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In diesem Roman hat E.R. Greulich das ereignisreiche Jahr 1913 im Leben Karl Liebknechts gestaltet. Durch sorgfältige Studien brachte der Autor auch wenig Bekanntes ans Licht und zeichnete einprägsame Charakterbilder. Als er von Budapest zurückkehrt, findet er unter der eingegangenen Post einen umfangreichen Brief. Der Absender ist unleserlich, und das stimmt skeptisch. Anonyme Briefe bedeuten meist Klatsch und Tratsch. Aber dann liest er den Inhalt mit wachsender Erregung. Er ruft seine Frau: Schau dir das an, Sophie. Hier wird Krupp Spionage vorgeworfen, Bestechung von Beamten der Militärverwaltung. Wenn das stimmt, es wäre Dynamit inter den Sesseln einiger Herren! Sophie warnt: Vorsicht, Karl! Womöglich will der Gegner dich in eine Falle locken. Du mußt sorgfältig prüfen, ob das Material echt ist.
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Seitenzahl: 541
Veröffentlichungsjahr: 2014
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E.R. Greulich
Der anonyme Brief
Ein Roman um Karl Liebknecht
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Zitat
1 Licht im Novembernebel
2 Erfolg in Paris
3 Gezügelte Ungeduld
4 Von Bienen und Menschen
5 Strudel in der Schleuse
6 Deutsche Geschichte - einmal anders
7 Illegale Fortsetzung - ganz legal
8 Plüsch und Paragrafen
9 Das dritte Gesicht
10 Begegnung mit lebendiger Vergangenheit
11 In London ist nicht nur Nebel
12 Preußischer Schnürleib - und eine Libellentaille
13 Singen mit geschlossenem Mund?
14 Was wäre ein Mensch ohne Freunde
15 Gericht im Reichstag
16 Die Wölfe sammeln sich
17 Wann Geheimnisse keine Geheimnisse sind
18 Die Wölfe heulen
19 Bern ist nicht Berlin
20 Der Kaiser demonstriert
2I Ein Wahlsieg darf kein Pyrrhussieg sein
22 Nagelprobe
23 Wermut in der Urlaubsfreude
24 Verpflichtung ohne Stempel und Siegel
Nachbemerkung des Autors
Impressum neobooks
NurdasLeben ist unmöglich,dasalles laufenlassenwollte,wie esläuft. Nurdasist möglich,dassichselbstzuopfern bereit ist, zuopfernfürdieAllgemeinheit.
Karl Liebknechtan seinen ältestenSohn Helmut
Der gut mittelgroße Mann ließ die Geräusche der Bahnhofshalle hinter sich, am Portal verharrte er, schaute suchend hinunter zum Droschkenhalteplatz. Sein Gesicht mit der hohen Stirn und den dunklen Augen wurde von einem breitrandigen Hut überschattet. Obwohl müde von der Reise, waren seine Bewegungen bestimmt, und das durchgeistigte, ein wenig asketenhafte Gesicht vergaß kaum jemand, der es einmal gesehen hatte.
Berlin empfing ihn am Abend des 19. November 1912 mit Nebel. Die Lichter der Gaslaternen warfen matte Reflexe auf das feuchte Pflaster.
"Paule - Paul, der Dokter kommt!"
Karl Liebknecht hörte den Ruf, lächelte und stieg die Stufen hinunter. Der Droschkenkutscher kam ihm entgegen und nahm den Koffer. Freundlich, ein wenig abwesend, erwiderte Liebknecht das Willkommen, lauschte dem wohlvertrauten Dialekt des älteren Berliners. Paul Dillack gehörte zu den wenigen Droschkenkutschern, die in den Reihen der Partei standen.
Dillack wand die Zügelleine von der Bremse und ermunterte den Wallach mit einem Schnalzlaut. "Nu los, Aujust, aber 'n bißken dalli, der Dokter wird müde und janz schön hungrich sein."
Während sie im eintönigen Rhythmus der Hufschläge dahinzockelten, plauderte Dillack, gab sich, die Abgespanntheit des Fahrgastes begreifend, selbst die Antworten. "Wieder 'ne feine Rede jewesen, Dokter. Ick hab die Auszüje heute im Vorwärts jelesen. - ... und die Krüppel werden verjeblich um Brot und Arbeit rufen, sie werden einen Leierkasten bekommen ... Also wenn Worte töten könnten, die Kriegsmacher wärn längst erledigt. Bloß, det Jesindel hört ja nich. Sowat lässt nich vom profitablen Jeschäft, wenn wir nich dazwischenfahren. Aber et is schon jut, wenn erst mal alle Kleenen hinhörn."
Dialekt oder Großstadtjargon? Kann eine Großstadt Heimat sein? Liebknechts Gedankenfluss verharrte. Ist sie dort, wo man geboren wird? Als Vater die Chefredaktion des Vorwärts übernommen hatte, sind wir endlich sesshaft geworden. Nun waren wir nicht mehr gejagt und vertrieben, nun wurde Berlin im Herbst 1890 unsere zweite, wirkliche Heimat.
"Ich hoffe ja ooch", meditierte Dillack auf dem Kutschbock, "die Kommißköppe werden sich überlejen, ob sie aus dem Balkankrieg 'nen Europakrieg machen. Det hättense sich nich träumen lassen, wie die Arbeeter überall mobil werden. Also hier in Berlin, Dokter, et war 'ne Wucht. So nervös hab ick die Blauen selten jesehn. Der Saal hätte zehnmal so groß sein können. Der Jaures hat keen Blatt vor den Mund jenommen. So 'n richtijer Feuerkopp. Kann man sich kaum vorstellen, det der Professer is. Und det Dollste, sie wollten ihm den Mund verbieten. In einer deutschen Veranstaltung dürfe nich französisch jesprochen werden. Wat macht er? Spricht einfach deutsch. Den Jubel könnse sich nich vorstelln. Am liebsten hätten wir ihn zum Schluss uff Händen aus dem Saal jetragen. Ein Glück, dass et überall so feine Kerle jibt."
Liebknecht war dankbar für den Bericht aus erster Hand über den Verlauf der Kundgebung in Berlin. "Die feinen Kerle werden immer mehr in der Welt, Genosse Dillack."
"Det is wahr." Mit neuerlichem Schnalzlaut schreckte Dillack den Wallach aus seinem schläfrigen Trott.
Liebknecht fröstelte, er drückte sich in die Ecke des Sitzes und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Wasserkopf Berlin - welch simple Metapher für die Riesenstadt, lediglich auf die hundert Ämter gemünzt, mit dem aufgeblähten Beamtenapparat, dem kostspieligen Hofstaat dessen von Gottes Gnaden, die Kommandozentrale von Preußen-Deutschland. Preußen hat sich groß gehungert. Fürchterliche Wahrheit - für die Kleinen. Und die Herrschenden haben dazu das Ihre geleistet. Intrigen, Rankünen, falsches Spiel mit Freund und Feind - diese Tradition geht zurück bis vor den sogenannten Großen Friedrich, der sie zur Virtuosität entwickelte. Der Eiserne Kanzler polierte diese Tradition glänzend auf. Der wusste zu jonglieren mit verstümmelten Telegrammen, drohenden Demarchen, mit lancierten Nachrichten, lauten Halbwahrheiten und leiser Korrumpierung, mit roher Kriegsgewalt nach außen, brutaler Unterdrückung nach innen. Noch heute, im Jahre zwölf, spürt man allenthalben die Spuren dieser Politik. Liebknecht schüttelte sich, unangenehme Jahreszeit. Trotzdem wird kommenden Sonntag gewandert. Und sei es wenigstens bis zum Botanischen nach Dahlem. Ich muss mir den Tag freihalten - zumindest den Vormittag. Die Kinder dürfen keine blässlichen Stubenhocker werden. Gehören unsere Familienausflüge mit Vaters Hinweisen und Erklärungen über Flora und Fauna nicht zu meinen schönsten Erinnerungen?
"Wenn man so überlegt", setzte Dillack sein Selbstgespräch fort, "wie mühsam et is, wenichstens den Jeneppten det Stillehalten abzujewöhnen. Ick verjesse nich, wie schon Ihr Vater jejen die Flottenvorlage im Reichstag losjelegt hat. Et muss so um die Jahrhundertwende jewesen sin, aber einijes von dem, wat einem so richtich zu Herzen jeht, behält man manchmal uffs Wort. Wir wissen wohl, hat er denen jejeigt, welche Ziele die Flottenvorlage hat: die Stärkung des Militarismus und des Kapitalismus. Mehrmals hat ihm der Reichstagspräsident dazwischenjebimmelt. Und wir haben uns eens jejeckt, als unser Willem daruff im Vorwärts schrieb: Im Deutschen Reichstag kann man die Wahrheit nicht sagen, ohne zur Ordnung gerufen zu werden."
Liebknecht fröstelte es nicht mehr. Selbstverständlich war ihm die Episode bekannt. Des Vaters letzte Reichstagsrede, kurz vor seinem Tode. Längst hatte das unselige Flottenprogramm Gestalt angenommen, und Seiner Majestät Kriegsschiffe bedrohten den Frieden der Welt. Um so energischer müssen wir gegen die weitere Rüstung angehen. Gewiss, meine Rede in Budapest gegen den Balkankrieg diente auch dieser Aufgabe, aber das ist alles zu wenig.
Seine Gedanken schweiften wieder zurück in die Vergangenheit. Die unbekümmertsten Berliner Jahre waren die des Studiums an der Universität. In den folgenden Jahren, als Referendar in Arnsberg und Paderborn, wäre ich ohne emsiges Büffeln im Kleinstadtmief erstickt. Dort empfand ich Berlin zum ersten Mal als Heimat. Das Jahr neunzehnhundert trug ein Janusgesicht. Glücklicher Maitag: die Heirat mit Julia, von allen Liebknechtsöhnen umschwärmte und verehrte Tochter der Freundesfamilie Paradies. Etwas später mein Eintritt in den Sozialdemokratischen Wahlverein für den ersten Berliner Reichstagswahlkreis. Am siebenten August das Unfassbare, das, womit jeder Mensch rechnen muss und es doch nicht wahrhaben will. Der Vater ging von uns nach vierundsiebzig Jahren tatenreichen Lebens voller Niederlagen und Siege, voller Not, Entbehrungen, Erfolge; in jungen Jahren umhergetrieben in halb Europa, später bekannt in der ganzen Welt, Freund von Marx und Engels, Parteigründer mit Bebel. Die Hauptstadt erlebte noch kein solches Begräbnis. Wie hatte es doch Bebel kommentiert? Wilhelm Liebknecht wurde, wie nie zuvor ein Mensch in Deutschland, weder Fürst, Staatsmann noch Bürger, zur letzten Ruhe geleitet. Vierhunderttausend Berliner Arbeiter demonstrierten ihre Trauer. Auch das ist Berlin: die Zentrale der deutschen Arbeiterbewegung, jener organisierten Kraft, die man nicht zu unrecht als die führende in der sozialistischen Weltbewegung bezeichnet.
