Die verlorene Bibliothek - Walter Mehring - E-Book

Die verlorene Bibliothek E-Book

Walter Mehring

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Beschreibung

Walter Mehrings Werk «Die verlorene Bibliothek», 1951 erstmals erschienen, ist ein ebenso brillantes wie trauriges Resümee von Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg und zugleich eine scharfsinnige Analyse der Wirkungslosigkeit von Literatur und Kunst im Zeitalter kollektiver Gewalt. Mehring führt ein faszinierendes Panorama einer untergegangenen bürgerlichen Kultur vor. Ein eleganter Autor ist wiederzuentdecken.

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Walter Mehring

Die verlorene Bibliothek

Autobiographie einer Kultur

Mit einem Nachwort von Martin Dreyfus

Elster Verlag • Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichne diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Elster Verlagsbuchhandlung AG

Hofackerstrasse 13, CH 8032 Zürich

Telefon 0041 (0)44 385 55 10, Fax 0041 (0)44 305 55 19

[email protected]

www.elsterverlag.ch

ISBN 978-3-906065-64-9

E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Umschlag: dreh GmbH, unter Verwendung eines Bildes von George Grosz. © George Grosz | VG Bild-Kunst via Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

Meiner FrauIn Liebe heute – wie ich einst Europa liebte

Inhalt

POST SCRIPTUM: AN DEN LESER

Erster TeilMEINES VATERS BIBLIOTHEK

ERSTES KAPITEL:

Die Regimenter des Fortschritts · Die Bücherschlacht in der St.James’s Library und der Große Weltkrieg · So viele Leichen und keine Seelen · Der Tod und der Aufklärer

ZWEITES KAPITEL:

Von Märchenhexen und Hexenprozessen · Vom Geschlecht Davids bis zu den israelitischen »Rougon-Macquart« · Satanische Genetik der Himmlischen Eingebung · Von den »Künstlichen Paradiesen« bis zu den »Journées de Sodome« · »Ergötzliche« Perversitäten

DRITTES KAPITEL:

Intermezzo »Das Liebeskonzil« · Von irdischer Obrigkeit und Teufelsunschuld · Aus »Klingsors Zaubergarten« mit Strindberg »Nach Damaskus« · Ohne Gott und Liebe – Marx: »Das Kapital«

VIERTES KAPITEL:

Die drei Einheiten · »Entweder/Oder«: Alles oder nichts! · Hauptmann contra Sudermann im Bühnenring · Salto mortale des Intellekts Pubertätstragödien und Traumspiele · Die Konstante

FÜNFTES KAPITEL:

Das »Wachsende Schloß« und die Abtei von Thélème · Die Guillotine der Freiheit · Baudelaires »Entblößtes Herz« und Schiffbrüche am Magnetpol der Schönheit · Das Zeitalter der Mörder und die Bibliothek der Heiligen Genoveva · »O saisons! O châteaux!«

SECHSTES KAPITEL:

Die prophetische Vision des Arthur Rimbaud · Das »Allbuch« und das neue Glück · Die »Strategie der Verführung« – Seelenblindheit und der leere Raum · Die unverdauliche Hexensuppe der Madame Blavatsky · Auf medialem Wege über die »Anima Mundi« zu Swinburne’s Sprachorgel · Pre-Raphaelites – Futuristi – ein letzter Dandy und Stramms rasante Rhythmen · Expressionen

SIEBTES KAPITEL:

Vom Caféhaus und vom »Verlorenen Paradies« · Abschied vom Preußentum im »Größenwahn« · Schach der Erotik und dem Kapital · Pfemfert – Walden und der »Silen im Sakko« · Die Dadaistische Manifestation zu Weimar und die Rückkehr zu den Wilden

ACHTES KAPITEL:

En rétrogradant · Volksverbunden und bodenständig · Salonhyänen und Finanzhaifische im Höllenrachen der Tradition · Mystik und Aberglaube · Mit Jona im Bauch des »Weißen Wals«

Zweiter TeilDIE VERUNTREUTE BIBLIOTHEK

NEUNTES KAPITEL:

»Kritik der reinen Vernunft« · Sibirischer Wettereinbruch und rotes Schneesturm-Epos · Kantianer mit Schwert und Beil · Begegnung mit dem Geist der Bibliothek · Ein deutscher Danton: Toller

ZEHNTES KAPITEL:

Monolog mit dem Geist der Bibliothek · »Austria Erit In Orbe Ultima …« · Von der »Wunderschönen Dame« · Von literarischer Ehre und fruchtbarer Eitelkeit · Die Tragik des Sprachathleten · Von der Geburt des Surrealismus · Reiz und Irrtum

ELFTES KAPITEL:

Wo bleibt die Moral? · Von der Entpersönlichung bis zur Umschmelzung des Menschen · Die Wollust der bräutlichen Maschine · »Circe« und »Lady Chatterley« · Fluß-Gott des Blutes

ZWÖLFTES KAPITEL:

Pestvögel in Sicht · Abstecher ins tschechische Prag · »Tiere in Ketten« · Über Franz Kafkas »Verwandlung« und den »Augenzeugen« Dr. med. Ernst Weiß · Wach- und Traumbiographien

DREIZEHNTES KAPITEL:

Heldenromanze mit »Harfenjule«-Liedern · Sturm im Tintenfaß · Etüden in fremder Mundart und »Kulturelle Blutschande« · Von Riesenfriedhöfen und gekrönter Schamlosigkeit · Im Orden der Trunkenbolde zur Beichte beim »Heiligen Trinker« · Der Höllensturz der Bibliothek · Ausgeplünderte Bildungsopfer und verstreutes Gedankengut im toten Brunnen · Seelen-Wüsten-Wanderung

Epilog

AUF EINER NEW-ENGLAND-FARM:

Abstand von böser Erinnerung · Sommergast im Land der »Ziegenmelker« · »Gott ist die Liebe!« · Der »Schwarze Mönch« · Sturmwind über Paris · Halbwahrheiten · »Hinaus! Nichts als hinaus!«

NAMENSVERZEICHNIS

Nachwort

MARTIN DREYFUS:WALTER MEHRING – AM RAND DER ZEIT

Post scriptum: An den Leser

»Autobiographie einer Kultur«

Den Untertitel gab Professor Barzun (von der Columbia University, New York), dem der amerikanische Verlag die englische Version (von 1946) zur Begutachtung vorgelegt hatte. Und so mag diese Benennung auch in die Neufassung übernommen sein, die – erweitert und so verändert, wie das zu geschehen pflegt, wenn man sich selbst nachliest – dem ursprünglichen Plan folgt und den gleichen Richtlinien, nämlich: der Auseinandersetzung aus dem Gedächtnis mit einem angelesenen, geplünderten, auf zweimaliger Flucht endgültig verlorenen Büchererbe.

