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Die verheißenen Stadt Dieser Roman schildert die unerfüllte Liebe zweier Menschen und ihre Sehnsucht nach der verheißenen Stadt, in der ihre Liebe und der Frieden unter den Menschen vollkommen sein wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel: Wo ist denn der „Werner“?
Kapitel: Wie tief sind die Straßenschluchten?
Kapitel: Wohin führen die Bahngleise?
Kapitel: Wer wohnt in der verheißenen Stadt?
Kapitel: Warum gibt es eine neue Synagoge und was geschah mit der Alten?
Kapitel: Warum bleibt die Liebe oft noch unerfüllt? Oder: Warum kann der eine nicht zum anderen kommen?
Kapitel: Wie können sich Gefangene aus dem Netz befreien?
Kapitel: Wie kann man die Freude und den Schmerz der Musik aushalten? Oder: Warum empfindet Gott über den Gekreuzigten zugleich Freude und Schmerz?
Kapitel: Wächter, ist die Nacht bald hin?
Kapitel: Wie findet man die Weltformel in einem Wort?
Kapitel: Warum müssen wir warten?
Kapitel: Die verheißene Stadt
Wo ist denn der „Werner“?
Es war an einem kalten, klaren Wintertag, als Michael auf seinem Heimweg von der Schule, einem roten Backsteingefängnis, in dem seine Seele sich in sich selber zurückzog, um sich vor allem von außen zu schützen, wie so oft an jener Holzbrücke stehenblieb, die über zwei Eisenbahngleise zu einer Gaststätte führte, deren Türe offenstand.
Vor ihr stand eine für die kalte Temperatur viel zu leicht bekleidete, junge Frau, in der Tür verwehrte ihr ein korpulenter Mann mittleren Alters den Zugang.
„Wo ist denn der Werner“, fragte er die Frau. „Du kommst hier nicht rein, bevor du es uns nicht sagst.“
Aus seiner Stimme klangen Besorgnis, Vorwurf, Drohung – scheinbar kannte er die Frau, und sie war bisher immer in Begleitung eines Mannes Namens Werner gekommen, schloss Michael aus dem Gehörten.
„Lass mich rein“, antwortete die Frau, aber es war eben keine Antwort, dachte Michael, es musste irgendeinen Grund geben, dass sie dem Mann nicht antworten wollte, und schon begann in ihm seine Phantasie, mit der er ohnehin reich ausgestattet war, zu arbeiten. Sie wird schon einen anderen haben, dachte er, sie hat diesem Werner längst den Laufpass gegeben, aber warum, das fragte er sich auch, denn einen anderen Mann konnte sie nicht haben, dieser hätte sie gewiss in die Gaststätte begleitet.
Sie ist sehr stark geschminkt, überlegte er weiter, vielleicht hat sie es auf Erfolg bei Männern abgesehen, einer reicht ihr nicht, unter ihrer Schminke hat sie eigentlich ein sehr hübsches Gesicht und eine gute Figur hat sie auch, fast zu schlank, ihr Kleid, über das sie keinen Mantel trug, war von greller, roter Farbe, und in ihren hohen Stöckelschuhen wirkte ihr Verhalten seltsam aufgesetzt und wie „gestelzt“.
„Lass mich rein“, wiederholte sie nun.
„Du kommst hier nicht mehr rein“, wiederholte sich nun auch der Mann an der Tür. „Bring den Werner mit oder komm nicht mehr wieder.“
Michael konnte nicht genau entscheiden, ob der Mann mehr die Macht genoss, die er über die junge Frau hatte, ihr den Eintritt in die Gaststätte zu verwehren, weil er ihr körperlich überlegen war, oder ob es ihm wirklich um „Werner“ ging und die Frage, wie er von dieser Frau behandelt worden war.
Als er jetzt die Tür vor ihr schloss, regte sich in Michael so etwas wie neugieriges Mitleid mit der jungen Frau, die dort drüben in ihrem dünnen, grell-farbigen Kleid und den hohen Stöckelschuhen in der Winterkälte stand.
Sie schien mit der brüsken Zurückweisung nicht gerechnet zu haben, ohne Zweifel war sie hübsch, zwar etwas zu übertrieben grell geschminkt nach seinem Geschmack, aber wahrscheinlich rechnete sie sich so den größten Erfolg bei Männern aus, jetzt aber hatte aus einem ihm nicht bekannten Grund ihr nicht anwesender Freund „Werner“ dafür gesorgt, dass sich dessen Bekannte oder Freunde mit ihm solidarisierten und sie von sich wiesen, weil sie wohl vermuteten, dass sie sich von Werner getrennt habe.
