Die verborgenen Codes der Erben - Hannelore Bublitz - E-Book

Die verborgenen Codes der Erben E-Book

Hannelore Bublitz

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Beschreibung

Gesellschaftliche Eliten funktionieren wie quasi-religiöse Zirkel: Glaubenssätze, Komplizenschaft und Korpsgeist bewahren in lautloser Weitergabe ihr Erbe. Die soziale Magie verdeckter Praktiken - unbewusst ins Spiel gebracht - sorgt für die Sicherung ihrer (Macht-)Positionen und das Fortbestehen sozialer Ungleichheit. Hannelore Bublitz deckt diese Automatismen auf, die signifikant von der sozialen Herkunft abhängen und wie eine natürliche Gabe wirken. Sie zeigt, dass man sozialen Aufstieg nicht durch Bildung erlangt, sondern durch Einsätze in einem Spiel, das einen ganzen Schatz an sorgsam gehütetem Wissen voraussetzt - aber im Gewand allen zugänglicher Werte auftritt.

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Hannelore Bublitz (Prof. Dr.), geb. 1947, ist emiritierte Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsanalysen post- und spätmoderner Gesellschaften und Subjekte, Technologien des Körpers und des Geschlechts sowie Selbsttechnologien.

Hannelore Bublitz

Die verborgenen Codes der Erben

Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6356-3

PDF-ISBN 978-3-8394-6356-7

EPUB-ISBN 978-3-7328-6356-3

https://doi.org/10.14361/9783839463567

Buchreihen-ISSN: 2703-1691

Buchreihen-eISSN: 2747-3007

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Das Naturtheater von OklahomaHappy End in Amerika?

1Einleitung

Passagen I

2Die soziale Magie sozialer Unterschiede

2.1Globale Vermögensungleichheit – Erben – Erbschaften

2.2Das Geheimnis des Kapitals

2.3American Psycho – Warenfetisch

2.4Magische Wirkungen der Einteilung der Welt

2.5Magische Grenzen – oder die Natur sozialer Unterschiede

2.6Soziale Magie der Erben: quasi-religiöse Zirkel – Glaubenssätze

2.7Differentiale der Macht

Passagen II

3Erben und Aufsteiger

3.1Succession – Erben, Nachfolge

3.2Ähnlichkeit schlägt in eine Struktur sozialer Ungleichheit um

3.3Die Magie der Macht: das Ensemble der Anordnungen

3.4Subjekte als Dispositionsbündel

3.5Dispositionen – Implantate machtgeladener Schemata

3.6Aufsteiger als ambivalente Figuren der Moderne

3.7Billions – Individualistische Überflieger

Passagen III

4Die soziale Magie der Erben

4.1Symbolische Macht: Verschaltung von Kapital, Worten und Körpern

4.2Reichtum ist Geschmackssache

4.3Symbolische Kämpfe – Vererbung von Kreditwürdigkeit und Anerkennungsprofiten

4.4Fetisch(ismus): Korpsgeist – Personifikation einer sozialen Fiktion

4.5Klassen-Subjekte, Klassen-Körper

4.6Entgleisung. Verfehlung. Re-Artikulation

4.7Soziale Magie revisited – Verfestigung von Klassengrenzen durch Klischees

5Fette Beute oder Reichtum to goRefeudalisierung I

6Fette BeuterevisitedRefeudalisierung II: der protzige Rahmen der Erben

6.1Plattformen und (Clip)Ästhetiken der (Selbst)Repräsentation

6.2Refeudalisierung: Die Erben im Netz – ›Rich Kids of Instagram‹

6.3Mehrwert – Surplus des eigenen Selbst im Imaginären

7Happy End des amerikanischen Traums?Das Aufstiegsversprechen

Passagen IV

8Ein einsamer Erbe - Anti-Facebook

9SchlussZur sozialen Magie und De-mystifikation sozialer Ungleichheit

Literatur

Das Naturtheater von OklahomaHappy End in Amerika?

Im Schlusskapitel des Romans von Franz Kafka, Amerika,Das Naturtheater von Oklahoma, beschreibt Kafka einen Ort, der für K. »eine große Verlockung« darstellt: »Jeder ist willkommen!« Allerdings »nur heute, nur einmal!« (Kafka 1998: S. 223) Es ist gewissermaßen die Gelegenheit, »ein Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!« Auf einem Plakat wird versprochen, dass jeder die Chance hat »von sechs Uhr früh bis Mitternacht« in die Firma aufgenommen zu werden. Eine einmalige Gelegenheit, die K. Roßmann, »der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war« (ebd.: 9) sich nicht entgehen lassen durfte. Endlich eine »anständige Laufbahn«, so das Versprechen. Zwar gibt es ein Hindernis, Beruf und Name muss er schon angeben, aber er weiß nicht, was auf ihn zukommt und so lässt er sich etwas einfallen – und wird aufgenommen.

»Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Karl nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre« (ebd.: 237). Aber er hatte keine Wahl, und so versuchte er, mit dem Strom zu gehen, obwohl er nicht wusste, wohin die Reise führte. Es gab Bilder des Theaters von Oklahoma, die herumgereicht wurden, aber ihn erreichte nur eins und »nach diesem Bild zu schließen, mussten […] alle sehenswert sein« (ebd.: 238). Er wollte nicht herausfallen aus der – schwach beleuchteten – Zone der Normalität, von der man nie genau wusste, wie weit sie reicht, wo sie genau ist. Und so fügte er sich. Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte.

Die Freiheitsstatue, die K. gleich zu Beginn bei der Einfahrt in den Hafen von New York sieht, kündigt von einer Freiheit, die unerreichbar scheint. Der Weg durch ein Labyrinth von Gängen durch das Schiff, auf der Suche nach seinen Habseligkeiten, und dann durch das ganze Land, bis er im ›Naturtheater von Oklahoma‹ ankommt, könnte als Weg durch eine fremde, unzugängliche Welt gedeutet werden, deren Codes Roßmann nicht kennt.