Kaum einer hat es besser ausgedrückt als Engels bei seinem Besuch Berlins im September 93, der sein letzter sein sollte: Heute könnten Hof, Adel, Garnison und Beamte sich einen andern Wohnort suchen, und Berlin bliebe doch Berlin. Die Berliner Sozialdemokratie ist aufmarschiert mit fast 160.000 Stimmen. In dieser Beziehung steht Berlin an der Spitze aller europäischen Großstädte und hat selbst Paris weit überflügelt.
Die Tätigkeit als Stadtverordneter ab neunzehnhundertzwei hat mich trotz manchen Ärgers noch fester mit der Stadt verbunden. Die Eröffnung der Anwaltspraxis, gemeinsam mit Bruder Theodor, verschaffte mir eine gewisse Unabhängigkeit. Denn nie möchte ich von der Idee leben, sondern immer nur für sie. Auch Bebel hat fast ein Leben lang die Drechslerwerkstatt aufrechterhalten. Unter dem Sozialistengesetz ein harmloses Aushängeschild für illegale Reisen und Agitation. Aber auch notwendiger Rückhalt bei der Einhaltung unabdingbarer Prinzipien. Außerdem, wo könnte ich die besser vertreten als in der Verteidigung von Arbeitern vor dem Klassengericht?
In der Partei hat man es mir nie leicht gemacht. Im schwierigsten Territorium, dem sogenannten Kaiserwahlkreis Potsdam-Spandau-Osthavelland, sollte mein Reichstagssitz gewonnen werden. Fast hätten wir es im Juni neunzehnhundertdrei geschafft. Zweihundertdreizehn Stimmen mehr, und der konservative Gegenkandidat Pauli wäre in der Stichwahl geschlagen worden. Neunzehnhundertsieben schlug mich Pauli abermals. Aber wer verlorene Gefechte nicht ertragen kann, wird die Klassenschlacht nicht gewinnen. Es waren Pyrrhussiege der Konservativen. Im Januar dieses Jahres zahlte sich unsere Beharrlichkeit aus. Fast viertausend Stimmen mehr für mich als für den Reaktionär Voßberg.
Wie ist das, sinnierte Liebknecht, hemmen Schicksalsschläge den politischen Elan? Es kommt wohl auf den Charakter an. Für mich war es das Beste, dass mir die drängenden Anforderungen wenig Zeit ließen, mich in meinen Schmerz zu verlieren. Ich konnte die Todesnachricht aus Bad Ems, wo Julia zur Kur weilte, zuerst nicht fassen. Hätte nicht gerade sie mit ihrer Aufopferungsbereitschaft, mit ihrer Güte und den vielen Herzensgaben ein langes Leben verdient gehabt? Ich mag nicht daran denken, wie noch heute alles aussehen würde, gäbe es nicht Sophie. Die Heirat mit ihr, fünf Vierteljahre nach dem Tode Julias, war nicht nur diktiert von der Notwendigkeit, den Kindern wieder eine Mutter zu geben. Ohne Sophie wäre die Welt trüber. Sie entschied sich ohne Wenn und Aber, ich werde es ihr nie vergessen.
Bald darauf hielt die Droschke. Liebknecht brachte einige Stücke Zucker zutage, die er auswickelte. Ließ er sie in einem Restaurant in seiner Tasche verschwinden, entschuldigte er sich vor den fragenden Blicken der Bekannten: "Zucker fürs Pferd." Er ging zu dem Braunen, hielt ihm auf der flachen Hand die weißen Würfel hin. Behutsam wurden sie von den weichen Lippen aufgenommen, Aujust schnaubte dankbar.
Dillack hob den Koffer aus dem Fond. "Wat meinse, Dokter, wie der jetzt lospeest, wenn et heißt nach Hause."
"Nicht viel anders als ich, Genosse Dillack." Liebknecht ging schnellfüßig voraus. Die Müdigkeit war von der Freude aufs Heimkommen weggeblasen. Im zweiten Stockwerk hob er den Klingelgriff unter dem Türschild. Als er die Tür aufgehen sah und in das vertraute Gesicht blickte, überkam ihn wieder der Gedanke: Gäbe es sie nicht, wäre alles viel schwerer. Er hielt Sophies Gesicht in beiden Händen und küsste sie auf die Stirn.
Sie versuchte vorwurfsvoll zu tun: "Kein Brief - vor zwei Tagen nur ein Telegramm."
Dillack hatte den Koffer auf der Diele abgesetzt und räusperte sich. "So, det wärt denn woll."
Liebknecht fand aus seiner Versunkenheit und fragte nach dem Fahrpreis. Dillack verabschiedete sich schmunzelnd: "Schön juten Ahmd, Frau Dokter, und sanften Schlummer in Morfeus' Armen, Dokter!"
Leise schloss Liebknecht die Tür hinter Dillack. Ein fragender Blick zu Sophie. "Die Kinder?"
Sie machte eine beschwichtigende Gebärde, flüsterte, sie habe gesagt, Papa werde wohl erst morgen kommen. Behutsam öffnete er die Tür des Kinderzimmers. Der Schein des Dielenlichts fiel auf das Bett Veras, der Jüngsten nach den beiden Söhnen Helmut und Robert. Aufatmend fragte er sich, gibt es einen friedlicheren Anblick als ein vom Schlaf gerötetes Kindergesicht?
Während ihm Sophie beim Ablegen des Paletots und des Jacketts half, versuchte sie ihn mit Fragen nach seinen Budapester Erlebnissen abzulenken. Sie hatte den Blick durch die geöffnete Tür des Arbeitszimmers zum Schreibtisch gesehen. Wie immer nach Tagen der Abwesenheit türmten sich dort Berge von Post. Er antwortete zerstreut. Briefe, Zeitschriften, Kreuzbandpäckchen, alles sichtbare Zeichen der Kommunikation mit der Umwelt, übten magische Gewalt auf ihn aus.
Ob sie Badewasser einlassen solle, fragte Sophie. Später, bat er, wusch sich schnell die Hände und saß dann vor dem Schreibtisch, begann die Post zu sortieren.
An der Tür wiegte Sophie nachsichtig den Kopf, spöttelte, ihres Wissens habe am ersten Oktober dieses Jahres die Heirat stattgefunden zwischen einem Doktor jur. Liebknecht und einer gewissen Doktor phil. Sophie Ryss aus Rostow am Don. Sie sei gespannt, ob die beiden wohl jemals Flitterwochen machen würden.
Schuldbewusst schaute er auf. Jede Minute des Zusammenseins mit ihr seien ihm Flitterwochen, erwiderte er, stand schnell auf und küsste sie. Gedankenvoll betrachtete sie ihn. "Ein vorsichtiges Mädchen sollte keinen Revolutionär heiraten."
Er drückte sein Gesicht in ihr volles dunkles Haar. "Es sei denn, das vorsichtige Mädchen ist eine liebende Frau mit der gleichen Weltanschauung."
Als sie das Tablett mit einem Imbiss und Tee brachte, wies er auf einige Bücher und Broschüren, die ihm der Information wegen zugesandt wurden. Zornig sagte er: "Die Hyänen wittern Aas und fette Beute. Sieh dir das an." Mit gespreizten Fingern nahm er die Bände auf und legte sie nacheinander auf den Schreibtisch: "Die Friedensbewegung und ihre Gefahren für das deutsche Volk" - "Deutschland und der nächste Krieg" - "Deutschland erwache!"
Einen Augenblick saß Liebknecht reglos, von düsteren Visionen bedrängt: Der Balkankrieg hat den Blut-und-Eisen-Profiteuren Appetit gemacht auf größere Geschäfte. Ein Vampir, saugt das Rüstungskapital am Lebensmark des Volkes, wandelt dessen Arbeit um in Dividenden und Macht.
Liebknecht dachte an Budapest und wurde wieder zuversichtlicher, Er sah die Riesenhalle mit den Tausenden Menschen vor sich, deren Gesichter in Begeisterung für den Frieden flammten, dachte an den Sommer vergangenen Jahres, an dessen Marokko-Hundstage. Hatte Wilhelm der Größenwahnsinnige mit seinem "Panthersprung nach Agadir" die Dinge nicht bis an den Rand des Krieges getrieben? Doch überall in Europa sprang Protest auf. Die Berliner Kundgebung der 200.000 im Treptower Park, "Gegen die Kriegshetze", war der Auftakt für ähnliche Veranstaltungen in ganz Deutschland.
Während dieser Rückerinnerungen schlitzte Liebknecht geschäftig Briefe auf, sein Blick überflog deren Inhalt. Zuweilen nickte er dabei, manchmal furchte er die Stirn. So wunderlich manche Menschen, so wunderlich ihre Briefe. Ein Abgeordneter scheint für sie der Zauberer mit dem Stein der Weisen zu sein, der alles zu regeln vermag.
Wieder gingen Liebknechts Gedanken zurück. Bereits am 6. Juli hatte das Internationale Sozialistische Büro eine Beratung gegen die Marokkopolitik der Imperialisten beschlossen. Zwar schrieb der Genosse Molkenbuhr vom Parteivorstand an das ISB, aus Rücksicht auf die bevorstehenden Reichstagswahlen von internationalen Massenaktionen absehen zu wollen, doch auf der Jahrestagung des Büros in Zürich, Ende September, wurden die Beschlüsse von Stuttgart bestätigt, bekamen die Leisetreter eine Abfuhr. Wie hatte Bebel in seiner großen Reichstagsrede am 9. November die Säbelrassler gewarnt? "Sie treiben die Dinge auf die Spitze, sie führen es zu einer Katastrophe." Neben manchem anderen ist die Mobilisierung des arbeitenden Europa nicht der letzte Grund gewesen, dass sich die Wölfe ohne Krieg einigten.