Nervös zündete sie sich eine Zigarette an und versuchte gleichzeitig, mit ihrem Handy anzurufen – dabei glitt ihr dieses aus der Hand und fiel den Abhang hinunter.
Einen Augenblick hoffte Michael, sie habe Glück gehabt, und das Handy sei nicht auf den Gleisen, sondern auf dem Kiesbett zwischen ihnen gelandet, aber sie hatte wohl heute einen ausgesprochen schlechten Tag, denn es blieb tatsächlich auf einem Gleisstrang liegen.
Er sah auf seine Armbanduhr, sie zeigte kurz vor zwei, gleich um zwei Uhr würde der Zug kommen, es galt also, sofort zu handeln, wenn er ihr helfen wollte, das Handy zu retten.
„Warten Sie“, rief er jetzt zu ihr hinüber. „Ich hole Ihnen das Handy wieder, bleiben Sie, wo Sie gleich kommt der Zug.“
Seine Stimme klang rau, sein Vorhaben war gefährlich, es konnte sein, dass der Zug früher kam, aber seine angeborene Hilfsbereitschaft war wie stets auch jetzt stärker als aller Selbstschutz.
Die junge Frau sah zu ihm hinüber, erst jetzt hatte sie ihn wahrgenommen, aber gleichzeitig ging ihr durch den Kopf, dass er die für sie so verletzende, entwürdigende Situation mitbekommen hatte, Mitleid aber war jetzt nicht das, wonach sie suchte, sie war wütend über die empfangene Demütigung und Zurückweisung, da suchte sie eher nach einem Ventil für ihren Zorn.
„Bleiben Sie mal da, wo Sie sind“, sagte sie. „Das kann ich schon selber, Ihre Hilfe brauche ich nicht.“
Sie versuchte, den steilen Abhang hinunterzuklettern und hielt sich dabei an den Büschen fest, die die Bahngleise säumten.
Aber ihre innere Erregung machte sie unsicher, sie verlor auf der Mitte des Abhangs den Halt und fiel auf den Gleisschotter. Er war scharfkantig, und sie zerriss sich dabei ihr Kleid.
Er sah, dass sie blutete, aber sie tat, als sei nichts passiert, griff nach dem Handy und wollte die Böschung wieder hinaufklettern, aber es gelang ihr nicht, sie knickte ein und fiel auf den Boden.
Sie hat sich das Bein gebrochen, dachte Michael, oder den Fuß verstaucht, oder beides.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, rief er.
Er lief über die Eisenbahnbrücke auf ihre Seite hinüber und hangelte sich an den Büschen den Abhang hinunter. Sie hatte inzwischen versucht, sich im Liegen auszustrecken und das Handy an sich zu nehmen, aber sie hatte es nicht erreicht.
Michael hob es auf, fasste ihre Hand und zog sie vom Gleisboden hoch, er stützte sie, sodass sie sich aufrecht halten konnte.
„Wir müssen hier weg,“ sagte er. „Um vierzehn Uhr kommt der Zug.“
Sie wog nicht viel, stellte er fest, schon von seinem Beobachtungsposten am anderen Ende der Eisenbahnbrücke aus hatte er festgestellt, dass sie sehr schlank war, er konnte sie mühelos die Böschung hinaufschieben, allerdings stöhnte sie einige Male dabei, sie schien Schmerzen zu haben.
„Ich bringe Sie nach Hause“, sagte er. „Wo wohnen Sie denn?“
Sie winkte mit dem Kopf zu den ersten Häuserzeilen hinüber, die sich unmittelbar neben den Eisenbahngleisen hinzogen.
„Willst du das wirklich machen?“, sagte sie. Dabei beobachtete er zum ersten Mal eine Angewohnheit bei ihr, die sie stets in Augenblicken, da sie eine Unsicherheit überspielen wollte, ausübte: Sie spielte an ihrem Haar, das sie auf eine Seite gekämmt und zu einem losen Zopf geflochten hatte.
