firma Gursch vorstellen, seine Zeugnisse fanden Gnade vor den gestrengen Augen des Geschäftsführers, und bald war er Schriftgießerlehrling, der verbissen die schwere Anfangszeit durchstand, um sich langsam zum Gehilfen zu mausern.
Vater Fritz dagegen mauserte sich zum Unternehmer.
Sein Chef hatte sich totgesoffen, und die trauernde Witwe war froh, als sich Fritz Treulich bereit erklärte, das Fuhrgeschäft mit Vorkaufsrecht in Pacht zu nehmen. Das hieß Umzug in die Markusgasse, eine Sackgasse, die von der Markusstraße abging und die abends vermittels zweier riesiger Eisengittertorflügel zugesperrt wurde. Zum Fuhrgeschäft gehörte eine weitläufige Wohnung mit großen Zimmern und ein langer Hinterhof voller Stallungen und Remisen. Dieses Stück ziemlich alten Berlins war eine Art Gewerbezentrum. Markthallengroßhändler, Stellmacher, Möbeltischlereien, Klempner, Bauschlossereien hatten in den weiträumigen Höfen mit den vielen Schuppen ihre Werkstätten und Lagerräume. Aus einer gemeinsamen Kasse bezahlten sie einen Privatwächter, der abends das Tor zu schließen, morgens zu öffnen, des Nachts mit Laterne und Tutehorn in der Markusgasse hin und her zu gehen hatte, um ausbrechendes Feuer zu melden, vor allem aber lüsterne Diebe abzuhalten. Als die Wächterstelle vakant wurde, nahm Vater Fritz sie an, das brachte zusätzliches Geld. Auf dem Kutscherbock saßen jetzt seine drei Kutscher, er musste am Tage den Schreibkram erledigen, und das war nicht so arg viel, als dass er nicht noch seinen notwendigen Schlaf gefunden hätte. Das Tor zu schließen und zu öffnen erledigte er auf die Minute, einen nächtlichen Gassenrundgang machte er alle zwei Stunden. In der Zwischenzeit schlief er auf weichen Säcken den Schlaf des Ungerechten ohne Gewissensbisse, denn der Spitz Fatzke war stets bei ihm, und der gab beim geringsten Verdachtsmoment Laut.
Die fünf Treulich-Brüder schliefen im größten Zimmer, wogegen Tilla, die geheiratet hatte, ein Wohn- und ein Schlafzimmer bekam, dazu das Parterrezimmer nach vorn, in welchem ihr Schuhmachergatte eine Besohlanstalt errichtete.
Emil fand die neue Situation famos. In dem riesigen Zimmer war Platz genug, und abends saßen die Treulich-Söhne allesamt um den großen Tisch in der Mitte. Es gab viel Spaß; nicht zuletzt durch den Schwager Egon, den sie den "verrückten Schuster" nannten. Dessen Besohlanstalt gedieh nicht, das aber machte seinem Naturell keinen Kummer. Er arbeitete wenig und schlief viel. Allerdings sprang er morgens aus dem Pfühl, riss die Fenster seiner Werkstatt auf und begann pünktlich um sieben Uhr mit dem Schusterhammer laut aufs eiserne Dreibein zu hämmern. Leise kroch er dann wieder ins Bett und glaubte beim Einschlafen die Leute loben zu hören: Welch ein tüchtiger Mensch, Punkt sieben jeden Morgen macht er sich fröhlich ans Werk!
Erbstreitigkeiten?
Eltern, hinterlasst euren Kindern
anstatt Geld und Gut
seelische und geistige Reichtümer.
Martha Saupt heiratete ihren Emil ohne den "Segen der Eltern". Auch als bald darauf der kleine Rudolf geboren wurde, gab es keinen Weg zwischen Schöneberg und der Jahnstraße. So betrachtet, hatte die Ehe der Treulichs einen unglücklichen Start, aber man höre und staune, sie war glücklich. Bildete nicht schon allein das Dasein des Jungen eine Quelle ständigen Gedankenaustauschs? Martha und Emil meinten, es sei leichtfertig, Nachkommen zu zeugen, ohne sich Gedanken über Kindererziehung zu machen. Sie wussten, die Formung des jungen Menschen beginnt nach dem ersten Schrei, wesentliche Prinzipien jeder Erziehung sind Konsequenz und Beharrlichkeit. Die Zeiten des Nährens, Schlafens und Trockenlegens wurden prompt eingehalten, es gab keine Extrawürste. Schreien stärkt die Lungen, sagte Frau Martha, und wenn er merkt, dass er damit nicht durchkommt, hört er schon auf.