Plötzlich stutzte Liebknecht. Verwundert betrachtete er ein gewichtiges Kuvert mit unleserlichem Absender in seiner Hand. Sophie schaute wieder herein und mahnte besorgt, er solle endlich essen. Gehorsam legte er das Kuvert hin, dann ließ er es sich schmecken. Er versuchte Sophie aufzuheitern, berichtete von Budapest, von der rührenden Sorge der ungarischen Genossen um ihn. Selbstironisch schwärmte er vom Szegediner Gulasch, von den süffigen Weinen, nicht zu vergessen die herrlich schlanken, aromatischen Virginias.
Sophies Blick hing an seinem Munde. Er ist nicht nur ein faszinierender Rhetoriker, dachte sie, er kann auch ein amüsanter Plauderer sein. Durch ihn sehe ich alles, als hätte ich es selbst erlebt. Mit welchem Blick für Nuancen er Land und Leute charakterisiert. Jede biedere, bürgerliche Ehefrau würde sagen, schade um den Mann, dass er ausgerechnet in die Politik gegangen ist. Er wäre sicher ein bekannter Schriftsteller geworden. Oder Komponist, Dirigent, Pianist, bei seiner Liebe zur Musik. Aber all diese Begabungen sind nur wie selbstverständliches Beiwerk zu dem, was sich am schwierigsten beschreiben lässt. Ist es sein Mut, sein scharfer Verstand, seine Liebe für die Mitmenschen und alle Kreatur? Man könnte weiter aufzählen, weiter fragen, es mündet doch alles in dem einen: Man muss ihn lieb haben. Was sind dagegen schon seine kleinen Schwächen? Die zuweilen professorale Zerstreutheit, die generöse Vernachlässigung von Alltagsdingen gegenüber seinen großen Aufgaben. Die genialische ordentliche Unordnung des Arbeitszimmers, seine Nervosität, wenn dort Saubermachen droht. Karls Zeitungsmanie, die Angst, in irgendeiner Zeitung könnte irgendetwas stehen, was er nicht zu wissen bekam. Wie jetzt wieder seine verstohlenen Blicke zu dem dicken Kuvert, als könnte es um einige Minuten zu spät geöffnet werden.
Liebknecht fuhr sich mit der Serviette über Mund und Hände, eilig schob er das Tablett beiseite. Sophie respektierte seine innere Unruhe und ließ ihn allein.
Hastig öffnete er den Umschlag. Je länger er las, desto erregter wurde er. Entschlossen räumte er die übrige Post auf leere Stühle, breitete den Inhalt des Kuverts auf dem Schreibtisch aus und rief Sophie.
Nachdem sie eine Weile schweigend gelesen hatte, sagte sie nachdenklich: "Interessantes Pendant zu jenen alldeutschen Schwarten dort - falls es hieb- und stichfest ist."
"Es könnte ein Bluff sein?"
"Arg wundern würde es mich bei einer anonymen Sendung nicht."
"Und aus welchem Grund?"
"Nachdem das Ausschlussverfahren aus der Anwaltskammer gegen dich nicht zum Erfolg geführt hat ..."
Er sah einem Ring seines Zigarrenrauches nach. "Den unbequemen Anwalt aufs Glatteis führen, ihn mit Lächerlichkeit unmöglich machen?"
"So ungefähr."
"Aber das Material enthält eine Reihe Indizien der Echtheit für den Sachkenner."
"Glaube nicht, dass deine Feinde dich unterschätzen. Wenn sie dir schon eine Fälschung in die Hände spielen, dann darf sie nicht plump sein."
Liebknecht stand auf, ging mit schnellen Schritten auf und ab, die Daumen in den Ärmelausschnitten der Weste, seine charakteristische Haltung, wenn er diktierte.
Er blieb vor den Blättern auf dem Schreibtisch stehen, betrachtete sie abermals aufmerksam. "Der Anonymus dürfte ein Krupp-Direktor oder sonst ein führender Mitarbeiter sein. Er will den Leiter des Berliner Büros der Krupp AG kennen. Der besticht die Beamten des Heeresbeschaffungsamtes, sendet ständig Geheimberichte unter dem Decknamen, 'Kornwalzer' nach Essen, die von der Firma ausgewertet werden. Zur Ausschaltung der Konkurrenz bei Preisangeboten, zur Ausnutzung der Heeresversuche für den eigenen Waffenbau. Das grenzt an Landesverrat, ist zumindest jene stinkende Korruption, die wir bisher so überzeugend nicht beweisen konnten."
"Um überzeugend zu beweisen, muss man einen sicheren Beweis in Händen haben", erinnerte Sophie.
"Ich habe doch eine Nase für so etwas. Das Material riecht mir nach Echtheit."
"Und weshalb, meinst du, hat dir jener Friedensfreund das Material übersandt?" Sophie sagte es spöttisch.
Liebknecht zügelte seinen kleinen Ärger über ihren Spott. "Das ist ein zu kurz Gekommener, den die Fragen von Krieg und Frieden wahrscheinlich kaum interessieren. Es sieht nach einem Racheakt aus. Der eiskalte Herr Krupp von Bohlen und Halbach mit seiner autokratischen Betriebsführung hat sicherlich nicht nur Freunde. Mit einigem Witz lässt sich so etwas doch wohl rekonstruieren?"
"Besonders wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist."
Liebknecht war nahe daran, heftig zu werden. "Wünschst du etwa, dass dieses Material nicht echt sei?"
"Trotzdem lasse ich mich nicht dazu verleiten, es schon als echt zu nehmen. Wie ich dich kenne, trätest du bei der nächsten passenden Gelegenheit am liebsten damit vor den Reichstag."
Das war eine verlockende Vorstellung, Liebknecht begeisterte sich bereits. "Stell dir mal vor, wenn ich vor dem Hohen Haus sagen könnte: Herr von Krupp, Sie als außerordentlicher Gesandter des Deutschen Reichs und Idol der Nation organisieren den Landesverrat; Herr Hugenberg, Sie als Verantwortlicher der Firma und berühmter Patriotard, lassen seit Jahren Beamte des Heeresbeschaffungsamtes bestechen und kassieren dafür Berichte über allergeheimste Reichssachen der Landesverteidigung. Oder wollen Sie behaupten, Sie wüssten von den Umtrieben jenes Herrn Brandt nichts, des Leiters der Berliner Krupp-Filiale?" Als suche Liebknecht Beistand gegen einen leise aufkommenden Zweifel, fragte er suggestiv: "Glaubst du nicht, dass es womöglich das nächste Budget des Heeresetats zu Fall bringen könnte?"
Betont sachlich erwiderte Sophie: "Möglich ist auch die andere Version: Karl Liebknecht blamiert sich unsterblich, da ihm die Hyänen beweisen, er sei einem raffinierten Schwindel aufgesessen."
Betroffen schluckte er seine entrüstete Antwort herunter.
Hin und wieder ist die treu sorgende Gattin doch stärker in ihr, als der politische Verstand, dachte er. Weshalb bremst sie meinen Schwung?
Sophie erriet seine Gedanken. "Nun bist du traurig, dass ich nicht gleich mit dir davonstürme. Aber ich kenne doch meinen Karolus. Er ist allzuleicht entflammt, und es scheint mir für ihn heilsam, wenn diese Entflammbarkeit hin und wieder gedämpft wird."
"Das ist es!" Seine Enttäuschung brach nun doch hervor. "Ich komme von einer anstrengenden Reise nach Hause, finde dies Göttergeschenk hier vor, und du nimmst mir alle Freude mit deiner Skepsis."
"Aber Karl!" Vorwurfsvoll sah sie ihn an wie eine Mutter ihren ungebärdigen Sohn.
Gerade das reizte ihn, und er zügelte seinen Ton nicht. "Glaubst du, der Kampf um den Frieden ist ohne Risiko zu führen?"
Ihr Blick war eindringlich, fragend. "Wären wir beide zusammen, Karl, wenn ich grundsätzlich anders dächte? Dein ganzes Leben ist ein einziges Risiko, musst du dir da noch ein zusätzliches aufladen?"
"Also schön, verbrenne ich den ganzen Ramsch."
Er wirkte beinahe komisch in seinem Zorn, und Sophie musste lächeln. "Das wirst du nicht, Karl. Ich bin wie du der Meinung, ein hochbrisantes Material - falls es kein Bluff ist. Das herauszubekommen, scheint mir zunächst wichtig."
"Und wie, meinst du, ließe sich das eruieren?"
Entwaffnend ruhig gestand Sophie ein: "Ich weiß es noch nicht."
Noch immer hatte er die Enttäuschung nicht überwunden und bemerkte ironisch: "Ich kann ja ein Inserat aufgeben: Bitte den unbekannten Einsender, sich zu melden, der an Doktor Liebknecht Material gegen die Firma Krupp gesandt hat."
Sie spürte, dass er innerlich schon einiges einsah, und schüttelte belustigt den Kopf. "Wie kann ein intelligenter Mann so starrköpfig sein."
"Du sollst die Sache ernst nehmen", begehrte er auf.
"Wärst du nicht schon in manche unangenehme Situation hineingeritten, hätte ich und deine nächsten Freunde deine temperamentvollen ersten Impulse immer ernst genommen?"
Er drehte sich um und gestand wie ein ertappter Junge: "Ich glaube, da ist etwas dran."
Sie mussten beide lachen, Sophie legte die Arme um seinen Hals und schaute ihn versöhnlich an. "Willst du nicht meine ehrliche Meinung hören, wenn du mich fragst? Und wenn ich dich nicht überzeugen kann, bleibt nicht noch die Möglichkeit, die Freunde zu befragen?"
Er gab ihr einen herzhaften Kuss, nahm seine Wanderung wieder auf und murmelte: "Wahrscheinlich der beste Weg ... Inzwischen kann man überlegen ... Der eine oder der andere hat eine Idee, wie man ... " Als habe sie es nicht gehört, fragte er: "Du meinst, das wäre vorerst das Beste?"
"Ganz sicher."
Er blieb vor Sophie stehen. "Wie sagt der Dichter? Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort der Frauen weit geführt."
Der Beifall war um Nuancen anders als in Deutschland. Aus dem anschwellenden Geräusch des Trampelns und Klatschens sprangen die Zurufe einzelner, gaben dem Ganzen einen vielgestaltigen Klang. Nun erhoben sich alle und sangen die Internationale. Der Redner war zurückgetreten vom Pult, stand am Präsidiumstisch auf der Bühne und sang kräftig mit. Die französischen Worte des Liedes hatte sich Philipp Scheidemann eingepaukt. Als die nächste Strophe angestimmt wurde, stutzte er einen Augenblick und sang dann aus voller Kehle den deutschen Text. Hochfliegende Gedanken beschäftigten ihn: Weder mit solchen Massen hatte ich gerechnet noch mit dieser Begeisterung - wenn man bedenkt, dass Satz für Satz meiner Rede übersetzt werden musste.
Das Lied war verklungen, die Saaltüren öffneten sich, und hinter den Hinausströmenden blieb der feine Schleier bläulichen Tabakrauchs. Scheidemann genoss den Rausch, den er bei denen dort unten hervorgerufen hatte, obwohl er überzeugt war, der graue Alltag würde den Einzelnen schnell ernüchtern. Breitete sich der Balkankrieg über Europa aus, dann würden auch diese Pariser Arbeiter in die Poilu-Uniform steigen, die ihre Mächtigen schon für sie bereithielten. Dabei kam ihm nicht der Gedanke, wie sehr es auf die Organisation ankommt, ob der Einzelne einsam bleibt oder ob die Millionen Individuen, zusammengefasst durch die Idee der Partei, als geballte Kraft in die Waagschale der Geschichte geworfen werden.
Scheidemann wurde aus seinen Gedanken gerissen, auf der Bühne wimmelte es von freudig erregten Menschen, die dem Friedensboten aus Berlin die Hand drücken wollten, Grüße an die deutschen Genossen auftrugen, Dankesworte für die großartige Rede hervorsprudelten. Der Gefeierte strahlte, erwiderte mit Bonmots. Dieser Abschluss war ein zwar strapaziöses, aber erfreuliches Geschäft, das ihn den Erfolg nachhaltig auskosten ließ. Genosse Leger, der Dolmetscher, geborener Elsässer, übersetzte rasch und fließend.
Der nun stille, leere Saal machte frösteln, langsam leerte sich auch die Bühne. Während Scheidemann ein Päckchen Grußadressen und Briefe durchsah, besprachen sich die Genossen der Versammlungskommission, und Leger fragte, ob der Genosse Scheidemann sehr müde sei. In diesem Fall würde er ihn zu seinem Hotel bringen. Vorstellbar sei aber auch ein Bummel durch die Etablissements von Montmartre.
Sorgfältig verstaute Scheidemann die Friedensbotschaften in der Aktentasche und überlegte. Müde? Da war nicht mehr als wohliges Abgespanntsein. Die berühmten Stätten der leicht geschürzten Muse, wie etwa die Folies-Bergere oder Moulin Rouge, hätte er gern durch eigenen Augenschein kennengelernt, doch manche Genossen in der Heimat würden es nach solch einem Abend sicher bekritteln. Er schlug einen Plausch in einem gemütlichen Restaurant vor.
"Voila, gehen wir!" ermunterte Leger, und es schlossen sich noch zwei Genossen an.
Kurz darauf fanden die Vier in einem Restaurant einen Tisch, an dem man sich ungestört unterhalten konnte. Scheidemann bat, eine Flasche Champagner bestellen zu dürfen, die Andern quittierten es mit Scherzworten.
"Wir freuen uns, dass die deutschen Genossen Sie geschickt haben, denn Ihr Ruf als glänzender Redner reicht ja über Deutschland hinaus", sagte Morizet. Er war mittleren Alters wie Leger, sein schwarzes, wuschliges Haar und die großen, brennenden Augen mochten auf bedachtsame Menschen beunruhigend wirken.
Scheidemann vergaß nicht, dass er sich im Land der geschliffenen Komplimente befand, und erklärte geschmeichelt, ohne den exzellenten Dolmetscher wäre der Erfolg dieses Abends nicht denkbar gewesen.
Leger wehrte ab und sprach die Hoffnung aus, dass alle gleichartigen Massenveranstaltungen des heutigen Abends in den Hauptstädten Europas ähnlich verlaufen sein mögen.
Scheidemann nickte eifrig. Falls Jean Jaures in Berlin einen adäquaten Dolmetscher zur Seite gehabt habe wie er, dürfte die Berliner Veranstaltung der in Paris nicht nachstehen.
Um Liebknechts Erfolg in Budapest sei ihm ebenfalls nicht bange, bemerkte Morizet. Nichts im Gesicht Scheidemanns verriet, dass ihm der Name Liebknecht nicht angenehm in den Ohren klang. In diesem Zusammenhang interessiere ihn, fuhr Morizet fort, und er sei deshalb für diese Unterhaltung dankbar, ob Scheidemann sich in letzter Zeit den mehr linksstehenden Genossen angenähert habe.
Scheidemann behielt den verbindlichen Gesichtsausdruck und fragte, was Morizet unter rechts und links verstehe. In Deutschland betrachte man die ganze Sozialdemokratische Partei als links stehend, die Organisationen der Bürger als rechts stehend.
Morizet resümierte, Scheidemann habe seine Rede aufgebaut auf der antimilitaristischen Tradition der deutschen Sozialdemokratie, habe an die Verweigerung der Kriegskredite 1870 durch Bebel und Wilhelm Liebknecht erinnert, an das Eintreten der beiden für die Pariser Kommune und daran, dass sie für ihre Friedensaktivitäten mit Festungshaft büßen mussten. Die Zitierung der Worte Bebels gegen das militaristische Preußen-Deutschland - diesem System keinen Mann und keinen Groschen - habe schon brausende Zustimmung ausgelöst.
Während der Garçon die Gläser füllte, die Flasche im Eiskübel deponierte, fragte sich Scheidemann, ob es sich bei Morizet nur um naiven Wissensdurst handele. Er wusste nicht, dass der temperamentvolle Franzose ein Freund Liebknechts war und als Journalist für die Humanite schrieb. Mit aufmunternden Worten trank Scheidemann den drei Genossen zu. Als er das Glas wieder hinsetzte, war er sich klar über seine Taktik: auf keinen Fall Grundsatzfragen behandeln. Lasse ich mich hier aufs Glatteis führen, dann ist womöglich in den nächsten Tagen in irgend so einem Oppositionsblättchen etwas vom Mann mit den zwei Zungen zu lesen. Es wäre nicht der erste Angriff von jener Seite. Mit dem Zeigefinger strich er sich die Sektfeuchte vom Bart auf der Oberlippe und fragte Morizet liebenswürdig, ob er es für falsch halte, in einer Massenveranstaltung der Völkerverbrüderung auf derartige Traditionen hinzuweisen.
Im Gegenteil, das sei genau das Richtige, versicherte der dritte Genosse, Boulbec mit Namen. Er war der Älteste am Tisch und erinnerte Scheidemann an einen Epikureer, der stets aus dem Leben das Beste zu machen weiß. Womöglich rührte der Eindruck von seinem Bäuchlein her, dem vollen Gesicht mit der fleischigen Nase und der blanken Glatze.
Na also, Scheidemann trank Boulbec zu, da sei ja die Einigkeit zwischen Franzosen und Deutschen wiederhergestellt. Mit diesem charmanten Waffenstillstandsangebot hoffte er auf mehr Zurückhaltung des aggressiven Struwwelpeters. Ihm war jetzt am allerwenigsten nach Politisieren zumute. Weit lieber hätte er bei unverbindlicher Plauderei das Leben in diesem Lokal beobachtet. Dessen Publikum schien sich neben Angestellten und besser bezahlten Arbeitern aus Journalisten und Angehörigen freier Berufe zusammenzusetzen, hatte aber wenig von der Atmosphäre jener Künstlerkneipen, die den Fremden als Attraktion vorgeführt werden. Die Mehrzahl der Besucher schien das Etablissement als zweites Zuhause zu betrachten, der Ton war familiärer als in den meisten Berliner Restaurants.
Scheidemanns Hoffnung trog, es schien, als habe dieser Morizet schon lange darauf gewartet, mit ihm sprechen zu können. Morizet sagte, er halte es für schädlich, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten in Kampfveranstaltungen gegen den Klassenfeind hineinzutragen. Aber hier im kleinen Kreis könne doch über interne Fragen gesprochen werden. Die Anwendung konkreter Kampfmaßnahmen im Falle eines imperialistischen Krieges sei ja bekanntermaßen erst durch die Bemühungen Lenins und Rosa Luxemburgs in die Stuttgarter Resolution hineingenommen worden. Bernstein und die Leute seiner Couleur seien keineswegs davon erbaut gewesen. Sie hätten es - wäre Bebel nicht gewesen - zu verhindern gewusst.
Überlegen-nachsichtig strich sich Scheidemann den gepflegten Spitzbart. "Wissen Sie, Genosse Morizet, das sind doch lediglich Fragen der öffentlichen Taktik. Soll man dem Gegner genau aufs Butterbrot schmieren, was die Internationale im Kriegsfall zu tun gedenkt?"
Bliebe also die Frage, gab Morizet zu bedenken, was die Parteiführungen in besagtem Fall für möglich hielten.
Er habe bereits betont, bemerkte Scheidemann nonchalant, dass er es für abträglich halte, derartig heikle Fragen vor aller Welt auszutragen.
Vor aller Welt? Ganz wie der Genosse Scheidemann vorgeschlagen, säßen sie hier doch gemütlich und privat, erinnerte Morizet.
Champagner bestellt zu haben, fand Scheidemann angesichts dieser Unterhaltung nun ein wenig unpassend. Auf allen Tischen standen Siphons. Es wurde meist Rotwein getrunken. Die Leute spritzten ihn mit dem Kohlensäurewasser. Es wäre schön, mein lieber Morizet, dachte Scheidemann, wenn wir hier gemütlich und privat säßen. Doch du willst etwas Offizielles aus mir herausquetschen. Aber ich kenne deinen Typ und eure Termini. Imperialistischer Krieg. Was weiß der einfache Mann damit anzufangen? Ich habe vom Krieg und vom Frieden gesprochen, das versteht jeder.
Boulbec kam Scheidemann abermals zu Hilfe. "Eben, Genosse Morizet", nahm er dessen Erwiderung auf, "man muss auch mal verschnaufen, ganz Mensch sein, in der Politik haben wir an diesem Abend wohl unser Möglichstes getan."
Morizet lächelte ein wenig boshaft über Boulbecs Selbstzufriedenheit und versuchte auf andere Art, beim Gegenstand zu bleiben. "Die beste Politik ist Menschlichkeit." Morizet fragte Boulbec, ob er diesen Satz für falsch halte.
"Der Satz könnte von Rousseau stammen, vielleicht von Diderot", orakelte Boulbec.
Monizet blinzelte Boulbec an. "Der Satz ist von Liebknecht."
"Ein überzeugender Aphorismus", bemerkte Scheidemann.
"Wäre er mir bekannt gewesen, ich hätte ihn in meiner Rede zitiert."
Morizet tat überzeugt. "Als interessantes Phänomen empfinde ich folgende Tatsache", er sagte es im Plauderton, als wolle er auf ein neutrales Thema kommen, "obwohl es in allen Parteien der Internationale zwei Hauptströmungen gibt, könnte man glauben, die Führer der internationalen Sozialdemokratie sind allesamt links stehend, sofern man ihre Reden auf Massenveranstaltungen betrachtet. Schon aus dem Grund bin ich gespannt auf die Rede Molkenbuhrs in Amsterdam, die morgen früh in der Humanite abgedruckt sein wird. Ich wette, auch da trifft zu, was ich eben festgestellt habe. Dabei gibt es doch wohl keinen Zweifel, dass der Genosse Molkenbuhr zum rechten Flügel der deutschen Sozialdemokratie gehört. Bei Ihnen, Genosse Scheidemann, scheint mir das nicht immer so klar ersichtlich zu sein. Nur deshalb meine Frage zu Anfang des Gesprächs."
Mit Genugtuung vermerkte Scheidemann den nun folgenden Disput zwischen den französischen Genossen. 0ffensichtlich warf Boulbec dem Morizet vor, er habe sich unhöflich benommen, Scheidemann plump attackiert. Leger versuchte den Streit der beiden zu schlichten und fuhr sie an, sich endlich zu beherrschen. Einlenkend schlug Morizet vor, dass er zur Buße vier Calvados bestellen werde. Leger übersetzte diesen Vorschlag und unterschlug das Wort Buße nicht.
Scheidemann hielt die Hand vor den Mund und gähnte dezent. Freundlich erklärte er, keinen Grund zur Buße zu sehen. Es sei ein anregendes Gespräch gewesen, die Welt wäre langweilig, seien alle immer einer Meinung. Doch jetzt spüre er die Anstrengungen des Tages, und er bitte die Genossen um Verständnis für sein kaum noch zu bezwingendes Schlafbedürfnis.
Lachend erklärten die Drei, dass auch sie baldigem Schlaf nicht abgeneigt seien. Boulbec ging voraus und rief eine Autodroschke herbei. Zu viert fuhren sie zum Hotel, in dem Scheidemann übernachtete.
Morizet drückte Abschied nehmend Scheidemann die Hand und bat um Nachsicht für seine französische Impulsivität. Sozusagen als Ausgleich nehme er an, dass Jaures in Berlin ähnliche Fragen gestellt würden. Dessen ehrliche Kriegsgegnerschaft stehe zwar außer Zweifel, ansonsten aber gehöre er keinesfalls zum revolutionären Flügel der Partei.
Scheidemann bewahrte weiterhin Kontenance. "Auf dem Münchener Parteitag wurde Karl Liebknecht wegen seines ungehörigen Tons gegen Jaures vom Genossen Bernstein zur Ordnung gerufen", erinnerte er, und es sollte ein Kompliment für Jaures und die französische Partei sein. "Es war ein handfester Familienstreit in unserer Partei."
"Wobei allerdings Familienvater Bebel dem jungen Mann bescheinigte, dass er eine schneidige Feder führe", ergänzte Morizet. "Ferner erklärte August Bebel, wenn Liebknechts Vater noch gelebt hätte, wäre dessen Antwort an Jaures schärfer ausgefallen."
"Man sollte Sie ins Parteiarchiv holen", lobte Scheidemann ironisch, "Sie wissen gut Bescheid in der Historie unserer internationalen Bewegung."
Morizet hob abwehrend die Hände. "Das Schicksal bewahre mich vor Aktenregalen."
Boulbec und Leger nahmen ihn freundschaftlich bei der Schulter und zogen ihn mit sich fort. "Du kannst es nicht lassen", räsonierte Boulbec, schaute noch einmal zurück, und seine Geste deutete Winken und zugleich Entschuldigung an.
Scheidemann erwiderte den Gruß und schritt durch die Drehtür des Hotels. Zuvorkommend überreichte man ihm an der Rezeption den Zimmerschlüssel. Unzufrieden mit sich selbst, zog er die goldene Kapseluhr aus der nach neuestem Schnitt geschneiderten Weste: Jetzt ist es zu spät für den Nachtzug. Anstatt mich von dem Radikalinski Morizet langweilen zu lassen, hätte ich im Schlafwagen einen halben Tag gewinnen können. Während er die Uhr wieder sorgfältig wegsteckte, hatte er sich bereits damit abgefunden, erst am andern Tag reisen zu können. Ein Schlafwagenbett hält übrigens keinen Vergleich mit einem französischen Hotelbett aus, dachte er. Er ließ sich noch einen leichten Imbiss aufs Zimmer bringen, ehe er sich gähnend im weichen Pfühl streckte.
In der Frühe des nächsten Morgens bestellte er den Hotel-Coiffeur, pries dessen leichte Hand beim Rasieren und unterstrich es mit einem guten Trinkgeld. Das Frühstück ließ er sich im Zimmer servieren, da er befürchtete, Morizet würde noch einmal aufkreuzen. Im Speisesaal könnte er ihn nicht gut abwimmeln. Bald darauf lobte sich Scheidemann ob dieser Vorsicht. Von der Rezeption kam ein Anruf, Monsieur Morizet wünsche Herrn Scheidemann zu sprechen, ob er heraufkommen dürfe. Blitzschnell überlegte Scheidemann und bat, Monsieur Morizet möge im Lesezimmer warten, er werde sich beeilen. Scheidemann beeilte sich wirklich. Der Koffer war schnell gepackt, das Zimmermädchen dankte mit einem anmutigen Knicks für die spendable Aufmerksamkeit und zauberte den Empfangschef mit der Rechnung herbei. Scheidemann bezahlte, bat, eine Autodroschke zur Gare du Nord zu bestellen, und fragte, ob dieser Monsieur Morizet im Lesezimmer Platz genommen habe.
Unbewegten Gesichts schüttelte der Befrackte den Kopf. "Non, Monsieur, er hat sich vor dem Lift postiert."
Für diese Auskunft schob Scheidemann schnell noch ein Francstück zu dem Geld auf dem silbernen Tablett. Er stieg ins Erdgeschoss hinab. In der Halle stand Morizet vor dem Lift, kehrte ihm den Rücken zu und starrte unverwandt auf die Aussteigenden.
Scheidemann stellte sich hinter eine Fächerpalme und schrieb auf seine Visitenkarte, er habe den Genossen Morizet im Lesezimmer nicht angetroffen. Leider konnte er nicht länger warten, um seinen Zug nicht zu versäumen. Tausend Dank für alles, in sozialistischer Verbundenheit, Ihr getreuer Ph. Scheidemann. In Druckbuchstaben malte er den Namen Morizet auf die Karte und gab sie, auf den Namen weisend, an der Reception ab. Ein verstohlener Blick zu Morizet, der noch immer vor dem Lift stand, und Scheidemann trat durch einen Seitenausgang auf die Straße. Aufatmend warf er sich ins Polster der Autodroschke. Es ist keine Lüge, was auf der Visitenkarte steht, bester Morizet, du warst wirklich nicht im Leseraum. Dass unser Gespräch nicht zustande kam, ist also deine Schuld, nicht die meine. Wer einen Ph. Scheidemann festnageln will, muss früher aufstehen. Gestern Abend sind dir deine beiden Genossen in die Parade gefahren, heute, allein mit mir, hofftest du mehr herauszuschlagen. Glücklicherweise seid ihr Apostel der Revolution uns nicht gewachsen. Solange wir da sind, wird euch euer Vabanquespiel nicht gelingen. Eure sogenannten Massenaktionen basieren auf Tollhäuslerlogik. Als ob man einen Staat zerstören kann, ohne dass Arbeiterpartei, Arbeitergewerkschaften, Arbeitereigentum zerstört werden. Generalstreik ist Generalunsinn. Ignaz Auer hatte recht. Er hätte es nur nicht aussprechen sollen. Je weniger Gelegenheiten man den Umstürzlern zum Aufheulen gibt, desto schwieriger wird ihr Gewerbe.
Die Autodroschke hielt am Bahnhof, ein Gepäckträger eilte herbei. Er erkannte den Ausländer und bugsierte ihn zum richtigen Fahrkartenschalter. Nachdem er Scheidemann den Koffer durchs Fenster des Abteils erster Klasse gehoben hatte, blickte er fast erschrocken auf die gute Belohnung. Dann legte er die Hand ans Mützenschild, "Merci beau coup, Monsieur - Bon voyage!"
Angenehm berührt nickte Scheidemann. Man ist nicht umsonst einer der bestangezogenen Sozialdemokraten, hat es als ehemaliger Buchdrucker weit gebracht. Einmal wird die Partei mitregieren. Dann werden Genossen gebraucht, die auf keinem Parkett ausrutschen.