„Ich kann auch jemanden anrufen, der mich abholt, mein Handy habe ich ja jetzt wieder, dank deiner Hilfe.“ Ihre Stimme machte ihn verwundern, sie passte gar nicht zu ihrer zarten Gestalt, sie war tief und melodisch. Wenn sie da in den Mietshäusern am Bahndamm wohnt, dachte Michael, dann gehört sie wohl zu den Arbeitslosen und Alkohol- und Drogensüchtigen, die da in den heruntergekommenen Wohnungen hausen, er selbst hatte noch nie eines der Mietshäuser betreten, er musste zwar auf seinem Schulweg an ihnen vorbei, und er war auch schon von Betrunkenen angepöbelt worden - dass er sie nun dorthin bringen sollte, war ihm höchst unangenehm.
Sie schien sein Zögern zu bemerken, denn sie verzog jetzt ihren Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Das ist dem feinen Herrn wohl doch nicht so recht“, sagte sie. „Hältst dich wohl für etwas besseres“. Dass sie ihn plötzlich duzte störte ihn, aber er erklärte sich dies ebenso wie ihren Spott damit, dass sie selber gedemütigt worden war und nun ihre eigene seelische Verletzung bei ihm abreagierte.
Außerdem war sie ja wirklich verletzt, er hatte begonnen, ihr zu helfen, und nun gab es da kein Zurück mehr, jetzt musste er die Sache auch zu Ende führen.
„Ich bringe Sie jetzt in Ihre Wohnung“, sagte er, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
Sie waren einige Schritte gegangen, als sie plötzlich stehenblieb.
„Wo ist denn dein Tornister?“, sagte sie. „Du hast ihn an der Böschung liegen lassen.“
Das verwunderte ihn nun über alle Maßen, damit hatte er überhaupt nicht gerechnet.
Er hatte sie für oberflächlich und egoistisch gehalten, dass sie in ihrer Situation an seinen vergessenen Tornister dachte, ließ sie ihm nun in einem neuen Licht erscheinen.
„Das wäre ja was geworden“, sagte sie, als er den Tornister geholt und sie sich wieder auf ihn gestützt hatte. „Du hättest ja heute gar keine Schulaufgaben machen können.“
Ohne Zweifel machte sie sich jetzt über ihn lustig, das traf ihn an empfindlicher Stelle, in einigen Wochen hatte er sein Abitur, dann war er Student, und keiner konnte ihn mehr wie einen dummen Schuljungen behandeln.
„Wir bekommen keine Schulaufgaben mehr “, sagte er, und sie merkte an dem Ton seiner Stimme, dass sie ihn beleidigt hatte. „Das schriftliche Abi habe ich schon hinter mir, übernächste Woche sind die mündlichen Prüfungen.“
Jetzt lachte sie, auch wenn es teils spöttisch klang, so war es doch auch ein nettes, versöhnliches Lachen, fand er, auf jeden Fall half es ihm, sich nicht mehr beleidigt zu fühlen.
„Du wirst es schon bestehen, dein Abitur“, sagte sie, und musste gleich danach wieder das Gesicht verziehen vor Schmerz, weil sie mit dem verstauchten Fuß zu fest aufgetreten war.
„Ich kenne dich übrigens“, sagte sie dann. „Und ich kenne dein Gymnasium.“
Alles, was sich jetzt ereignete, schien Michael wie ein Geschehen, in dem er eine Rolle spielte, die er zwar nicht kannte, die aber fest vorgeschrieben war. Darüber hatten sie ein halbes Jahr im Philosophieunterricht nachgedacht, ob es die Freiheit des Willens gab, oder ob alles vorherbestimmt war, Platos Höhlengleichnis wies eher in die Richtung der Priorität der Ideen und des Geistigen, die Wirklichkeit war nur der Schatten, den dieses für den Menschen Unsichtbare an der Höhlenwand warf.
So erlebte Michael eigentlich immer alles gleichsam in zwei Dimensionen, der der ihn umgebenden Sinnenwelt und der wahren Realität der Ideen dahinter, von denen aus alles Geschehene seinen Ausgang nahm und seine Bedeutung erhielt, zu dieser anderen lichtvolle Welt der Wahrheit versuchte er immer wieder vorzudringen, manchmal glaubte er, ihr sehr nahe zu sein, sich aus der aus der Welt der Schatten zu befreien, aus der Dunkelheit der Höhle zur Sonne hindurch zu dringen.
Nun glaubte er, diese Zweidimensionale von Schatten und Licht, auch im Verhalten der jungen, seelisch und körperlich verletzten jungen Frau feststellen zu können, die er nach Hause begleitete:
