Amerikanische Odyssee - E.R. Greulich - E-Book

Amerikanische Odyssee E-Book

E.R. Greulich

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Beschreibung

Erschießt Unteroffizier Malleck den gefangenen Sergeanten Hampstead nur wegen einer Uhr? Heinz Hesse steht wie gelähmt dabei. Nach einem Feuerüberfall der Amerikaner befindet er sich mit dem Schwerverwundeten allein; Er holt Hilfe, begibt sich. freiwillig in Gefangenschaft. Beharrlich versucht er, das Verbrechen zu Protokoll zu geben. Es misslingt, Hesse macht sich damit unbeliebt. Im Lager bei Oran trifft er wieder auf Malleck. Gedeckt von der Lager-Gestapo, bringt Malleck seinen Widersacher Reschke um, der von der Tat weiß. Unter dem Druck des zweiten Mordes, lässt sich Hesse zu einer falschen Aussage erpressen. In den USA kämpft er weiter um Sühne für die beiden Toten. Dafür stempeln ihn die Nazis zum "bad communist". Das bringt Hesse in die "Quetschmühle", ein Fragelager bei Washington. Hier gewinnt er die Liebe Elizas. Die Hoffnung, dass sie der Gerechtigkeit helfen könne, zerschlägt sich. Mehrmals trifft Hesse bei seiner Odyssee auf Malleck. Weshalb geschieht dem Mörder nichts? Wieso muss Hesse einen Weg der Enttäuschungen gehen? Warum versagt auch Cora Hampstead, die Frau des ermordeten Sergeanten? Diesen Fragen geht E. R. Greulich in einer erregenden Romanhandlung nach und schöpft dabei aus eigenem bitterem Erleben.

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Seitenzahl: 593

Veröffentlichungsjahr: 2014

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E.R. Greulich

Amerikanische Odyssee

Autobiografischer Roman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Wie es begann

Erster Teil

Ein Camp, das es nicht geben darf

Ein Amt von Semmels Gnaden

Neuer Job - alte Sorgen

Wer die Wahl hat ...

Herr Feldwebel wird nervös

Ein PW namens Malleck

Das Lager neun

Fraternisation

Der Nachtfalter

Zweiter Teil

Todfeinde

Wer ist der Mörder?

Der Brief

Mistress Hampstead will zahlen

Für die Kameraden - gegen Eliza?

Ins Paradies

Höllisches Paradies

Bitteres Zurück

Verdächtige Milde

Forellen leben nicht in Tümpeln

Dritter Teil

Drei Möglichkeiten

Harte Runden beim Sechstagerennen

Siegt die Gerechtigkeit?

Kreuze auf den Hügeln

Sehnsucht nach Sibirien

Mut und Zorn

Worterklärungen

Verschollene Zeitzeugenschaft. Über Emil Rudolf Greulich (1909- 2005)

Impressum neobooks

Wie es begann

Es war wenige Tage vor der Kapitulation des Afrikakorps und der ihm unterstellten Einheiten. Das erste Bataillon des Afrika-Schützenregiments 961/Division 999 lag in den Bergen bei Tebourba.

Auf der dem Feind abgekehrten Seite des Berghangs, hineingetrieben in Geröll und Steinschutt, liegt der Gefechtsstand der 1. Kompanie. Er ist eng, alles darin ist primitiv und provisorisch. Doch es ist der weitum sicherste Raum. Die in den Schützenlöchern vorn beneiden die Insassen, die sich langweilen und Arbeit vortäuschen. Was gibt es noch zu tun für Schreiberseelen, wenn keine strategische Führung mehr vorhanden ist, wenn alle, ohne es auszusprechen, auf den Schlusspunkt warten? Sie schwitzen im Kompaniestab und trinken guten tunesischen Wein. Im Flachland vor den Bergen gab es genügend verlassene Gehöfte mit riesigen Fässern in den kühlen Kellern. Bis an die Knöchel standen wir im Wein, berichteten die Organisierer. Fast alle trinken. Im Rausch ist das Hundeleben leichter zu ertragen. Oberfeldwebel Tolcke trinkt nicht, er will die Kontrolle über sich nicht verlieren. Es ist mehr Angst ums Leben als um den Verlust der Autorität. Schon im Flachland schlief er als einziger nachts in einem tiefen Splitterloch. Die es in jeder neuen Stellung ausheben mussten, fluchten. Alle anderen lachten über Tolcke, der vorgab, nur im kühlen Erdreich würde er nicht von den Erdflöhen geplagt. Sie legten ihm einen Skorpion ins Erdloch, Tolcke schlief eine Nacht hindurch neben dem giftigen Insekt und wurde nicht gestochen. Gleich und gleich tut sich nichts, sagten die Landser.

Kompanieführer Oberleutnant Unschlitt trinkt am meisten. Er kann am meisten vertragen. Er wird jeden Tag lärmender und jovialer. Um der Misere zu begegnen, reißt er Zoten und nennt es Galgenhumor. Er kümmert sich wenig um die Kompaniegeschäfte. Da ist ja der pedantische, korrekte Tolcke. Der tut schon, was es noch zu tun gibt.

Marsmann kann nichts mehr tun. Der Batteriestrom seines Funkgeräts "Dora" ist am Versiegen. Als der Kompaniefunker beim Bataillon wegen neuer Batterien nachgefragt hat, haben sie ihn ausgelacht. Denn er hat weder ägyptische Zigaretten noch französischen Kognak zum Schmieren, Marsmann gehört nicht zur Stammmannschaft. Er ist einer der vielen Vorbestraften, die, über Nacht "wehrwürdig" geworden, dennoch Hitlersoldaten zweiter Klasse sind. Der offizielle romantische Name ändert nichts an der Tatsache, dass die Afrika-Schützendivision 999 eine Strafeinheit ist. Marsmann glaubt nicht daran, es ändern zu können. Heil aus diesem Krieg möchte er kommen, der kleine Schütze Arsch, der bei 999 am ärmsten dran ist, wie das geflügelte Wort lautet. Eigentlich könnte Marsmann froh sein, dass sein Gerät den Anfang macht mit dem Kriegsende. Aber er muss es ausbaden. Unschlitt brüllt so hässlich: "Wenn du mit deiner Dora zu Hause genauso wenig anzufangen weißt, sollte sie dich jeden Tag mit einem anderen betrügen, du Blindgänger!" Unschlitt will nur einen Witz an den Mann bringen. Es schmerzt trotzdem. Zufällig heißt Marsmanns Frau Dora. Es ist die beste Frau.

Obergefreiter Hesse fummelt mit seinem Vorgesetzten, Unteroffizier Börger, an Soldlisten. Die große Kiste mit den Kompaniepapieren ist zugleich Schreibstube und Tisch. Die Schreibstube ist nur geduldet im Kompaniegefechtsstand. Börger ist einer der Anständigen. Sonst wäre Hesse längst nicht mehr in der Schreibstube. Obwohl beide nur die Kniehosen und die kurzärmeligen Hemden ihrer Tropenausrüstung anhaben, schwitzen sie. Es ist erst April, aber es ist heiß wie im deutschen Hochsommer. Bis hierher in die Berge gelangt kein kühlender Mittelmeerwind. Noch ist nicht Mittag, doch ringsum döst matte Schläfrigkeit. Unschlitt ist wie so oft "hinten" in der Etappe - sofern es die noch im militärischen Sinne gibt -, sein Randalieren stört die trügerische Stille nicht.

Hesse und Börger heben die Köpfe. Aus der Ferne ertönt kaum hörbares Tuckern. Langsam kommt das Tuckern näher; da ruft jemand draußen das verhasste Wort: "Deckung!" Einige Stammleute rennen zum Gefechtsstand, mehrere Schützen zum Wadi und drücken sich dicht an dessen Steilwand.

Rasch kommt das Tuckern näher. Aus der Luft faucht es heran und birst krachend. Eisensplitter sirren und pfeifen. Wieder Fauchen, Pfeifen, Bersten, wieder und wieder, an die zwölf Einschläge, Granaten schweren Kalibers krepieren dicht hintereinander auf dem Pfad. Dann wieder Stille, auch das Tuckern ist gestorben. Dünne Rauchfahnen stinken nach Pulver und Staub.

Oberleutnant Unschlitt kriecht aus der Deckung im Wadi, hinter ihm der Kradmelder. Unschlitt flucht: "Scheiß-Amis! - Als ob wir Schießbudenfiguren wären!" Unvermittelt dreht er sich um zu dem Kradmelder. "Hätte denen so gepasst, uns wegzupusten. - Dein Schlitten ist im Eimer. - Auch nicht schlecht, haben wir hier vorn einen Mann mehr." Am Eingang des Gefechtsstands brüllt Unschlitt: "Oberfeld!"

Sofort steht Tolcke vor ihm. "Herr Oberleutnant?"

Unschlitt wirft einen Blick auf einen Zettel. "Befehl des Bataillons: Das ständige Störfeuer des Feindes auf den einzigen Zufahrtsweg zum Kompaniegefechtsstand verursacht laufend Verluste. Es beweist präzises Zielfeuer, das gelenkt sein muss von einer weit vorgeschobenen Beobachtung mit genauer Einsicht in unser Gelände. Der Beobachterstand ist aufzuspüren und zu vernichten. Das Stoßtruppunternehmen ist von den vordersten Stellungen der Kompanie aus notfalls zu unterstützen."

"Jawoll, Herr Oberleutnant", sagt Tolcke und dann weniger stramm, "wen schlagen Sie als Führer des Unternehmens vor, Herr Oberleutnant?"

Unschlitt fixiert ihn scharf und grinst. Es amüsiert ihn, wie Tolckes Gesicht langsam die Farbe verliert. "Wie wäre es mit Oberfeld Tolcke?"

Tolcke reißt sich zusammen. "Befehl ist Befehl, Herr Oberleutnant. Aber wenn etwas geschieht - dürfte ich darauf aufmerksam machen, dass die Kompaniegeschäfte ... "

"Menschenskind, oller Oberspieß!" Unschlitt lacht sein Seeräuberlachen, "wer denn sonst als Malleck? Wissen Sie einen Besseren für so was als Unteroffizier Malleck?"

Erlöst schüttelt Tolcke den Kopf. "Nein, ich wüsste keinen, Herr Oberleutnant."