Mit sich zufrieden, nahm Scheidemann eine Importe aus der Zigarettentasche und paffte blaue Wölkchen in die Luft des Abteils. Hoffentlich steigt niemand mehr zu. Es ist erholsam, in weichen Polstern turbulente Tage zu überdenken. Botschafter des Friedens aus Berlin; Abgesandter der stärksten Sektion der Internationale. So etwas animiert die Pariser Arbeiter. Aber wenn einer sich ans Rednerpult stellt, ohne die Mentalität des kleinen Mannes zu kennen, dann verblasst die glänzendste Aureole. Man muss nicht nur reden können, man muss immer wissen, zu wem man spricht. - Idiotie der deutsch-französischen Erbfeindschaft - wenn solch Satz die französischen Sozialisten nicht von den Stühlen reißt, dann bin ich kein Volksredner. Natürlich gibt es immer einige Querulanten wie diesen Morizet, die nach dem Haar in der Suppe fischen. Kein Zufall, dass er sich mehrmals auf Liebknecht berief. Wie mag der abgeschnitten haben in Budapest? Er erinnert mich immer an ein ofenheißes Gebäck, das unsere klugen Dummen vom Parteivorstand am liebsten verschlängen, um es los zu sein. Dabei verbrennen sie sich den Mund und mehr. Den besänftigt man mit Zustimmung und tut das Gegenteil. Fanatiker sind weder mit Argumenten noch mit Postenangeboten zu bekehren. Man muss den Leuten nicht unbedingt sagen, was sie eigentlich hören müssten, sondern was sie hören wollen. Liebknecht ist zu ehrgeizig. Aus falsch verstandener Familientradition überfordert er ständig sich und andere. Patenkind von Marx und Engels, Sohn des berühmten Wilhelm Liebknecht. Mit solchem Anfangskapital hätte unsereiner Besseres anzufangen gewusst, als ständig zu stänkern. Diese ungestüme Unruhe im Uhrwerk der Partei verbraucht viel Kraft des Apparats zur Hemmung. Aber weshalb über die Dialektik des Lebens trauern? Wozu wäre eine Riesenpartei nützlicher, als die Zügellosen zu zügeln? Es sollte mich wundern, wenn der Ausflug nach Ungarn Liebknecht nicht wieder zu irgendetwas stimuliert hat. Bin gespannt, was er uns diesmal auf den Tisch legen wird.
Leider stiegen noch mehr Mitreisende ins Coupe. Das gerümpfte Näschen einer Dame trieb Scheidemann mit seiner Zigarre auf den Gang des D-Zuges. Er tröstete sich mit dem Gedanken, im Speisewagen werde ich mir einen Armagnac genehmigen, vielleicht finde ich eine nette Reisebekanntschaft, Die Zeit bis Chemnitz vergeht auch, das Umsteigen ist das einzig Unbequeme. Noskes Telegramm deutet Neuigkeiten an. Gute Idee von ihm, mein Zwischenaufenthalt erspart ihm oder mir eine lästige Hin- und Rückreise. Persönliche Gespräche sind ergiebiger als Briefe oder Telegramme - und sicherer. Ich darf nicht vergessen, Kinkel zu telegrafieren, dass er mich morgen in Berlin abholt.
Als Scheidemann am nächsten Abend bei seiner Ankunft in Berlin Kinkel weder auf dem Bahnsteig noch in der Bahnhofshalle entdecken konnte, war er mehr als verwundert. Er war es gewöhnt, dass der strebsame junge Mann seine Telegramme ernst nahm. Kinkel, Sekretär-Aspirant im Fraktionsvorstand, bewunderte Scheidemann und gab dies durch kleine und große Aufmerksamkeiten zu erkennen. Er funktionierte zuverlässig wie ein Kammerdiener, stenografierte flüssig und hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Immer informiert über offizielle Parteidinge und inoffiziellen Parteiklatsch, teilte er beides stets sachlich mit. Seine Bewunderung für mich ist echt, dachte Scheidemann, außerdem weiß er nur zu gut, dass man eine Parteikarriere nicht besser beginnen kann, als wenn man sich einem der führenden Männer bedingungslos anschließt. Es ist angenehm, einen diskreten, dienstbaren Geist um sich zu wissen, er spart einem Zeit und Kraft. Mit siebenundvierzig ist man kein Springinsfeld mehr, die brauseköpfige Jugendzeit in Kassel ist fast schon Legende.
Ärgerlich über Kinkels überraschende Unzuverlässigkeit, ging Scheidemann neben dem Gepäckträger her. Angesichts des leeren Halteplatzes für Autodroschken wuchs der Unmut des Herrn Reichstagsabgeordneten.
Der Träger fragte Scheidemann, ob er nicht eine Pferdedroschke nehmen wolle. In einer Art Trotzstimmung erklärte Scheidemann, er werde warten. Der Mann mit der grünen Schürze setzte den Koffer ab. Scheidemann zahlte in genau abgezählten Sechsern. Tiefsinnig betrachtete der Träger das Geld auf der flachen Hand. Dann lüftete er, mit ausgestrecktem Zeigefinger den Mützenschirm hebend, die Kopfbedeckung und grinste philosophisch. "Schön Dank ooch, Herr Jraf."
Flaps, dachte Scheidemann und tat, als habe er es nicht gehört. Angesichts solcher Musterexemplare braucht sich niemand zu wundern, wenn die Bürger von proletarischem Plebs sprechen. In seiner Verärgerung merkte Scheidemann nicht, dass ihn ein langaufgeschossener junger Mann aus einiger Entfernung betrachtete. Dessen grüner Lodenmantel schien schon Generationen gedient zu haben. Der Beobachter war barhäuptig, und wie zum Ausgleich dafür trug er das Arbeiter-Chemisett, eine Art Achtel-Oberhemd, in Berlin "Schmiesken" genannt.
Scheidemann und auch der im Lodenmantel wurden aufmerksam, als eilig ein gut angezogener junger Mann über den Platz kam. Das Licht der hohen Gaskandelaber ließ sein blasses Gesicht noch fahler erscheinen. Er tat sehr zerknirscht. "Bitte tausendmal um Entschuldigung, Genosse Scheidemann, hatte kaum noch Hoffnung, Sie zu finden."
Schon ein wenig versöhnt, erwiderte Scheidemann, Kinkel möge Gott danken, dass es in Berlin weniger Autodroschken gebe als in Paris.
"Es ist nämlich wieder einmal Hochbetrieb, schwierig gewesen, mich frei zu machen. Da kommt jetzt einiges auf uns zu, zum Beispiel die Auswertung der internationalen Veranstaltungen ... Genosse Molkenbuhr hat interessante Einzelheiten aus Amsterdam mitgebracht, und ..."
"Aus Amsterdam?" Scheidemann wunderte sich. "In der Partei der Niederlande lief es bisher eigentlich immer recht zufriedenstellend."
"Weniger in Amsterdam, sondern in Brüssel und Paris ist die Opposition in letzter Zeit sehr mobil geworden."
Von Paris könnte ich es bekräftigen, dachte Scheidemann, aber ich werde es nicht ausplauschen wie der alte Esel Molkenbuhr. Ungeduldig schaute er nach einer Autodroschke aus, langsam wurde ihm kühl. Das Wetter in Berlin war auf leichten Novemberfrost umgeschlagen.
Eifrig wollte Kinkel den Lagebericht fortsetzen, doch mit einer, Kopfbewegung zum Halteplatz der Pferdedroschken hemmte Scheidemann seinen Redefluss und bemerkte seufzend, er werde nun doch mit einem Hafermotor vorliebnehmen. Eilfertig packte Kinkel den Koffer am Griff und ließ ihn erschrocken wieder sinken. An Muskelkraft hatte er nicht halb soviel zu bieten wie an guten Manieren.
"Lassense mich mal, das mach ich seit meinem zwölften Lebensjahr." Geübt schwang der im Lodenmantel das schwere Gepäckstück auf die Schulter, marschierte los und setzte den Koffer auf den Bock der ersten Pferdedroschke in der wartenden Reihe. Erleichtert und kopfschüttelnd folgten die beiden dem Hilfsbereiten. Man könnte denken, der erste Windstoß pustet den langen schmalen Körper um, dachte Scheidemann, aber der Bursche hat mehr Kraft, als man ihm zutraut. "Was bin ich Ihnen schuldig?", fragte er, und seine Hand fuhr in die Tasche des gehrockartigen Mantels.
"Nö, nö, Genosse Scheidemann, so war's nicht gemeint. Bodo Eckstein is mein Name, wohne in Pankow, bin dort im Jugendausschuss der Partei."
"Und Sie sind sich ganz sicher, dass ich wirklich der bin, für den Sie mich ..."
"Na klar, Genosse Scheidemann, gleich hab ich Sie erkannt. Hatte bloß nich den Mumm, Sie anzusprechen. Aber jetzt, wo sich nun die Jelejenheit so ergibt, hätt ich schon 'ne Bitte."
"Entschuldigen Sie, bester Genosse Ecken ..., äh, Ecksteiner", Kinkel hatte sich beflissen eingeschaltet, "vielleicht können Sie das schriftlich ... Genosse Scheidemann ist abgespannt von der Reise, möchte sicherlich ..."
Nichts Dümmeres als diesen Burschen jetzt abzuschieben, dachte Scheidemann gereizt, ohne es zu zeigen, der erzählt seinen Jugendlichen womöglich, dass an den arroganten Scheidemann kein Herankommen sei. Jovial legte er Eckstein die Hand auf die Schulter und tat, als sei Kinkel nicht vorhanden. "Steigen Sie mit ein, reden Sie frei von der Leber weg, so kommen wir beide zu unserm Recht."
Unter Dankesworten nahm Eckstein in der Droschke Platz.
Mit zusammengepressten Lippen drückte sich Kinkel in die Ecke des Rücksitzes. "Es ist so", begann Eckstein, "wenn man den Jungens nicht öfter was Aufmunterndes bietet, dann lahmt das Gruppenleben. Nu hab ich den Bericht über Ihre Pariser Rede im Vorwärts gelesen und dachte, Mann, so was brauchen wir. Sozusagen 'n historischer Abriss über die antimilitaristischen Traditionen unserer Partei. Wenn Sie in der Linie mal als Redner, Genosse Scheidemann …, die öffentliche Jugendversammlung würden wir schon organisieren. Natürlich mit 'nem ganz neutralen Thema."
