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Die verborgene Kammer E-Book

Corinna Kastner

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Beschreibung

Aus heiterem Himmel erbt die Schriftstellerin Viktoria die Hälfte der Kranichburg, eine Villa an der mecklenburgischen Ostseeküste. Sie kennt weder den Erblasser, noch kennt sie den Mann, der die zweite Hälfte des Hauses zugesprochen bekommt. Die Voraussetzung: Viktoria und der attraktive Miterbe müssen zwei Monate gemeinsam in der Villa verbringen. Nach und nach kommen die beiden dabei der ergreifenden Geschichte der Kranichburg auf die Spur, eine Geschichte, die längst vergessen schien.

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Corinna Kastner

Die verborgene Kammer

Roman

Gewidmet allen, die dafür Sorge tragen,dass die Einmaligkeit des Fischlandes bewahrtund die Erinnerung an seine Geschichte lebendig gehalten wird,undmeinem Mann Jörg,der es mit mir »entdeckt« hat.

Sommer 1992

Über die Staffelei hinweg schweift mein Blick zum offenen Fenster. Was für ein strahlendes Blau! Genau diesen Ton muss ich treffen, er ist perfekt. Perfekt für den Tag. Perfekt für das Bild.

Wann habe ich das letzte Mal etwas so gemalt, wie es wirklich aussieht? Habe ich nicht jahrzehntelang nur das abgebildet, was ich tief in meinem Innern sah? Welche Düsterkeit … Nie gab es ein strahlendes Blau wie jenes, das ich jetzt auf meiner Palette mische und auf die Leinwand bringe.

»Oh, hier bist du!«

Seine Stimme kommt von der Tür. Ich bin nicht überrascht, obwohl ich ihn weder erwartet noch seine Schritte gehört habe. Langsam drehe ich mich um, meine Bewegungen längst nicht mehr so flink wie einst, meine Knochen so alt. Aber da steht er, und ich vergesse mein Alter. Wie sehr ich mich immer über seine Besuche freue! Er tritt näher und betrachtet, was ich geschaffen habe.

»Das gefällt mir. Ein wundervoller Blick aus dem Fenster. So leicht und heiter. Du solltest dieses Bild aufhängen, statt es wie die anderen wegzuschließen.«

Ich muss lächeln, weil er genau das sagt, was ich selbst eben dachte. »Dann soll es so sein. Aber letztlich hast sowieso du das zu entscheiden.«

»Ich?«, fragt er verwundert. »Warum, willst mir das Bild schenken?«

Jetzt lache ich. Es klingt noch ungewohnt. Bevor er kam, habe ich nie gelacht. »Das Bild und das ganze Haus. Ich bin eine alte Frau – nein, nein, sag bloß nicht, dass ich noch mal hundert werde!«

Er verzieht den Mund zu einem spöttischen Lächeln, das mich stets an ein anderes Gesicht erinnert.

»Was ich damit sagen will«, fahre ich fort, »ich besitze außer diesem Haus und seinem Inventar überhaupt nichts. Das Geld zum Leben bekomme ich von meiner … Familie.« Ich weiß, dass dieses Wort einen bitteren Beiklang hat, doch das kann ich nicht ändern. Will es gar nicht ändern. »Aber die Kranichburg gehört mir, und wenn ich sterbe, gehört sie dir. Kein Widerspruch!«, sage ich entschieden. »Dafür wünsche ich mir nur eins: Du hast schon eine Menge erfahren, finde auch noch den Rest heraus. Das, was am wichtigsten für mich ist.«

»Aber ich habe deiner Tochter versprochen …«, wendet er ein.

»Papperlapapp!«, unterbreche ich ihn ungeduldig. »Es ist immer nach dem Willen meiner Familie gegangen. Dieses eine Mal wird sie mir keinen Strich durch die Rechnung machen.«

Er sieht mich an, als wolle er sagen, das alles liegt doch schon so lange zurück.

»Natürlich liegt das lange zurück. Aber wolltest nicht auch du die Wahrheit wissen? Warst nicht auch du auf der Suche nach … seinem Schicksal?« Ich habe versucht, den Namen auszusprechen, ich habe es wirklich versucht. Es ist mir nicht gelungen, ich kann es nicht. Wann habe ich es zuletzt getan? Ich habe es vergessen. Es ist sehr, sehr lange her. Ich seufze. »Vielleicht können wir uns auf etwas einigen. Du wirst dein Versprechen meiner Tochter gegenüber halten, wie du gesagt hast: Solange du lebst. Doch wenn du mir irgendwann nachfolgst – oder nein«, unterbreche ich mich. »Du wirst mir bestimmt nicht nachfolgen. Ich werde da unten hingehen, du kommst nach oben.«

Sein raues Lachen erfüllt das Zimmer. Aber er weiß, worum ich ihn bitte, und mein kleiner Scherz, der ernster gemeint ist, als er denkt, hat seinen Zweck erfüllt. Er ist einverstanden.

»Gut. Ich werde mir etwas einfallen lassen!«, verspricht er.

»Danke. Nun lass uns auf die Veranda gehen und Eistee trinken, das wird uns erfrischen bei der Hitze. Es gibt da nämlich etwas, das ich dir bisher verschwiegen habe. Und es wird Zeit, dass jemand es erfährt.«

Er hebt die Brauen, erstaunt, vielleicht gespannt, was ich wohl meine. Bis vorhin, bis er in der Tür stand, war ich mir selbst nicht sicher, ob ich so weit gehen würde. Jetzt weiß ich, dass es richtig ist. Es muss sein. Nicht nur für ihn, auch für mich – und für sie. Ich kann nicht sterben, ohne es jemandem anvertraut zu haben.

Vorsichtig, Stufe für Stufe, gehe ich die lange Treppe hinunter, an deren Fuß ich kaum merklich zögere. Ich sehe auf den Boden, auf das abgenutzte, zerkratzte Parkett, das nichts mehr von dem verrät, was sich einst hier abgespielt hat. Ich höre ihn hinter mir, rasch blicke ich auf und gehe weiter zur Küche, wo ich den Eistee aus dem Kühlschrank hole. Er nimmt mir den schweren Krug ab und trägt ihn hinaus, während ich nach den Gläsern greife und ihm folge.

Die Veranda wirkt verwahrlost, ähnlich wie der Garten. Alles ist überwuchert von wildem Grün. Jemand müsste kommen und den Rasen mähen, die Bäume stutzen, Ordnung in die Blumenrabatten bringen, aber eigentlich mag ich es so, wie es ist. Hinter dem Deich ist das Rauschen der Wellen zu hören, über uns segelt eine Möwe.

Wir setzen uns auf die Holzbank, er schenkt den Eistee ein und wartet geduldig. Während ich überlege, wie ich beginnen soll, beobachte ich die Wassertropfen, die sich außen am Krug und an den Gläsern bilden. Sie werden größer, laufen zusammen, einem Rinnsal gleich, und bilden eine kleine Lache auf dem Holztisch. Eine Pfütze.

Eine Pfütze.

Ein anderes Bild schiebt sich vor meine Augen. Eine andere Pfütze – größer, dunkel, schmutzig, schlammig.

Plitschplitschplitsch … Das Geräusch verfolgt mich noch heute. Ich möchte es aussperren. Aber ich darf es nicht. Ich bin hier, um die Erinnerung zuzulassen und sie zu teilen. Ohnehin ist es, als wäre das Geräusch auf ewig in meinem Kopf eingebrannt.

Ich höre es unter mir. Plitschplitschplitsch. Jedes Mal wenn meine Füße den Boden berühren.

Der ganze Weg schien aus Pfützen zu bestehen, der Saum meines Mantels und sogar der meines Kleides darunter waren vollkommen durchnässt, ebenso meine Schuhe. Ich wollte nur nach Hause, endlich nach Hause, in die Stille meines Zimmers. Ich durfte nicht darüber nachdenken, was ich gerade getan hatte. Ich verbot mir die Worte. Ich hatte es getan. Und ich wollte es vergessen. Einen Augenblick lang blieb ich stehen, starrte hinauf in den schwarzen Himmel, spürte Panik in mir hochkriechen, weil mir nun, wo es hinter mir lag, klar wurde, was mich als Nächstes erwartete.

Auch das wollte ich vergessen, aber das war unmöglich. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Plitschplitschplitsch. Endlich stieß ich die Gartenpforte auf. Die Kranichburg lag dunkel da, nirgends brannte Licht. Zitternd suchte ich nach dem Schlüssel. Zu spät wurde mir bewusst, dass ich keine Handtasche bei mir trug. Wo hatte ich den Schlüssel? Wo war er nur? Fort. Ich hob die Hand, um an die Tür zu hämmern, doch niemand würde mir öffnen. Tränen der Verzweiflung liefen meine Wangen hinunter. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Tür – und sie gab nach. Ich hatte sie beim Hinauslaufen nicht richtig geschlossen.

In der Diele war es finster, ich sah kaum die Hand vor Augen. Dennoch wusste ich, was sich mir offenbaren würde, sobald ich eine Lampe entzündete. Ich wollte es nicht sehen.

Regungslos verharrte ich im Dunkeln. Es war still, so entsetzlich still. Ich hörte mich atmen – viel lauter als gewöhnlich. Ich hörte sogar mein Herz schlagen.

In diesem Moment brach der Mond durch die Wolken und tauchte die Diele in ein unwirkliches Licht. Mit einem Mal lag alles deutlich vor mir. Das Holz und die Gemälde an den Wänden, der riesige Leuchter an der Decke, die offene Tür zum Salon, die zu Papas Arbeitszimmer, daneben die Treppe und an deren Fuß …

Hatte mein Herz eben noch laut geschlagen, so blieb es nun stehen. Es schien eine Ewigkeit lang auszusetzen, als mein Blick unweigerlich auf das fiel, was am Fuß der Treppe lag. Eine Gestalt in einem Nachthemd, der Körper verdreht, der Kopf mit dem langen gelösten honigblonden Haar beinah sanft auf einem angewinkelten Arm gebettet.

Ich hatte es gewusst. Und doch auf ein Wunder gehofft. Darauf, dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Dass es einfach nicht wahr war.

Ich schrie auf und rief ihren Namen.

In meiner Erinnerung höre ich ihn noch heute, diesen Schrei, die beiden lang gezogenen Silben, die gequält über meine Lippen drangen. Als könne meine Stimme sie wieder zum Leben erwecken.

Teil 1

August 2007

1.

Viktoria lugte zwischen den Bücherregalen hindurch auf die große bestuhlte Fläche in der Mitte der Buchhandlung. Die Veranstaltung begann erst in einer Dreiviertelstunde, warum machte sie sich Gedanken, weil bisher nur ein paar Leute dort saßen? Draußen lockte die Sonne. Jeder, der sich dafür entschied, den Abend in der Buchhandlung statt in einem Straßencafé der Altstadt, am Hafen oder auf der Promenade am Strelasund zu verbringen, würde bis zur letzten Minute warten.

Viktoria wusste das, genauso wie sie wusste, dass ihre Lesungen bisher immer so gut wie ausverkauft waren. Aber hier? Sie war in Stralsund, an der Ostsee, die verlockende Insel Rügen vor der Tür. Wer würde freiwillig darauf verzichten, um sie zu hören?

Die Miss-Marple-Melodie, die in diesem Moment in ihrer Tasche zu dudeln begann, ließ sie zusammenfahren. Peinlich berührt, wie fast jedes Mal, wenn ihr Handy sich in der Öffentlichkeit bemerkbar machte, schaute sie auf das Display.

»Hallo, Melli!«

»Na, wie sieht’s aus?«, erklang Melanies gut gelaunte Stimme. »Wie viele Stühle sind besetzt?«

Viktoria unterdrückte ein Lachen. Ihre Freundin kannte sie zu gut. »Drei. Wen wundert’s? Wenn du diese fantastische Stadt sehen könntest, wärst du auch lieber sonst wo statt in einer Buchhandlung.«

»Quatsch! Stralsund haben die Leute da jeden Tag vor der Nase, dich nur heute. Das füllt sich noch, glaub mir!«

Viktoria nickte, als könnte Melli das am anderen Ende sehen. »Wenn du das sagst.« Mit dem Handy am Ohr wandte sie sich um und schlenderte in Richtung Ausgang. Sie konnte es ebenso gut machen wie alle anderen und sich einen Cappuccino gönnen, bevor es losging. »Was macht denn dein großer Fall?«

Melanie seufzte verhalten. »Frag lieber nicht. Manchmal denke ich, ich hätte mich auf Steuerrecht oder was ähnlich Aufregendes verlegen sollen. Diese Familiensachen rauben einem den letzten Nerv.«

Du schaffst das schon, wollte Viktoria sagen. Stattdessen blieb ihr Blick an dem Mann haften, der ihr entgegenkam. »Der ist ja wirklich anhänglich«, murmelte sie.

»Was?«, fragte Melli verdutzt.

»Ach nichts.« Viktoria drehte sich weg und tat, als würde sie die Regionalliteratur im Regal vor ihr betrachten. »Es ist nur – sieht aus, als hätte ich hier oben im Norden einen speziellen Fan. Der Mann, der gerade reinspaziert kam, war bisher auf jeder Lesung. Es muss doch sterbenslangweilig sein, immer dasselbe zu hören.«

»Wahrscheinlich kommt er deinetwegen und nicht wegen deiner Bücher. Wär ja eine eher ungewöhnliche Lektüre für Männer. Sieht er gut aus?«

Viktoria lächelte in sich hinein. »Würde ich sagen, ja. Immer noch. So richtig attraktiv war er vermutlich vor etwa vierzig Jahren.« Sie trat hinaus auf die belebte Ossenreyerstraße.

»Tatsächlich? Vielleicht weckst du väterliche Gefühle in ihm.« Melli kicherte.

»Sehr witzig. Wieso gehst du davon aus, dass er an mir und nicht an meinen Romanen interessiert ist? Soll ja auch Männer geben, die hin und wieder ein Buch in die Hand nehmen, obwohl das so oft vehement bestritten wird.«

»Aber sicher nicht Familienromane. Es sei denn natürlich, es handelt sich um Thomas Mann.«

Viktoria konnte sich Mellis ironischen Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen. »Vielleicht. Aber eins lass dir gesagt sein, er würde prima in meine Bücher passen, und zwar als Patriarch par excellence.« Seine markanten Züge, die blauen Augen, die eisgrauen Haare, seine große Gestalt und die kerzengerade Haltung verliehen ihm beinah was Aristokratisches. Trotzdem war da etwas an ihm, das Viktoria irritierte. Möglicherweise hatte es mit seinem Blick zu tun. Meist saß er in der dritten oder vierten Reihe, rührte sich nicht, während sie las, und schien durch sie hindurchzustarren. Wenn die Lesung und die anschließende Fragerunde beendet waren, stand er auf und ging. Langsam, sodass sie schon gedacht hatte, er sei krank. Immerhin hatte er ein gewisses Alter erreicht, irgendwo in den Siebzigern, schätzte sie, wenn nicht gar älter.

»Viktoria? Bist du noch dran?«, unterbrach Melli ihre Gedanken.

»Ja, bin ich. Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Gar nichts. Ich hab gespannt gewartet, was die wortgewaltige Autorin mir über ihren nächsten Romanhelden erzählen wollte.«

Merkwürdigerweise verspürte Viktoria überhaupt keine Lust, weiter über den Fremden zu sprechen. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Stell dir einen Typ wie Cary Grant vor.«

Melli lachte. »Alles klar. Du, ich muss Schluss machen, mein Mandant ist gerade gekommen. Wir sehen uns übermorgen, ja?«

»In Ordnung. Bis dann.« Viktoria steckte das Handy ein und dachte an die bedauernswerte Melanie, die in Hannover in ihrer Kanzlei saß und sich mit einer Scheidung, einer Sorgerechts- oder einer Erbschaftssache befassen musste, statt hier zu sein, wo man die See riechen konnte. Das war der Preis dafür, eine gefragte und extrem gut verdienende Rechtsanwältin zu sein. Viktorias Konto sah zwar keineswegs beunruhigend aus, ihre Buchhonorare konnten es aber nicht mit den Anwaltshonoraren ihrer Freundin aufnehmen. Dafür genoss sie andere Freiheiten, die ihr wichtiger waren – zum Beispiel Lesereisen wie diese, die sie durch den ganzen Norden Deutschlands geführt hatte. An fremden Städten und Landschaften konnte sie sich nicht sattsehen, und sie freute sich darauf, Stralsund weiter zu erkunden, bis sie sich mit Melli auf dem Fischland, etwa sechzig Kilometer von hier, zu einem Kurzurlaub treffen würde.

Viktorias Magen begann zu knurren, sie hatte seit dem späten Frühstück in Greifswald nichts mehr gegessen. Suchend schaute sie die Straße hinunter, wobei ihr Blick an der Nikolaikirche hängen blieb. Der doppeltürmige Bau aus rotbraunem Backstein ragte hoch empor, als besonderes Merkmal fehlte die nördliche Turmspitze, was der Kirche ein verwegenes Äußeres verlieh. Es passte in die Stadt – wie ein Pirat mit einer Augenklappe. Diese Formulierung sollte sie sich merken, falls sie je einen Roman schreiben würde, der in Stralsund spielte. Was gar nicht so abwegig war bei dieser zauberhaft schönen Stadt, die bestimmt eine prachtvolle Kulisse für eine groß angelegte Familiensaga bot. Während Viktoria ernsthaft darüber nachzudenken begann, ob sie die Handlung zur Zeit des Beitritts zur Hanse Ende des 13. Jahrhunderts ansiedeln sollte oder doch lieber in der Schwedenzeit ab dem 17. Jahrhundert, entdeckte sie gegenüber an einem Geschäft den originellen Namen Störte-Bäcker. Sie kaufte ein Stück Mohnkuchen, das sie sich gar nicht erst einpacken ließ, sondern auf die Hand nahm und aß.

Den Gedanken an den Cappuccino gab sie auf. Lieber wollte sie noch ein bisschen durch die Straßen laufen. Weit kam sie nicht, nur bis zum Rathaus, das mit der Nikolaikirche zu einer Einheit aus norddeutscher Backsteingotik verschmolz. Viktoria hielt die Luft an, als sie auf dem Alten Markt stand und an der Schaufassade hochsah. Sie zählte sieben Türmchen mit sechs Giebeln dazwischen, in denen kreisrunde und darunter doppelte Spitzbogenfensteröffnungen eingelassen waren, durch die sie direkt in den blauen Himmel schauen konnte.

Plötzlich hörte Viktoria eine Uhr schlagen und schreckte aus ihren Betrachtungen auf. Es wurde höchste Zeit. Mit einer ersten Idee für einen Roman im Kopf machte sie sich auf den Rückweg. Dabei nahm sie flüchtig die Gestalt des alten Herrn wahr, der sie so beharrlich auf ihrer Lesereise begleitete. Einen Augenblick lang glaubte sie, er habe sie bei ihrem Spaziergang beobachtet. Viktoria schüttelte über sich selbst den Kopf und betrat die Buchhandlung.

Der alte Mann bewegte sich ganz sachte auf dem harten Stuhl. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Vielleicht hatte er bereits zu lange gewartet, aber er wollte nicht von seinem Plan abweichen. Was er sich einmal vornahm, führte er durch. So war es immer gewesen, so würde es bleiben. Bis zum Schluss. Verhalten stöhnte er auf, darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Weder die der Frau neben ihm noch die von Viktoria Brand, deren Blick ihn ab und zu unsicher streifte. Ihm war klar gewesen, dass sie ihn bemerken würde, vor allem, da er einer der wenigen Männer im Publikum war. Nicht nur heute, sondern jedes Mal, was ihn ein wenig amüsierte.

Die erste Hälfte der Lesung war vorbei, gerade begann Viktoria mit der Stelle, an der Liliana bemerkte, dass sie im Familienunternehmen ausgebootet werden sollte und von wem. Er hatte das Buch gelesen, ebenso wie Viktorias frühere Romane. Ihre Geschichten waren spannend erzählt, und, soweit er es beurteilen konnte, historisch korrekt, ihre Figuren lebendig. Und doch … Etwas fehlte, sobald es um das Thema Liebe ging.

Wieder durchfuhr seinen Körper ein schmerzhafter Stich. Lange würde er nicht mehr aushalten. Er hätte besser darauf verzichtet, Viktoria bei ihrem kleinen Abstecher zum Alten Markt zu folgen, und sich stattdessen ausruhen sollen.

Er versuchte, sich auf die Lesung zu konzentrieren, auf Viktoria, ihr Gesicht, ihre Stimme, und er registrierte erstaunt, dass sie bereits den Schlussteil las. War er so lange abgelenkt, mit den Gedanken ganz woanders gewesen? Offenbar. Er hörte den Applaus aufbranden. Ihm kam es vor wie ein Rauschen, ein ganz anderes Rauschen, wie das des Meeres. Er sah sich am Kopfende der Seebrücke stehen, erfüllt von einer stillen Trauer, die gemildert wurde von dem Wissen, dass am Ende des Lebens doch alles so kam, wie es sollte. Musste. Vorherbestimmt war? Nein. Das nicht.

Der alte Mann richtete sich auf und beobachtete Viktoria, wie sie Fragen beantwortete, manchmal nachdenklich die Stirn krauste, manchmal lachte, manchmal zur Untermauerung ihrer Worte heftig gestikulierte.

Nichts war vorherbestimmt. Man musste das Schicksal schon selbst in die Hand nehmen.

»Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!«, verabschiedete sich Viktoria von ihren Zuhörern. Während der Lesung war ihr Blick ab und zu unauffällig zu dem älteren Herrn hinübergehuscht, der wie immer in der dritten Reihe saß und – ebenfalls wie immer – anschließend kein Wort an sie richtete. Jetzt versuchte sie, ihn in der Menschentraube auszumachen, aber er schien bereits verschwunden zu sein. Sie blieb noch am Tisch sitzen, um Bücher zu signieren oder weitere Fragen zu beantworten, die trotz der lebhaften Diskussion über ihren Roman Das letzte Leben der Liliana noch gestellt werden mochten. Der Austausch mit dem Publikum gefiel ihr und machte ihr fast mehr Spaß als das Lesen selbst. Es war eine nette Abwechslung zu ihrer eher einsamen Tätigkeit vorm Computer.

Nachdem die letzte Leserin gegangen war, legte Viktoria ihren silbernen Kugelschreiber, ein Geschenk ihrer Eltern, den sie auf jede Lesung wie eine Art Glücksbringer mitnahm, sorgfältig in ihre Tasche zurück. Noch einmal trank sie einen Schluck Wasser, bevor sie aufstand und sich an Frau Roth wandte, die Leiterin der Belletristik-Abteilung. »Haben Sie herzlichen Dank für den gelungenen Abend. Sie müssen viel Werbung gemacht haben, um die Leute bei dem Wetter heute herzulocken.«

»Wir hatten keine Bedenken, dass die Sonne etwas ändert. Die Stralsunder sind begeisterte Leser.«

»Das freut mich!« Viktoria wollte gerade hinzufügen, dass sie schon daran gedacht hatte, einen Roman genau hier anzusiedeln, als sie merkte, dass Frau Roth an ihr vorbeisah.

»Ja bitte? Können wir Ihnen helfen?«, fragte sie jemanden hinter ihr.

Viktoria drehte sich um – und stand vor »ihrem« Patriarchen.

»Verzeihung«, sagte er mit einer leisen, ein wenig heiseren Stimme. »Ich wollte Sie nicht stören. Ich kann gern warten.« Dabei schaute er Viktoria unverwandt an, ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.

Ihr fiel ein, was Melli eher scherzhaft gesagt hatte, ob der Mann ihr väterliche Gefühle entgegenbrachte, aber das hielt sie für unwahrscheinlich. Er wirkte trotz seines Lächelns distanziert. Viktoria war überrascht, dass er sie heute endlich ansprach, und neugierig. Sie wollte nicht riskieren, dass er verschwand, solange sie mit Frau Roth sprach.

»Sie stören überhaupt nicht«, sagte sie etwas befangen.

Er zögerte, als müsse er sich erst überzeugen, dass sie meinte, was sie sagte, und nickte schließlich. Viktoria deutete auf das Buch, das er in beiden Händen hielt. »Darf ich das für Sie signieren?«

»Das wäre sehr freundlich.« Er gab ihr den Roman. »Würden Sie bitte Für Johanna hineinschreiben?«

»Gern«, sagte Viktoria. Er war immer allein gekommen, und sie wunderte sich, dass sie es jemandem anders widmen sollte. Aber vielleicht war es Johanna ja nicht möglich, selbst zu kommen. Sie reichte ihm das Buch zurück. »Ist Johanna Ihre Frau? Oder Ihre Tochter?«

Der Mann antwortete nicht sofort, stattdessen sah er sie an, als wolle er sich ihr Gesicht einprägen. Mehr als das, als würde er auf den Grund ihrer Seele schauen und dort etwas suchen. Der Gedanke verstörte Viktoria, sie wollte ihn abzuschütteln, aber sein Blick war derart intensiv, dass sie ihm nicht ausweichen konnte. Schließlich brach etwas den Bann, ein Schatten zog über sein Gesicht, ganz kurz nur, bevor er wieder lächelte.

»Danke. Haben Sie vielen Dank. Viktoria.«

Er drehte sich um und ging langsam davon. Kerzengerade und würdevoll. Wie ein Abgang beim Theater, dachte Viktoria. War er mal Schauspieler gewesen? Das hätte zu seinem Auftreten gepasst, das wie inszeniert wirkte – und doch auch wieder nicht. Ein bemerkenswerter Mann.

Sie starrte ihm hinterher, beobachtete, wie er auf die Straße trat, und wusste plötzlich, dass sie ihn nie wiedersehen würde, wenn sie ihn jetzt gehen ließ. Sie konnte nicht sagen, weshalb sie es so wichtig fand, mit ihm zu reden, wichtiger als ein paar nette Abschiedsworte an die Abteilungsleiterin, wichtiger als alles, was ihr in den Sinn kam. Vielleicht weil er sie eben Viktoria genannt hatte, als würde er sie kennen.

»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie zu der verblüfften Frau Roth und hastete dem Mann hinterher. Draußen sah sie ihn gerade noch um die Ecke in die Heiliggeiststraße biegen. Sie lief schneller, um ihn einzuholen. Zu spät. Gerade als auch sie um die Ecke bog, stieg er weiter vorn in ein Taxi, das offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Hilflos hob sie die Arme, um es aufzuhalten, aber der Fahrer nahm keine Notiz von ihr und fuhr davon.

Im Seitenspiegel sah der alte Mann Viktoria auf der Straße stehen und geriet in Versuchung, den Fahrer zu bitten, er möge anhalten. Sie wirkte verloren. Als habe sie ganz kurz etwas gespürt, zu kurz, um es greifen zu können, aber dennoch lange genug, um zu merken, dass es da war.

Ach was, das war nur seine Einbildung!

Er sagte nichts, das Taxi fuhr weiter. Viktorias Gestalt, die noch immer an derselben Stelle stand, wurde kleiner und verschwand hinter einer Kreuzung ganz aus seinem Blickfeld. Ihr Bild sah er dennoch deutlich vor sich. Klein, zierlich, dunkelblonde lange Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, einzelne Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen und die sie beim Lesen alle paar Minuten unbewusst zurückstrich. Braune Augen, die zur Pupille hin bernsteinfarben wurden. Eine hübsche Frau von fünfunddreißig Jahren, keine Kinder, unverheiratet – obwohl es eine Weile so ausgesehen hatte, als stünde sie kurz davor. Was sollte er davon halten, dass es anders gekommen war? Er war sich nicht sicher. Nein, das stimmte nicht ganz. Stumm schüttelte er den Kopf, was den Taxifahrer zu einem fragenden Seitenblick veranlasste. Er war sich schon sicher, er mochte es nur nicht zugeben. Auf alle Fälle war es besser für seine Pläne.

Er bemühte sich um die bequemste Position auf dem weichen Ledersitz und schloss die Augen. Im Radio erklang Musik, der er nichts abgewinnen konnte, aber wenigstens war sie leise und störte seine Gedanken nicht, die erneut abschweiften zur Seebrücke – und darüber hinaus. Bald, dachte er. Bald werde ich das Rauschen wieder hören.

Langsam ließ Viktoria die Arme sinken. Sie kam sich ziemlich dumm vor. Was tat sie hier? Und das alles wegen des vermeintlich mysteriösen Benehmens eines Mannes, das bei genauer Betrachtung gar nichts Besonderes war. Er hatte nur ihre Lesungen besucht und sie um ein signiertes Buch gebeten. Ihren Vornamen mochte er benutzt haben, weil sie ihm durch ihre vielen Romane schon vertraut war.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Kannten Sie den Mann?«, fragte Frau Roth, als Viktoria in die Buchhandlung zurückgekehrt war, wo sie ihre Unterlagen in der Eile hatte liegen lassen.

»Ja. Nein. Das heißt, ich dachte plötzlich, ich würde ihn kennen«, sagte Viktoria, weil ihr keine bessere Ausrede für ihr Verhalten einfiel. Dabei schwor sie sich, dass er einen Auftritt in ihrem nächsten Roman bekam. Mindestens einen. Er bot eine Menge Potenzial. Schon besser gelaunt lächelte sie in sich hinein und hoffte, dass er sich als treuer Leser erweisen und sich selbst erkennen würde.

2.

»Na, wenigstens regnet es nicht«, seufzte Viktoria. Die grauen Wolken, die über der Stadt hingen, ließen sie ein wenig trister wirken als gestern, aber immer noch faszinierend genug. Vor ihr lag ein kompletter Tag in Stralsund. Bis zum vorigen Abend hatte sie das ausschließlich als Vergnügen betrachtet, aber inzwischen war eine Romanidee in ihr gewachsen und damit die Vorstellung davon, was sie eingehender ansehen und erspüren musste. Ein besseres Wort dafür fiel ihr nicht ein. Wenn sie einen Handlungsort kennenlernen wollte, musste sie Atmosphäre schnuppern, das war mindestens so wichtig, wie geografische und historische Kenntnisse zu sammeln.

Als Erstes würde sie sich einen Überblick verschaffen, und das ging am besten vom Turm der Marienkirche aus. Auch sie war ein Backsteinbau wie die Nikolaikirche, und auch sie hatte gewaltige Ausmaße, aber innen war sie sehr schlicht gehalten, von der reichen mittelalterlichen Ausstattung ahnte man kaum noch etwas. Die 345 Stufen hinauf auf den Westturm hatten es in sich, Viktoria verwünschte ausnahmsweise ihre Abneigung gegen sportliche Betätigung. Atemlos gelangte sie nach ganz oben.

»Wahnsinn!«, sagte sie leise zu sich selbst. Die Anstrengung hatte sich gelohnt. Inzwischen war die Wolkendecke aufgebrochen, blauer Himmel lugte zwischen weißen Wolken hindurch, und Viktoria begriff, warum Stralsund »Venedig des Nordens« genannt wurde: Die Altstadt, an deren südlicher Spitze sie sich befand, war umgeben von mehreren großen, baumgesäumten Teichen und einem Kanal, der in den Hafen und danach ins Meer mündete. Sie schaute hinunter auf Kirchtürme, auf einen Teil der Rathausfassade und weiter hinten am Horizont auf Rügen. Die Sicht war mittlerweile so klar geworden, dass sie die Windräder auf der Insel erkennen konnte.

Schritt für Schritt umrundete Viktoria den Turm, nahm die Stadt von jedem Blickwinkel in sich auf – und hatte dabei das Gefühl, dass ihre Romanidee falsch war. Warum sagte etwas in ihr, dass sie gar nicht bis zur Schwedenzeit zurückgehen müsse, um eine spannende Geschichte zu erzählen, die sich in diesem Labyrinth abspielte?

»Wegen meines Patriarchen«, gab sie sich die Antwort. Der Mann von gestern gehörte ins zwanzigste Jahrhundert. Seine Haltung, sein Benehmen … Warum war er so geworden? Was machte einen Mann wie ihn aus? Wie abwesend stand Viktoria dort oben im Wind. Die Haare lösten sich aus ihrem Pferdeschwanz und wehten ihr ins Gesicht und in die Augen, während sie über eine andere Geschichte nachdachte, eine, in der jener Mann nicht nur einen Gastauftritt à la Hitchcock haben, sondern eine wichtigere Rolle spielen würde. Eine tragische Rolle möglicherweise.

Langsam machte sie sich an den Abstieg. Die steilen Treppen im Gebälk und im Turm der Kirche hätten eigentlich all ihre Aufmerksamkeit erfordert, aber Viktoria machte jeden Schritt automatisch und sicher wie eine Schlafwandlerin. Im Kopf nahm das Neue mehr und mehr Gestalt an, sie formulierte fast schon die ersten Sätze. Draußen setzte sie sich auf eine Bank unter die Bäume und holte ihr schwarzes, mit silbernen Blütenornamenten verziertes Notizbuch hervor, das sie nutzte, um Eindrücke und Ideen zu sammeln, wann immer sie unterwegs war und weder Laptop noch PC zur Verfügung hatte. Sie wusste, sie vergaß die einzelnen Erzählstränge nicht, die sie sich gerade überlegt hatte, aber sie wollte sie festhalten, solange sie frisch waren. Erst danach ging sie weiter.

Diesmal bewegte sie sich nicht innerhalb der Altstadt, sondern begann, sie auf den Wallanlagen entlang eines breiten Teichs zu umrunden. An dessen schmalem Ende stand das grünspanbedeckte Denkmal eines Gardeoffiziers. Sie wechselte die Straßenseite, um es anzusehen. Dabei fiel ihr Blick nach links auf ein auffallendes Gebäude. Das dreistöckige strahlend weiße Eckhaus mit Balkonen und vielen kleinen und größeren Türmchen war über hundert Jahre alt und spiegelte eine Eleganz wider, die man vor langer Zeit einmal als hochherrschaftlich bezeichnet hätte. Nach vorne boten die Fenster einen Blick auf den Teich, nach hinten hinaus zeigten sie auf den Strelasund und auf Rügen. Anfang des letzten Jahrhunderts waren vermutlich vornehme Damen und Herren in ihren Droschken oder Automobilen vorgefahren und hatten sich hofieren lassen. Gefangen in dieser Fantasie, ging Viktoria unbewusst näher auf das Haus zu und tauchte erst wieder in die Gegenwart auf, als sie von einem Mann angerempelt wurde, der gerade durch die hohe gläserne Rundbogentür trat. Offenbar war er ebenfalls in Gedanken versunken. Er sah sie verärgert an, bevor er sich besann.

»Verzeihung, ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt?« Trotz der höflichen Worte wirkte der Mittsechziger kalt und streng, woran sein entschuldigendes Lächeln nichts änderte. Viktoria schreckte innerlich zurück, froh, mit diesem Mann nicht näher zu tun zu haben.

»Nein, kein Problem«, sagte sie und wich zur Seite aus. Der Fremde nickte ihr noch einmal zu, ohne sie wirklich zu sehen, und stieg in eine mit laufendem Motor wartende Limousine, die stadtauswärts davonbrauste.

Der würde auch ganz gut in ihr Buch passen, ein Gegenspieler für den Patriarchen. Stralsund erwies sich als wahre Schatzgrube. Viktoria sammelte Charaktere wie selten an einem anderen Ort.

Am Abend packte sie ihre Reisetasche in den Kofferraum ihres dunkelroten Mini, folgte den Schildern Richtung Rostock und ließ die Stadt bald hinter sich. Wenn sie ihren geplanten Roman tatsächlich schrieb, würde sie zurückkehren, um zu recherchieren und sich noch vertrauter mit der Umgebung zu machen. Jetzt jedoch freute sie sich erst mal auf das Fischland und auf Melli, die morgen im Laufe des Vormittags in Wustrow eintreffen wollte. Falls sie sich pünktlich loseisen konnte, was bei ihrem Job nicht immer der Fall war. Viktoria konnte die Verabredungen, die Melli in letzter Minute abgesagt hatte, schon gar nicht mehr zählen. Das tat ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch, sie hielt seit sechzehn Jahren, seit sie sich auf einer todlangweiligen Studentenparty begegnet waren. Melanie Gerlach hatte damals schon einige Semester auf ihr Erstes Staatsexamen hingearbeitet, während Viktoria gerade am Anfang ihres Germanistik-Studiums stand. Beide teilten dieselbe Art von Humor, eine Leidenschaft für das Meer und für alles Englische – das Land, die Sprache, die Musik, die Literatur und das Theater. Ihr Kontakt brach auch nicht ab, als Melli die Uni verließ und ihr Referendariat ableistete. Nach dem Zweiten Staatsexamen begann sie, als Anwältin in der Kanzlei zu arbeiten, die ihr inzwischen mit ihrem Bruder und einem alteingesessenen Partner gemeinsam gehörte.

Währenddessen hatte auch Viktoria ihr Studium beendet und sich anschließend ein Jahr im englischen Bath gegönnt, wo sie ihren ersten Roman verfasste, der noch immer auf seine Veröffentlichung wartete. Erst nach und nach trugen ihre Bemühungen Früchte. Um sich über Wasser zu halten, hatte sie alle Aufträge angenommen, die sie kriegen konnte, von Arzt- über Heimat- bis hin zu Grusel- und Liebesromanen in Heftformat. Das brachte wenig Anerkennung, aber zumindest ein regelmäßiges Einkommen, und außerdem blieb ihr zwischendrin Zeit genug, um sich ihren ernsthafteren Projekten zu widmen. Vor ein paar Jahren war endlich eins veröffentlicht worden, weitere erfolgreiche Bücher schlossen sich an. Mit Das letzte Leben der Liliana hatte sie sogar kurzzeitig auf der Spiegel-Bestsellerliste gestanden. Sie war durchaus zufrieden mit ihrem Leben, vor allem damit, das machen zu können, was sie immer wollte.

Hinter Ribnitz-Damgarten verließ Viktoria die Bundesstraße und fuhr weiter auf das Fischland zu. Links und rechts wechselte offenes Feld mit breiterem Baumbewuchs, bis auch dieser sich wieder öffnete und den Blick auf eine Kirchturmspitze aus rotem Backstein zuließ – typisch für diesen Landstrich. Nach dem turbulenten Stralsund strahlte Wustrow schon von Weitem Ruhe und Gelassenheit aus, und je näher sie kam, desto mehr verfestigte sich dieser Eindruck. Der Ort lag im sanften Abendlicht, das die Farben kräftiger leuchten ließ. Die Häuser an der Hauptstraße sahen gediegen aus, manche waren reetgedeckt und wirkten trutzig, eines hatte sich besonders stolz erhoben. Unwillkürlich ging Viktoria mehr als nötig vom Gas und las an der Fassade Kaiserliches Postamt. Der Ort war nicht ausgestorben, und doch ging hier alles langsamer, man lief nicht, man hatte kein Ziel, das man unbedingt und vor allem schnell erreichen musste.

Ohne auf den Plan zu sehen, auf dem die Lage ihres Ferienhauses verzeichnet war, bog Viktoria in die Strandstraße ab, einfach deshalb, weil ihr der Name gefiel und sie mit einem Mal Sehnsucht nach der See spürte. Hier standen Kapitänshäuschen mit idyllischen Vorgärten und bunt bemalten Türen, zwischendurch immer mal wieder eine etwas vornehmere Villa. Die letzten Meter zur Seebrücke ging sie zu Fuß und schlenderte bis zu deren Ende. Dort hatte sie das Gefühl, mitten auf der Ostsee zu stehen, so lang war die Brücke, so weit weg kam ihr der weite weiße Strand vor. Um sie herum schwatzten Touristen, doch Viktoria hörte sie nicht. Sie hörte nur die Wellen rauschen und schaute zum Horizont, zur Sonne, die noch tiefer gesunken war und orange wurde. Als sie sich schließlich umdrehte, waren die meisten Menschen von der Brücke verschwunden, die Strandkörbe leer. Nur noch vereinzelt spazierten Leute mit nackten Füßen durch den Sand und das flache Wasser.

Wie angespannt sie die letzten Wochen über gewesen war, merkte sie erst jetzt, nach Ende ihrer Lesereise, als sie zur Ruhe kam und alles von ihr abfiel. Müßig betrachtete sie den Strand, die sanften Dünen in der unmittelbaren Umgebung und das Steilufer weiter hinten, wo es nach Ahrenshoop ging. Seufzend fuhr sie sich über ihre Augen und setzte sich in Bewegung. Auf halber Strecke zum Wagen wurde sie durch die Miss-Marple-Melodie aus ihren angenehmen Träumereien aufgeschreckt. Unwillig wühlte sie nach ihrem Handy, das sie fand, als sie am Aufgang zur Seebrücke an einem Restaurant namens Moby Dick vorbeikam. Melli.

»Sag nicht, du willst den Urlaub absagen!«, sagte Viktoria statt einer Begrüßung.

»Quatsch! Ich bin nur neugierig. Wie ist das Ferienhaus? Bitte sag, dass es ganz, ganz klein ist und gar keinen Platz für meine Akten hat.«

»Akten? Hör mal, ich dachte, wir wollten uns ein paar freie Tage gönnen!«

»Weiß ich ja«, sagte Melli zerknirscht. »Henrik hat mich gebeten, mir ein paar Verträge anzusehen, weil er nicht dazu kommt. Ich hab’s ihm versprochen.«

Wenn es einen Namen gab, den Viktoria überhaupt nicht hören wollte, war es Henrik. »Dein Bruder ist also mal wieder überarbeitet.« Sie konnte nicht verhindern, dass sie verbittert klang.

»Entschuldige. Ist mir so rausgerutscht. Manchmal vergesse ich, dass das mit euch beiden Vergangenheit ist, an die du nicht erinnert werden willst.«

»Schon gut. Falls du meinen Rat willst: Lass den Kram zu Hause, es ist zu schön hier, um zu arbeiten. Vergrab dich ausnahmsweise mal nicht in Papiere.« Erst recht nicht für Henrik, fügte sie im Geist hinzu. Mellis Schwächen konnte man an einer Hand abzählen, ihr jüngerer Bruder gehörte zweifellos dazu. Melli ließ sich von niemandem was sagen, von niemandem was vormachen, sie durchschaute alles und jeden. Nur Henrik nicht. Aber Viktoria war die Letzte, die ihr deshalb einen Vorwurf machen würde. Bis Henrik ihr vor ein paar Wochen, kurz vor ihrer Lesereise, gesagt hatte, er könne und wolle sich noch nicht auf eine gemeinsame Zukunft festlegen, hatte sie Mellis Schwäche geteilt. Danach war sie zuerst traurig gewesen, doch bald war die Traurigkeit in Wut umgeschlagen. Mit seinen siebenunddreißig Jahren sollte Henrik alt genug sein, um zu wissen, was er im Leben wollte. Dann hatte sie rausgefunden, dass er es durchaus wusste, nämlich die rothaarige, langbeinige Rechtsreferendarin, die sich mit allem an ihn ranschmiss, was sie hatte. Mellis Empörung hielt sich in Grenzen. Sie glaubte an einen Ausrutscher und an ein Happy End, für das sie sich bei Viktoria mehr oder weniger unbewusst einsetzte, indem sie Henrik hin und wieder wie zufällig erwähnte. Der, davon war sie überzeugt, würde früher oder später reumütig zu Viktoria zurückkehren. Immerhin verband die beiden eine fast fünfjährige Beziehung. Ab und zu wünschte Viktoria sich das auch. Einzig und allein, damit sie ihn abblitzen lassen konnte.

»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, versprach Melli. »Wie ist das Wetter? Warm genug zum Baden? Lohnt es sich, Strandklamotten einzupacken?«

»Ja, aber pass auf, dass du keinen Sand in Henriks Verträge rieseln lässt!« Viktoria musste nun doch lachen.

Melli lachte mit, offenbar froh über Viktorias Stimmungsumschwung. »Weil’s besser ist! Wir sehen uns!«

Viktoria starrte einige Sekunden lang blicklos auf die Terrasse des Moby Dick. Henrik und sie hatten sich lange Jahre gekannt, bevor sie zusammengekommen waren – so ähnlich wie in diesem Lied, in dem es hieß, dass man sich tausendmal sieht, bevor es endlich funkt. Nur dass es im Lied gut ausging. Am liebsten hätte sie Henrik aus ihrem Gedächtnis gestrichen, statt plötzlich sein Gesicht vor sich zu sehen wie ein Foto, besonders seine außergewöhnlichen Augen, deren Blau schon fast an Türkis grenzte, und seine rötlich blonden Haare, die sich zu keiner Frisur bändigen ließen, weshalb er sie so kurz wie möglich trug. Dazu seine übermächtige Ausstrahlung. Diese Kombination verschaffte ihm selbst vor Gericht jede Menge Vorteile. Es gelang ihm, seinen Mandanten Vertrauen einzuflößen und gleichzeitig Richter und Staatsanwaltschaft zu überzeugen. Und was sein Privatleben anging, war sein Aussehen auch nicht gerade von Nachteil.

Unwillig schüttelte Viktoria diesen Gedanken ab. Zeit, sich angenehmeren Dingen zuzuwenden. Sie hatte noch nichts gegessen, und dieses Restaurant sah nett aus. Eine Holzfigur von Captain Ahab, die enorm an Gregory Peck erinnerte, stand draußen vor dem Eingang, und die Inneneinrichtung mit alten Galionsfiguren, Harpunen, Seilen und Laternen war wie der Fisch auf ihrem Teller nicht weniger beeindruckend.

3.

Viktoria war irgendwo in dem merkwürdigen Stadium zwischen Schlaf und Erwachen, in dem man weiß, dass man träumt, in dem einem die Bilder aber trotzdem real vorkommen. Sie schaute eine lange Straße entlang, die direkt bis zur See führte und von Häusern gesäumt wurde, klein und geduckt, als wollten sie sich vor Wind und Wetter schützen. Ein Mann trat aus einer Tür, stattlich und mit einem Bart, der ihm fast bis zur Brust reichte. Er hob die Hand an seine Kapitänsmütze und grüßte im Vorbeigehen. Unversehens blieb er jedoch stehen, drehte sich um und sprach sie an: »Machen Sie keine Dummheiten, Fräulein, verpassen Sie nicht die vierzig Jahre alte, hundert Kilogramm schwere Bewohnerin im Schildkröten-Becken des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund. Eine Attraktion für die ganze Familie!«

Verwirrt sah Viktoria den alten Mann an. Dann, endlich wach, aber noch mit geschlossenen Augen, tastete sie nach dem Radiowecker, um ihn mitten in der Werbung auszuschalten. Wieso hatte sie überhaupt den Wecker gestellt, sie war im Urlaub!

Nach einer Dusche lenkte sie ihre Schritte wieder zum Moby Dick zu einem Frühstück auf der Terrasse mit Blick auf die Seebrücke. Für den Vormittag mietete sie sich einen Strandkorb. Sie zog sich mit einem Buch zurück und wartete auf das Handyklingeln, das Melli ankündigte. Als sie sich meldete, lotste Viktoria sie zum Ende der Strandstraße und umarmte sie zur Begrüßung. Dann sah sie genauer hin. Um Mellis hellblaue Augen hinter der randlosen Brille lagen Schatten, sie war blass, was durch die dunklen, auberginefarben getönten Haare noch betont wurde. Gerade wollte Viktoria eine Bemerkung dazu machen, als Melli ihre Locken im Seewind schüttelte und genießerisch die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spielen ließ.

»Prima, dass du’s geschafft hast!«, sagte Viktoria deshalb nur.

»Hat Vorteile, wenn die einzige Bindung, um die man sich kümmern muss, die an die Arbeit ist. Ist das eine grandiose Luft hier!«

Diese beiden Sätze kamen so schnell hintereinander, dass Viktoria es unterließ, den ersten zu kommentieren. Mellis Einstellung zum Leben als Single war immer dann positiv, wenn gerade mal wieder eine Beziehung gescheitert war, und negativ, wenn die nächste zu lange auf sich warten ließ.

»Die Luft ist nicht das einzig Schöne in Wustrow. Hast du die liebevoll hergerichteten Kapitänshäuser gesehen?« Viktoria breitete die Arme aus, als wolle sie ganz Wustrow umspannen.

Melli sah Viktoria prüfend an. »Den Blick kenn ich. Er heißt so viel wie: Das will ich! Überleg dir das gut. Du bist die Stadt gewohnt, Wustrow dagegen ist bloß ein kleiner, wenn auch charmanter Ort, in dem außerhalb der Saison wenig los sein dürfte.«

So weit hatte Viktoria noch gar nicht gedacht, trotzdem beschloss sie, das Spiel mitzuspielen. »Na und?«, fragte sie, während sie ins Auto stiegen, um den kurzen Weg zum Ferienhaus zu fahren. »Wenn ich Trubel will, kann ich nach Stralsund oder Rostock fahren. Die liegen praktisch vor der Tür. Zum Schreiben ist diese Ruhe ideal, ich hab’s satt, an einer lauten Straße zu wohnen.«

»Aber du bist nun mal kein Landei. Außerdem, was soll denn aus mir werden, wenn meine beste Freundin eine Weltreise weit weg ist?«

»Wie lange bist du unterwegs gewesen?«, fragte Viktoria, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Knapp vier Stunden.«

»Aha. Das ist in der Tat eine Weltreise!«

»Sehr witzig! Du weißt, was ich meine.«

»Mach dir mal keine Sorgen, ich hab noch keinen Makler aufgesucht und bezweifle auch, dass das Sinn hätte, weil ich mir eins dieser Häuschen bestimmt nicht leisten könnte.«

»Du bist zu bescheiden. Dein letztes Buch läuft doch richtig gut.«

»Hast du eine Ahnung, was diese Häuser kosten?«

»Ich nicht. Aber wenn du so gut Bescheid weißt, heißt das, dass du dich schon erkundigt hast. Verräterin!«

»Dazu muss ich mich nirgends erkundigen, meine Fantasie reicht durchaus.«

Melanie grinste noch immer, als Viktoria sie vor einem ziemlich neuen Haus bat anzuhalten. Es war ganz hübsch, versprühte aber nur wenig Charme. »Och, das ist unsere Hütte? Wie langweilig.«

»Du warst es, die Luxus wollte«, erinnerte Viktoria ihre Freundin. »Das Bad hat eine große Eckwanne mit Whirlpool-Düsen, im Keller eine Sauna, und die Einbauküche ist kaum zu übertreffen.«

Nachdem Melanie ausgepackt und sich umgezogen hatte, schlug Viktoria einen Spaziergang am Strand vor. »Wir könnten bis nach Ahrenshoop gehen, der Weg soll schön sein, vorbei am Steilufer.«

»Ahrenshoop?«, wiederholte Melli. »Da klingelt was bei mir. Gab’s da nicht mal diese Künstlerkolonie, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts?«

»Schon früher, wenn ich mal mit meinem Wissen angeben darf. Leitfigur der Ahrenshooper Kolonie war Paul Müller-Kaempff, der sich 1892 da niederließ, eine professionelle Malschule gründete und später ein Künstlerhaus errichtete mit Ateliers, Unterrichtsräumen und Zimmern, in denen fünfzig Künstler leben und in Abgeschiedenheit und Ruhe arbeiten konnten. Du siehst, ich bin nicht die Einzige, die das zu schätzen weiß. Solche Kolonien gab es anderswo auch. Sie sollen wesentliche Impulse zur Erneuerung der europäischen Malerei hervorgebracht haben. Sagt alles der Artikel, in den ich mich vertieft habe. Es gab übrigens sehr viele Frauen hier, die man damals abwertend Malweiber genannt hat. Es war sogar eine Frau, die Ahrenshoop gewissermaßen entdeckt hat, noch vor Müller-Kaempff.«

»Ich seh schon«, schmunzelte Melli, »die Protagonistin deines nächsten Buchs ist Malerin, vielleicht sogar dieses frühe Malweib – wie hieß sie denn?«

»Anna Gerresheim. Wer weiß, eines Tages mach ich da vielleicht wirklich was draus.« Nur dass ihr der Patriarch im Moment wichtiger und näher war. Doch das behielt sie für sich.

Auf dem Weg nach Ahrenshoop blieben Viktoria und Melanie immer wieder stehen, um auf die See zu blicken oder die Buhnen zu betrachten – weit ins Wasser reichende senkrechte Holzpfahlreihen, die den gesamten Küstenabschnitt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen unterteilten, um die Kraft der Wellen zu brechen und das Land vor dem Meer zu schützen. Manche der Buhnen waren durch die Gischt schaumbedeckt. Von Weitem wirkte es fast wie Schnee. Zwischendurch sammelten sie Steine, deren Farbenvielfalt Viktoria verblüffte. Es gab graue mit rosa Streifen, dunkelbraune mit hellbrauner Maserung, rote mit weißen Flecken und schwarz glänzende, alle vom Wasser glatt gewaschen, grauweiße in urwüchsigen Formen und sogar mit einem Loch darin.

Viktoria fühlte sich frei von Belastung und Stress, sie vergaß die Zeit, genoss das Gefühl, absolut gar nichts zu müssen, nicht mal schreiben. Das kam selten vor, Schreiben war ihr zur zweiten Natur geworden, und wenn sie nicht schrieb, wirbelten Ideen durch ihren Kopf wie am Tag zuvor in Stralsund. Sie schaltete selten ganz ab, aber heute tat sie es. Als ihr das bewusst wurde, dachte sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, Hannover den Rücken zu kehren, um hier zu leben. Nur einen kurzen Augenblick lang, aber die Vorstellung war verlockend.

Je weiter sie gingen, desto näher kamen sie dem Steilufer, das mit seinem spärlichen Grasbewuchs imposant über ihnen aufragte, die einzelnen Stein- und Sandschichten deutlich zu erkennen. Der Weg war an manchen Stellen nur noch eine schmale Kiesbank, über die hin und wieder das Wasser rollte und für nasse Füße sorgte. Dann tauchte vor ihnen eine weit ins Meer hineinragende Sandspitze auf, und dahinter lag Ahrenshoop.

»Dort drüben!«, rief Viktoria begeistert und deutete nach vorn. »Der Baum sieht aus, als wäre er aus Versehen da gelandet. Er überragt alles und steht ganz allein da.«

Als sie den Strand verließen und die Düne hochstiegen, stellten sie fest, dass es sich um drei dicht beieinanderstehende Bäume handelte, die den Eindruck vermittelten, das reetgedeckte Haus darunter zu beschützen.

Ahrenshoop war trotz seiner Bekanntheit, trotz des Supermarkts und der Souvenir- und Kunstläden ein kleines Dorf geblieben. Viktoria und Melli hatten keinen Ortsplan, sie schlenderten einfach drauflos. An der Ecke zum Strandweg blieben sie vor einem ungewöhnlichen Gebäude stehen.

»Das ist originell«, fand Melli. »Sieht aus wie Bauhausstil und dürfte gar nicht in die Landschaft passen. Tut’s aber komischerweise trotzdem.«

»Bunte Stube«, las Viktoria vor. Der Name stand in ausladenden blauen Buchstaben über Tür und Schaufenstern des einstöckigen Hauses. An seiner rechten Seite hatte es einen roten runden Turm mit Flachdach, und auch die vordere Front formte ein Halbrund, das hinten gerade auslief. Wie der Turm waren die Mauern um die großzügige Schaufensterfront knallrot gestrichen. Viktoria sah durch die Scheiben. »Eine Buchhandlung! Lass uns reingehen!«

»Nichts da!«, protestierte Melli. »Du hast mich davon abgehalten, in meine Akten zu gucken, also wirst du dich mit Büchern zurückhalten.« Sie schleifte Viktoria weiter in den Strandweg hinein, die aber kurz darauf wieder stehen blieb, diesmal vor einem blauen reetgedeckten Haus.

»Kunstkaten. Trifft das eher deinen Geschmack?«, fragte sie. »Wenn wir uns schon über Kunst unterhalten, sollten wir uns auch ein bisschen was ansehen.« Ein Schild neben dem Eingang wies auf die derzeitige Ausstellung hin: Die Ahrenshooper Malweiber.

»Wie verschieden die gemalt haben«, stellte Melli fest, nachdem sie die Hälfte der Gemälde gesehen hatten. »Diese Landschaftsbilder sind wunderschön, das hier ist sogar ausgesprochen romantisch.« Das Bild hieß Frühling, stammte von Elisabeth von Eicken und zeigte einen Weg hin zu einem Haus mit rotem Dach, rechts und links davon fragile Zäune und viel Grün, ein Baum mit zarten weißen Blüten, im Hintergrund ein sanft blauer Himmel.

»Ja, allerdings. Aber sieh dir das an, ist das nicht fantastisch? Es heißt Das rote Haus in Althagen. So ein Feuerwehrrot hätte ich in einem Bild von 1911 nicht vermutet.«

Melli lachte, als sie las, wer die Künstlerin war. »Diese Dora Koch-Stetter war vermutlich nicht nur in ihrer Malerei modern, immerhin trug sie schon damals einen Doppelnamen.«

»Ich schätze, alle Frauen, die herkamen, um zu malen, waren modern und wollten unabhängig sein. Wahrscheinlich keine leichte Sache damals. Stell dir eine Tochter aus gutem Hause vor, die plötzlich auf eigenen Füßen stehen will, wo doch ihre Hochzeit mit Herrn XY, dem begehrtesten Unternehmersohn der Stadt, schon vor zehn Jahren abgesprochen wurde. Dem zu entfliehen, auszubrechen und sich zu emanzipieren hatte gerade erst begonnen.«

»Was da wohl los gewesen ist, wenn eine von denen Künstlerin werden wollte«, spann Melli den Faden weiter. »Ich meine, ernsthafte Künstlerin, nicht nur Hobbymalerin. Gut, dass ich in den Sechzigern geboren worden bin. Meine Eltern waren sogar in Woodstock, ich fürchte, ich bin denen heute noch viel zu spießig.«

»Du bist alles Mögliche, aber nicht spießig«, widersprach Viktoria. »Oder sieht diese Frau spießig aus?« Sie stand vor einem Gemälde, auf dem eine dunkelhaarige Frau in einem leuchtend gelben Kleid halb saß, halb lag, neben sich ebenso leuchtend gelbe Lilien. »Da könntest du Modell gestanden haben.«

»Ich? Findest du, dass ich der ähnlich sehe?«

»Hundertprozentig. Achte auf den entschlossenen Ausdruck in ihren blauen Augen an. Ich sag’s ja, das könntest du sein. Leider steht hier nicht, wen es darstellt, nur Dame mit Lilien, 1925, Hedwig Woermann. Völlig anderer Stil als alles, was wir bisher gesehen haben.« Sie beugte sich vor zum Schildchen neben dem Gemälde. »Das gibt’s nicht! Die Woermann hat gar nicht in Ahrenshoop gelebt, sondern in Wustrow. Das Haus steht sogar heute noch, es sind Ferienwohnungen drin.«

»Dann weißt du ja, wo du dich das nächste Mal einquartierst. War sie verheiratet? Oder lesbisch? Sie hat so viele Frauen gemalt, dass man glatt auf die Idee kommen könnte, nackte noch dazu, wie diese hier.« Eine wiederum dunkelhaarige Frau, die nur einen Reif am Oberarm trug, saß auf einer rot-weiß gemusterten Chaiselongue, neben ihr lehnte eine Blonde in einem gelben Unterkleid lässig an einem Schrank.

»Ich nehm alles zurück«, lachte Viktoria. »Du bist doch spießig. Im Übrigen war sie mit einem Bildhauer verheiratet, steht hier.«

Bevor sie den Kunstkaten verließen, kaufte Viktoria noch eine Postkarte vom Roten Haus in Althagen. »Schade, dass es kein Poster davon gibt, das hätte ich mitgenommen.«

»Du hast überhaupt keinen Platz für ein Bild«, erinnerte Melli ihre Freundin. »Ich kenne keine Wohnung auf dieser Welt, in der sämtliche Wände so mit Bücherregalen vollgestellt sind wie deine.«

Viktoria widersprach nicht, seufzte nur und zuckte gespielt verzweifelt mit den Schultern. Dabei wischte sie sich den dünnen Schweißfilm von der Stirn. Es war schwül geworden, am Horizont zogen Wolken auf. Dann fiel ihr etwas ein. »Im Schlafzimmer gegenüber vom Bett. Da könnte noch was hinpassen.«

Als wäre das eine Art Zauberwort gewesen, marschierte Viktoria zielstrebig auf einen kleinen, unscheinbar aussehenden Laden zu, vorbei an fröhlich bunt bemalten Türen, die an jene in Wustrow erinnerten, aber eindeutig neu waren und daher weniger authentisch wirkten.

»Ist nicht dein Ernst«, entgegnete Melli.

Aber Viktoria hörte sie schon nicht mehr. Es war keine richtige Galerie, die sich in dem Laden verbarg, denn es gab nicht nur Gemälde oder andere Kunst, sondern auch Trödel. In einer Ecke lehnten mehrere gerahmte und ungerahmte Leinwände. Während Melli sich Vitrinen mit Porzellan und Gläsern anschaute, widmete sich Viktoria diesen Bildern, die offenbar schon recht lange ein unbeachtetes Dasein fristeten. Der Staub, der oben auf den Kanten gelegen hatte, wirbelte auf, als sie eins nach dem anderen betrachtete. Es war nichts Besonderes darunter, kein Vergleich zu jenen, die sie eben im Kunstkaten gesehen hatten, und Viktoria wollte schon zu Melli zurückgehen, da stieß sie auf ein Gemälde, das sie auf merkwürdige Weise berührte.

Es zeigte durch einen Fensterrahmen hindurch einen Ausblick aufs Meer. Der Künstler musste vor dem offenen Fenster gestanden und gemalt haben, was er sah: ein wenig verwischt an den Bildrändern die Wände mit einer Tapete aus dunkel- und hellgrünen Flecken, zentral und deutlich dagegen das Hauptmotiv des Bildes – die Gaube mit dem Fensterkreuz, die offenen Fensterflügel, dahinter das Grün einiger Bäume, noch weiter dahinter das Meer mit einer Seebrücke. All das hätte sehr friedlich wirken können, stattdessen war es düster, keine Sonne stand am Himmel, die See war aufgewühlt, und die kurze Brücke brach so abrupt ab, als habe ein Sturm das Kopfende fortgerissen.

Viktoria nahm das Bild hoch und trat damit an die Glasfront des Ladens. Die Farben waren gedeckt, längst nicht so kräftig wie jene vom Roten Haus in Althagen, aber dennoch intensiv, sie zogen das Auge des Betrachters geradezu in das Zimmer hinein – und drängten es sofort wieder hinaus, weil man automatisch aus dem dargestellten Fenster sah. Vielleicht war es eher die Perspektive und nicht die Farbgebung, die das Gemälde einzigartig machte.

»Sag jetzt nicht, dass dir das gefällt.«

Viktoria fuhr auf. Versunken in den Blick aus dem Fenster, hatte sie Melli nicht kommen hören. Ohne sofort zu antworten, drehte sie die ungerahmte Leinwand um. Stand dort der Titel des Werks? Nein, nichts. Aber Blick aus dem Fenster kam ihr ebenso unspektakulär wie passend vor. »Doch, es gefällt mir. Ich hab keine Ahnung, was daran mich anspricht. Es ist einfach schön.«

»Schön traurig, meinst du.«

»Das ist wahr.« In der unteren rechten Ecke fand Viktoria eine Signatur. Leider war sie nicht eindeutig zu identifizieren. »Was mag das wohl heißen?«

»Lass mich mal sehen«, forderte Melli, die ihre Brille abnahm und mit der Nasenspitze fast die Leinwand berührte. »Zwei ineinander verschlungene Buchstaben, ich würde aber meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, welche. Die Jahreszahl ist jedenfalls ziemlich deutlich: 1924.« Melli setzte ihre Brille wieder auf. Als sie Viktorias vielsagenden Blick sah, rollte sie mit den Augen. »Ich werde auch nicht jünger. Bisher wehre ich mich bloß noch erfolgreich gegen eine Lesebrille.«

Viktoria lachte und versuchte es selbst noch mal. »Einer der Buchstaben könnte ein M sein.« Sie hielt das Bild wieder ein Stück von sich weg, um den Gesamteindruck in sich aufzunehmen.

»Oha«, sagte Melli. »Derselbe Blick wie bei den Kapitänshäusern. Na ja, schätze, das Kunstwerk wird dich nicht in den Ruin treiben. Du wirst es doch kaufen, oder?«

Viktoria sah vom Bild zu Melli und wieder zum Bild und dann hinaus auf die Straße. Mit einem Mal kamen ihr die Welt da draußen, die Menschen, die Autos, alles, was sich dort abspielte, seltsam vor. Sie hatte das Gefühl, gerade einen Blick ins Jahr 1924 getan zu haben, in jenes Zimmer, einen sehr privaten Raum. Mehr noch, sie hatte in das Innenleben nicht nur eines unbekannten Hauses, sondern eines Menschen gesehen – des Malers oder der Malerin.

»Ja.« Sie nickte und ging nach vorn zu der alten Registrierkasse.