»… es lag mir«, wie es im ersten Teil gesagt steht, »nicht so sehr an den Büchern im einzelnen, als vielmehr an jener historisch, ästhetisch, philosophisch einmaligen Konfiguration, wie sie sich in der Bibliothek meines Vaters, in seinem speziellen Horoskop des XIX. Jahrhunderts eingestellt hatte.«

Es war eine Probe, die man bei jedem Vermächtnis machen sollte: wie weit stimmt das noch? – und eine Selbstprüfung: was hast Du eigentlich davon noch behalten?

Es wurde eine Konfrontation mit den Büchern und Autoren und ihren Schicksalen – den fata meiner Generation-, doch ausschließlich mit denen, die im Augenblick der Niederschrift mir wahrhaftig, erinnerungsgetreu dazu einfielen. Dies bildete das einzige Kriterium!

So auch erklärt es sich, entschuldigt es vielleicht nicht, wenn sehr viele hervorragende Schriftsteller fehlen, die in der Bibliothek meines Vaters standen – und ebenfalls manche neuere, denen heut’ unsere respektvolle Bewunderung gebührt.

Ob auch morgen noch? Das hängt von uns nicht mehr ab; sondern allein von der Nachwelt – falls es noch eine geben sollte – oder von den Ereignissen, die ihr noch bevorstehen.

Ich habe mich strikt an mein Gedächtnis gehalten, mit dem ich vorlieb nehmen mußte wie mit dem verwohnten Mobiliar des basement in einem abbruchreifen Brownstone-Haus, Manhattan uptown.

Als Vorübung kam mir nun der Aufenthalt in einem Vichy-Frankreich-Lager (Saint Cyprien) für feindliche Staatenlose zustatten; mit seiner zur Gewohnheit gewordenen Alltäglichkeit von Stacheldraht; Typhus; und Müßiggang, der bekanntlich aller Laster Anfang ist – und somit auch der Literatur.

Bei meiner Einlieferung waren, wie jedem der circa 5000 Zwangs-Asylberechtigten unter dem Jochbogen zur pyrenäischen Flugsandwüste, so auch mir alle Habseligkeiten abgenommen worden – 250 Papierfrancs, ein Päckchen »Caporal«-Zigaretten – und ein Schullesebändchen (Alphonse Daudet: »Tartarin«), das ich noch rasch in Elmes in einer Papéterie gekauft hatte; das Letzte – bis auf Hemd, Hose, espadrilles und mein notdürftiges Erinnerungsvermögen.

Es lagerten (denn zum Aufrechtstehen bot Platz bloß der Mittelgang zur Unrattonne) in der Dachpappenbaracke des (Straf-)»Ilôt spécial« circa vierzig »Ehemalige«: Ex-Minister, Ex-Exzellenzen, Ex-Irgendetwasgewesene; u.a. vier Rechtsanwälte, die mit selbstmarkierten Pappstückchen Skat kloppten; zwei Spanienkämpfer, die einander das »Kommunistische Manifest« abhörten; ein (Wiener)Arithmetiker, der schwierige Zahlenkolonnen aus dem Kopf multiplizierte und dividierte; ein jugendlicher (Berliner)Arbeiterdichter, der seine Barrikaden-, Freiheits- und (homosexuellen)Liebesgedichte uns und sich vortrug.

Aber eben von dem Gedankenaustausch mit ihm – in Ermangelung von etwas Brauchbarerem (und von Schreibpapier) profitierte ich viel für die späteren Aufzeichnungen; um so mehr, als auch er Berliner war; – mich schon früher »dem Namen nach gekannt«, ein paar meiner Verse in Carl von Ossietzkys »Weltbühne« gelesen hatte, ja, sogar ein Chanson auswendig wußte – was mir, obwohl gerade dies nicht von mir war, doch sehr schmeichelte.

Sein Bildungshunger und -durst schien infolge der fleischlosen Gefangenenkost in rostigen Konservenbüchsen so unersättlich, infolge Sexualabstinenz wie ein Danaidenfaß so bodenlos, daß er mir bereitwillig, ja gierig zuhörte, wenn ich als Gegenleistung für seine poetischen Ergüsse auch mein Herz, meinen Kummer über die verlorene Bibliothek vor ihm ausschüttete; den ganzen Inhalt – Ästhetik, Belletristik, Erotik, Schmutz und Schund.

Denn schließlich – wie Hermann Kesten schrieb: »… wie alle Schicksale sind auch jene der Exilierten nur in den Einzelheiten verschieden, in den großen, entscheidenden Zügen (aber) einheitlich …«

Grauenvoll einheitlich!

Genau so für jene, die emigriert wurden, wie für irgendeine »innere Emigration« … für jeden der Bewegungs- und Meinungsfreiheit Beraubten.

Nichts schien mir (es war einmal) so sagenhaft unwahrscheinlich, wie: irgendwann mal noch der Anblick eines weiblichen Wesens – oder die Aussicht, an einem Schreibtisch zu sitzen – irgendwo.

Daß ich doch noch zu beidem gekommen bin – in meiner Ehe mit Marie-Paule, einer französischen Malerin aus Dijon, und in unserem living-room basement, 89 street West – verdanke ich meiner egozentrischen Eitelkeit und sonstigen mehr oder weniger obskuren Motiven dieses Buches,

das, Gott behüte uns alle davor, keine Endlösung ist, eine Notlösung! AMEN!