Schlauberger von heute dürften die beiden Treulichs als Rabeneltern einstufen. Beim kleinen Rudolf werden wir sehen, wie frühes Training spätere Wegstrecken leichter macht. Die Eltern meinten, wenn er schon zu den Unterprivilegierten gehört, soll er auf keinen Fall aufwachsen wie ein Unterentwickelter. Da andere Arbeitereltern ähnlich dachten, wuchs sich das aus zu praktischen Vorstellungen, die dann zu den Triebkräften gehörten, die auch die Arbeiterbaugenossenschaften entstehen ließen. Heraus aus den Kellerlöchern, wir bauen sonnige Wohnungen! So lautete der Schlachtruf, und Architekten wie Bruno Taut unterstützten diese Sehnsüchte durch Pläne für menschenwürdige Behausungen.
Emil Treulich war Mitbegründer der Arbeiterbaugenossenschaft "Paradies". Über den Namen gab es Kopfschütteln. Die Gründer erklärten, der Name Paradies sei als Herausforderung gedacht, im Sinne eines gewissen Heinrich Heine, der den Himmel gern den Spatzen überlassen wollte, unserer Erde aber die Zuckererbsen wünschte. Sie sagten sich, ehe der Kuchen des Sozialismus nicht fertig gebacken ist, kann er nicht verteilt werden. Deshalb backen wir uns mit unserer Genossenschaft einen kleinen Vorauskuchen. Und dabei gingen sie durchaus geschickt zu Werke. Für eine amtlich besiegelte eingetragene Genossenschaft musste zumindest ein bescheidenes Stammkapital nachgewiesen werden. Das war aus den Gründerportemonnaies nicht herauszuschütteln. Also verkauften sie Anteile, warben Verbündete, suchten nach Darlehen und hatten Erfolg, nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich um die erste Arbeiterorganisation dieser Art im norddeutschen Raum handelte. Kaum einer der angesprochenen links eingestellten Intellektuellen, Wissenschaftler, Verleger, Redakteure und Autoren zeigte den Sonnensuchern die kalte Schulter. Die Paradies-Väter waren nicht wenig stolz, dass sich auch Käthe Kollwitz und Karl Liebknecht mit ansehnlichen Darlehen beteiligten.
Da nun Vorschriften und Gesetze erfüllt waren, suchten die Gründerväter eine Lücke in der Mauer konservativ-bäuerlicher Ablehnung rings um das Sündenbabel Berlin. Die fanden sie in Bahnsdorf, einer Ortsgründung aus der Zeit des sogenannten großen Friedrich. Da gab es einige Bauern, die lockte das schnelle Geld. In den Jahren der Gründerzeit war erstmals eine Fläche Bahnsdorfer Landes an die "Chemische Fabrik Riedel" verkauft worden. Kassandra-Naturen des Dorfes hatten zwar die Nasen gerümpft und geunkt, bald würden sie sich dieselben zuhalten müssen. Dagegen erklärten die verkaufenden Bauern, das abgestoßene Gelände sei eine Wüstenei, auf deren märkischem Streusand ohnehin nichts anderes gedeihe als Unkraut.
Glücklicherweise behielten die Warner unrecht. Anfangs stank es zwar, und der Pflanzenwuchs der Umgegend begann zu kränkeln, doch mehr noch kränkelte das Unternehmen. Die Riedel AG ging pleite, der Gelddurst einiger Bauern aber gedieh. Gerade da winkten die Genossenschafter aus Berlin mit akzeptablen Kaufangeboten, und man wurde handelseins.
In seinen Anfängen stand "Paradies" wahrlich unter einem günstigen Stern. Chemiegestank gab es nicht mehr, dafür aber eine schmucke Chaussee mit hohen Bäumen und kostbarem Granitpflaster, die vom Bahnhof Grünau bis hin zum Dorf führte. Der malerische Ort hatte immerhin zwei Bäckereien, zwei Schlächtereien und zwei Milchhändler zu bieten, ferner eine Schmiede, eine Stellmacherei, eine Windmühle und eine Schuhmacherei, deren Meister zugleich den Postdienst in Bahnsdorf versah. So existierten für die Licht-und-Luft-Pioniere keine wesentlichen Handels- und Dienstleistungsprobleme, und sie setzten ihre ersten drei Genossenschaftshäuser an den Eingang des Dorfes, längsseits der Chaussee, Buntzelstraße benannt nach dem reichen Herrn Buntzel, der Ländereien in dieser Gegend besaß und auf den Buntzelberg ein Schlösschen hingesetzt hatte, das an Neuschwanstein erinnerte, pompöser Lieblingssitz des verrückten Bayernkönigs Ludwig II. Imposant überragte es alles ringsum, und von seinen Zinnen konnte man ins Berliner Urstromtal spucken. Einige Steinwürfe entfernt floss die Dahme, und in besagtem Urstromtal glänzten - wenn die Sonne schien - die Gleise der Bahnlinie nach Görlitz.