Im Gefechtsstand lässt Unschlitt aus "seinem" Kanister einen Trinkbecher voll Wein gluckern, die Hälfte geht daneben. Über die Schulter sagt er zu Tolcke: "Malleck soll sich zwei Männer dazu selbst aussuchen, natürlich Freiwillige."

Tolcke verschwindet, um Malleck den Befehl zu überbringen.

Unschlitt gießt den Viertelliter Wein in sich hinein und verlässt ebenfalls den Gefechtsstand, um im Schatten des einzigen Feigenstrauchs am Hang des Wadis zu schlafen. Solange sich weder Menschen noch Fahrzeuge nähern, ist mit einem Feuerüberfall kaum zu rechnen.

Hesse und Börger sehen sich mit einem vielsagenden Blick an.

"Beobachtungsstand vernichten", knurrt Börger, "auch wieder so 'n Blödsinn, weil sie nichts Besseres wissen. Selbst wenn es gelingt, ist noch alles wie vorher. Die Amis setzen neue Leute ein und wir werden wieder beharkt."

Marsmann nimmt die Kopfhörer ab, die er schnell übergestreift hatte, als er Unschlitt hörte. Die Zeichen, die aus dem Apparat kommen, werden immer leiser. Marsmann zaubert Meldungen, mit denen nichts anzufangen ist, erfindet Aufgefangenes vom Ami, das ebenso wenig besagt. Unschlitt darf nicht wissen, dass "Dora" nicht mehr mitmacht, dann muss Marsmann mitmachen, vorn in den Schützenlöchern. Er wendet nicht den Kopf, als er auf Börgers Geknurr erwidert: "Gelingen wird es schon. Der Name Malleck bürgt für Maßarbeit."

"Überhaupt, wenn Malleck dich mitnimmt", stichelt Börger. Marsmanns Blicke streicheln "Dora". Er hat lautlos und viel auf das Gerät geflucht, aber in diesem Augenblick ist es ihm lieb und teuer. "Der Funker ist der wichtigste Mann im Gefechtsstand", sagt er schadenfroh, "also unabkömmlich."

Ein Schatten erscheint am Eingang, Unteroffizier Malleck schiebt sich herein. Er rückt an einer Kiste, setzt sich darauf, streckt die Beine von sich und ächzt behäbig. "Kinders, wer hätte das gedacht, heißer als am Südpol, was?"

Die Drei schweigen. Marsmann hat wieder die Hörer auf und kritzelt auf einem Funkformular, als käme eben eine Generalstabsmeldung durch den Äther. Vertraulich stößt Malleck ihn an. "Was zu trinken da?"

Marsmann geht zu Unschlitts Kanister und lässt einen Trinkbecher voll laufen. Malleck nimmt kleine Schlucke. "Wenn wir erst den Ami ins Meer gejagt haben - Kinders, das wird ein Spaß beim Schneefegen in der Sahara." Da wieder niemand antwortet, lacht Malleck allein. Dann steht er auf und rückt sein Koppel zurecht. "Tja, Obergefreiter Hesse, dann machen Sie sich mal fertig: kleines Sturmgepäck und MPi. In einer Stunde hauen wir ab. Aber gut rasiert bitte. Die Amis sollen nicht glauben, wir hätten keine Klingen mehr."

Börger fährt herum, seine Augen hinter den Brillengläsern funkeln. "Wieso Hesse?"

Malleck schaut auf Börger herab. "Wieso nicht? In unserem Haufen kann Hesse als einziger Englisch. Gute Empfehlung für solch Unternehmen."

"Ich brauche ihn hier. Seit wann ist es üblich, Schreibstubenleute auf Stoßtruppunternehmen zu schicken?"

"Seit wann ist es üblich, dass sich Schreibstubenhengste gegen den Befehl eines Stoßtruppführers stellen?"

Börger spürt die Entschlossenheit Mallecks und versucht es mit der Kameradentour. "Hör mal, Malleck, du kannst dich wirklich nicht beklagen. Haben wir dich je zu kurz kommen lassen? An die Ausgehscheine in Neapel will ich gar nicht erinnern."

Malleck zwinkert Börger freundlich zu. "Die waren von dir. Aber du sollst ja auch nicht mitkommen."

"Hesse ist der einzige Mann, den ich noch habe."

Malleck tippt sich nachsichtig an die Stirn. "Mir brauchst du doch nichts vorzuzaubern wie dem Oberleutnant. Der Ami, der euch gefangen nimmt, kommt vor ein Feldgericht. Wegen Feindbegünstigung."

"Lass die Flausen, mir ist es ernst, und ... "

"Zum Teufel, mir auch!" Malleck kann ebenso brüllen wie Unschlitt.

"Der Oberleutnant hat extra gesagt: Freiwillige!" "Deshalb habe ich doch Hesse freiwillig ausgesucht. Der soll endlich ein Soldat werden. Die zarte Pflanze vergammelt uns ja sonst in der Schreibstube!" Wiederum lacht Malleck über den eigenen Witz.

"Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen", zischt Börger.

Jetzt flüstert Malleck fast. "Aber mein letztes Wort. Hesse kommt mit und außer Truff kein anderer." Abgehackt wie auf dem Kasernenhof sagt Malleck. "Obergefreiter Hesse!"

Hesse springt auf. "Jawohl, Herr Unteroffizier!"

"In einer Stunde sind Sie marschbereit. Andernfalls werde ich Sie melden wegen Befehlsverweigerung. Verstanden?"

"Jawohl, Herr Unteroffizier!"

Malleck verschwindet, Schweigen ist im Gefechtsstand. Mit hängenden Mundwinkeln philosophiert Marsmann vor sich hin: "Wen Malleck einmal hasst, den hasst er."

Börger ist weiß vor Wut. "Immer habe ich ihm dazwischengefunkt. Jetzt denkt er, kurz vor Toresschluss kann er Hesse noch fertigmachen."

"Er wird ihn schon nicht umlegen", brummelt Marsmann.

"Aber er weiß genau, dass es ein Himmelfahrtskommando ist", Börger wütet, "und da denkt er, wenn ich kaputtgehe, soll es Hesse auch. Ich muss Unschlitt finden."

Hesse, von Dankbarkeit gegen Börger erfüllt, ist die Szene um so unangenehmer. Leise, aber bestimmt sagt er: "Ein Malleck ist dem Oberleutnant mehr wert als zehn Schreibstubenleute. Unschlitt würde Malleck recht geben, und womöglich müssen Sie noch für Truff mit."

Verstört setzt sich Börger wieder. An diese Möglichkeit hat er nicht gedacht. Hesse versucht ihn zu beruhigen. "Es wird nicht so schlimm werden. Den Beobachterposten wird auch Malleck nicht knacken können. Der wird zufrieden sein, wenn er bei der Rückkehr melden kann, er habe ihn entdeckt und schlage direkten Pakbeschuss vor."

Börger scheint überzeugt. Hesse beginnt sich zu rasieren. Er wird sich bemühen, keinem Befehl Mallecks zuwiderzuhandeln. Wer so lange beim Barras ist, lässt sich nicht auf die billige Art hereinlegen. Ich bin mit weniger Illusionen eingezogen worden als die meisten, die geglaubt haben, es wäre nicht für Hitler, sondern für Deutschland, geht es Hesse durch den Kopf. Er hört des Vaters Stimme, als der ihm beim letzten Urlaubsabschied die Hand presste, dräng dich nie nach vom. Ich habe es immer so gehalten, bei 999 nicht zuletzt mithilfe Börgers. Doch was ich Börger eben gesagt habe, ist nur die Hälfte von dem, was ich denke. Wenn ich nicht gehe, muss ein anderer mit. Alle wollen leben.

Hesse zieht sich die Frontkluft an, nimmt seine Maschinenpistole und überprüft sie. Seit sie in den tunesischen Kessel eingeflogen worden sind, hat er sie noch nicht benutzen müssen. In Afrika hat er keinen Menschen getötet. Und wie ist es in Russland gewesen? Er hofft es und weiß, dass es Selbstbetrug ist. Das berühmte Weiße im Auge des Gegners hat er zwar nie gesehen, aber wie oft haben sie drauflosgeschossen. Auf Befehl oder aus Angst und Selbsterhaltung? Beides ist zusammengefallen, ist zu einer Handlung geworden, die kein denkender Mensch ohne Zwiespalt vollführt.

Hesse steht, wie befohlen, bereit. Börger begutachtet ihn, dann gibt er Hesse einen verstohlenen Knuff und flüstert: "Geben Sie auf sich acht."

Hesse nickt und schaut vor Verlegenheit auf die Uhr. Es ist so weit. Er grüßt halb ernst, halb ironisch, macht eine Kehrtwendung und tritt aus dem Gefechtsstand. Malleck und Truff kommen vom Feigenstrauch, Malleck hat sich wohl bei Unschlitt abgemeldet. Hesse geht auf Malleck zu und will sich vorschriftsmäßig melden. Vergnügt winkt Malleck ab. "Schon gut, Obergefreiter Hesse. Jetzt hört der Kasernenhof auf, und der Spaß fängt an."

Einige Stammleute sind plötzlich in der Nähe. Sie tun kameradschaftlich, zuversichtlich. In manchen Gesichtern steht Schadenfreude, in anderen Neugier. Die Neugier erinnert an die von Menschen, die einen Leichenzug betrachten. Auch Tolcke ist wieder aufgetaucht. So lange "dicke Luft" im Gefechtsstand war, hat er sich nicht sehen lassen. Schon morgen können sie gefangen sein. Dann ist es gut, wenn man sich keinen zum Feind gemacht hat.

"Wiedersehen, Oberfeld" , spottet Malleck, "in ein paar Stunden sind wir wieder da. Hoffe auf entsprechenden Empfang."

Ein Stück hinter dem Gefechtsstand macht der Pfad eine Kehre, die unter Feindeinsicht liegt. Vor der Kehre klettern die drei hinunter ins Wadi. Halten sie sich hintereinander an seiner Steilwand, dann kommen sie ungesehen aus der Gefahrenzone. Es ist oft genug erprobt von denen, die nach vorn in die Schützenlöcher müssen. Aus dieser Tatsache lässt sich ungefähr bestimmen, in welcher Richtung sie den Beobachterposten suchen müssen.