Walter Mehring

Erster TeilMeines Vaters Bibliothek

Die mit einem * bezeichneten Übersetzungen ins Deutsche der im folgenden zitierten fremdsprachigen Texte sind vom Autor besorgt worden.

Erstes Kapitel

Die Regimenter des Fortschritts

Die Bücherschlacht in der St. James’s Library und der Große Weltkrieg

So viele Leichen und keine Seelen

Der Tod und der Aufklärer

Gewohnt habe ich zum letzten Male wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen. Wie oft seitdem das Landschaftsbild im Fensterrahmen gewechselt hat – und ein paar Mal war es vergittert –, vermag ich mir nicht mehr zu vergegenwärtigen. In Wien stand noch mein Büchererbe vor seinem Fall – ins Exil gerettet dank der Komplizität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attachés, des Lyrikers Camill Hoffmann (aus der Prager Dichterrunde der Werfel, Meyrink, Kafka, Capek, die alle etwas kabbalistisch angehaucht waren); – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.

Überallhin früher, als ich noch auf Reisen ging statt auf die Flucht, hatte ich stets ein paar Bände mitgenommen – für jedes Klima:

H. C. Andersens »Erzählungen« nach Odense – (sein provinzlerisches Giebelhaus und die Gasse, wo jeder Andersen hieß, rochen nach Museum; im säuberlich modernden Salon warteten »der trauernde Zylinderhut«, die ausgetretenen »Galoschen des Glückes« und ein verbeulter Koffer, auf dem man aber durch den Kamin fliegen konnte, wenn man auf das Schloß drückte – und andere seiner Hauptpersonen, als wäre H. C. nur eben mit Spitzenhäubchen und Schürze transvestiert auf einem Altweiberklatsch in der Nachbarschaft).

Captain Marryat, Sealsfields »Kajütenbuch«, und – für den Notfall: Jules Vernes »20000 Meilen unter dem Meeresspiegel« auf meine erste Seesturmfahrt Hamburg-Newcastle auf einem Kohlenfrachter.

Des Louis-Sébastien Mercier prophetisch-satirische Reportagen aus den letzten Tagen des Absolutismus: »Tableau de Paris« und Balzacs »Comédie Humaine« zur lange vorgeplanten Übersiedlung nach Paris – noch immer die brauchbarsten Führer im Umgang mit französischen Ämtern, Justiz und Presse.

Ovids »Metamorphosen« ans Mittelmeer, wo sie sich in Olivenhainen um die Gespensterstunde Pans ereignen, wenn die Sonne im Zenit steht.

Immer und überallhin den Cervantes, als erste Hilfe und als Herzenstrost für jede Torheit – und als Textbuch zur Freiheitstravestie der letzten Spanischen Republik, die als schlechte Tragedia Soldades des verwaisten Sancho Pansa und des ritterlosen Rosses Rosinante endete.

Den »Exodus« in die saharische Pyramidenstadt Ghardaja – im algerischen M’zab –, wo die Abaditen hausen, in ihrer islamischen Verbannung, unter ihnen die letzten authentischen Israeliten, die sich »Ishuruni« nennen: die »Aufrechten«.

So hatte ich noch überall meines Vaters Bücher um mich gehabt, ein Stück Zuhause …

Und als ich die Bibliothek im Stich lassen, als ich Hals über Kopf aus Wien auf und davon mußte – sodomitisches Gegeifer spie mir aus jedem Gassenschlund entgegen –, als ich, dem anrasenden Mob ausweichend, durchs Parkdunkel zum Westbahnhof hastete, vorbei unter dem öden Doppelfenster meines Lese-, Wohn- und Schlafzimmers, da begriff ich plötzlich den Exils-Rat der Engel an Lot: nach Sodom und Gomorrha sollte man sich nicht einmal umsehen … Und ich wandte mich ab, um nicht zur Salzsäule zu erstarren.

Ich ließ den Schutzwall hinter mir, den einst mein Vater mir errichtet hatte – aus Tausenden von Bänden-, jeder ein Anathema seiner weißen Aufklärungsmagie, kraft der er, der fortschrittsgläubige Atheist, sich gegen die Rückfälle ins Werwolftum gefeit geglaubt hatte.

Gefangene nun, doch nicht entwaffnet, zum Schweigen nicht zu bringen, trotzten die Bücher weiter, Schulter an Schulter, widerstandsbereit – und stritten sich untereinander noch weiter über Gott und die Welt.

»Gott ist, weil meine Vernunft ihn in der Weltordnung so ansetzen muß wie die Geometer ihre Figuren …«, fingen die Cartesianer an.

»Gott ist gewissermaßen aus einem Destillationsprozeß der vielen Götter entstanden …«, fiel ihnen der Materialist Friedrich Engels ins Wort, ohne ihre schwache Stelle in der Vernunftskette bemerkt zu haben.

»Gott ist ein gasförmiges Wirbeltier …«, knurrte hinter seinem darwinistischen Katheder Universitätsprofessor Ernst Haeckel (Jena), forschend, ob sich noch ein Laie einen Einwand erlauben werde.

»Das große Eiapopeia vom Himmel …«, mischte sich ungefragt der vorlauteste aller Literaten, Heinrich Heine, ein, dem mein Vater jede Ungezogenheit gestattet hatte.

Aber Stendhal dekretierte kurz und bündig: »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt.«

»Selbst wenn …«, dröhnte die Stimme Baudelaires, »selbst wenn es Gott nicht gäbe, würde die Religion immer noch geheiligt und göttlich sein.«

Doch da ging der Tumult von allen Seiten los: »Snob! Renegat! Reaktionär!«Und um ihn beizulegen, hatte mein Vater dann immer, zur Wut des Baudelaire, den Voltaire herbeizitiert:

»›Diese Herrlichkeit kann nur ein Maulwurf geschaffen haben!‹, sagte der Maulwurf. – ›Unsinn! Ein Maikäfer!‹, sagte der Maikäfer.«

»Sic!« hatte mein Vater an den Rand geschrieben. Und da er eine göttliche Vertrauensseligkeit in die Aufklärung der Gattung Mensch besaß, hatte er sich als »Dreyfusard« zu sechs Monaten Festungshaft verurteilen lassen, um in den Orden der Irreligiosi aufgenommen zu werden.