Den zugewiesenen Platz einnehmen – immer in Angst, abgewiesen zu werden, und in die Zone der Anormalität hineinzugleiten, ausgeschlossen – das zeigt sich hier, in diesem Roman. Das Herzstück dieses letzten Abschnitts des Romans ›Amerika. Der Verschollene‹, das Martin Kippenberger in seiner Ausstellung The Happy End of Kafkas Amerika in Anlehnung an diesenRoman in Szene gesetzt hat, ist das Bewerbungsspektakel, zu dem K. schließlich, nach einigen Hindernissen, die er überwindet, vordringt. Aufgrund des Massenandrangs findet es auf einer Rennbahn statt. Ob Roßmanns Hoffnung auf ein besseres Leben sich erfüllt, bleibt in Kafkas Roman unbeantwortet. Die Hoffnung auf ein besseres Leben endet im Ungewissen.

Der ganze Roman lässt sich, quasi ›postmodern‹, als Parabel auf die globalisierte Gegenwartsgesellschaft lesen, in der Migranten, als prekäre Arbeitskräfte eingesetzt und verhandelt/verschoben, jeder, wenn überhaupt, an ›(s)einem‹ Ort eingesetzt wird. Eine nicht unwesentliche Frage ist in diesem Zusammenhang: Wird K. Roßmann in Amerika heimisch werden? Wird er sich sozial zugehörig fühlen? Und wo gehört er hin? Kann er sich neu erfinden? Das bleibt offen.

1Einleitung

Kann man sich neu erfinden? Das suggeriert eine Gesellschaft, in der das individualisierte Subjekt zentrale Figur sozialer Praktiken und Prozesse ist; das suggerieren auch soziale Medien. Hier wird das eigene Selbst an den Erwartungen der anderen, den Märkten und ihrer Aufmerksamkeitsökonomie gespiegelt. Es scheint, als bestünde eine gemeinsame Oberfläche zwischen dem marktökonomischen System und subjektiven Praktiken; es scheint, als könnte das Selbst auf den neuen Meinungsmärkten mit Haut und Haaren bewertet werden. Nun geht es darum, durch ein »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) und ein »unternehmerisches Kreativsubjekt« (Reckwitz 2016) ein Surplus des eigenen Selbst zu erzielen, was bedeutet, dass auch das Selbst (s)einen Preis hat und Gewinn abwirft.

Ist es angebracht, so zu tun, als hätten alle die gleichen Chancen, sich selbst gemäß den Bewertungskriterien einer new liberal economy im Modus der Selbstoptimierung zu präsentieren und am kulturellen Erbe teilzunehmen? Ökonomische Faktoren reichen nicht aus, um zu erklären, weshalb Mitglieder der unteren Gesellschaftsschichten aus dem Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, auch von anderen medial inszenierten Märkten fortgesetzt eliminiert werden. Reicht es aus, die ungleiche Vertretung verschiedener sozialer Klassen in den gesellschaftlichen Eliten, wenn überhaupt, immer wieder zu beklagen, wenn die Privilegien der Erben unangetastet bleiben?

Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron machen in ihrer Schrift Die Erben (2007) schon vor langer Zeit deutlich, dass es bei der – humanistischen – Bildung um ein »Spiel der Privilegierten [geht,] bei dem alle mitspielen müssen, weil es im Gewand universeller Werte auftritt« (ebd., S. 34), während es sich in Wirklichkeit um eine elitäre Kultur handelt, die einen ganzen Schatz an Wissen, Lektüre, »kulturellen Wallfahrten, anspielungsreiche Gespräche, die nur der schon Gebildete versteht« (ebd.), voraussetzt. Und sie fragen, ob sich daraus, dass die an schulischen Kriterien gemessenen Fähigkeiten als natürliche Begabung und persönliche Verdienste erscheinen, nicht eine fundamentale Ungleichheit ergibt, die die fast vollständige Eliminierung der »benachteiligten Klassen« (ebd., S. 11) und die Verwandlung des Bildungs- und Schulerfolgs in ›Gaben‹ für die Privilegierten bewirkt. Die Erben sind diejenigen, die von einer mehr oder weniger großen Affinität zwischen den Anforderungen des Bildungssystems und den kulturellen Gewohnheiten der Privilegierten, also ihrer sozialen Herkunftsklasse profitieren (vgl. ebd., S. 35).1

Bildung ist aus dieser Perspektive ein Mythos, der Probleme wie soziale Ungleichheit zu lösen scheint (vgl. El-Mafalaani 2020). Aber das ist ein Taschenspielertrick, ein fauler Zauber, der eine rationale Auswahl vorgaukelt. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass Bildung keine Vision einer besseren Zukunft ist, die jedem offensteht, sondern vielmehr eine sorgsam gehütete Methode zur Aufnahme in die Gemeinschaft der ›Auserwählten‹, der Erben (vgl. dazu auch Willis 1979; Bublitz 1992).

Was zählt, ist soziale Ähnlichkeit. Ausschlaggebend für den sozialen Erfolg sind frühe Weichenstellungen und unterschwellige Mechanismen, die signifikant von der sozialen Herkunft abhängen. Das Beherrschen eines ganz bestimmten Zeichensystems, Dinge, Haltungen und Fertigkeiten, sichern den gesellschaftlichen Eliten Macht. Exklusives kulturelles (Bildungs)Kapital sichert die Reproduktion von kulturellen Privilegien. Es spielt denjenigen in die Hände, die die ›Magie‹ der Rekrutierung von Eliten und deren Codes beherrschen. Wer die falschen Codes besitzt und die der Privilegierten nicht de-codieren kann, ist automatisch draußen.

Die notwendigen Voraussetzungen für gesellschaftlichen Aufstieg erwirbt man nach Bourdieu nicht in Bildungseinrichtungen; Bildung und Leistung eignen sich nicht – unbedingt – als Aufstiegsvehikel. Kehrseite der meritokratischen Gesellschaft ist vielmehr die ›soziale Magie‹ verdeckter Praktiken, die keiner sieht, auf die auch keiner achtet, weil sich der Blick woanders hinrichtet, dorthin nämlich, wo individualistische Überflieger und Selfmade-Millionäre »fette Beute« machen und medial präsentiert werden. Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, wollen nachgeahmt werden, bilden zumindest die Objekte eines unstillbaren Begehrens nach – Reichtum, Sorglosigkeit, Glück. Dabei bleiben die verborgenen Codes der Erben und des kulturellen Erbes im Dunkeln. So werden, quasi magisch, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, soziale Differenzen aufrechterhalten und verstärkt. Dabei sind sie überall offensichtlich; unsichtbar bleibt, wie man es soweit bringt, dass andere einen beneiden, bewundern, einem nacheifern – bevor sie aufgeben, weil es allzu sehr auf der Hand liegt, dass es unrealistisch ist.