Malleck läuft als Erster, anscheinend völlig mühelos. Hesse hinter ihm ist schon nach wenigen hundert Metern in Schweiß gebadet. Truff als Letzter schnauft ab und zu. Ist es Zufall, überlegt Hesse, dass ich mich in der Mitte befinde? Truff ist mir nicht angenehmer als Malleck. Der weiß, was er in seiner Selbstsucht will. Truff hat etwas von einem Roboter. Funkt man ihm eine Anweisung, so erfolgt todsicher die Ausführung. Er spricht nur, wenn er muss. Er hat keine Freunde. Ich weiß nicht, ob er Feinde hat. Er ist kriminell bestraft, ich kann mich nicht erinnern, ob es Raub oder irgend so ein Sittlichkeitsdelikt in der eigenen Familie gewesen ist. Sicher ist nur, dass er bedingungslos auf Rehabilitierung aus ist. Malleck weiß schon, weshalb er ihn ausgesucht hat. Dass Truff im Zuchthaus gewesen ist, sieht ihm niemand an. Die grobschlächtige, ungelenke Figur, das naive, kantige Gesicht wie bei einem harmlosen Holzfällerbuam aus Oberbayern. Wahrscheinlich kommt er aus ärmsten dörflichen Verhältnissen, ist in seine Sache hineingeschlittert, ohne es recht zu wollen.

Sie hören ein Geräusch und bleiben stehen. Aus nächster Nähe kommt der Anruf: "Parole?"

Malleck sagt sie gedämpft und rennt die flache Wand des Wadis hoch. Mit wenigen Sätzen ist er an dem Schützenloch, in welchem Bendler und Balischkat hausen. Herablassend mustert Malleck die Gegend. "Also hier kann euch bestimmt nichts passieren."

Bendler bemüht sich um militärische Forsche. "Rückwärtige Sicherung, Herr Unteroffizier. Haben drei Tage lang ganz vorn gelegen."

"Na klar, jeder Heldensohn soll mal 'ne Weile aus der Schusslinie", sagt Malleck und fragt dann: "Wo liegt Feldwebel Preis?"

Die beiden beschreiben es genau und umständlich.

"Bleibt anständige Strolche", verabschiedet sich Malleck. Bei einem kurzen Blick hinter sich bemerkt Hesse, wie Balischkat ein Kreuz schlägt. Kaum einer der Männer fällt noch auf Mallecks Kameraderie herein. Er möchte Unschlitt kopieren, aber er beißt schmerzhafter zu als der.

Bald treffen sie mehr Leute der Kompanie, deren Schützenlöcher eher Nestern hinter aufgeschichteten Steinen gleichen. Dann stehen sie vor Feldwebel Preis. Sein Unterstand ist es nur dem Namen nach. Preis, obgleich immer mürrisch, ist beliebt. Sein grämliches Gesicht scheint ständig den Vorwurf durch die Welt zu tragen: Ohne den Barras wäre ich ein brauchbarer Mensch geblieben. Er wird nie laut, bei ihm klappt alles. Es ist nicht zu beweisen, aber jeder spürt, dass er am besten mit den Politischen auskommt. Unschlitt weiß schon, denkt Hesse, weshalb er ihn dauernd vorn hält. Ohne Preis würden noch mehr Schützenlöcher verlassen werden. So etwas wird zwar vor der Kompanie geheim zu halten versucht, aber in der Schreibstube wissen wir von nicht wenigen Fällen. Es erfordert Mut, zu den Amerikanern zu gehen, trotz ihrer Flugblätter: "Kommt zu uns!" Besonders wenn man einem wie Preis damit in den Rücken fallen muss.

Schweigend hört sich Preis die Meldung Mallecks an und sagt dann nur: "Na ja, dann seht mal zu. Wir wissen auch nur ungefähr, wo sie hocken müssen. "Wortkarg erläutert er Malleck an Hand der Karte die Gegend, in der sich vermutlich der amerikanische Beobachtungsposten befindet. Sie stimmen ihre Uhren aufeinander ab und vereinbaren für eventuelle Überraschungen Signale mit Leuchtkugeln.

Wiederum hintereinander, Hesse in der Mitte, ziehen die Drei weiter. Der Anstieg wird steiler, es gibt weder Wege noch Trampelpfade. Der dünne, graugrüne Pflanzenwuchs wird kärglicher; nackter tritt das grauweiße Gestein zutage. Auch ohne Krieg sollte diese Ödnis Niemandsland genannt werden, denkt Hesse.

Malleck geht jetzt langsamer und wie leicht geduckt. Nie tritt er so ungeschickt auf, dass ein Stein ins Rollen kommt und Geräusche verursacht. Als es bei Hesse einmal geschieht, wendet sich Malleck zu ihm um und zischt: "Niete!" In Mallecks gespanntem Gesicht ist keine Spur von Jovialität mehr.

Unbarmherzig sticht die Sonne. Öfter verharrt Malleck, lauscht und äugt prüfend in die Runde. Dann soll da eben ein Geräusch hinter der Bergkuppe gewesen sein. Malleck will es todsicher gehört haben, auch Truff. Hesse sagt nichts. Er hat nichts vernommen. Er ist mit sich beschäftigt. Der Schweiß ätzt und klebt auf dem Körper. Er ist der Jüngste und am meisten mitgenommen. Eine Schreibstube bietet kein Körpertraining. Aber er ist nicht einmal beschämt darüber. Wenn Kraft und Gewandtheit zu nichts anderem nütze sind, als leichter Menschen umzubringen?

Sie hocken im schmalen Schatten eines Felsbrockens, Malleck zieht die Karte heraus, legt den Kompass darauf. Lange beobachtet er die vor ihnen liegende Kuppe mit dem Fernglas.

"Da ist nichts", murmelt er, "sie sitzen bestimmt auf der dahinter. Die ist noch höher." Nach einem Blick auf die Karte hat er sich entschieden. "Wir müssen die Vordere umgehen, vom nächsten Einschnitt sehen wir mehr."

In spitzem Winkel zu ihrem Anmarschweg laufen sie wieder zurück. Es geht ein wenig bergab. Hesse ist in der Mitte, Truff wie ein Schatten stets hinter ihm. Nach einer Ewigkeit für Hesse erreichen sie den Einschnitt. Malleck gebietet die erste Ruhepause. Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Feldflasche voll Wein. Truff tut es ihm gleich, Malleck öffnet eine runde Blechschachtel mit Fliegerschokolade und bietet den beiden davon an. Truff greift ohne Zögern zu. Hesse lehnt ab und legt sich neben dem Felstrumm in den winzigen Schatten. Viel zu schnell hat Malleck seine Zigarette aufgeraucht. Truff stochert die Pfeife leer. Zufrieden vergleicht Malleck die Karte mit der Gegend. Sie brechen auf. Im Einschnitt arbeiten sie sich vorwärts, es geht leicht bergan. Sie spüren, wie sie langsam die Vorkuppe umrunden, und dann senkt sich der Einschnitt etwas, verbreitert sich zu einem engen Tal, von dessen anderer Seite es hinaufgeht zu jener nächsthöheren Bergkuppe.

Als Malleck das Fernglas sinken lässt, sind seine Augen noch immer zwei enge Sehschlitze. "Sie fühlen sich sehr sicher. Nicht ein bisschen getarnt. Wenn ihr genau hinseht, könnt ihr sie mit bloßen Augen erkennen."

Truff schaut eine Weile in die angegebene Richtung und nickt.

"Scheint 'ne Brustwehr. Amis kann ich nicht sehen."

Malleck lacht höhnisch. "Wahrscheinlich pennen sie dahinter. - Wir müssen uns zu dem vorspringenden Zacken hinarbeiten. Liegt höchstens fünfzig Meter ab von ihrem Beobachtungsstand." Er sieht Hesse an. "Wer jetzt ein Geräusch macht, den murkse ich ab." Er geht als erster los, kriechend, robbend, geduckt rennend, jeden Felsbrocken als Deckung benutzend. Hesse und Truff tun es ihm gleich. Nach einigen hundert Metern versperrt ihnen der Zacken die Sicht auf die Brustwehr. Sie können wieder aufrecht gehen und kommen schneller vorwärts. Als sie bei dem Vorsprung angelangt sind, glänzt Mallecks Gesicht von Schweiß und Genugtuung. Als kümmerte ihn die nahe Bastion mit der unzulänglichen Brustwehr nicht, betrachtet er die Umgegend. Von unten hat bis auf die Felsnase alles glatt ausgesehen. In Wahrheit befinden sie sich in einem Felslabyrinth, das an eine Mondkraterlandschaft denken lässt. "Zwischen die Klamotten ein paar Volltreffer", sagt Malleck, "das gibt 'ne tolle Schrapnellwirkung."

Bei diesen Worten läuft es Hesse kalt den Rücken hinab. Da ihn der Unteroffizier fast genießerisch betrachtet, lässt er sich nichts anmerken. "Na Prost!" Malleck nimmt einen Schluck aus der Feldflasche, einen doppelt so langen wie vorher.

Truff tut es ihm abermals nach. Hesse mag nichts essen und nichts trinken, er ist nur müde. Malleck kraxelt ein wenig herum und sucht einen günstigen Beobachtungspunkt. Nach einer Weile winkt er die beiden zu sich.

Sie schauen hinunter auf den Artillerieleitstand der Amis. Hier ist kein Fernglas nötig. Hinter der Brustwehr aus lose aufgetürmten Steinen spielt sich alles ab wie auf einem Tablett. Drei Soldaten sind dort. Einer sitzt auf einem Feldstuhl hinter dem Scherenfernrohr, die beiden anderen an einem zusammenklappbaren Tischchen vor einem Vorhang aus Tarnleinen. Sie scheinen zu pokern. Hinter dem Vorhang ist ein Unterstand zu vermuten. Der am Scherenfernrohr kaut Gum. Er hat keine Kopfbedeckung auf, aber eine Sonnenbrille vor den Augen.

"Wenn ich bloß wüsste, ob hinter dem Vorhang noch welche sind", rätselt Malleck, "die drei allein würden wir schaffen."

Hesse schluckt, der Magen will sich ihm umdrehen. In den nächsten Minuten wird er einen Menschen anfallen müssen.