Neuerdings avanciere ich zum Magneten für radikale Elemente, ging es Scheidemann durch den Kopf. Der ist halb so alt wie Morizet, doch zehn Jahre weiter, dann hat er nicht weniger Haare auf den Zähnen als sein französischer Kumpan. Er kommt aus den untersten Schichten, erstaunlich, wie er sich um ein einigermaßen gutes Deutsch bemüht. Ohne das Wohlwollen in seiner Miene zu mindern, fragte Scheidemann:
"Sagen Sie, Genosse ..., Genosse ..."
"Eckstein, Bodo Eckstein is mein Name, aber sagense ruhig Botte zu mir. War lange genug Bottkeule, ehe ich mich zum Laboranten raufgestrampelt habe."
"Einverstanden", Scheidemann war belustigt über diese Mischung von offenherziger Naivität und vitaler Pfiffigkeit. "Was ich Sie also fragen wollte, Genosse Botte: Ist nicht neulich erst eine Jugendversammlung polizeilich aufgelöst worden?"
Gelassen winkte Botte ab. "Eine? Es ist schon mehr die Regel. Mit dem verschärften Gesetz über Jugendvereine haben die gehofft, die Jugendarbeit kaputtzumachen. Aber wir sind ja nich janz so dämlich wie die Blauen."
Die beste Gelegenheit, aus erster Hand etwas Konkretes über die Methoden der Polizei zu erfahren, dachte Scheidemann und sagte: "Entschuldigen Sie, Genosse Botte, wenn ich ein bisschen dumm frage, aber Jugendarbeit ist - ist gewissermaßen nicht mein Ressort, der Genosse Ebert wäre zuständiger. Vor Überlastung kann man sich leider zu wenig um diesen wichtigen Abschnitt der Parteiarbeit kümmern. Wie ging das in Ihrem Fall vonstatten?"
Nachdenkend hob Botte den länglichen Kopf mit der großen Nase, seine Stirn bekam kleine Falten, als er sich bemühte, die Vorgänge zu rekonstruieren. "Das erste Mal haben sie aufjelöst wejen des politischen Themas. Weil, das Jesetz verbietet Jugendlichen unter einundzwanzich politische Betätigung. Also machten wir die nächste Versammlung mit 'm unpolitischen Thema. Die Pickelhaube hat erst ziemlich spät jemerkt, dass wir sie vereiert hatten. Nu kamen sie damit, der Referent muss 'nen schriftlichen Ausweis über eine pädagogische Praxis vorweisen. Holten wir uns einfach 'nen Genossen Stadtverordneten. Der ersetzt keinen Ausweis, sagte der von der Polente. Da haben wir 'ne ganze Stunde über Geschäftsordnungsanträge diskutiert. War natürlich 'n Dreh. So konnten wir schon allerhand unterbringen von dem, was jesagt werden sollte. Leider hat der Blaue den Braten dann doch jerochen und uns aus dem Saal jagen lassen."
"Sie haben Humor", Scheidemann lachte amüsiert, "unter solchen Umständen soll ich also meine knapp bemessene Zeit ..."
"Nö, nö." Botte blieb unbeirrt. "Da sagt eben der Versammlungsleiter, der polizeilichen Anweisung müsse nachgekommen werden. Er bitte den Saal zu verlassen, aber Interessenten könnten zum Jugendheim kommen, um bei Jesellschaftsspielen, Volksliedern und Volkstänzen wenigstens noch etwas von dem Abend zu haben. Gegen die Pfleje deutschen Volksgutes dürfte wohl selbst der Herr Polizeipräsident nichts einzuwenden haben. Je nach Umstände jehn wir einzeln oder jeschlossen zum Heim. Wir stellen Posten auf, und dann steigt der Vortrag. So bis zu fünfzig kommen schon. Is zwar nich so viel wie 'n paar Hundert im Saal, aber besser als nischt."
"Sozusagen illegal." Scheidemann tat bedenklich, war gespannt auf die Antwort und beobachtete aufmerksam das Gesicht Bottes, in dem sich keine Miene verzog. "Wat sonst? Wenn die uns so kommen? - Aber wenn Sie anjekündigt sind, als Reichstagsabjeordneter, mit Immunität, da werden wir nich nötich haben, ins Heim zu ziehn."
Scheidemann stellte befriedigt fest, dass er gleich zu Hause sein werde. Langsam wurde der Bursche lästig. Scheidemann als Stützpfeiler illegaler Jugendarbeit! Witz oder Unverschämtheit? Ich muss ihn loswerden. "Wacker, wacker, Ihr unermüdliches Eintreten für die Partei, Genosse Botte. Ich denke, es wird sich mal machen lassen. Senden Sie mir bitte ein Konzept zu, mit Thema, Terminvorschlag und Versammlungsort. Ich schaue dann auf meinen Zeitplan und schreibe Ihnen, wann es geht."
"Na großartig!" Botte schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel. "Spätestens übermorgen haben Sie das Konzept."
"Wir sind da", sagte Scheidemann, und der Kutscher drehte die Bremse an. Behände sprang Botte aus der Droschke und hob den Koffer heraus. "Ist schon gut", wehrte Scheidemann lachend ab, "der Kollege Kutscher wird ihn mir hinauftragen, wer verdient sich nicht gern eine Kleinigkeit." Er zückte sein Portemonnaie. "Sie, Genosse Botte, steigen wieder ein und lassen sich nach Hause fahren. Ich mache es glatt."
Bottes tief liegende braune Augen glänzten wie polierte Metallknöpfe. "Ick? Droschkefahren mit so schöne lange Beene?" Schnell fragte er den Kutscher nach dem Preis bis Pankow. Treuherzig bat er dann: "Aber wenn Sie mir den Betrag jeben würden, Genosse Scheidemann? Nicht für mich. Bloß - in unsrer Gruppenkasse is meist Ebbe."
Etwas betreten gab Scheidemann Botte das Geld und drückte ihm die Hand. "Machen Sie es gut, und grüßen Sie die Genossen von mir."
"Danke schön, vielen Dank, Genosse Scheidemann", stieß Botte hervor und stürmte davon, Kinkel völlig übersehend, der reserviert "Adieu" gemurmelt hatte.
Während der Kutscher den Koffer nach oben trug, standen die beiden und schauten dem in der Dunkelheit verschwindenden Botte nach. Verwundert fragte Kinkel: "Wollen Sie wirklich in Pankow referieren, Genosse Scheidemann?"
Der Gefragte sah seinen Adlatus mit einem mitleidigen Blick an.
"Tscha, aber ..."
"Gehen wir hinauf", bremste ihn Scheidemann, "eine kleine Lektion über die Kunst des Dilatorischen scheint mir angebracht zu sein. Schlägt man mit zwingenden Gründen mehrmals Terminänderungen vor, werden es die Antragsteller bald leid. Wenn nicht, bleibt als letzte Möglichkeit ein Wink an die Partei in Pankow, die Versammlung abzulehnen. Schließlich sitzen dort im Jugendausschuss auch noch reifere Genossen als dieser Botte, nicht wahr?"
Ehrlich verblüfft über die Klugheit seines Meisters, gestand Kinkel: "Ich muss noch viel lernen, Genosse Scheidemann."
Ein Blick auf die Uhr am Bahnhof Friedrichstraße. Zwei Minuten zu wenig, um pünktlich das Büro in der Chausseestraße zu erreichen. Liebknecht entschloss sich trotzdem zu laufen, sein leicht federnder Schritt wurde eiliger. Über die Weidendammer Brücke pfiff der Dezemberwind, feine Eiskristalle prickelten auf der Gesichtshaut. Instinktiv wollte die rechte Hand den Kragen des Paletots hochschlagen, doch er zwang sie tiefer in die Tasche. Der kalte Ozon lüftet durch. Zwischen der vielen Arbeit spürt man auf diese Art etwas vom Winter. Den Kopf windabgewandt, grübelte Liebknecht, jeder Winter hat sein Doppelgesicht. Dem weichen Flockenfall, dem Bratäpfelgeruch und den Rodelbahnfreuden stehen härtere Not und mehr Krankheiten gegenüber. Hoffentlich steckt sich Frau Manke nicht an. Eine so patente Haushälterin ist eigentlich schwer ersetzbar. Die Familie ihres Bruders Albert hat es übel erwischt. Die Frau und die beiden Jüngsten liegen an Influenza. Dass Sophie Frau Manke auf mehrere Tage nach Spandau geschickt hat, damit sie dort nach dem Rechten sieht, ist herzwärmend. Um so mehr, als Sophie selbst stark erkältet ist. Sonst hätte ich die Freunde viel lieber nach Hause eingeladen als ins Büro.
Von der Invalidenstraße her, aus der entgegengesetzten Richtung, kam jemand in warmer Winterjoppe, einen Wollschal um den Hals, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Liebknecht erkannte ihn. Wilhelm Pieck hatte ihn auch gesehen und wartete vor dem Hauseingang. Sie schüttelten sich die Hände. "Gratuliere, Genosse Liebknecht, Sie haben Glück gehabt mit dem Wetter in Potsdam. Friedenskundgebung unter freiem Himmel. Und das am ersten Dezember. Der Platz soll schwarz von Menschen gewesen sein."
Nebeneinander stiegen sie hinauf zum zweiten Stockwerk. Aufgeräumt erwiderte Liebknecht: "Die himmlischen Herren sind uns gewogener als die irdischen."
Piecks Stimme bekam einen ernsten Unterton: "Hinge es nur von den Erfolgen unserer Veranstaltungen ab, wir brauchten keinen Krieg zu fürchten."
Liebknecht blieb stehen. Während er seinen Paletot aufzuknöpfen begann, sprudelte er hervor: "Die Diskrepanz beunruhigt, Genosse Pieck. Wahlerfolge, Veranstaltungserfolge. Alles gut und nützlich, doch in vielem hinkt die Partei den Notwendigkeiten hinterher."
"Wir strampeln uns ab, und gewisse Genossen kassieren die Lorbeeren."
Liebknecht lachte kurz auf. Er mochte die zupackende Art des fünf Jahre jüngeren, dessen manchmal bissigen Humor. "Mit dem, was erst auf unser Drängen geschieht, brüsten sich dann die David & Co. und schläfern die Massen ein: Es geht überall voran! Zum Dank stellen uns die honorigen Genossen hinterher als ewige Störenfriede und Schreier hin."
"Trotzdem müssen wir noch ein Stockwerk höher", erinnerte Pieck trocken.
"Richtig, wir sind schon etwas zu spät!" Erschrocken nahm Liebknecht immer zwei Stufen auf einmal.
Im Vorraum kam ihnen Martha Nothnagel entgegen, eine der Angestellten des Anwaltsbüros. Beim Anblick Liebknechts aufatmend, sagte sie, das Wasser siede bereits, aber sie hätte vom Doktor gern gewusst, ob Kaffee oder Tee gewünscht werde. Liebknecht wies auf Pieck und sagte, darüber sollten die Gäste entscheiden.
Wohlgefällig betrachtete Pieck die schlanke junge Frau, deren mädchenhafte Zartheit von ihrer Zurückhaltung unterstrichen wurde. "Wenn Sie mich fragen, Genossin Nothnagel, dann bin ich für 'n Kaffee, aber nicht so dünn."
Während die beiden Männer ihre Überkleidung ablegten, bedauerte Pieck, nun müsse die arme Deern wieder Überstunden machen.
Das dürfe sie nicht hören, warnte Liebknecht, sie empfinde das nicht als Belastung. Um so weniger, als sie keine Kinder habe und ihr Mann an den meisten Abenden für die Parte unterwegs sei.
Gemeinsam betraten sie das große Zimmer. Es war still hier. Franz Mehring saß hinter einer Zeitung im Klubsessel neben dem Tischchen mit der Stehlampe. Rosa Luxemburg hatte am langen Tisch Platz genommen, ein Päckchen Fahnenabzüge vor sich, die sie korrigierte. Liebknecht fragte lachend, ob die beiden Genossen unter die Trappisten gegangen seien. Wie abwesend blickte Rosa Luxemburg auf, strich sich über die Augen und sagte, sie sei Genossen Mehring dankbar, dass er ihr - Kavalier wie immer - kostbare Minuten für die drängende Arbeit gelassen habe.
Mehring faltete die Zeitung. "Wer die aufregenden Tage vor der Geburt eines Geisteskindes nicht respektiert, ist ein Barbar." Gelassen blickte er auf seine Taschenuhr. "Hoffentlich dauert es nicht bis Mitternacht. Mein Schreibtisch wartet mit einem angefangenen Manuskript auf mich."
Liebknecht seufzte. Ihm gehe es ähnlich. Deshalb wisse er zu schätzen, dass Genosse Mehring trotzdem gekommen sei. Er hoffe, es werde nicht über Gebühr dauern. Ein Gespräch unter Freunden sei ja keine Parteikonferenz. Genosse Ledebour könne übrigens nicht kommen, er habe sich telefonisch entschuldigt.
Mehring ließ ein Lachen hören, das an einen trockenen Husten erinnerte, die Enden seines weißen Bartes zitterten dabei. "Mit dem Ritter ohne Furcht und Tadel streite ich gern, doch ohne den dickschädligen Prinzipienreiter werden wir Zeit sparen."
Es handele sich nur um die eine Frage, fuhr Liebknecht fort, aber sie sei ihm so wichtig, dass er dazu die Meinung der Freunde brauche.
Wilhelm Pieck fragte, wer noch zu erwarten sei.
Rosa Luxemburg unterbrach ihre Korrekturarbeit. "Genossin Zetkin ist aus Stuttgart gekommen. Wir haben telefoniert. Bei der Gelegenheit habe ich sie eingeladen. Ich befürchte, Karl, Sie werden über meine Eigenmächtigkeit sehr ärgerlich sein."
Liebknecht ging auf den launigen Ton ein. "Ich wüsste keine Nachricht, die in meinen Ohren besser klänge."
"Da noch Zeit war", berichtete Rosa Luxemburg weiter, "hoffte Clara eine flinke Friseuse zu finden."
Pieck witzelte, es sehe beinahe danach aus, als könnte man bei der Genossin Zetkin eine winzige Achillesferse der Eitelkeit entdecken.
Die dunklen Augen Rosa Luxemburgs, von denen es hieß, sie könnten Blitze schleudern, nahmen den Spötter ins Visier. "Wenn eine Frau adrett auszusehen wünscht, lässt dies nicht unbedingt auf Eitelkeit schließen."
Hände hebend trat Pieck den Rückzug an. "Ich habe gar nichts gegen ein bisschen frauliche Eitelkeit."
Schmunzelnd hatte Liebknecht die Plänkelei mit angehört. Rosas leicht schrille Stimme lässt manches Wort strenger erscheinen, als es gemeint ist, fand er. Ihr scharfer Verstand weiß den geschliffenen Witz zu gebrauchen, der derbe Humor liegt ihr weniger. Der ist mehr die Stärke Wilhelms, lebendiges Beispiel für viele der Besten in der Partei, die zielbewusst den schweren Weg des Autodidakten gingen. Vom Tischlerlehrling zum Sekretär der Zentralen Parteischule. Kein Zufall, dass man ihn 1910 in den Zentralen Bildungsausschuss nach Berlin berief. Als Bremer Parteivorsitzender war er durch seine vorbildliche Arbeit aufgefallen. Sozusagen an Dienstjahren wie auch an Lebensjahren ist er der Jüngste hier.
Die Tür öffnete sich, und Clara Zetkin trat ins Zimmer. Die bräunliche Herbheit ihres Gesichts erinnerte an die italienischen Vorfahren, ihre kleinen Fältchen, von einem harten Leben hineingestichelt, vergaß man vor den alles beherrschenden blauen Augen. Sie ging zu Rosa Luxemburg, die beiden Frauen umarmten sich wie Schwestern. Mit Charme entschuldigte sich Clara Zetkin für ihr Späterkommen, alle setzten sich an den Tisch.
Liebknecht nahm das Material aus der Aktentasche. "Außer Ihnen, Clara, sind alle Anwesenden von mir unterrichtet, um was es geht." Seine Fingerknöchel klopften auf den Hefter. "Derart brisante Details über einige Oberhelden der Alldeutschen weht einem der Wind vielleicht in fünfzig Jahren nicht mehr auf den Tisch. Über die Wichtigkeit des Materials dürfte Einigkeit herrschen. Es geht im Grunde nur darum, zu überlegen, was ratsamer ist: gleich damit zuschlagen oder vorsichtig prüfen, ob die Echtheit garantiert ist."
Rosa Luxemburg hatte den Hefter genommen, darin geblättert und gelesen. Ohne von den interessanten Details aufzublicken, sagte sie: "Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, Karl, dass Sie dafür sind, gleich loszuschlagen."
"Es war mein erster Impuls", gestand Liebknecht. "Sie wissen um mein Vorhaben mit dem Buch 'Die Internationale des Rüstungskapitals'. Wer nur einigermaßen in dem Gebiet zu Hause ist, spürt bis in die Fingerspitzen, was da enthüllt wird, trägt den Stempel der Echtheit."
Sachlich wiederholte Rosa Luxemburg: "Ich gehe wohl auch nicht fehl, wenn ich annehme, dass Sophie Ihnen geraten hat, sich mit einigen Freunden zu beraten."
Liebknecht lachte jungenhaft. "So ist's, verehrte Freundin. Sie kennen mich, und Sie kennen Sophie sehr gut."
"Ich bin auf jeden Fall für überprüfen." Clara Zetkin sagte es mit ruhiger Bestimmtheit.
Liebknecht war verblüfft. Diese Anwandlung von Ängstlichkeit, wie er es empfand, hätte er bei Clara Zetkin am wenigsten erwartet. Temperamentvoll erwiderte er: "Wissen Sie, Clara, was das bedeuten kann? Eine glänzende Waffe unbenutzt lassen, bis sie verrostet ist. - Gestatten Sie, Rosa?" Er nahm den Hefter und schob ihn Clara Zetkin zu. "Schauen Sie hinein, und Sie werden Ihre eben geäußerte Meinung wahrscheinlich revidieren."
Gutmütig spöttelte Rosa Luxemburg: "Haben Sie uns hergebeten, Karl, um zu beraten, oder um uns von Ihrer Auffassung zu überzeugen?"
Liebknecht versuchte zu lächeln. "Verzeihen Sie, Rosa. Aber wer sich so intensiv mit den Machenschaften dieser - dieser europäischen Mörderfilialen befasst, bekommt ein Gespür für taugliche und untaugliche Waffen gegen das Gesindel."
"Ich kann Genossen Liebknecht verstehen." Wilhelm Pieck hob den Kopf, gemeinsam mit Clara Zetkin hatte er den Inhalt des Hefters durchgesehen. "Auch mir bereitet die Vorstellung Unbehagen, solche kostbaren Beweisstücke ungenutzt schmoren zu lassen."
"Falls es Beweisstücke sind", gab Mehring zu bedenken. Clara Zetkin hatte ihm den Hefter zugeschoben, und er begann sich ebenfalls den Inhalt anzusehen.
"Je echter sie ausschauen, desto sorgfältiger müssen wir sie prüfen."
Clara Zetkins eindringliche Worte klangen Liebknecht wie Verstocktheit. "Heißt also, das beste Pulver ins Arsenal, auf dass es dort verschimmele."
"Das ist besser als Pulver, das Dynamit ist. Ich bin für losschlagen. Noch dazu, da uns der Gegner selbst die Waffen liefert", unterstützte Pieck Karl Liebknecht.
"Und was geschieht", Rosa Luxemburg fragte es akzentuiert, "wenn dieser Gegner nachweist, das Ganze war eine gezielte Infamie?"
"Der Gegner wird auf jeden Fall abstreiten", widersprach Pieck, "darüber dürfte es doch in diesem Kreis keine Illusionen geben."
"Ein schwaches Argument, um auf eine hieb- und stichfeste Überprüfung zu verzichten. Es gibt ja nicht nur uns und unsere Gegner. Da sind die Partei, das Volk, die internationale Öffentlichkeit", erinnerte Clara Zetkin.
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