Das Kapital hat im 21. Jahrhundert kaum seine Bedeutung verloren, nur seine Form hat sich z.T. gewandelt. Dies interessiert in unserem Zusammenhang unter zwei Aspekten: Erstens. Kapital wird normalerweise auf das Feld des Ökonomischen bezogen. Bourdieu erweitert den Begriff des Kapitals und verbindet ihn mit den Konstruktionsprinzipien des sozialen Raums. Die Konstruktionsmerkmale des sozialen Raums bilden die verschiedenen Kapitalsorten in ihrer materiellen oder inkorporierten Form. »Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kartensorte die Profitchancen im entsprechenden Feld« (Bourdieu 1985, S. 10) führt er in seinen Vorlesungen aus. Und er nimmt an: »Sozialer Raum: das meint, dass man nicht jeden mit jedem zusammenbringen kann – unter Missachtung der grundlegenden ökonomischen und kulturellen Unterschiede« (ebd. S. 14). Bourdieu betont, wie unwahrscheinlich es ist, über die Grenzen des eigenen Feldes hinaus jemandem zu begegnen oder jemanden näher kennenzulernen. Und er geht davon aus, dass man, um in einer bestimmten Liga mitspielen zu können, deren Spielregeln kennen und beherrschen muss – was nicht so einfach ist, da die Regeln, nach denen Erfolg oder Misserfolg in der jeweiligen Gruppe oder im sozialen Feld zustande kommen, weder explizit ausgewiesen noch frei wählbar oder den Akteuren bewusst sind. Es kommt ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Ökonomisches Kapital garantiert, für sich genommen, noch keine Machtposition, wenngleich es den Zugang erleichtert. Die Zugehörigkeit zu oberen, mittleren und unteren Gesellschaftsschichten wird also nicht primär und nicht ausschließlich durch ökonomisches Kapital bestimmt, sondern, fast genauso wichtig, durch kulturelles und soziales Kapital, vor allem aber deren Umwandlung in symbolisches Kapital, also das, was zählt und Gewicht verleiht, was Prestige hat und exklusiv als Trumpfkarte ausgespielt werden kann.

»Kinder, die von ihren Eltern in Museen oder Opern ›geschleppt‹ werden, erhalten eine Menge an kulturellem Kapital, indem sie solche Gebäude schon einmal betreten haben und wissen, wie man sich in ihnen bewegt – selbst wenn sie sich für die jeweiligen bildlichen oder musikalischen Darstellungen nicht interessieren oder sie gar verabscheuen« (Treibel 2006, S. 230).

Das heißt, das kulturelle Kapital wird größtenteils beiläufig familiär ›vererbt‹. Ganz wesentlich ist aber auch das symbolische Kapital, das Bourdieu »als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee usw. bezeichnet)« (Bourdieu 1985, S. 11). Bourdieu geht davon aus, dass Kultur und Bildung gegen die unteren Klassen gerichtet sind. Wie kommt er darauf? Wie kann das sein? Gehen nicht alle von der Chancengleichheit von Bildung und Lebenschancen aus? Ist das nicht quasi ins Grundgesetz eingetragen? Ja und nein. Es gibt ein Grundrecht auf Bildung und Leben, aber alle wissen, dass das nicht wirklich gilt. Kultur und Bildung sorgen für die soziale Absicherung gesellschaftlicher Eliten, dafür, dass Reiche reich bleiben.

Zweitens. Die Allianz von Finanzmärkten, Meinungsmärkten und Affektökonomie führt zu einer Rückkehr des Kapitals als Faktor, der die Hyperkonzentration und die Ungleichheit des Vermögens exponentiell befördert (vgl. Picketty 2014; 2020; vgl. auch Vogl 2021). Als Quelle von Wohlstand und Reichtum gilt nicht die Arbeit, sondern die Kapitalisierung von Daten. Sie bilden die kostenlosen Rohstoffe eines Überwachungs- und Plattformkapitalismus, der Daten, Informationen und Netzwerkkommunikation vermarktet (vgl. Zuboff 1989; 2018; 2019; Srnicek 2016). Damit verschärfen sich soziale Ungleichheiten. Während der Ertrag von Lohnarbeit abnimmt, kommt es zu einer Spreizung von niederen und hohen Einkommen, die auf globale Finanzgeschäfte und die Allianz von Digital- und Geldwirtschaft zurückzuführen ist (vgl. Vogl 2021).

Die sozialen Netzwerke sind zu – technischen – Infrastrukturen geworden, in denen sich neue Macht-Wissensstrukturen materialisieren; »sie figurieren«, so argumentiert Ramon Reichert, nicht nur »als gigantische Datensammler für Beobachtungsanordnungen sozialstatistischen Wissens«, sondern auch »als Leitbild normalisierender Praktiken« (Reichert 2013, S. 46). Mittels intelligenter Systeme werden »polystrukturierte Datenmengen großer Kollektivitäten« und ganzer Bevölkerungen in komplexen Aufzeichnungs- und Speicherungsverfahren erfasst und »automatisiert in Relationierungstechniken verknüpft und schließlich in Echtzeit in Informationsvisualisierungen verarbeitet« (ebd., S. 52). Die Gegenwartsgesellschaft ist eine Kultur, in der Algorithmen Interaktionskreisläufe mit performativen Effekten hervorbringen und die Kultur verändern (vgl. dazu auch Seyfert/Roberge 2017). Aber diese veränderten technischen Konstellationen delegitimieren nicht die schärfer werdenden sozialen Gegensätze – im Gegenteil.

Und während bei Émile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts der unbegrenzte »Hunger der Industrie« mit seiner schier grenzenlosen Entfesselung der Begierden und fast unentrinnbaren Suggestion der schrankenlosen Verfügbarkeit aller möglichen Dinge noch als Ursache desintegrativer sozialer Zustände erscheint, auf die er den massenhaften Selbstmord zurückführt, bildet dies in neoliberalen Gesellschaften einen fortwährenden Anreiz für kompetitive Prozesse einer gesteigerten (Selbst)Optimierung, die medial kommuniziert werden (vgl. Bublitz 2005; Duttweiler 2016; Houben 2018).