"Gefangene sind besser", flüstert Truff, "legen wir die drei bloß um, sagen die hinten, ihr könnt uns viel erzählen."

"Was denn sonst?" fragt Malleck. "Höchstens so weit unschädlich machen, dass wir sie nach hinten kriegen."

Der am Scherenfernrohr schaut auf seine Armbanduhr, macht eine Geste zu den Spielern hin und ruft etwas. Es ist zu hören, Hesse kann es aber nicht verstehen. Die beiden machen das Spiel zu Ende, dann erhebt sich der eine und löst den am Scherenfernrohr ab. Der verschwindet hinter dem Vorhang und kommt mit zwei Flaschen zurück. Er und der am Tisch trinken. Malleck nimmt ebenfalls die Feldflasche. Genießerisch setzt er sie ab. "Das gibt mehr Mumm als Coca-Cola."

Er säuft sich Mut an, denkt Hesse angewidert.

Auf dem Weg, der gewunden abwärts von der Brustwehr wegführt, taucht ein Offizier mit einem Soldaten auf. Die Spieler legen die Karten hin, grüßen lässig. Der am Scherenfernrohr macht Meldung. Der Offizier dankt und spricht mit den beiden am Tisch.

"Mensch", flüstert Malleck aufgekratzt, "hinter dem Vorhang ist keiner. Sonst würde eine verschlafene Figur auftauchen und Meldung machen."

Der Offizier unterhält sich kurz mit den beiden, dann geht er mit ihnen und seinem Begleiter den Weg hinab, wo sie hinter einer Kehre verschwinden.

"Großartig", Malleck sprüht vor Glücksgefühl, "ehe die wiederkommen, müssen wir den Knaben haben. - Truff, du deckst vom Überhang über dem Unterstand bis zur Kehre, Hesse unseren Rückzug."

Wie Schlangen verschwinden Malleck und Truff zwischen dem Gestein, kurz darauf sieht Hesse sie auf den Überhang zurobben.

Der Mann am Scherenfernrohr sitzt ahnungslos unter dem Sonnendach aus Tarnleinen und schlägt ab und zu nach einer Fliege. Er ist ebenfalls ohne Kopfbedeckung, aber er kaut keinen Gum und trägt keine Sonnenbrille. Er ist sonnenverbrannt, groß und kräftig. Er hat es sich bequem gemacht. Er braucht keine Waffe, weil neben ihm das Telefon steht. Er bietet ein friedliches Bild und erinnert an einen Forscher vor dem Mikroskop. Das Terrain um den deutschen Kompaniegefechtsstand ist sein Forschungsgebiet. Zeigt sich nur eine dieser zweibeinigen Mikroben dort, dann gibt er wenige Zahlen durch den Draht, und heißer Stahl sucht die Mikrobe auszulöschen. Es ist ein kaltes, erbarmungsloses Geschäft. Der Soldat kennt die Flüche derer dort unten. "Feige Bande - mit Kanonen auf einzelne Soldaten schießen!" Vielleicht hebt der Sergeant ein wenig schuldbewusst die Schultern, - sorry, Boys - aber wer ist zuerst in Afrika wie die Heuschrecken eingefallen? Ich habe nie die Absicht gehabt, hier den Maschinentod zu lenken. Dass wir es tun müssen, verdanken wir eurem Führer. Er hat unseren Waffenindustriellen die Chance des großen Profits verschafft. Dafür machen sie mehr Granaten, als wir je verpulvern können. Und so verpulvern wir. Übrigens ist eine Granate billiger als Ausbildung und Ausrüstung eines Soldaten. Wir Amerikaner verstehen zu rechnen.

Vielleicht denkt der Soldat auch an die zauberhafte Gebirgslandschaft der Betongiganten von Manhattan, aufgeschichtet von Menschenhand, aber hundertmal interessanter als diese Steinwüste hier, dass er jetzt im sprühenden New York das Leben genießen könnte, anstatt sich zu langweilen bei dem "dirty business" gegen diesen Hitler und seine damned Nazis. Der Soldat mag an vieles denken, nur an eines denkt er nicht, dass er in den nächsten Sekunden vor der schwersten Entscheidung seines Lebens stehen wird.

Atemlos sieht Hesse, wie sich Malleck katzengleich vom Überhang herabgleiten lässt. Das letzte Stück muss er springen. Geröll prasselt ihm nach. Der Soldat schnellt von seinem Hocker. Als er sich umwendet, sieht er Malleck, der sich eben aufrichtet, sieht den Dolch in Mallecks Hand, will sich dennoch auf ihn stürzen. Da gewahrt er den Lauf der Maschinenpistole Truffs, der knurrt: "Hände hoch!" Er zögert eine Sekunde. Wenn er den mit dem Dolch angreift, muss der oben schießen, und die Kameraden sind alarmiert. Aber es kostet das Leben. Dieser Gedanke lähmt. Wie viele ist er ein guter Soldat, aber kein Held. Er hat oft genug Filme gesehen mit ähnlichen Situationen. Immer haben die Überrumpelten die Hände gehoben. Es ist idiotisch, sich wegen einer Lesebuchgeschichte den Tod in den Leib jagen zu lassen. Er hat eine Sekunde gezögert, und das ist schon die Entscheidung gewesen. Malleck weist ihm die Richtung und treibt ihn vor sich her.

Jetzt rutscht Truff vom Überhang, wirft Scherenfernrohr und Telefon in den Abgrund und folgt den beiden.

"Na, hat das mal wieder geklappt?" Malleck strahlt Hesse an, der bleicher ist als der Gefangene. "Jetzt kommt deine Arbeit, Söhnchen. Sage ihm, wenn er Fisimatenten macht, kriegt er meinen Dolch in die Rippen."

Hesse tut es und muss sich Mühe geben, dass seine Stimme nicht zittert.

Von drüben sind Rufe und Stimmen zu hören.

"Ab durch die Mitte, ehe sie uns hier einkreisen." Malleck läuft voraus, hinter ihm der Gefangene, dann kommen Hesse und Truff.

Malleck nimmt nicht denselben Weg zurück, hält sich im Felsgewirr unterhalb der Kuppe, das sich lang hinzieht. Es ist ein Umweg, aber sie sind vor jeder Sicht gedeckt.

Malleck läuft, wie von Furien gehetzt. Er will sich den Triumph nicht mehr rauben lassen. Jetzt müssen sie ihn befördern. Er hat ausgeführt, woran keiner da unten geglaubt hat, keiner, auch Unschlitt nicht. Plötzlich erzittert die Luft. Es faucht und orgelt über die vier hinweg, zerbirst weit vor ihnen in krachenden Fontänen von Feuer, Staub und Gestein. Der Höllenlärm nimmt zu, einzelne Abschüsse sind nicht mehr zu unterscheiden, aus dem Himmel fällt ein Vorhang aus Stahl, macht das Tal vor ihnen zu einer Landschaft des Weltuntergangs.

Keuchend bleibt Malleck stehen, sein Gesicht ist verzerrt von Hass und Enttäuschung. "Die Schweine müssen ein Funkgerät im Unterstand gehabt haben. Warum hast du das nicht vernichtet?" herrscht er Truff an. "Jetzt haben wir die Scheiße auf dem Hals!"

"Sie haben befohlen, Telefon und Scherenfernrohr unschädlich zu machen, Unteroffizier."

"Schnauze!", schreit Malleck und wendet sich an den Gefangenen.

"Deine Brüder bilden sich ein, der Feuerüberfall könnte dir helfen? Irrtum, mein Lieber. Ehe ich krepiere, kriegst du zehnmal einen kalten Arsch."

Eher verwundert als erschrocken, zuckt der Gefangene mit den Schultern. "I don't speak german."

"Halt die Fresse!" Malleck schaut sich hastig um. Der Feuerregen nimmt noch zu. Malleck weist zu einer höhlenartigen Ausbuchtung. Alle vier rennen darauf zu. Mit unmissverständlicher Gebärde fordert Malleck dort den Gefangenen auf: "Los, Papiere her, Notizbücher und sonstigen Klimbim."

Hesse übersetzt es, und bereitwillig übergibt der Gefangene seinen Soldier-Pass und die Brieftasche.

"Truff, klopfe ihn nach Waffen ab - und was er sonst nicht herausgerückt hat."

Es finden sich ein Etui mit Füller und Stift, ein Notizbüchlein und ein Portemonnaie. Währenddessen sieht sich Malleck den Pass an. Mühsam buchstabiert er: "J-o-h-n S-i-m-o-n H-a-m-p-s-t-e-a·d. Sergeant ist der Bursche, ein feiner Fang."

Malleck zeigt auf die Uhr mit dem metallenen Elastikband am Armgelenk des Sergeanten. "Hergeben."

Der Gefangene hat schon kopfschüttelnd zugesehen, wie Malleck das andere persönliche Eigentum in die Taschen gesteckt hat. Jetzt sagt er gelassen: "No."

"Hesse, sag ihm, er ist Gefangener und hat zu gehorchen."

Hesse übersetzt und muss dabei schreien. Das Getöse der Detonationen hat zugenommen. Der Feuervorhang ist zu einem Teppich todbringender Explosionen geworden, der das Tal ausfüllt und langsam auf die vier zuwandert. Malleck beobachtet es nervös und streckt die Hand aus. "Wird's bald?"

"That's against the Geneva Convention!" flucht der Sergeant.

Er hat die Lähmung der Überrumpelung überwunden, die er sich nicht verzeihen kann, ebenso wenig wie er diesem Nazistrolch verzeiht, dass der ihn gegen jede Fairness auszurauben gedenkt.

"Was meckert er?" schreit Malleck in das Ohr Hesses, und der schreit zurück: "Er sagt, die Uhr dürfe ihm niemand abnehmen, das verstoße gegen die Soldatenehre und die Genfer Konvention."

Hesse hofft, dass die Erweiterung des Satzes um die Soldatenehre Malleck umstimmen könne, aber er erreicht das Gegenteil. Malleck schäumt. Er reißt die MPi in die Hüfte und brüllt: "Du bist unser Gefangener - und nicht in Genf. Ich zähle bis drei!"

Ohne aufgefordert zu sein, übersetzt Hesse hastig und bittet den Sergeanten eindringlich, jetzt nachzugeben, später würde er die Uhr zurückbekommen.

Sergeant Hampstead hat heute einmal gezögert. Diese Schwäche soll sich nicht wiederholen. Er wird nicht abermals auf einen Bluff hereinfallen.

Mallecks Hirn funktioniert in kaltem Hass. Dieses Schwein tut, als handelt es sich um eine Heldenszene im Theater, will mich zum Hanswurst machen vor den beiden. In wenigen Sekunden krepieren hier die ersten Granaten. Da geht's ums Leben. Ich will befördert werden, nicht verrecken. Dann lieber der. Mit ihm wird die Rückreise sowieso lebensgefährlich. Seinen Pass habe ich und seinen Krimskrams, ebenso klarer Beweis wie ein lebender Ami. Malleck hebt ein wenig den Lauf der MPi. "Also?"

Der Sergeant sieht ihm trotzig ins Gesicht. "No!"

Malleck zählt nicht bis drei. Sein kurzer Feuerstoß geht unter in der Lärmorgie. Mit entsetzt aufgerissenen Augen sinkt der Sergeant um.

"Deckung!" gurgelt Truff, und die drei werfen sich zur Erde, drücken sich hinter schützende Steine. Felssplitter sirren.

Hesse spürt einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf, und die Betäubung überfällt ihn so schnell, dass er den begonnenen Gedanken nicht mehr zu Ende denken kann.

Als er wieder zu sich kommt, reißt er den Stahlhelm herunter und befühlt seinen Kopf. Eine Beule, kein Blut. Wahrscheinlich ein Felsbrocken. Der Stahlhelm hat das Gröbste abgehalten. Hesse hebt ein wenig den Kopf und lauscht. An die hundert Meter entfernt, trommelt das Sperrfeuer ins taube Gestein. Von Malleck und Truff ist keine Spur. Schwerfällig, mit schmerzendem Schädel erhebt sich Hesse und ruft. Nichts, nur das Inferno, das an ein abziehendes Gewitter erinnert, tobt dort hinten. Plötzlich fährt ihm der Gedanke durchs Hirn: der Sergeant.

Er liegt, wie er umgesunken ist, mit blutdurchtränkter Kleidung.

Hesse reißt ihm das Hemd auf und drückt das Ohr an die Brust. Er kann in der Aufregung keinen Herzschlag hören, aber er spürt, da ist noch Leben. Mit fahrigen Händen reißt er die Verbandpäckchen aus dem Brotbeutel, verbindet die Wunde an der Schulter und die oberhalb der Hüfte. Dann ist der Verbandmull aufgebraucht. Mit dem eigenen Hosenträger bindet Hesse den Oberschenkel ab, dessen Wunde am stärksten blutet. Der Sergeant stöhnt auf und kommt zu Bewusstsein. Hesse stützt ihm den Kopf und hält ihm die Feldflasche an die Lippen. Der Sergeant schluckt mehrmals gierig, dann sinkt er wieder in Ohnmacht. Er lebt, hämmert es in Hesse. Heftig wirft er das Koppel neben die Maschinenpistole und rennt los.

Mit rasenden Pulsen steht er vor jenem Ausguck. Funken tanzen ihm vor den Augen, sein Atem ist ein Röcheln, das Herz scheint aufgequollen und droht ihn zu ersticken. Mit zusammengebissenen Zähnen klimmt er hinauf, stellt sich aufrecht auf den Felsen und winkt. "Hello, soldiers, don't shoot! - hello - hello!"

Wo das Scherenfernrohr gestanden hat, sitzt jetzt einer mit einem großen Feldstecher. Er bemerkt Hesse zuerst, und im nächsten Augenblick sieht der Steinwall aus, wie mit Soldatenköpfen bestückt. Gewehre gehen in Anschlag.

"Don't shoot!" Hesses Stimme überschreit sich zu heiserem Krächzen. Er klettert vom Felsen und rennt geradewegs durch die Mulde auf den Steinwall zu. Die Knie werden wie Gummi, vor Erschöpfung stürzt er nieder, japsend, lang ausgestreckt, bleibt er liegen. Kurz darauf ist er umringt. Sie stehen und schauen auf ihn wie auf eine Erscheinung. Ein stämmiger Corporal fragt: "What's the matter with you?"

Stoßweise, in abgebrochenen Sätzen spricht Hesse. Schnell, ganz schnell. Der Sergeant müsse sofort ins Lazarett.

In ihren Gesichtern hockt Misstrauen. Eine Falle der damned Germans?

Ob er sie zum verwundeten Sergeanten führen wolle, fragt der Corporal.

Heftig bejaht Hesse.

Ein Offizier kommt vom Steinwall. Der Corporal meldet ihm, und der Lieutenant erteilt umsichtige Befehle. Sie traben mit Hesse davon. Zwei GIs gehen voraus, in entsprechendem Abstand folgt eine Sicherungsgruppe, die Schnellfeuergewehre im Anschlag.

Als sie den Sergeanten auf eine Trage betten, erwacht er aus seiner Bewusstlosigkeit und deutet Durst an. Der Lieutenant befeuchtet ihm die Lippen. Im Dauerlauf verschwinden zwei Riesenkerle mit dem Schwerverletzten auf der Trage. Die anderen nehmen Hesse in die Mitte und gehen jetzt langsam. Sie geben ihm Zigaretten. Er raucht eine an, hustet die Entschuldigung heraus, dass er Nichtraucher sei. Sie lachen und klopfen ihm auf die Schulter. "You're a honest fellow, aren't you?"

Erster Teil

Uralte Losung sprech ich aus;

ich gebe das Zeichen der Demokratie. Bei Gott!

Ich werde nichts annehmen,

woran nicht ein jeder andere auch seinen Teil haben kann unter den gleichen Bedingungen.

Ein Camp, das es nicht geben darf

Nasser Schnee schmatzte unter ihren Gummisohlen. Der kleine, drahtige Wuntram marschierte neben drei anderen in der ersten Reihe. Er marschierte an der Spitze, ohne dass es ihm streitig gemacht worden wäre. Sie schätzten seine unauffällige Tüchtigkeit.

Ein Pfiff gellte und erstarb, als wäre er es müde, die nässliche Luft zu durchdringen. Der Zug auf dem Gleis neben der Straße dampfte langsam davon. Steif und lahm, waren sie eben ausgestiegen, nach dreimal vierundzwanzig Stunden Fahrt durch den halben Kontinent aus der Niederung des Mississippi hinaus in Gebirgsregionen, durch Wälder, Steppen, Riesenfelder und wimmelnde Städte. Unter den missmutigen Flüchen der Posten hatten sie sich zur Kolonne formiert. Sie marschierten ohne Tritt. Die Gespräche tröpfelten schläfrig.

In der zweiten Reihe, neben Walter Bauer, trottete Heinz Hesse, und hinter ihnen kamen Necke, Buschinski, Hellmann, Dieck und alle anderen, die sich vorgenommen hatten, wie in McLoin auch im neuen PW-Camp wieder zur Kompanie Wuntrams zu gehören.

Melancholisch schaute Hesse der kleiner werdenden Wagenschlange nach. Man war also in Massachusetts. Der Name erinnerte an Indianergeschichten. Sanfte Bodenwellen, mit Tannen und Mischwald bestandene Hügel in der Ferne ließen an Deutschland denken. Doch voraus, wohin sich der Heerwurm der achthundert Kriegsgefangenen auf der glitschigen Asphaltstraße bewegte, da lag ein Stück Amerika, wie sie es bis zum Überdruss kannten, eines der tausend Army-Camps, eine kleine Stadt für sich, bis auf wenige Gebäude aus Holz gebaut, auf dem Reißbrett entworfen und wie von Mister Fords Fließband gespuckt. In der Sonne mochten die Baracken weiß strahlen. Der trübe Novembertag gab ihnen die Farbe des grauen Schnees.

"Weihnachten vierundvierzig also in Fort Heaven", nörgelte Necke, "ich lach' mich tot, wenn wir Weihnachten fünfundvierzig auch noch hier sitzen."

Keiner antwortete. Sie nahmen ihm das Gerede übel.

"Seht mal den da", Buschinski wies nach rechts, wahrscheinlich einer von der Army-Zeitung, Stars and Stripes, der unseren glorreichen Einzug filmt."

Fünfzig Schritte entfernt, stand ein amerikanischer Offizier im schnittigen olivfarbenen Wintermantel. Mit einer Schmalfilmkamera visierte er den Zug der Kriegsgefangenen an. Sie konnten das leise Sirren nicht hören, aber sie sahen den Blick des Objektivs ihre Reihen entlangwandern und Bild um Bild schlucken. Irgendwann würden sie nun in Zeitungsspalten erscheinen oder über eine helle Wand marschieren.

Einige PWs winkten. Der Offizier machte eine abweisende Geste, lief auf steifen Beinen ein Stück voraus und wiederholte die Aufnahme.

Aufmerksam äugend, zogen sie in den Ort ein. Trotz des grämlichen Wetters wirkte er sauberer als McLoin mit seinen schwarzen Dachpappebaracken und den Flocken der Fettkohle, die in der Luft tanzten.

Dieck prophezeite: "Auf uns warten Zelte hinter Stacheldraht."

"Antinazilager hinter Stacheldraht?" Hellmann hob die Augenbrauen. "Schlechter Beginn einer besseren Zusammenarbeit."

Sie hatten zwei Kirchen hinter sich gelassen, das Einkaufshaus, die Feuerwehrstation, das Theatergebäude aus rotem Backstein und den villenartigen Offiziersklub; der Ort lichtete sich. Enttäuschtes Murren durchlief die Reihen. Wahrscheinlich würden sie irgendwo in den Hügeln kampieren müssen.

Dieck sah sich ärgerlich um. "Wann begreift ihr endlich. Versprechungen gehören zur Politik der Amis."

Über Wuntrams Nasenwurzel zeigten sich zwei senkrechte Falten. Er entgegnete nichts, presste den schmallippigen Mund fester zusammen.

"Na bitte!" Dieck wandte sich in pessimistischer Genugtuung an Hellmann. Sie marschierten einem hohen Drahtzaun entgegen, der hier und dort von rohgezimmerten Wachtürmen überragt wurde. Das Tor öffnete sich, Posten mit der Aufschrift Military-Police auf dem blauen Ärmelband hatten sich zu beiden Seiten aufgestellt und zählten die Einmarschierenden.