»Das soll’s sein?«, fragte das Mädchen hinter dem Tresen, die mit ihren schrillen Klamotten in den unterschiedlichsten Stilrichtungen und den strubbeligen Haaren eine ähnliche Kuriosität darstellte wie einige der Dinge, die sie verkaufte. Als sie einen Blick auf das Bild warf, zuckten ihre Brauen kaum merklich in die Höhe.

»Stimmt was nicht?«, erkundigte sich Viktoria. »Ich wollte Sie ohnehin fragen, ob Sie mir sagen können, wer das gemalt hat.«

Das Mädchen beugte sich ebenso über die Signatur wie zuvor Viktoria und Melli. »Nein, tut mir leid, daraus werd ich nicht schlau. Wo haben Sie das ausgegraben? Ich arbeite schon eine ganze Weile hier, aber das ist mir noch nie untergekommen.«

»Es stand dort hinten bei den anderen.« Viktoria zeigte in die Richtung. »Könnte jemand anders Genaueres darüber wissen?«

Das Mädchen runzelte die Stirn und griff nach dem Telefon, das ähnlich alt war wie die Kasse. »Warten Sie, ich versuch was.« Sie drehte die Wählscheibe und wartete. »Hallo, hier ist Tanja. Ich hab eine Kundin, die eins unserer Bilder kaufen und wissen möchte, wer’s gemalt hat. Kannst du rüberkommen?« An Viktoria gewandt, fuhr sie fort: »Der Chef kommt gleich. Wenn Sie ein bisschen Geduld haben?«

»Ja, natürlich, danke.«

Tanja wandte sich einem anderen Käufer zu, während Melli zweifelnd guckte. »Weshalb machst du so einen Aufstand? Wenn’s dir gefällt, ist es doch egal, von wem’s ist. Oder glaubst du, es könnte ein verloren gegangenes Werk von einem Malweib sein?«

Eigentlich hatte Viktoria das nicht im Kopf gehabt, es interessierte sie einfach. Mellis Frage war jedoch durchaus berechtigt. »Das wäre doch irre!«

»Aber sehr unwahrscheinlich. Dann würde es nämlich nicht schon Staub angesetzt haben.«

In diesem Moment kam ein Mittfünfziger in den Laden, der sehr viel weniger exotisch als Tanja aussah, wenn sich auch eine gewisse Ähnlichkeit nicht leugnen ließ. Anscheinend war sie die Tochter des Mannes. Er sah nur flüchtig auf das Gemälde.

»Ach je, dieses Bild? Dass sich da noch mal jemand für interessiert. Ich hab es vor einigen Jahren auf einem Trödelmarkt in Stralsund entdeckt und dachte, es könnte in meinen Laden passen. Monatelang habe ich es prominent ausgestellt, aber niemand wollte es haben. Vermutlich ist es den Leuten zu düster.«

Melli stupste Viktoria leicht an, als wollte sie sagen: Siehst du!

Viktoria ließ sich nicht beirren. »Wissen Sie was über den Maler?«

»Ich fürchte, da kann ich Ihnen genauso wenig helfen wie Tanja. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es nicht von einem der anerkannten Künstler aus der Gegend stammt. Deren Signaturen kennt man allesamt. Außerdem würde es in dem Fall nicht mehr in meinem Geschäft schmoren«, schloss er lachend.

Wieder erntete Viktoria von Melli einen entsprechenden Blick, den sie ignorierte. »Aber die Jahreszahl, glauben Sie, die ist echt?«, beharrte sie. »Könnte es aus den Zwanzigerjahren sein?«

»Oh ja, das ist es zweifellos. Eine Menge Leute haben damals in dieser Region gemalt, Einheimische und Sommerfrischler. Vergleichsweise wenige sind berühmt oder zumindest bekannt geworden.«

Seufzend blickte Viktoria noch einmal auf das Bild. »Vielen Dank für Ihre Mühe und Ihre Zeit. Es wäre schön gewesen, wenn ich mehr hätte herausfinden können, aber ich werde mir eben einbilden, das Bild eines verschmähten Genies in meinem Schlafzimmer hängen zu haben.«

»Viel Vergnügen damit!«, wünschte er augenzwinkernd und verabschiedete sich.

Viktoria bezahlte, und Tanja wickelte die Leinwand sorgfältig in mehrere Lagen Luftpolsterfolie und Packpapier und band eine dicke Paketschnur herum, damit man sie besser tragen konnte. Melli war anscheinend immer noch nicht überzeugt, das erkannte Viktoria an ihrem Gesichtsausdruck.

»Nicht jeder mag eben Kandinsky«, frotzelte sie.

»Wenn’s Das rote Haus in Althagen gewesen wäre …«, fing Melli an.

»… hätte ich es mir nicht leisten können. Außerdem ist mir mein Blick aus dem Fenster lieber. Und keine Angst, ich trage es selbst den ganzen Weg zurück und werde dich nicht bitten, mich abzulösen.« Dieses Versprechen bedauerte Viktoria schon bald, weil es mühsam war, das sperrige Bild zu halten, auch wenn sie sich diesmal für den Weg auf den Klippen statt am Wasser entlang entschieden. Noch dazu zogen immer mehr und immer dunklere Wolken auf, der Himmel sah mittlerweile bedrohlich aus, das Licht unwirklich. Viktoria fürchtete, das Bild könnte trotz der dicken Verpackung Schaden nehmen, wenn sie es nicht mehr rechtzeitig vor einem Sturzregen schafften.

»Lass mich mal«, bot Melli an. »Dann sind wir schneller, deine Arme müssen ja schon ganz lahm sein.«

»Aber nicht meine Beine«, widersprach Viktoria zum Schein.

»Ach Kind, man wird auch müde vom Tragen, also gib schon her!«

Die letzten Meter zu ihrem Ferienhaus mussten sie laufen, weil die Tropfen bereits vom Himmel fielen, und sie hatten gerade die Tür hinter sich zugeworfen, als es richtig zu schütten begann. Draußen war es derart finster geworden, dass sie kaum etwas sehen konnten. Plötzlich zuckte ein Blitz über der See auf und tauchte den Wohnraum für eine Sekunde in gleißend helles Licht. Viktoria schauderte, obwohl sie längst in Sicherheit waren, und zuckte zusammen, als der Donner krachte.

»Meine Güte«, flüsterte Melli. »Das ist ja heftig.«

Viktoria fürchtete sich gewöhnlich nicht bei Gewitter, aber dieses war stärker als die meisten, die sie bisher erlebt hatte. Vorsichtig lehnte sie das Bild an eine freie Wand und trat zur Küchenzeile. »Tee? Passend zum Schietwetter?«

»Klingt verlockend.«

Das Gewitter tobte fast zwei Stunden lang, in denen Viktoria und Melli gemütlich in der Sitzecke saßen, ihren Tee genossen, ein bisschen was zu Abend aßen und den nächsten Tag verplanten. Sie hatten bisher kaum was von Wustrow auf der anderen Seite der Hauptstraße gesehen. Dort lagen der Ortsteil Barnstorf mit den mittelalterlichen Bauerngehöften und einer Kunstscheune und der Hafen. Außerdem gab es schöne Spazierwege am Saaler Bodden, dem Binnengewässer, das zwischen dem Fischländer Teil der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst und dem Festland lag.

Endlich wurde es wieder heller draußen, das Blitzen und Donnern hörte auf, nur ein leichter Regen erinnerte noch an das Unwetter.

»Ich geh duschen«, sagte Melli. »Hier drin ist es ganz stickig, ich fühl mich total verschwitzt.«

Während Melli im Bad verschwand, riss Viktoria alle Fenster auf und freute sich über die kühle, wie reingewaschene Abendluft. Dabei dachte sie an das Bild, das sie eingepackt lassen wollte, bis sie in Hannover waren. Die Malerin hatte vielleicht vor dem Fenster gestanden wie sie jetzt, vielleicht nach einem Gewitter ähnlich dem heute oder einem noch schlimmeren, bei dem die Seebrücke von dem aufgewühlten Meer beschädigt worden war. Malerin? Wieso ging sie automatisch von einer Frau aus?

Ein dumpfes Klingeln holte sie in die Gegenwart zurück. Es war nicht die Miss-Marple-Melodie, was bedeutete, dass Mellis Handy dudelte.

Viktoria stieß sich vom Fensterrahmen ab. Das Rauschen der Dusche war verstummt. Viktoria vermutete, dass Melli das Gespräch entgegennehmen wollte, es konnte ja was Dringendes in der Kanzlei sein. »Melli!«, rief sie. »Dein Telefon!«

»Gehst du mal ran? Wenn was Wichtiges ist, rufe ich zurück!«

Wenn was Wichtiges war, würde derjenige es schon auf die Mailbox sprechen, aber einer von Mellis Ticks war, ständig erreichbar zu sein, und zwar persönlich und nicht per Voicebox.

»Hallo?«, meldete sich Viktoria. »Hier ist der …« Anschluss von Melanie Gerlach wollte sie noch sagen, kam aber nicht mehr dazu.

»Melli«, sagte eine Stimme, die Viktoria sehr gut kannte. »Ich … es tut mir leid …«

Ja, sicher, es tut dir leid, deine Schwester im Urlaub zu stören, dachte Viktoria, aber es ist supereilig und kann nicht mal zwei Tage warten. »Tut mir auch leid, Henrik, aber Melli steht unter der Dusche«, sagte sie schroff.

»Vicki?« Henrik klang überrascht – und eine Spur unsicher.