Prinzipiell ist alles offen; so auch das Individuum. Das wird in der modernen Gesellschaft nicht als Unsicherheit problematisiert, sondern als Zugewinn von Freiheit, der allerdings auch zur Belastung werden kann und daher der marktorientierten Führung durch ›Influencer‹ bedarf (vgl. Nymoen/Schmitt 2021). »Bezugsgröße der modernen Kultur ist die Etablierung disponibler Realitäten und die Freisetzung subjektiver Freiheiten« (Bublitz 2019, S. 33; vgl. Makropoulos 1997; 2008). Selbstentfaltung und Selbststeigerung bilden den Rahmen des Bildes und des Eindrucks, den das Subjekt hinterlässt. Paradoxerweise gelingt das nicht flächendeckend. Die individualisierte Leistungsgesellschaft hat eine ›düstere Seite‹; es ist fraglich, ob es bei der Verteilung von Plätzen und sozialen Positionen in der Gesellschaft mit rechten Dingen zugeht. Wer es nicht schafft, fort- oder nach oben zu kommen, findet sich in einem Wust von Ressentiments wieder.

Eine Refeudalisierung der Gesellschaft greift um sich, der Begriff verweist nicht nur auf die ständische »Verfestigung von Herkunft«(Neckel 2013, S. 49), sondern auch auf eine beispiellose ›Gabenökonomie‹, die den Erben in ihren symbolischen Kämpfen um Titel, Stelle und Macht zugutekommt. Hier kommen kulturelle Praktiken ins Spiel, die, vor Reflexion gewissermaßen geschützt, sich nicht auf das Subjekt als souveränen Protagonisten der Außen- und Innenwelt, sondern auf reflexiv uneinholbare Praktiken beziehen lassen.

Soziale Wirklichkeit konstituiert sich demnach nicht durch ein reflexives Subjekt, das rings um sich herum die Dinge bewusst kontrolliert, oder durch passive Materiepartikel, sondern sie ist, wie das Subjekt, Effekt von stummen Praktiken, »institutionell verfestigten, oft auch architektonisch verkörperten, rituell verdichteten Regulationen von Handlungsweisen und Gewohnheiten«, (Habermas 1986, S. 284; Bublitz 2019, S. 35). Diese Praktiken implizieren, wie Habermas zum Begriff der »Praktik« bei Foucault ausführt, »das Moment von gewaltsamer, asymmetrischer Einflussnahme auf die Bewegungsfreiheit anderer Interaktionsteilnehmer« (ebd., S. 284f). Dazu gehören u.a. »juristische Urteile, polizeiliche Maßnahmen, pädagogische Unterweisungen, Internierungen, Züchtigungen, Kontrollen, Formen des körperlichen und intellektuellen Drills« (ebd., S. 285; vgl. Bourdieu 2004, bes. Kap. I und II). Es handelt sich um habitualisiert eingeübte (Kultur)Techniken, die komplexe soziale Situationen ›ökonomisch‹ regeln und das heißt durch Rückgriff auf Praktiken, die quasi automatisch unterhalb der Schwelle des Bewusstseins ablaufen und vollzogen werden. Sie sorgen für die Übertragung und permanente Zirkulation des Erbes, die durch unbewusste Übertragung von Automatismen, welche sich der Reflexion weitgehend entziehen und quasi als Reflexe in Körperschemata integriert sind, sichergestellt wird. Das Vermächtnis wird in das Gedächtnis des Körpers und unbewusster Körperschemata integriert. ›Gedankenlose‹, vom Subjekt nicht bewusst kontrollierte körperliche Praktiken erhalten hier den Status von zentralen Faktoren eines Übertragungsgeschehens, das spezifische Formen psychischer Dispositionen und psychischen Kapitals aufruft. »Hier gerät jene ›Tiefenschicht sozialer Macht‹ (Honneth) in den Blick, die auf unbewusste, wenn nicht geradezu gegen das Bewusstsein (handelnder Subjekte) gerichtete Vorgänge verweist, die sich eher körperlich-unbewusst als bewusst reflektiert vollziehen« (Bublitz 2019, S. 36). Optimale Vollzüge beziehen sich in der modernen Gesellschaft also nicht nur auf die Dynamik einer – am technisch und sozial Möglichen – ausgerichteten Selbstoptimierung, sondern auch auf die optimale Einfügung des Subjekts in komplexe Abläufe – und hier in die Reproduktion sozialer Ungleichheit, die gewissermaßen wie ›im Schlaf‹ erfolgt, wenngleich sie durchaus auf körperlichen Zwang rekurriert, der, gewissermaßen zwanglos eingesetzt und empfunden wird. Dabei sind komplexe Prozesse und Vorgänge am Werk, in denen sich das Subjekt ›spiegelt‹ und unbewusst ›reflektiert‹.

Theoretischer Ansatz meiner Überlegungen ist die ›soziale Magie‹ einer Praxis, die, wie Bourdieu annimmt, mit der ›Auswahl der Auserwählten‹ (Bourdieu 2004), die Rekrutierung der ökonomischen und kulturellen Eliten gewährleistet, andere hingegen abdrängt, ausschließt oder ›eliminiert‹. In symbolischen Kämpfen um soziale Positionen wird ein kulturelles Erbe übertragen, das fundamentale soziale Ungleichheiten bestätigt. Dabei werden – weitgehend unbewusst – Automatismen aufgerufen, Automatismen einer sich permanent ereignenden, täuschend natürlich wirkenden sozialen Distinktion. Permanent zirkuliert kulturelles und psychisches Kapital in der Gesellschaft, in und zwischen allen sozialen Schichten.

Etwas wird immer vererbt, auch wenn es nur wenige Habseligkeiten sind. Und selbst wenn es – materiell – nur wenig ist, was bleibt und sich in Kopf und Körper einlagert, sind es (Lebens)Haltungen, psychisches Kapital, Denkschemata, quasi in den Körper ›eingewachsene‹ Formen symbolischer Macht, die weitergegeben werden.

Alle sind Erben – alle erben: Die einen erben ein Vermögen und Kapital jedweder Sorte, die sie für materielles Glück, quasi ein ›Grundrecht‹ in modernen Gesellschaften, ausstatten und welches eine Grundausstattung für ein erfolgreiches und gutes/schönes Leben ist – zumindest aber für den Weg dorthin. Die anderen, mittellos, erben materiell nichts, zumindest kein Vermögen, nichts, was sie dafür ausstatten würde, weiter oder nach oben zu kommen. Sie erben ein prekäres Leben, bestenfalls eine Ausstattung, die sie dort hält, wo sie sind, auch wenn sie anderes vorhaben.

Aber es gibt auch das Andere in jeder sozialen Klasse und Schicht: Ein Erbe, eine Hinterlassenschaft, die zur Last werden, die einem am Hals hängt, wie ein Mühlstein und das eigene, ›freigewählte‹ Leben verunmöglicht oder es zumindest be- und verhindert. Oder ein Erbe, mit dem gerechnet wird, welches man aber nicht erhält, für das man nicht würdig erscheint.

Was alle erben, sind Ressourcen, die sie in sozialen Auseinandersetzungen einsetzen. Durchschlagskraft haben die anerkannten Kapitalsorten, Vermögen und Kultur (Bücher, Kunstwerke ebenso wie Bildungstitel, kulturelles Wissen und ›zivilisierte‹ Anstandsregeln); sie gelten als kostbarste Form eines Vermächtnisses, das alle Türen öffnet. Aber allem voran, wenn auch stillschweigend vorausgesetzt und im Bildungskanon nicht aufgeführt, rangiert das Vermächtnis, das dem Körper, sowohl Gedächtnisspeicher als auch Prozessor des (Bildungs/Kultur)Erbes wie auch der ›Seele‹ als Ort der (Selbst)Ermächtigung des Subjekts, anvertraut wird. Es handelt sich um Körper-Kultur-Techniken und psychische Techniken, die einer inneren Ökonomie folgen und deren Einsatz, der bewussten Reflexion entzogen, ermöglicht, Dinge weitgehend ›gedankenlos‹ zu verrichten. Damit sind die handelnden Individuen davon entlastet, Normen, Regeln und soziale Konventionen zu hinterfragen oder zu reflektieren. Und während das Subjekt sich in der abendländischen Kulturgeschichte durch Reflexion auszeichnet, scheint es, dass gesellschaftliches Handeln zuverlässig dadurch gewährleistet wird, dass die Reflexion entfällt, kulturelle und soziale Regeln unreflektiert, nämlich fraglos befolgt werden. Dabei wird die Logik des Privilegs ebenso wie die der Benachteiligten spielerisch zum Einsatz gebracht. Demonstrative Klassifikationen von Kulturgütern in sozialen Distinktionskämpfen erzeugen auf ihrer Rückseite stumme Praktiken, Automatismen sozialen und körperlichen Zwangs.

Allerdings: auch wenn es scheint, als wenn eine privilegierte soziale Herkunft der Erben diese automatisch begünstigt, treten sie ihr Erbe keineswegs einfach und unbedarft an. Auch sie werden als Erben eingesetzt und mit Gesten und Worten ›trainiert‹. Durch das Spiel der Anspielungen, durch unbewusste Übertragung von Gewohnheiten und Stil werden an die objektiven Strukturen angepasste Dispositionen erzeugt, die auf klassenkulturellen Gewohnheiten und unterschwelligen Übereinkünften beruhen. Vor allem aber wird performativ auf die Einhaltung der Klassengrenzen geachtet. Die praktische Übertragung des Erbes rekurriert auf eine Subjektivierungsform, die sich immer wieder in einem Ensemble von materiellen und immateriellen Anordnungen (Dispositiven) konstituiert. Was hier übertragen wird, ist ein ständig zirkulierendes Relationales: Macht als Netzwerk von Kräfteverhältnissen, das sich in symbolischen Kämpfen stützt – oder auf- und zerbricht. Es findet eine permanente symbolische Kriegsführung um soziale Positionen zwischen gesellschaftlichen Eliten und sogenannten Aufsteigern wie auch innerhalb der jeweiligen sozialen Klassen/Gruppen und in den Köpfen und Körpern der einzelnen Individuen statt; was dabei zum Einsatz kommt, ist eine Art ›osmotisches Wissen‹, das, regelrecht körperlich ›einverleibt‹ und ›aufgesaugt‹, strategischen Interessen der In- oder Exklusion folgt, die sozialen Erfolg garantieren (vgl. Bublitz 1997: 670f.; Bourdieu 2004; Bourdieu/Passeron 2007); und ein soziokulturelles und psychisches Kapital, das den spielerischen Umgang mit Kultur und Bildung sowie mit Anforderungsstrukturen sozialer Situationen garantiert. Auf der anderen Seite spielen sich ganze Dramen in den Köpfen und Körpern der Subjekte ab. Hier verselbstständigen sich – traumatisierende – Ereignisse zu psychischen Belastungen und quälenden Formen der Selbstzerstörung. Zugleich ist hier der Ort für Formen der Selbstermächtigung.

»In der Unterschicht hat man nichts weiterzugeben, keine Wertsachen, kein Vermögen«, schreibt Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims (2016, S. 167); das stimmt, aber nur, insofern es auf ein materielles Erbe bezogen ist. Immaterielles, soziales und kulturelles Erbe gibt es immer und überall. Verborgene Codes sind an beiden Polen der sozialen Hierarchie wirksam, also auch dort, wo es an ökonomischem Kapital und Vermögen fehlt – und gerade dort ist ›mehr zu holen‹ als gemeinhin angenommen wird: ein Bildungsbegehren und wille, die sich nicht in Abschlüssen und Bildungstiteln erschöpfen, Neugier und der Drang nach Wissen, die nicht unbedingt kenntnisreiche Spuren hinterlassen, Fragen, die in schulischen Kontexten oft abgewiegelt und abgewertet, wenn nicht gänzlich diskriminiert und ausgeschlossen werden.

Soziale Herkunft und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse sind kein statisches Phänomen, sondern fluide, einer Dynamik unterworfen, die nicht in rationalen Entscheidungen begründet ist, sondern irrationalen, unkontrollierten Prozessen unterliegt, sich reproduzieren und sich verändern.