Die Asphaltchaussee setzte sich als Lagerstraße fort. Der vorausmarschierende Sergeant bog rechts ein und auf dem großen Platz neben einer Spielhalle für Basketball hieß es: Seesäcke absetzen. Fluchend trieben die Posten einige PWs zurück, die sich davonstehlen wollten, um in den verlassenen Barackenstraßen Umschau zu halten.

Wuntram wurde in die Halle gerufen, dann Buschinski und Kressert, die beide ebenfalls gut englisch sprachen.

Hellmann betrachtete die Baracken, sein Optimismus schien berechtigt. "Wenigstens keine Zelte."

"Und den Stacheldraht siehst du nicht, wenn du nicht hinschaust", höhnte Dieck.

Die ersten dreihundert PWs durften im Gänsemarsch in die Sporthalle. Auf dem hohen Podest an der Rückfront trauerte ein schwarzes Klavier. Die PWs standen in Gruppen herum oder hockten auf ihren Seesäcken. Der aufsichtführende Captain gab sich leutselig. Bald wussten alle, er heiße Shelter, sei der Recreations-Officer und werde also für die Lagerkultur und die Kantine verantwortlich sein. Er war groß und rotblond. Unter den farblosen Augenbrauen blitzten pfiffige Augen in einem breitflächigen Gesicht. Betriebsam kamen und gingen GIs, Corporals und Sergeants, übergaben Shelter Zettel und Listen. Alle trugen den Schlips unter dem zweiten Knopf in die sauber gebügelten Kakihemden gesteckt. Verdrossen warteten die PWs. Unvermittelt rief jemand: "Los, Manne - hau mal in die Tasten!"

Manfred Schlitt, ehemals Schauspieler am Stadttheater Magdeburg, schaute fragend zu dem Captain hin. Der nickte gnädig. Schlitt stellte seinen Seesack ans Klavier. Ehe er sich setzte, reckte er sich in selbstironischer Künstlerpose und warf die blonden Haare zurück. Dann entlockte er dem schwarzen Kasten die Rhythmen des Chattanooga-chu-chu. Dankbar für die Abwechslung, applaudierten und pfiffen die PWs. Auch der Captain klatschte. Unermüdlich hämmerte Schlitt amerikanische Schlager. In der Halle schien es wärmer und heller geworden zu sein.

"Jazzt wie ein junger Gott und kann keine Note", sagte Hellmann zu Bauer und Hesse. Hellmann drängte sich zum Podest. Hesse blickte ihm nach. "Typisch Schauspieler - Neid verpacken sie in Lob."

Bauer sah Hesse nicht an. "Ein bisschen sehr verallgemeinert, hm?"

Hesse wurde kratzbürstig. "Hellmann geht mir auf die Nerven. Auf der Bühne spielt er besser als im Leben."

Bauers Lächeln ließ die vom zu wenigen Schlaf geröteten Lidern über den hellen Augen, die strengen Linien seines Gesichts vergessen. "Du selbst hast mir erzählt, was er im Camp Grobber unter den Nazis ausgestanden hat."

"Mehr aus Dummheit und Schwatzsucht."

"Andere sprechen zu wenig."

"Fängst du schon wieder an?" Trotz spiegelte sich im Gesicht Hesses. Er beugte sich nieder und zurrte eigensinnig die Schnur seines Seesacks fester.

Bauer blieb beharrlich. "Ich wette um eine Stange Camel, dass dir irgendetwas passiert ist, womit du nicht fertig wirst."

"Achtung!" rief Wuntram, und die PWs in der Halle nahmen Haltung an. Durch die Seitentür in der Nähe des Podiums war ein Oberst eingetreten. Die PWs erkannten in ihm jenen Offizier mit dem Filmapparat. Captain Shelter machte Meldung, dann wandte er sich an die PWs, Camp-Commander Colonel Stircke wolle sie begrüßen.

Der Oberst las bedächtig vom Blatt. Wuntram übersetzte. Stircke drückte die Überzeugung aus, dass sie sich um eine gute Zusammenarbeit bemühen würden, denn "good will" erzeuge "good feeling". Wohlmeinend erläuterte er, dass er alle PWs als deutsche Soldaten betrachte und demgemäß Disziplin und soldatischen Gehorsam erwarte. Bei der Abreise von McLoin, Mississippi, sei ja wohl darauf hingewiesen worden, dass hier im Nordosten der Vereinigten Staaten ein neues Lager aufgebaut werde, und deshalb sei alles noch ein wenig provisorisch. Sicherlich hätten sich schon die meisten für bestimmte Kompaniesprecher entschieden, deren endgültige Wahl in demokratischer Abstimmung erfolgen werde.

Nun beginnt der Wirbel des Lageraufbaus, dachte Bauer, und da werden Wochen vergehen, bis ich mit Hesse wieder einmal in Ruhe reden kann. Wenn mich nicht alles täuscht, hängt seine flaue Stimmung mit der Quetschmühle zusammen. Von dort ist er nach McLoin gekommen. Schorsch Buschinski hat mir von diesem Fragelager bei Washington erzählt. Aber Hesse spricht nicht darüber. Schade, es würde ihm helfen - bestimmt könnten wir ihm helfen.

Hesse mochte Bauer, doch dessen väterliche Art reizte ihn immer wieder. Die Bemerkung des Älteren führte Hesses Gedanken weit fort von der Ansprache des Colonels. Wenn ich reden würde, dann nur mit Bauer. Aber ich kann es nicht. Ich wäre für ihn erledigt. Er hält etwas von mir. Das ist so seit damals auf dem Truppenübungsplatz Heuberg. Bauer hat einen guten Riecher, und er hat schnell gespürt, dass mich nichts so ankotzt wie Arschkriecherei, wozu einzige Söhne gut situierter Eltern oft neigen. Bauers Offenheit hat mich überrannt. Was ich mir unter einem Kommunisten vorgestellt habe, trifft auf ihn nicht zu. - An die schrecklichen Untermenschen, wie die Nazis sie malten, wollte ich nie so recht glauben, eher Papas Darstellung. Kommunisten sind Radaubrüder ohne Bildung und voller Neid auf alle Bessergestellten, sagte er. Der alte Herr war objektiv. Den Dimitroff nannte er einen tollen Kerl, dem kein Nazi das Wasser reichen könnte. Das war Ende dreiunddreißig beim Reichstagsbrandprozess, und Papa glaubte, ich hörte es nicht. Gerade deshalb sperrte ich die Ohren auf, obwohl ich kaum vierzehn Jahre alt war und kurz vor der Konfirmation stand. Leider wäre Dimitroff eine Ausnahme, stellte der alte Herr fest. Auf dem Heuberg lernte ich in Bauer, die zweite Ausnahme kennen, durch ihn dann noch mehr. Es war bestürzend. Ich glaubte, die Ausnahmen wären längst tot, die Radaubrüder alle umgefallen. Aber neun Jahre nach der Machtübernahme erlebte ich sie konzentriert in unserem Haufen, wobei es ein offenes Geheimnis war, dass es sich hier um eine Strafdivision handelte. Zwar gab es unter ihnen viele, die mich abstießen. Aber ihre gemeinsame Uneigennützigkeit inmitten von Korruption, Heuchelei und Selbstsucht beeindruckte mich. Abschreckend ist nur immer wieder ihre Sturheit. Darin gleicht Bauer allen seinen Genossen. Deshalb werde ich ihm nichts von Eliza erzählen, auch nichts von Mallecks blutbesudelten Pfoten und von meiner Feigheit.

Ein Kommando Wuntrams unterbrach Hesses Grübeln. Der Colonel hatte seine Ansprache beendet. Die ersten dreihundert zogen aus der Halle und an Kressert vorbei, der jedem einen Zettel mit der Barackennummer in die Hand drückte. Draußen standen schon GIs zum Filzen bereit. Jeder PW musste seine Habseligkeiten auf der Erde ausbreiten. Die GIs achteten besonders darauf, dass alle Kleidungsstücke mit einem großen PW in Ölfarbe versehen waren. Dann schnüffelten sie noch nach "Armee-Eigentum" und verbotenem Schriftwerk.

Schadenfroh beobachtete Hesse, wie Hellmann vor einem GI von einem Bein aufs andere trat. Der Soldier mit dem brandroten Haar betrachtete ein Päckchen Postkarten und grinste genüsslich. Endlich schob er die Karten in die Tasche und erklärte ernsthaft: "Pornografie - verboten!"

Hellmann murmelte etwas von persönlichem Eigentum. "

Kannst es ja im Headquarter zurückfordern", frotzelte ihn der GI. Dann trat er zu Hesse. Er schien etwas vom Gesetz der Serie zu halten und forschte augenscheinlich nach Ähnlichem. Als er sich getäuscht sah, wandte er sich fluchend dem Nächsten zu.

Bedauernd rügte Necke den Gefledderten: "Weshalb versteckst du die nackten Weiber nicht besser, wenn du sie schon mit dir herumschleppst."

"Ich hab' sie bei der Kapitulation aus dem Chausseegraben aufgelesen", klagte Hellmann, "und überall durchgebracht, selbst in McLoin, wo wir uns zum Filzen nackend ausziehen mussten."

"Dachtest in Fort Heaven ist so etwas erlaubt?" rief Hesse spöttisch.

Hellmann nahm die Frage ernst. "Sie waren hochkünstlerisch und kein bisschen obszön."

Dieck, bei dem nie jemals Armee-Eigentum oder Pornografie zu finden sein würden, räsonierte: "Immer wieder schmieren sie uns den Hitlersoldaten aufs Butterbrot. Glauben sie, Antifaschisten können keine Ordnung und Disziplin halten?"

Die ständige Krittelei Diecks reizte Hesse, und in bewusst belehrendem Ton erinnerte er an allzu Bekanntes. "Antifaschistenlager gibt es in Amerika nicht, weil zu befürchten ist, es würde Vergeltungsmaßnahmen gegen gefangene US·Soldaten in Hitlerdeutschland auslösen."

"Die Nazis vergelten mit und ohne Angst der Army-Bürokratie, knurrte Dieck.

"Es ist aber besser so für unsere Angehörigen", fand Hellmann. "Die hätten nichts zu lachen, wenn die Braunen wüssten, wir sind in einem Antinazilager."

Erwartungsvoll zogen sie in die angewiesenen Baracken. Unzufrieden waren die PWs, die ein Oberbett bekamen, weil in deren Nähe die Warmluft der Heizung ausströmte und sie ständig in einer Heißluftdusche badeten.

Die haben Sorgen, ärgerte sich Hesse. Es wurde ihm bewusst, und er entschuldigte sich vor sich selbst: Dafür habe ich auch nur knapp einen Meter Lebensraum über mir. Der Himmel meiner Schlafstelle besteht aus den Bodenbrettern des oberen Bettes. Das scheint mir symbolisch. In den anderthalb Jahren ist alles zusammengerutscht. Der erste Tag in amerikanischer Gefangenschaft ist Bestätigung der Wirklichkeit gewesen, wie ich sie erhofft habe - eigentlich noch schöner. Bauer weiß von alldem nichts, aber er ahnt etwas. Er sähe es mit seinen Augen, deshalb versteht er mich nicht. Würde es überhaupt einer von seinen Genossen begreifen? Hesse lauschte auf die plötzliche Stille in dem Holzbau. Lärmend und emsig wie die Ameisen, hatten sie von der Baracke, von ihren Schlafstellen Besitz ergriffen. Jetzt waren sie unterwegs, um die Lage zu peilen. Wo findet sich Holz, dass man sich ein Schränkchen, einen Hocker zimmern kann? Wie sind die Freunde untergebracht? Wo sind die Waschräume? Hesse war es recht, dass ihn das kalt ließ. In sich versunken, hockte er und hing seinen Erinnerungen nach. Erinnerungen können zäh sein wie Kletten. Erinnerungen können quälen, bis sie eingeordnet sind in die berühmte Kausalkette. Dieses Monstrum Amerika wird für mich immer unbegreiflicher. Ist es meine Schuld? Der unwahrscheinliche Anfang der Gefangenschaft ist doch Wahrheit, und ich kann ihn mir nicht oft genug ins Gedächtnis rufen, will ich nicht wie ein Lügner vor mir selbst dastehen. Ich sehe mich noch in der afrikanischen Sonne unter den freundlichen Amerikanern. Der verwundete Sergeant Hampstead befindet sich bereits auf dem Transport ins Feldhospital. Das Notwendige ist getan, jede Abwechslung ist willkommen. Die GIs haben etwas Unerhörtes erlebt. Ein Kraut hat ihren Sergeant niedergeschossen, doch ein zweiter Kraut ist in amerikanische Gefangenschaft gegangen, um das Leben des Sergeanten zu retten. Deshalb überschütten sie Hesse mit ihrem Dank. Die wenigsten führen diesen Krieg aus Begeisterung. Es ist kein smartes Geschäft, auf Menschen zu schießen. Da ist es wohltuend, einem, der es verdient, menschlich gegenübertreten zu können.

Hesse badet sich in der Welle der Sympathie. Er ist einer düsteren Welt entstiegen und in den hellen Tag getreten. Freie Menschen umgeben ihn, Bürger in Uniform, die keine Hemmungen haben, einen Feind zu feiern, weil er als Mensch gehandelt hat. Hesse muss an einen Freund Bauers denken, der erzählt hat, wie ihm zumute gewesen, als er zum ersten Mal den Boden der Sowjetunion betreten hat. Hesse ist überzeugt, das eigene Erlebnis ist größer. Er verachtet Diktaturen. Amerika ist das Land seines Ideals. Und nun empfangen ihn dessen Menschen jubelnd, obwohl er in der verhassten Uniform vor ihnen steht. Das ist amerikanische Größe.

Sie bringen Hesse zu einer geschützten Mulde, wo die kleine Einheit in Zelten haust. Im Zelt Captain Lawsons muss er den Hergang noch einmal erzählen. Die Blicke der GIs hängen an seinem Munde. Sie bewirten ihn mit sagenhaften Dingen wie Bananen, Grapefruits, Schokolade. Manche fragen in einem singenden Amerikanisch, das Hesse kaum versteht. Lawson übersetzt es in sauberes Oxford-Englisch. Schließlich schickt er die GIs hinaus. Er gießt Hesses Trinkbecher voll Kaffee, lehnt sich in seinen Feldsessel zurück und schaut den jungen Deutschen wohlwollend an. "Hatten Sie keine Angst, bei der Rettung Sergeant Hampsteads das Leben zu verlieren?"

Hesse muss überlegen: Hatte ich Angst? Gewiss, um das Leben des Sergeanten. Aber der Captain meint die andere Angst. Hesse hat so viel Heldenkult hinter sich, dass ihn Heroismus anwidert. "Ich hatte Angst - aber bei derartigen Verwundungen darf nicht lange gezögert werden."

Das Gesicht des Captains wird nachdenklich. Der große, stattliche Mann mag eine kleine Fabrik haben. Hesse stellt sich vor, wie Lawson seinen Arbeitern bestimmt und freundlich Anweisungen gibt. Doch dies ist nur ein Gedankenschatten. Viel stärker beschäftigt Hesse die Schandtat Mallecks. Bisher ist keine Zeit gewesen, darüber nachzudenken. Jetzt brodelt das Erlebte in Hesse auf. Er hofft inbrünstig, der Sergeant möge durchkommen. Aber wie auch immer, Malleck ist ein Mörder. Was er dem Sergeanten angetan, hat er Deutschland angetan. Er ist schuldig vor amerikanischen und deutschen Richtern. Sonst wären alle Konventionen fauler Zauber. Zum Glück ist Amerika ein demokratischer Rechtsstaat. Ich werde dem Captain vorschlagen, ein Protokoll über den Hergang ...

In seine Überlegungen fällt die sachliche Stimme Lawsons. "Hätten alle Kameraden Ihrer Einheit so gehandelt?"

Als habe er meine Gedanken erraten, huscht es Hesse durch den Kopf. Auch die deutschen Soldaten stehen bereits in einem Ruf, dass er meine selbstverständliche Handlungsweise als wunder was betrachtet. Hesse bemüht sich ebenso sachlich dagegen zu fragen:

"Sie wissen, dass die Afrika-Schützendivision neunhundertneunundneunzig eine Strafeinheit ist?"

"I know."

"Von den politischen Neunhundertneunundneunzigern hätten wohl die meisten so gehandelt, von den Stammleuten die wenigsten."

"Sie sagen das, obwohl Sie selbst zur Stammmannschaft gehörten?"

"Ich versuche zu sagen, wie es ist." Hesse glaubt einen Augenblick eine Unmutsfalte auf der Stirn Lawsons wahrzunehmen, doch kann es auch ein Irrtum sein, weil der Captain freundlich fragt:

"Wie würden Sie einem Amerikaner erklären, dass Sie - hm - gewissermaßen eine Ausnahme unter den Stammleuten sind, eigentlich kein richtiger Hitlersoldat?"

Die Menschen denken in Kategorien, überlegt Hesse, und da muss denen hier mein Verhalten schwer begreiflich sein. "Ich glaube, es liegt an meiner Erziehung."

"Sind nicht alle Menschen in Ihrem Alter von der Hitlerjugend erzogen?"

"Einige blieben dagegen gefeit, es kam auf die Eltern an. Mein Vater hat nie seine humanistischen Ideale über Bord geworfen. Gekämpft gegen Hitler hat er nicht. Wir haben uns geduckt und nur mitgemacht, wenn es nicht anders ging, im Übrigen unser Familienleben gelebt. Wenn Sie wollen, eine Art innere Emigration."

"So etwas gibt es in Hitlerdeutschland?"

"Ich möchte glauben, darüber ist auch in Ihren Publikationen zu lesen."

Zum ersten Mal lächelt der Captain ein wenig ironisch. "Aber es dämpft die Kampfbegeisterung unserer Soldaten."

Er hat recht, denkt Hesse, von seinem Standpunkt aus hat er recht. Dennoch ist es schade, dass er es sagt und wie er es sagt. Aber er ist als Offizier verantwortlich für das Leben seiner Soldaten. Übergangslos sagt Hesse: "Wenigstens versucht die Army, mit ihren Flugblättern das Gewissen jener Deutschen zu erreichen, die vom Nazismus noch nicht völlig umnebelt sind."

Wieder ist da Lawsons kleines ironisches Lächeln, als er erwidert: "Allerdings mit geringem Erfolg."

"Unserem Kompanieführer waren es noch viel zu viele, die sich aus dem Staube machten."

Der Captain schaut Hesse nicht an, als er mit bitterem Unterton murmelt: "Außer Ihnen ist zu uns noch keiner gekommen."

Die Verwundung des Sergeanten geht ihm sehr zu Herzen, denkt Hesse. Endlich scheint der rechte Augenblick da zu sein, und er fragt: "Sollte man nicht ein Protokoll machen, Sir? Gefangenenerschießung verstößt nicht nur gegen die Genfer Konvention, sondern gegen alle menschlichen Regeln überhaupt."

Der Captain nickt, ein wenig zu schnell. "Selbstverständlich - beim Regiment. Morgen fahre ich nach hinten und nehme Sie mit."

Hesse schwebt die Entgegnung auf der Zunge, ob nicht wenigstens ein Kurzprotokoll ... ," da gießt Lawson den Rest des Kaffees in Hesses Trinkbecher und ermuntert: "Trinken Sie - inzwischen werde ich für Sie ein Zelt anweisen."

Im Zelt liegen saubere Wolldecken auf dem Feldbett und drei "Rations", jene Schachteln in Paraffinverpackung, die selbst lange im Wasser liegen können, ohne zu verderben. Ihr verschiedener Inhalt ist als Morgen-, Mittag- und Abendmahlzeit eingerichtet. Ein Soldat mag monatelang von nichts anderem leben, er wird dennoch keine Mangelkrankheiten bekommen. Welch ein Unterschied zum Kommissfraß der Wehrmacht. Wie viel Gauner haben sich erst ihren Teil genommen, ehe Margarine, Käse oder Wurst in die Hände des Landsers gelangt sind. Betrug mit den "Rations" ist unmöglich, jeder GI würde eine angebrochene Schachtel entrüstet zurückweisen.