»All die Bücher werden Dir einmal gehören, wenn ich tot bin«, hatte mein Vater gesagt, so oft ich mir einen Band ausleihen kam. Das also sollte mein Erbe sein. Auch der breite Mittelschrank, den die schwierigen Griechen und Lateiner okkupierten: die Plutarch, Thukydides, Tacitus, Sueton, die ich als verzwickte Aufsatzthemen, als Turnübungen der Deklination und Konjugation (mit Aorist-Hindernissen) betrachtete. Wie hätte ich da denn vorauswissen sollen, daß aus den studierten Söhnen der Geisteselite, die zu Bayreuther Weihfestspielen wallfahrtete, über Maeterlinck-Debussys »Traumtempel« sich verwunderte, Zarathustras »Trunkenes Lied« litaneite, darwinistischer Zuchtwahl sich unterwarf, an den sozialistischen Bußpredigten der Jean Jaurès, August Bebel sich erbaute – wie hätte ich ahnen können, daß aus meinen Konpennälern ein Geschlecht von Praetorianern, Folterknechten, Rekordamokläufern, Progromopfern heranwuchs; daß ich noch einmal selber einer bluthemdigen Krypteja, neronischen Brandstiftern leibhaftig begegnen sollte; … daß ich das ganze Pensum: »ὃ μὴ δαρεὶς ἄνδρωπος οὐ παιδεύεται!« »Dulce et decorum est pro patria mori!« – »Bellum civile«, »bellum gallicum«, von Gymnasiastenschindern auf humanistischen Kasernenhöfen uns eingebleut, in mörderischem Anschauungsunterricht würde nachsitzen müssen.

In die Klasse nahm ich mir ein paar »ungereinigte« Klassikerausgaben mit – so fiel es nicht weiter auf – zum Privatstudium unter dem Pult: die »Hetärengespräche«, die »Ars amatoria«; Catull (»Ac me facit delicias libidinesque …«; das habe ich bis heute behalten!). Bloß auch dies gehörte unwiederbringlich dem Altertum an wie die marmornen Torsos der Venusbusen und -hinterbacken. Denn was ich von der Damenwelt und Halbwelt zu sehen bekam, war in Korsetts eingeschnürt und in sackförmige Schlepproben eingewickelt.

Durch gar nichts war ich für ein Märtyrerleben vorgeschult, das ich heute führen müßte, um so gerecht, so standhaft zu bleiben, wie das mein Vater in seiner entwaffnenden Ahnungslosigkeit des Kommenden mir beigebracht hatte:

»Justum et tenacem propositi virum

Non civium ardor prava iubentium

Non voltus instantis tyranni

Mente quatit solida.«

sagt der alte Horaz.

Dem Mann des Rechts,

der fest am Entschlusse hält,

macht nicht die Volkswut,

die ihn zum Schlechten drängt,

nicht eines Zwingherrn drohend Antlitz

wanken den stetigen Mut.

Doch ein Verdacht stieg früh schon in mir auf, als ich einst im Bibliothekszimmer den mündlichen Bericht eines russischen Pressekollegen meines Vaters über die zaristischen Polizei-Verfolgungen, über die Kerker der Peter-Pauls-Festung und die sibirischen Strafkolonien mit anhörte. Mein Vater hatte mir gerade kurz zuvor Dostojewskijs »Totenhaus«-Memoiren zu lesen gegeben – und das »Sibirien« des amerikanischen Heldenjournalisten Kennan, die erste Reportage eines neutralen Augenzeugen, der sich mit gefälschten Deportationspapieren hatte verschicken lassen und der mit entwendeten Geheimkabinett-Orders des Zaren zurückgekehrt war, um durch Dokumente die freie Weltmeinung aufzurühren.

Der letzte Besucher, den mein Vater in seiner Bibliothek empfing, war der Student und Kriegsfreiwillige Ernst Toller, der ihm ein paar schüchterne Anfängergedichte vorlegte – unterwegs zu den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.

Eine Stunde später stürzte mein Vater mir in die Arme, mitten im Vorlesen, mitten in einem Satz aus Kants »Kritik der reinen Vernunft«.

»Halte mich doch!« waren seine letzten Worte.

Und dann mußte ich das Erbe antreten.

Ich hatte in den folgenden 20 Jahren seltener und seltener davon Gebrauch gemacht.

Auf kurzem Kommißurlaub – in entlaustem Uniformzeug, Kanonenstiebeln, Hände an der Hosennaht – traute ich mich an die Bücher nicht mehr heran, die mir den Rücken zukehrten: dem Muschkoten. Ich gehörte nicht mehr zu ihrer Literatur. Es war das Sterbezimmer einer Epoche.

Und nach der Niederlage, die auch keine Lösung brachte, die den Weltkrieg in Straßenschlachten fortsetzte – Freikorps – Stahlhelm – Putschsoldateska – Rotfront –; gegen diese George-Grosz-Monstren von Revolution, Inflation gab es nur eine Waffe: die blanke Ironie, die der Spießer von Rechts bis Links immer eine Sekunde zu spät kapiert (DaDa – Jiu Jitsu; und Huelsenbecks »Phantastische Gebete«). Es war aussichtslos, den Narrenpropheten im Vaterland zu spielen, Wohlstands- und Notstandsverblendeten die Augen öffnen zu wollen, angesichts einer schon offenbaren babylonisch verhurten Apokalypse.

10 Jahre nomadisierte ich als métèque auf dem Montparnasse unter »poètes mandits«, unter den Literatenparias bolschewistisch-faschistischer Diktaturen, amerikanischer Selfexpatriates; fünf Jahre als ausgebürgerter »Indésirable« – »vos papiers, s’il vous plait!« – auf den Korridoren der französischen Präfekturen, bis es mir zu wüst wurde und ich mich aus dem Staub der großen exdeutschen Schriftstellerkarawane machte – in die Oase Wien, zum Sprach-Stamm meiner österreichischen Kollegen am Rand ihres Witzes und der Verzweiflung.

Ich wollte noch einmal wohnen, mir einen Rausch anschaffen auf den Heurigen-Bänken der Spötter, noch einmal daheim sein in meiner eigenen Bibliothek.

Aber es lag mir nicht so sehr an den Büchern im einzelnen, sondern an jener historisch, ästhetisch, philosophisch einmaligen Konfiguration, wie sie sich in der Bibliothek meines Vaters, in seinem speziellen Horoskop des XIX. Jahrhunderts eingestellt hatte. Und so wie sie war, unheilbedeutend oder voll trügerischer Prognosen, wollte ich sie noch einmal nachprüfen.

Den ganzen ersten Tag über, vom Morgengrauen an, seit ein paar verdrossene Transportarbeiter Kiste auf Kiste abgeladen hatten, die sie wahrscheinlich in ihrer Wiener notleidenden Einbildung mit materiellen Genuß- und Luxusartikeln angefüllt glaubten, las ich mich sinnlos voll …

Man kann dem Lesen so gesundheitsschädlich verfallen wie jedem anderen Rauschmittel, besonders als Europäer, der ja durch lange erbliche Belastung im gleichen Prozentsatz alkohol- wie büchersüchtig ist.

Man greift zum Buche wie zum Glase, um sich über die deprimierende Nüchternheit der Zeitungssensationen hinwegzutrinken, um den widerlichen Nachgeschmack der Medizinen, die man uns in den Spitälern der Zwangs-Heilversuche eingibt, herunter zu spülen. Und nichts hilft so wie ein süffiges Getränk-, wie Genuß von abgelagertem Pathos, vorzüglich in Versen konzentriert, um sich gleich edler und erhabener zu fühlen. Doch hält man sich nicht lange an die guten, erlesenen Jahrgänge. Und beim Lesen wie beim Trinken steigert man allzu rasch den Spiritusgehalt; man sucht nach Selbstbekräftigung und zugleich nach genereller Absolution. Abnorme Gelüste, deren man sich wie eines versteckten Geburtsfehlers, wie einer krankhaften Veranlagung geschämt hatte, findet man bei erhabensten Genies im Schaffensrausche ausgeplaudert.

Unzüchtige, niedrige Infamien, die man sich zu äußern nie getraut hat, sind in ältesten Texten längst für uns ausgeführt, sogar, ja besonders, in den Epen der Nationalheroen: des »Beowulf«, der »Nibelungen«, deren Rachsüchtigkeit wir mit der Muttermilch der Schulweisheit eingesogen haben.

Ja, es erweist sich, daß gerade die Reformatoren, die Weltumstürzler, die geborenen Führernaturen, gerade jene, die erst mal alle zeitgenössischen Druckerzeugnisse zensieren, verbieten, verbrennen lassen, von Lektüre durch und durch vergiftet sind, daß sie sich an vulgärstem Fusel eines Drako, Jean Bodin, Hobbes usw. ihren Fanatismus angelesen haben und im Katzenjammer ihre mörderischen Beglückungstaten verüben.

Doch nie hatte mein Vater wohl – ein Zauberlehrling, ein Musterschüler der kritischen Vernunft – unter den Bänden seiner Bibliothek die Toxine, die Keimträger okkulter Epidemien geargwöhnt; weder er noch die anderen Hochgebildeten, die es mit der allgemeinen Schulpflicht so streng, so buchstabengläubig nahmen wie ihre Vorväter mit dem Kirchgang; die aber dabei mit allem Gedruckten Schwarz auf Weiß nicht weniger fahrlässig umgingen als ihre Magie der Experimentalwissenschaften mit Pestkulturen, Astralgemischen, mit den gefährlichsten Komponenten der Seele: Genie und Irrsinn.

Nie – wenn nicht in der Hellsicht aus dem Todesschatten – ist es meinem Vater wohl klar geworden, daß sein Studierzimmer: der persische Diwan und das Eisbärenfell davor und die Auerglühstrumpflampe neben den Rezensionsexemplaren und Korrekturfahnen auf dem Nußbaumschreibtisch und die gerahmten Lyonel-Feininger-cartoons nichts anderes als eine Fin-de-siècle-Replik einer Alchimistenklause darstellte.

Nie, daß er, der überzeugte Freidenker,

»weh, im Kerker noch

beschränkt mit diesem Bücherhauf

den Würme nagen, staubbedeckt,

den bis ans hohe Gewölb hinauf

ein angeraucht Papier umsteckt

… Urväter Hausrat dreingestopft«

stets eine Faust-Marionette geblieben ist des Goethe-Mephistopheles; an den Drähten eines mechanischen Weltgetriebes im Fortschrittskreis herumgeführt; in seinem mandala der erforschbaren Realität; während er sich eingebildet hatte, er und seine Mitmenschheit sei im Aufstieg begriffen, und er wie sie handele aus autonomer Erkenntnis.

Denn verblendet von den Illusionen des Positivismus und Pragmatismus, in der Sylvesternacht vom XIX. zum XX. Jahrhundert habe auf den Glockenschlag 12 die Befreiungsstunde des Universalgeistes geschlagen; schutzgeimpft mit pharmazeutischen Mixturen gegen die bösartigen Genien der Luft und des Wassers: die Bakterien; abgeschirmt durch die theoretische Physik gegen die »unsichtbaren Strahlen« des Universums, gesichert durch ein atheistisches Konkordat mit dem Sozialismus, hatte mein Vater sich vermessen, auf den gestirnten Himmel über ihm und den moralischen Höllenzwang in ihm va banque zu spielen.

Da ereilte ihn die Bankrotterklärung seiner Weltanschauung: der Erste Weltkrieg.