Im Zentrum meiner Betrachtungen stehen die »magischen Operationen« der Separation und Produktion einer »geweihten Elite« (Bourdieu 2004), Dispositionen, Haltungen und performative Wiederholungen, die, am eigenen Leib vollzogen, unmittelbar körperlich gespürt werden, immer wieder aufgeführte, körperlich-gestische Artikulationen, die Sicherheit und Souveränität zum Ausdruck bringen und gegen die gerichtet sind, die nicht dazu gehören und die dadurch ›eliminiert‹ werden, dass gegen sie verbale, gestische und mimische Ausdrucksformen in Anschlag gebracht werden. Die zentrale Annahme der nachfolgenden Ausführungen ist, dass die Rekrutierung sozialer Eliten und die Markierung sozialer Positionen keineswegs durch rationale Auswahl, sondern durch verborgene Codes der Reproduktion und Sicherung von (Macht)Positionen erfolgt. Diese Praxis der Sicherung von sozialen Zugehörigkeiten erscheint als täuschend natürliche Praxis, konstituiert sich aber durch die Übertragung sozialer Ähnlichkeiten, die ein materielles und immaterielles Erbe erst konstituieren. Es hat den Vorzug der Einverleibung, wie Bourdieu »die performative Magie des Sozialen« (1987, S. 107) beschreibt. Das Ganze wirkt wie »menschgewordenes« Kapital, das gewissermaßen von den institutionellen Strukturen erzeugt und eingesetzt wird; »das Eigentum eignet sich seinen Eigner an, indem es sich in Form einer Struktur zur Erzeugung von Praktiken verkörpert, die vollkommen mit seiner Logik und seinen Erfordernissen übereinstimmen« (ebd.).

Die Materialität des Erbes ist in unserem Zusammenhang quasi der Ausgangspunkt einer Umwandlung in immaterielles, symbolisches ›Erbe‹, das sich quasi auf magische Weise verkörpert. Auf diese Weise sind die Erben wie durch eine soziale Magie den Strukturen, die sie als solche (Erben) erst hervorbringen, angepasst.

»Wenn man zu Recht mit Marx sagen kann, daß ›der Nutznießer des Majorats, der Erstgeborene, dem Boden gehört‹, daß letzterer ›ihn erbt‹ [also der Boden den Erben erbt] oder daß die ›Personen‹ der Kapitalisten ›personifiziertes‹ Kapital seien, so liegt dies daran, daß der durch den Akt der Ettikettierung (mit dem ein Individuum als Erstgeborener, Erbe, Nachfolger, Christ oder schlicht als Mann – im Gegensatz zur Frau – mit allen zugehörigen Vorrechten und Pflichten eingesetzt wird) eingeleitete rein soziale und sozusagen magische Sozialisationsprozeß, der durch Akte sozialer Behandlung verlängert, verstärkt und bestätigt wird, die den institutionellen Unterschied in eine natürliche Unterscheidung zu verwandeln geeignet sind, sehr reale, weil auf Dauer auf den Leib geschrieben und im Glauben einbeschriebene Wirkungen erzeugt« (ebd., S. 107f.).

Vererbt wird aber nicht nur ein kollektiver klassen- und geschlechtsspezifischer Habitus, eine kollektive Disposition im Sinne ›das steht uns selbstverständlich zu‹ oder ›das ist nichts für uns‹, sondern auch der Traum von einem anderen Leben, keineswegs also ein Sich-Begnügen mit dem einfachen Leben, sondern ein Darüber-hinaus-wollen, das sich in der konsum- und warenfetischistischen Gesellschaft meistenteils als Traum, konsumieren zu können und reich zu sein, herausstellt. Es vererbt sich ein psychisches Kapital, dem der Drang zur Überschreitung innewohnt, die gleichwohl andauernd ausgebremst wird. Weitermachen oder aufgeben. Verletzungen wegstecken und Widerstand leisten oder scheitern. Das ist die immer wiederkehrende Frage in den symbolischen Kämpfen, in denen ›Aufsteiger‹ nur als ›individualistische Überflieger‹ vorgesehen sind, gleichwohl aber bekämpft werden, ansonsten aber das Mittelmaß derer vorherrscht, die gar keine Fragen stellen, sondern nur – ihre – Position(en) sichern wollen. Automatismen der Statussicherung, Seilschaften treten an die Stelle wirklichen Wissens und rationaler Entscheidungen. Was fehlt, ist ein phantasmatischer Begriff von Bildung und Leben, ein Bildungs-Begehren, das traumhafte, imaginäre Elemente und Bilder beinhaltet. Deutlich wird, dass sich symbolische Kämpfe im alltäglichen Leben, sozialer Auf- oder Abstieg in symbolischen Ausdrucksformen oder unmittelbar dahingesagten (Halb)Sätzen abspielen, die tiefe, lebenslang wirksame Wunden und Narben zufügen oder hinterlassen. Demütigungen verwandeln sich in Traumata derer, die sich aus beengten, ›einfachen‹ Verhältnissen durch Bildung befreien woll(t)en, und die, gewollt oder ungewollt, verletzt werden, durch Worte, hate speech, durch Bemerkungen, die kulturellen Bildungseliten und Erben ohne nachzudenken über die Lippen kommen. Dabei zeigt sich, dass sich der Traum von Bildung und von der Befreiung durch Bildung aus prekären Lebensverhältnissen als Mythos erweist, der in eiserne Disziplin, quälende, harte, aber auch einsame Arbeit mündet und sich immer an den Hinterlassenschaften derer stößt, die schon voraus sind oder einen daran hindern, selbstbewusst sein Leben zu leben und ›sein Ding‹ zu machen. Zugleich aber die Einsicht, dass Lektüre, Schreiben und Diskussion die Art und Weise sind, in der man leben will, eine Möglichkeit, sein Leben zu leben, die bei aller Aufregung und Qual, Freiheit und Ruhe vermittelt. Die Frage ist (auch): Wo und wie drücken sich Ereignisse aus, in denen man vor Scham im Boden versinken möchte? Soziale Herkunft als Sprungbrett – oder als Fluch, dem man entkommen will, als Macht seit der Geburt oder als Last, von der man sich befreien will. Sich seiner Klasse und Herkunft bewusst sein, was heißt das? Sich assimilieren oder neu erfinden – geht das?

Der Kern meiner Argumentation wird in einzelnen kurzen Kapiteln ausformuliert. Zwischen den theoretischen Ausführungen gibt es Passagen, die romanhaften fiktiven Charakter haben; sie sind unverbunden, bleiben bewusst fragmentarisch. Die Passagen sollen sich gewissermaßen ›von selbst‹ verbinden und Assoziationen Raum geben. Sie bilden Subtexte zu den theoretischen Analysen sozialer Ungleichheit und Herkunft sowie zum materiellen und immateriellen Erbe, zur symbolischen Macht und Magie. Warum diese Passagen? An und in ihnen zeigt sich die symbolische Gewalt, mit der die herrschende Sicht der sozialen Welt legitimiert wird, sowie die symbolischen Kämpfe und die soziale Komplizenschaft des Ausschlusses und der Selbstexklusion anschaulicher als in der Theorie, hier zeigen sich Kräfteverhältnisse zwischen den Erben (und Nicht-Erben), die die symbolische Macht der Erben festigen. Die Frage ist, wohin mit dem Erbe einer Geschichte, die fast nicht oder nirgendwo vorkommt; sie ist in diesen Zwischentexten bestens aufgehoben. Die verborgenen Codes derjenigen, die in den ›Differenzialen der Macht‹ nicht oder kaum zu Wort kommen, erscheinen hier in den Passagen. Damit kommt zum Vorschein, was sich nicht unbedingt offen artikuliert, sondern unbewusst ins Spiel gebracht wird oder nicht zur Sprache kommt, gewissermaßen ›zwischen den Zeilen‹ steht. Die verborgenen Codes der Erben verweisen auf – scheinbar irrationale – unsichtbare Automatismen, die unterhalb der Schwelle des Bewusstseins durch quasi magische Prozesse entstehen und die Praktiken der Erben steuern. Diese performative Magie sozialer Praktiken soll nicht zuletzt auch in der Form der Darstellung zum Ausdruck kommen. Es geht darum, Unsichtbares sichtbar zu machen; Dinge in ihrer – leiblichen – Verkörperung aufzuspüren, und sie in ihrer spezifischen sprachlichen Artikulation zu zeigen. Das gelingt am ehesten, indem konkret deutlich gemacht wird, dass und wie sich materielles Erbe in symbolisches Kapital umsetzt. Und es gelingt durch Rückgriff auf diverse mediale Ausdrucksformen. Dem Ineinandergreifen verschiedener Strukturen und Praktiken entspricht das Ineinandergreifen verschiedener Textsorten. Was hier vorgestellt wird, ist ein Experimentieren mit verschiedenen Textgattungen. Passagen aus Romanen mischen sich mit autofiktiven kurzen Passagen und theoretischen Betrachtungen. Literarische und fiktive biografische Beschreibungen, Dokumente und Zeugnisse alltäglicher Praktiken, die zeigen (sollen), wie sich symbolische Kämpfe in den Köpfen und Körpern der handelnden Subjekte (zu Automatismen) verdichten, mischen sich mit popkulturellen Texten, die, als imaginärer Spiegel der Gesellschaft, zeigen, wie sich die ungleichen Einkommens- und Lebensverhältnisse niederschlagen und in den Subjekten artikulieren; außerwissenschaftliches Reales wird in romanhaft-fiktiver Form (als ›Passagen‹) in wissenschaftliche Ausführungen eingefügt. Die fiktiven – biografischen – Texte zeigen die Wirkung der performativen sozialen Magie, aber auch die subjektiven Effekte der sozialen Herkunft. Die Aneignung der Erben durch das ›Material‹ wird hier, in den Zwischentexten sichtbar. In der kulturellen und sozialen Praxis artikulieren sich die Dispositionen und Haltungen, die Art und Weise, wie man die Welt sieht und von ihr angeeignet wird; hier zeigt sich das materielle Erbe in seinen einverleibten, leiblichen Strukturen symbolisch. Man muss – mit der Theorie – in der Praxis ankommen, sonst versteht man sie nicht wirklich; man muss die – scheinbar magischen, natürlich wirkenden – Dispositionen sichtbar machen, zeigen, wie sie funktionieren. Texte, in denen sich die populäre Kulturproduktion gegenüber den kulturellen Hervorbringungen einer (Bildungs)Elite als – ästhetisch und theoretisch – überlegen erweist, werden herangezogen, weil sie z.T. die theoretischen Hervorbringungen der offiziellen akademischen Theorie übertreffen. Dabei geht es um anschauliche, beispielhafte Darstellungen symbolischer Kämpfe in und zwischen den sozialen Klassen, die sich nicht in ein kohärentes Muster fügen und auch keine erschöpfende Auskunft im Sinne theoretischer Reflexionen von Klassenverhältnissen und sozialer Ungleichheit geben (sollen). Vielmehr kann man in diesen Passagen einen eher flüchtigen Blick auf die ›soziale Magie‹ einer sich permanent ereignenden Übertragung von natürlich wirkenden Hinterlassenschaften und Vermächtnissen werfen, die sich in sozialen Distinktionen und Traumatisierungen artikulieren.

Die Realität ist nur das Ausgangsmaterial, das sich mit der Form der Artikulation, der Sprache und den Texten verändert. Es geht bei den romanhaft-fiktiv eingestreuten Elementen nicht um das individualisierte Ich. Es geht auch nicht um eine Neuauflage bürgerlichen Bekenntnis- und Geständniszwangs, der das ›wahre ICH‹ zutage fördern soll. In der 3. Person Singular formuliert, sind sie nicht als subjektive Bekenntnisse zu verstehen, sondern als fiktive Passagen, die Phänomene der sozialen Herkunft und die sozialen symbolischen Kämpfe fragmentarisch verdichten. In den Passagen soll auch deutlich werden, dass Klasse, ebenso wie Geschlecht, kulturelle oder ethnische Herkunft kein in sich geschlossenes System oder eine eindeutige identitätspolitische Position, sondern ein differenziertes Gebilde darstellt.

Im Folgenden geht es also darum, neben theoretischen Analysen, mithilfe von Fragmenten, fiktiven, verdichteten kurzen Erzählungen in einer Art ›Gegenwartsdiagnostik‹ die gesellschaftliche Logik und die ›Logik der sozialen Kräfte‹ zu beschreiben, die in den symbolischen Kämpfen der Erben wirksam sind. Sie sollen darüber Auskunft geben, wie sich kulturelle und individuelle Dispositionen vor allem in einer nicht-bewussten, quasi-körperlichen Komplizenschaft derart verschränken, dass Macht ausgeübt wird, ohne dass dies geplant oder unbedingt bewusst gewollt ist – und dennoch eine Dynamik von In- und Exklusion in Gang gesetzt wird.

Die Theoriebezüge konzentrieren sich zum einen auf die kulturtheoretischen Analysen der Reproduktion von Eliten und sozialer Ungleichheit, hauptsächlich auf jene Ausführungen zu Macht und sozialer Ungleichheit, die Bourdieu in seiner Kulturtheorie formuliert hat und die von Butler mit ihrem Ansatz der ›performativen Sprechakte‹ bzw. der ›Performativität‹ kritisch kommentiert werden. Während bei Bourdieu die Dispositionen als homologe Schemata der Positionen erscheinen, als vorgängige Muster, geht Butler davon aus, dass diese vielmehr im Prozess der Wiederholung entstehen und sedimentiert werden.

Bourdieu fragt (sich), worin die Wirkungsweise von Macht besteht und was die sozialen Bedingungen sind, die die magische Wirksamkeit von Worten und Praktiken möglich machen. Und er nimmt an, dass »die Macht der Worte nur auf diejenigen [wirkt], die disponiert sind, sie zu verstehen und auf sie zu hören, kurz, ihnen Glauben zu schenken« (Bourdieu 1992b, S. 83). Eine zentrale Annahme ist in diesem Zusammenhang die geradezu körperliche Verbundenheit der Strukturen, die Macht ausüben und derer, auf die Macht ausgeübt wird; Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von Komplizenschaft.

»Die sozialen Akteure und auch die Beherrschten selbst sind in der sozialen Welt (selbst der abstoßendsten und empörendsten) durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft verbunden, die bewirkt, dass bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehen. Vermittelt über diese verbogene Beziehung quasi-körperlichen Verwachsenseins übt die symbolische Macht ihre Wirkungen aus. Die politische Unterwerfung ist in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben« (ebd., S. 82; Hervorhebg. H.B.)

Das heißt: Es wird davon ausgegangen, dass es eine stillschweigende und materiale Funktionsweise der – symbolischen – Macht gibt, die sich in die sozial zugerichteten Köpfe und Körper der Subjekte einschreibt und die eine Komplizenschaft zwischen ›Führern‹ und ›Gefolgschaften‹, Wortführern und denen, die deren Anweisungen anerkennen und befolgen, bilden. Und während sich Bourdieus Analysen hier auf »die verborgenen Mechanismen der Macht« des Politischen und deren sprachlichen Habitus beziehen, beziehen sich die Ausführungen in diesem Buch auf die verborgenen Codes der Rekrutierung ökonomischer und kultureller Eliten sowie deren Habitusformationen und Dispositionen, mit denen sie ihre Privilegien sichern und dafür sorgen, dass sozialer Aufstieg ausgeschlossen ist. Bourdieus Konzept der Inkorporation symbolischer Macht muss sich fragen lassen, wie sie genau funktioniert und wie die Übertragung des Erbes, jenseits von materiellen Hinterlassenschaften, vor sich geht. Komplizenhafte Gefolgschaft und Selbstexklusion der Aufsteiger erscheinen als zwei Seiten einer Medaille, die mit der Entfremdung vom Herkunftsmilieu und dem Zutrauen zum eigenen Denken bezahlt wird. Damit ist gewissermaßen das Programm umrissen, das in den folgenden Kapiteln aufgerollt wird:

Zunächst wird im zweiten Kapitel die Magie sozialer Unterschiede auf der Ebene der objektiven, faktischen globalen Vermögensungleichheit und der Ökonomie der Erben enthüllt; das Rätsel des Kapitals wird mit irrationalen Prozessen des Kapitalismus, undurchschaubaren ökonomischen Abläufen und entsprechenden Dispositionen (der berechnende ›ökonomische Menschenschlag‹; die Personalisierung der Ware und des Vermögens; die Ressentiments gegenüber dem ›Anderen‹ etc.) konfrontiert. Es zeigt sich, dass es eine Korrespondenz oder zumindest Affinität von ökonomischen und triebökonomischen Prozessen, von marktökonomischem System und subjektiven Praktiken gibt, die einer Affektökonomie des permanenten Begehrens und des Ressentiments folgen, und die, metaphorisch gesprochen, auf die Magie einer ›unsichtbaren Hand‹ verweist, die beide, Ökonomie und Affektökonomie, verzahnt. Das »Gespenst des Kapitals« (Vogl 2010) erscheint so als Chiffre für irrationale Kräfte, die den Lauf der Dinge bestimmen, ohne dass man genauer wüsste, welche Kräfte dies sind. Im Geist des Kapitalismus verschränken sich spezifische Trieb- und Affektökonomien und kapitalistische Gewinn- und Profitsucht auf besondere Weise. Am Beispiel des Romans American Psycho wird deutlich, dass der Warenfetisch eine besondere Bedeutung in der Beziehung zu sich und anderen hat; hier zeigen sich die Warenoberflächen als ›Akteure‹ einer Sozialstruktur, die Ungleichheit und exklusiven Zugang erzeugt und verstärkt. Was zählt, sind kompetitive symbolische Kämpfe um Anerkennung und Zugehörigkeit, die sich in menschenverachtenden Praktiken äußern.

Bourdieu führt die Affinität von ökonomischen Strukturen und triebökonomischen Dispositionen ja bekanntlich auf die Inkorporation dieser Strukturen und eine unbewusst operierende Komplizenschaft zurück. Die Erben haben gelernt, sich als Erben zu sehen und zu benehmen, die die Grenzen des Auserwähltseins und der Ausschließung (der Nicht-Erben, der Unbegabten, der Anderen) in ihren Praktiken nachvollziehen und ständig bestätigen. Es konstituiert sich eine Art ›Glaubensgemeinschaft‹, deren Magie sich aus Glaubenssätzen und liturgischen Bedingungen speist, wie die letzten Abschnitte des 2. Kapitels deutlich machen. Erben werden also gemacht, sie werden nicht einfach vorgefunden. Ihnen wird durch performative Beglaubigung ihrer kulturellen Affinität das Erbe und sie selbst als Erben bestätigt. Sie werden, wie Glaubensgemeinschaften, immer wieder als elitäre Zirkel beglaubigt.

Das dritte Kapitel wendet sich dem Thema Erben und Aufsteiger zu; es thematisiert das Ineinandergreifen von soziokulturellen Praktiken und Subjektformen. An der Serie Succession