Kurze Zeit später wurden abermals drei Genossenschaftshäuser in die Bahnsdorfer Landschaft gestellt, rechtwinklig zu den drei ersten, und damit begann die Geschichte der Hauptstraße von Paradies, der Paradiesstraße. Durch neue Bauten verlängerte sie sich bald bis zum Siebweg, lange Zeit Scheidelinie zwischen Stadt und Land, denn an der Südseite des Siebweges wogten sommers die Kornfelder des Großbauern Lohmert, der in Grünau mehrere Mietshäuser besaß.
Das rechteckige Areal zwischen Buntzel-, Paradiesstraße und Siebweg, nach Westen begrenzt vom Friedhof, bebauten die Genossenschafter mit Reihenhäuschen. Das nach Plan gänzlich unplanmäßig wirkende umfangreiche Wohngeviert - das alte Paradies - mit seinen Vorgärtchen und kleinen Mietgärten, mit den Halbhöfen, Winkeln und Treppchen, Nischen und kurzen Sackgassen, war das Kernstück der Genossenschaft, die im Lauf der Jahre durch Neubauten erweitert wurde.
In dem dreistockigen Etagenhaus, das die Ecke Paradiesstraße-Siebweg bildete, gab es die Aufgänge Nummer zehn, elf, zwölf, dreizehn. Martha und Emil Treulich durften wählen und zogen in die Wohnung im oberen Stock des Aufgangs Nummer elf. Sie lag nach Süden zum Siebweg und bot eine einmalige Aussicht. Grüne und gelbe Felder, in der Ferne begrenzt vom dunklen Saum des Waldes, der sich als Teil der Grünauer Forsten bis zur Waltersdorfer Flur erstreckte. Im Frühsommer 1912 bezogen Treulichs die Zweizimmerwohnung mit der geräumigen Küche. Dazu gehörten Bad, Korridor und Speisekammer, damals staunenswerte Errungenschaften für Arbeiter.
Noch vor der Geburt seines Knaben hatte Emil im Ortsteil Falkenhorst, in der Elsterstraße, eine Parzelle gekauft, um sich mit der Familie an Sommertagen in der freien Natur "aalen" zu können, wie die Berliner das Ausspannen nach einer sauren Arbeitswoche nannten. Hier konnte das Söhnchen im heißen Zuckersand buddeln, im Sonnenlicht und in der Regentonne baden. Der Kollege Karge machte einmal ein Foto von ihm, wie er dort meist herumtollte. Er steht auf einem über die Tonne gelegten Brett, mit nichts anderem bekleidet als einem Tirolerhütchen nebst riesiger Fasanenfeder, und mit beiden Händen hält er seinen Buddeleimer vors Bäuchlein.
Die andere Seite der Elsterstraße war unbebaut, dort begann ein durch Kies- und Sandentnahmen zerfurchtes Gelände, das sich zwischen den beiden Magistralen Falkenhorsts, der Waltersdorfer und der Schulzendorfer Straße, erstreckte. Diese Mondkrateridylle war für Treulichs Jüngsten tabu. Es hieß, vor Jahren sei dort in einem Kiesloch ein Kind verschüttet worden.
Sehnsüchtig schaute der Kleine oft durch den Gartenzaun, wenn die andern Kinder drüben in den Klüften und Gräben herumwuselten. An einem Sonntagnachmittag spielte sich dort, einen Steinwurf vom Grundstück der Treulichs entfernt, etwas äußerst Aufregendes ab. Ein Kreis von Kindern umstand eine etwas tiefere Kute, auf deren Grund sich irgendeine Abscheulichkeit befinden musste. Die Kinder warfen mit Steinen danach und stoben dann schreiend davon. Nach geraumer Zeit begann das Spiel von Neuem. Der kleine Rudolf zerschnitt sich fast die Nase am Maschendraht. Die Neugier plagte wie Schmerz. Der Geplagte stapfte zur Gartentür, an deren Klinke er gerade mit Ach und Krach heranreichte.