Mein Vater wurde davon in einem medizinisch approbierten Wunderkurort (Bad Nauheim) für Schwer-Herzleidende überrascht, wo ihm das Schreiben und jede Aufregung überhaupt untersagt war. Und als er die Redaktionsdepesche von dem Sarajewo-Attentat auf den österreichischen Thronfolger erhielt, stand er von seinem Liegestuhl unter den Mitkranken auf und sagte als geübter Zeichendeuter der Presse:

»Das bedeutet den Weltkrieg!«

Und als er einen Monat später, kränker als zuvor, zu seinen Büchern heimkehrte, dampften an ihm vorbei die ersten Transporte humanistisch gebildeter Einjährig-Freiwilliger und einer sozialistisch international vorgeschulten Arbeiterschaft, jeder mit der Eisernen Ration, der Felddienstordnung und dem Feldgottesdienstbuch – aber auch, rühmten ihre Erzieher sich, mit Goethes »Faust«, Nietzsches »Zarathustra« im Tornister; jeder dem Mobilmachungsbefehl gehorchend, doch auch Kants »Kategorischem Imperativ«: alle Mann zur Weltoffensive Potsdams, aber auch zur Verteidigung der deutschen Geniestadt Weimar.

Denn solange die Bibliothek noch stand, stand noch alles in den Büchern. Und unerschüttert blieb meines Vaters Buchvertrauen.

So ungeheuer, so absurd dem Verstand des einzelnen das Verhängnis im Augenblick erscheinen mochte, es hatte nichts Mystisches an sich. Dreifach war es aus den Denksystemen des vorigen Jahrhunderts logisch geweissagt worden:

– Aus der Praehistorie von den Darwinisten: Bestimmung ist Kampf ums Dasein, aus dem als Sieger die anpassungsfähigste Kreatur von der Natur auserwählt wird; »beklagenswert vielleicht, wenn dabei ein paar Generationen, auch ganze Völkerschaften zu Grunde gehen, aber begrüßenswert sicherlich, da es der Höchstentwicklung der Fortpflanzung dient«.

– Aus der Degeneration der jüdisch-christlichen Moraltheologie die Nietzscheaner, die einen Jüngsten Gerichtstag über das Abendland anberaumt, den Übermenschen (»rechtwinklig an Leib und Seele«) als Richter über die »Vielzuvielen« eingesetzt hatten.

– Aus der historisch-ökonomisch bedingten Heilslehre die Wiedertäufer des Proletariats, die gedroht hatten, der Messias der Geistesarmen, der Überwinder der verhegelten »Abstraktdialektik« werde sich in erbarmungslosen Klassenkämpfen offenbaren.

Noch standen die Bücher, ausgerichtet in Regalen, fest wie die Mauern Trojas um die geraubte Schönheit Helena; – noch standen die Geschütze der Menschenrechte, zielsicher wie die Kanonenrohre der Französischen Revolution gegen die Heilige Allianz vor Valmy; – noch standen die Fronten des Humanismus, nach Disziplinen aufgestellt, wie zu Beginn der »Bücherschlacht in der St. James’s Library anno 1697«, zwischen den Autoren des griechisch-römischen Altertums und den (damals) Modernen, von deren Verlauf der schneidigste Haudegen der Polemik, »The Honourable« Jonathan Swift, uns Bericht erstattet hat:

»In diesen Büchern …«, so schwärmte der militante (nachmalige) Dekan der St.-Patricks-Kirche, »ist der Geist eines jeden Kämpfers zu seinen Lebenszeiten wundervoll enthalten und bewahrt; und nach seinem Tode wandert seine Seele in die Bücher ein, um sie zu begeistern … So dürfen wir wohl sagen, daß ein ruheloser Geist über jedem Buche geistert, bis es dem Staub und den Würmern zur Beute wird, was manchem schon in kurzen Tagen, andern früher oder später widerfährt; deswegen hat man stets Bücher strittiger Natur in separaten Fächern von den übrigen verschlossen; und aus Furcht vor Gewalttätigkeiten unter ihnen hielten es unsere Vorfahren für geraten, die Bände um des Friedens willen fest und eisern anzuketten.« *

Gespenster – das wußte mein aufgeklärter Vater – sind bloß rhetorische Hofnarren der Shakespeare-Bühne, kindische Puppen der Kasperletheater, Elementargeister der Romantik, die man besser hinter Buchstaben gefangen halten, die man anbinden und einbinden sollte.

Ohne eine poetische Lizenz ließ er sie nicht durchgehen. Die Überschreitung der sinnlichen Wahrnehmung, die Transzendenz der logischen Grenzen, gewährte er ihnen nur in der poésie pure, in der reinen Klangassoziation, deren Gesetzmäßigkeit er studiert hatte (er hatte eine Reim- und Verslehre verfaßt), – nur in der impressionistischen und pointillistischen Malerei (die durch die Spektral-Farbenanalyse des Physikers Helmholtz wissenschaftlich fundiert schien), – in der ihn eher befremdenden Musik, wo aber seine Frau, meine Mutter, heimisch war. Alle anderen Phänomene des Gefühls erklärte er sich als (vermutlich elektrische) Störungen des Zentralnervensystems.

Gegen die Schrecken der Ammenfurcht, gegen meine Kinderängste vor den Geistern der Finsternis suchte er mich in einem lichtlos abgedunkelten Schlafzimmer abzuhärten.

Ich war schon das zweite Mal – resultatlos – gegen Pocken geimpft, als ich von einem bildhübschen Stubenmädchen von einem Lieben Gott erfuhr, der auch im Dustern alles sah.

Und als ich dann in der Schulklasse bei der Prüfung zurückblieb, durch meinen ersten Liebeskummer abgelenkt, fand ich zu Haus auf meinem orthopädischen Patent-Lesepult: Dr. Thesings »Leichtfaßliche Einführung in die Fortpflanzung und Vererbung« und eine Broschüre des Genfer Ameisenprofessors Auguste Forel »Die Gefahren der Selbstbefriedigung«, damit ich durch Bücher wieder zur Einsicht käme; denn meines Vaters war der Erdenwandel eines makellosen, mit Emotionen nicht bestechbaren Publizisten, der solidarisch mitmarschierte in den Reihen der Unterdrückten und Beleidigten gegen die obskuranten Schicksalsmächte: Pfaffentum und Militärkamarilla, Schwerindustrie und Großagrariertum. So streng wie er in seiner Familie, im Kollegenkreis und an sich selber war (absolute Abstinenz von theologischen Spirituosen, Vermeidung jedes liederlichen Verkehrs mit Gespenstern), verwies er auch seinem Himmel irgendwelche astrologische Scharlatanerien, und der Natur jede, das heißt: mikroskopisch oder chemisch nicht nachgeprüfte Kurpfuscherei.