Schlafen kann Hesse noch nicht. Ständig stehlen sich GIs in sein Zelt, um ihm etwas zuzustecken und sich mit ihm zu unterhalten. Sie sprechen wie mit ihresgleichen, sind erstaunlich sorglos und alle fest davon überzeugt, dass sie kurz vor dem Sieg in Afrika stehen. Am stärksten beeindruckt Hesse der legere Ton der GIs gegenüber den Offizieren. Seine Sympathie für Amerika wird zur Bewunderung.

Am nächsten Nachmittag bremst ein Jeep vor dem Zelt Captain Lawsons. Hesse steigt ein. Die Soldiers stehen herum. Späße und Segenswünsche fallen wie Sonnenregen auf ihn nieder. Lawson kommt, der Jeep jagt davon. Die Zurückbleibenden winken, bis Hesse ihren Blicken entschwunden ist.

Der Jeep hopst über das Gelände. Der Fahrer lacht, seine Zähne blitzen in der Sonne. Ein Gespräch ist schwierig. Hesse fragt den Captain, ob es möglich sei, Sergeant Hampstead im Lazarett zu besuchen. Lawson nickt. Endlich kommen sie auf einen Weg, von dort auf eine richtige Chaussee, und nun jagt der Fahrer den Jeep bis an die Grenze seiner Tourenzahl. Hesse hält sich fest, dass ihm die Hände schmerzen.

Am späten Nachmittag stoppen sie vor dem Hospital, eine kleine Zeltstadt für sich. Der Captain erfragt Zelt- und Bettnummer Hampsteads. Eine Frau in Schwesterntracht tritt ihnen entgegen, in den Händen einen Umschlag mit Papieren. Sie spricht leise. Der Sergeant sei kurz nach der Ankunft operiert worden, die Krise nach der Bluttransfusion habe er nicht überstanden. Sie habe ihm die Augen zugedrückt.

Wie abwesend steckt Lawson die Papiere Hampsteads ein. Captain und PW stehen mit eng gewordenen Kehlen vor dem Toten unter dem weißen Laken. Lawson nimmt das Schiffchen vom Kopf, seine Lippen bewegen sich, er scheint zu beten. Unwillkürlich blickt auch Hesse zu Boden und faltet die Hände. Er sieht nicht den ersten Toten in diesem Krieg. Der Tod dieses Mannes unter der Leinendecke ist der Gipfel des Sinnlosen. Wenn im Bataillonsstab der absurde Befehl nicht gegeben worden wäre … Wenn Hampstead am Scherenfernrohr nicht allein gewesen wäre … Wenn den Stoßtrupp nicht der beförderungssüchtige Unteroffizier Malleck angeführt hätte ...

Alle Wenn und Aber machen den unter dem Laken nicht lebendig.

Lawson bekreuzigt sich, wendet sich vom Bett und erklärt der Schwester flüsternd, er werde veranlassen, dass der Sergeant mit allen militärischen Ehren beigesetzt werde. Schweigend klettern sie wieder in den Jeep. Hesse beneidet Lawson nicht. Der muss nun einen Brief schreiben. Wie wird er ihn abfassen? Sachlich-amtlich oder menschlich? Schrecken und Schmerz der Familie kann er nicht aufheben, und schriebe er mit biblischer Sprachgewalt. Gehen dem Captain ähnliche Gedanken durch den Kopf? Er zieht die Papiere Hampsteads heraus und blättert darin. Hesse schaut ihm über die Schulter und sieht, der Sergeant ist verheiratet gewesen. Wie wird es die Frau tragen? Hesse versucht sie sich vorzustellen, während er die Heimatanschrift Hampsteads liest. Sinnend schlägt Lawson die Seiten um, Hesse kann nicht mehr sehen, ob Hampstead Kinder hat.

Bald darauf steigen sie vor dem Regimentsstab aus. Er ist in einer weißen Villa untergebracht, die mitten in einem gepflegten Park liegt. Wahrscheinlich der Herrensitz eines reichen Pflanzers. Hesse muss beim Wachhabenden in einer Art Pförtnerzimmer des Souterrains warten.

Hesse muss lange warten. Wer und was ist dieser Sergeant gewesen? Trifft sein Tod eine arme oder eine reiche Familie? Würde er Boston kennen, die Gegend, in der die Hampsteads wohnen, ließe sich ungefähr ihre soziale Stellung herleiten. Einen Augenblick ist Verwunderung in Hesse, dass ihn das Schicksal des toten Sergeanten stärker berührt als das einiger gefallener Kameraden. Ist es, weil ich hier nichts anderes tun kann als grübeln? Sie sind den sogenannten Soldatentod gestorben. Hampstead ist als Gefangener niedergeschossen worden. Ich habe es nicht verhindern können, ich habe ihn zu retten versucht. Weshalb quält es mich trotzdem? Könnte ich nach Boston, ich würde es seiner Frau sagen. Würde es ihr helfen?

Am späten Abend kommt ein GI mit der Armbinde der Military-Police und winkt, Hesse solle ihm folgen. Wieder fahren sie über glatten Asphalt nach Westen. Zur Vernehmung, glaubt Hesse und findet, Lawson hätte wenigstens noch einmal hereinschauen können. Fröstelnd drückt sich Hesse in die Ecke des Jeeps. Die Hitze ist umgeschlagen in Kühle. Die Luft scheint dünn und klarsichtig. Gelb hängt der Mond über dem Horizont, groß wie in der Heimat. Die Silhouette einer größeren Stadt wird immer deutlicher. Ist es Constantine? Dann wären sie schon in Algerien. Die Stadt liegt auf einem Hügel und wächst höher und höher aus der Ebene. Filigran der Türme und Minarette. Unverhofft dort oben der Aquädukt wie ein zu kühn erdachter Scherenschnitt. Es ist so märchenhaft, denkt Hesse, dass ich begeistert wäre, wüsste ich, wohin es geht. Er fragt den Posten. Der sitzt, das Gewehr zwischen den Knien, und zeigt deutlich, dass er nicht wünscht, angesprochen zu werden. "I don't know", ich weiß nicht, brummt er.

Es ist schon Nacht, da wird Hesse in einer Baracke abgeliefert.

Der wachhabende Master-Sergeant ist um keinen Deut zugänglicher als der Posten im Jeep. Telefonisch beordert er einen GI herbei. Der setzt sich mürrisch an die Schreibmaschine und spannt den vorgedruckten Personalbogen für alle PWs ein. Hesse spricht englisch. Die beiden scheinen ein wenig freundlicher, da alles so schnell und glatt geht. Dann muss Hesse seine Fingerabdrücke in die vorgeschriebenen Felder setzen, und für Hesses Bravheit erklärt der Master-Sergeant, in den Staaten werde alles noch einmal geprüft und eventuell vervollständigt.

Er habe eine wichtige Aussage zu machen, erwidert Hesse. Der Master-Sergeant telefoniert schon nach einem Posten und nickt. "Okay, Boy - hinterm Atlantik wird man darüber erfreut sein."

Der Posten führt Hesse durch ein riesiges Zeltlager und übergibt ihn einem deutschen Oberleutnant. Verschlafen stellt auch der die üblichen Fragen. Als er Division 999 hört, rümpft er die Nase. Hesse verzichtet darauf, zu betonen, dass er zur Stammmannschaft gehört hat. Ein Gefreiter im Braungelb der Uniform des Afrikakorps bringt ihn zu einem Viermannzelt. Die drei schlafenden Insassen grunzen ärgerlich, als sie zusammenrücken müssen.

In den nächsten Tagen hat Hesse Zeit, viel Zeit zum Nachdenken. Nach dem nächtlichen Erlebnis mit dem Master-Sergeant scheint es unsinnig, noch einmal auf eine Vernehmung zu dringen. Bisher hat er geglaubt, die Amerikaner würden darauf brennen, so viel wie möglich von den Gefangenen zu erfahren. Warum nun das Entgegengesetzte? Es muss einer ein besonderes Interesse daran haben. Langsam setzt sich in Hesse die Gewissheit fest, dass es Lawson ist. Hesses Aussagen würden dem Captain als verantwortlichem Offizier der Einheit auf der Bergkuppe Unannehmlichkeiten schaffen. Es käme dabei heraus, dass es dort oben mehr schlampig als vorschriftsmäßig zugegangen ist. Deshalb hat sich Captain Lawson nicht mehr blicken lassen. Er hat einen unbequemen Mann abgeschoben.

Innerhalb des Zeltlagers führen die deutschen Offiziere das Kommando. Zwei Tage nach Hesses Ankunft werden sie in ein Offizierslager gebracht und übergeben ihre Macht den unteren Chargen, vom Stabsfeldwebel abwärts bis zum Unteroffizier. Innerlich friert Hesse und möchte es nicht wahrhaben: Die deutsche Barrashierarchie bleibt unversehrt - auch in der Gefangenschaft.

Es kommen die Tage der Kapitulation des Afrikakorps. Einige Zeit lang behaupten die Nazis im Lager: Ammenmärchen der Amerikaner als Rache für eine mächtige Schlappe, die sie bei Tunis durch eine eingeflogene deutsche Heeresgruppe erlitten haben. Als dann die Wahrheit hartnäckig ins Lager sickert, ziehen sich die Lügenmeister auf die Weisheit zurück: Noch ist nicht aller Tage Abend. Wir holen uns alles wieder - auch Afrika.

Kurze Zeit nach der Kapitulation bringen lange Konvois schneller Dreiachser die Gefangenen in die Nähe der Küste, um für die Massen neuer Gefangener Platz zu machen, und Hesse landet im Lager IX bei Oran ...

Die mit Gaze bespannten Zwischentüren der Baracke klappten, Kameraden kamen von ihren Erkundungsgängen zurück, tauschten ihre Meinungen aus.

Lager neun bei Oran ... Hesse versuchte, den Albdruck: fortzuschieben. Aufmerksam schaute er Knospe zu, dem Kameraden mit der Schlafstelle rechts neben Hesse. Knospe hatte mehrere Bretter mitgebracht, maß und rechnete mithilfe eines 30-Zentimeter-Lineals. Sie kannten sich seit McLoin. Knospe war wortkarg. Ohne sein Hantieren zu unterbrechen, bemerkte er: "Wenn erst Küchen und Kantine mehr Holz bringen, baue ich dir auch ein Schränkchen."