Er war ein Gerechter der Feder, ohne Ansehen der Legende. Und nie hätte er – wie ein Iwan Karamasow – den Menschensohn einem Großinquisitor überantwortet; aber den Gesalbten Wundertäter hätte er unerbittlich vor eine »Kommission unparteiischer Gelehrter«(nach dem Muster des Jesus-Biographen Ernest Renan) vorgeladen und ihn höflichst ersucht, »seine Experimente unter streng wissenschaftlicher Kontrolle zu wiederholen …«

Indessen konnte es meinem Vater nicht verborgen bleiben, wenn er den Frühappell seiner Bücher abnahm, daß es auch auf den Regalen der Realistik, auch des Historischen Materialismus, der »reinen Wissenschaft«, oft nicht mit rechten Dingen zuging: daß dort abgelebte Wahnwesen meuterten, die er für längst begraben auf dem Friedhof des Mittelalters gehalten hatte; daß Sphinxe und Greifen und ähnliche Sexual- und Seelenzwitter da noch horsteten; daß sich da jeden Morgen Spuren nächtlicher Übergriffe zeigten, begangen von unbeurlaubten Trieben in einem »Jenseits von Gut und Böse« (»Das schöne Verbrechen«; »Mord, als Kunst betrachtet«; »Die Kunst des Verbrechens«). Waren nicht – zufolge der modernen Psychopathographen Cesare Lombroso, Griesinger, Schrenck-Notzing – »Propheten und Revolutionäre« und »Caesaren und Poeten« krankhaft oder kriminell veranlagt? Waren nicht die Religionsstifter wie wahrscheinlich der Buddha und Mohammed, Strategen wie Napoleon, dämonische Schriftsteller wie Dostojewskij Epileptiker? Manisch Depressive wie Dante und Tolstoj; Paranoide wie Newton und Blake? Neurastheniker wie Molière? Von Dementia praecox Ergriffene wie der Lyriker Hölderlin, dieser Ausbund des deutsch-griechischen Weltschmerzes? Dionysisch-progressive Paralytiker? Zarathustrische Veitstänzer wie Nietzsche? Ausgeburten der Romantik, Atavismen gespensterten unbehelligt ins Alltagsleben hinüber …

Der animalische Magnetismus des Scharlatans Mesmer – die Hypnose, die man sich allenfalls in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, in Edgar A. Poe’s »Tales of the Grotesque and Arabesque« gefallen ließ, die man so lange als Jahrmarktsschwindel abgetan, ereignete sich nun im Hörsaal der medizinischen Fakultät der Sorbonne unter dem vertrauenswürdigen Professor Jean-Baptiste Charcot. Traumdeutung von Zigeunerinnen und schwachsinnigen Dienstboten betrieben, wurde von einem Charcot-Schüler, einem Wiener Doktor, therapeutisch appliziert. Selbst in Amerika, in der Neuen Welt der Edison-Apparate und des Barnum-Reklamehumbugs, hatte ein Mitgründer des »Pragmatismus«, ein Detektiv des privaten Innenlebens – William James – ein »sublimiertes Selbst« ausspioniert, das unter der Bewußtseinsschwelle »verhehlte Erinnerungen aufspeichert und jederzeit bereit ist, in die Realität einzubrechen (›… und niemand weiß, was es da oben anstellen werde‹)«. Und der russische Biologe Bechterew meldete den Ausbruch von Massensuggestionen, die sich von Hirn zu Hirn so übertrügen wie Epidemien durch Bakterien.

Freilich, all diese mystischen Meutereien spielten sich in dem noch umstrittenen Niemandsland der Psyche ab – und noch unterdrückte sie mein Vater mit dem Satz des Totenexperten Rudolf Virchow, der Leuchte der deutschen Anatomie: »Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden.«

Dazu fallen mir ein paar Verse ein, die mein Vater aus meinen Kinderfragen zusammengereimt hatte:

»Wo war ich, bevor ich war?«

mit dem Refrain:

»Und am Ende der Geschichte:

Vater, fragt er, ist das wahr?«

Und abends, wenn er am Ende seiner Geschichten war, pflegte mein Vater mich – beunruhigt – auf einen Spaziergang in den Kastanienalleen des Berliner Landwehrkanals auszuführen und als Antwort auf das allein noch erleuchtete Mansardenfenster eines vierstöckigen Mietshauses zu deuten: »Da arbeitet Virchow!«

Und zu Haus, während ich schlafen geschickt wurde, schloß er sich in seine Bibliothek ein, um sie ins Gebet zu nehmen. Denn an der Grenze zwischen Wissen und Glaubenstäuschung mußte man ständig auf der Wacht sein; keinem konnte man ganz trauen; selbst einem Charles Darwin nicht, dem Aufdecker des Schöpfungsplanes; war er nicht fromm zur Sonntagsandacht gegangen? Der Erforscher des »Genie-Irrsinns« und der »Heiligen Narren«, Cesare Lambroso, und der Populär-Astronom Camille Flammarion beteiligten sich allen Ernstes an spiritistischen Séancen. Selbst auf die moderne Literatur war kein Verlaß mehr. Joris K. Huysmans, unter den »Schriftstellern des Schmutzes« gewiß der raffinierteste Schilderer religiöser Perversionen, beschwor die Heilkraft des Glaubens sogar gegen Knochenbrüche und Karzinome. Maeterlinck, »Treibhaus«-Lyriker und Biograph des »Bienenstaates«, und Strindberg – der Theatraliker – befaßten sich mit mittelalterlicher Theosophie, mit Alchimie und Goldmacherei.

Meines Vaters Kirche – wenn überhaupt dieser Ausdruck hier der richtige ist – war eine ecclesia militans für das Höchste Wesen.

Offenbach – Crémieux’s »Orphée aux Enfers«, Swinburnes »Laus Veneris«, Quirinus Kuhlmanns Ketzer-»Kühlpsalter«; mit ihrer Legenda aurea (Flauberts »Tentation de St. Antoine«, Anatole Frances »La Révolte des Anges«), – ihren Missionaren der Sklavenbefreiung (Harriet Beecher-Stowes »Uncle Tom’s Cabin«, Douwes Dekker-»Multatulis« [Gouverneurs-Exsekretär von Holländisch-Indien]: »Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerung vom Haag«); mit ihren Märtyrern (dem Anarchisten Ferrer/Barcelona, den Rädelsführern vom Haymarket/Chicago), – dem Volkspopen Gapon und seiner vor dem Petersburger Winterpalais niederkartätschten Arbeiterprozession; mit der noblen »Weltfriedenstaube« Bertha von Suttner (»Die Waffen nieder!«).

Zur »Propaganda der Tat« – zu Aristide Briands »Generalstreik«, selbst zum Bombenattentat – bekannte sich auch mein Vater, zwar unwilligen Herzens; aber wenn, dann ganz und gar als zu einem Notwehrakt des Individuums gegen den Staat; – konform mit dem Engländer Herbert Spencer, der Commune-Amazone Louise Michel, dem russischen Anarchistenfürsten Krapotkin. Leo Tolstojs aristokratisches Programm genügte ihm politisch nicht, weil es sich bloß gegen den altrussischen Latifundienbesitz richtete, nicht gegen den Zaren, gegen jede Despotenherrschaft überhaupt.

(Im Geheimen freilich hätte mein Vater sich gewünscht, wie ein Julian West – wie der Romanheld des kommunistisch-utopischen Amerikaners Edward Bellamy – in einen hypnotischen Jahrhundertschlaf versenkt zu werden, um nach der geglückten Operation des ökonomischen Krebsschadens am Leib der Gesellschaft in der Pflege des »sozialisierten« Arztes Dr. Leete durch ein medizinisches Wunder aufzuwachen – geldsorgenlos – rückblickend aus dem Heilsjahr des vollendeten Fortschritts anno 2000 …)

Eigentlich erträumte er sich die Revolution eher romantisch wollüstig, vollbusig und üppig bewegt à la Delacroix, und ersehnte sie unter Frankreichs Trikolore.

Die soziale Freiheit des Saint-Simonismus hätte ihm schon gefallen – »Jedem (das Seine) seiner Fähigkeit gemäß und der Leistung seiner Fähigkeit entsprechend« – aber ohne ihren ecclesiastischen Aufputz!

An dem Patriarchat des »Esprit« hielt mein Vater sonst fest – in seiner Ehe, seiner Bücherwelt wie im Naturrecht: am Menschen als dem allein vernunftbegabten Säugetier …

So gab es für ihn auch höher entwickelte Nationen wie die französische; evolutionäre wie die der United States of America (Walt Whitman’s »Oh, vorwärtsschreitend sterben, Pioniere, Pioniere«); entartete wie das wilhelmische »Deutschland über alles«; und fossile Mammuts wie das Zaren-Rußland.

Aber als absurd, als einen »Rückfall in das Mittelalter«, verurteilte es mein Vater, eine zoologische »Ungleichheit der Menschenrassen« ableiten zu wollen, wie es in seinem pseudo-wissenschaftlichen Machwerk Joseph-Arthur Comte de Gobineau tat – ein französischer Diplomat, der Autor eines von ihm mitübersetzten glänzenden Dramen-Epos »Renaissance«, der sich nun zum Trompeter von Säkkingen des Teutonentums und Richard-Wagner-Antisemitismus hergab … Fi donc!

»Die Seele eines Volkes – die Seele, bildlich gesprochen natürlich – äußert sich in der Auslese seiner Literatur …«, sagte mein Vater, und deshalb beleidigte es seine heiligsten Gefühle, daß ein Anti-Dreyfusardpöbel sich auf den Pariser Grandboulevards der III. Französischen Republik so skandalös aufführte – so antisemitisch wie die allrussische »Schwarze Hundert«.

»Die Macht der Finsternis« – vor der mich mein Vater, Tolstoj zitierend, warnte – ich stellte sie mir im Aussehen eines Berliner Schutzmannes vor, martialisch, schnauzbärtig, säbelrasselnd und mit einer Pickelhaube; denn meine früheste Anschauung von einer höheren Gewalt hatte ich mir als Vierjähriger gebildet, als mein Vater – wegen Majestätsbeleidigung – von zwei Polizisten aus seinem Bibliothekszimmer abgeführt wurde und mit ihm ein ganzes Bücher-Pack »staatsgefährlicher Autoren« aus seinen Bücherregalen. Seine stolze Haltung, das Inbild des weltbürgerlichen Patrioten, des geharnischten Pazifisten, als er meine Mutter umarmte, mich in den Armen hochhob; das hat sich mir so eingeprägt wie Hektors Abschied von Andromache und seinem Söhnchen.

Oftmals auch – unerlaubt an meines Vaters Bibliothekstüre horchend oder verstohlen um einen Spalt sie öffnend – hatte ich ihn wütend von einer Rezension aufspringen sehen und fluchen hören: »Unsinn! Grober Unfug! Köhleraberglaube!«

Und zur Bibliothek stürmend, der er einen Band des unbändigen Fortschrittlers Herbert Spencer oder der »Monisten« Haeckel und Ostwald entriß, begann er halblaut ein imaginäres Duell zwischen sich und dem abwesenden Autor:

»Sie sind ertappt! Verteidigen Sie sich Schwarz auf Weiß! Ohne Ausflüchte in Spekulationen! Auf dem Boden der Tatsachen …«, denn er dünkte sich unüberwindlich in seiner Überzeugung, daß »das Wort gleichfalls eine Tat« sei; daß seine Bücher »Waffen« wären; daß hinter ihm Zolas »Wahrheit auf dem Marsche sei« – nichts werde sie aufhalten …

Und in dieser Strategie von »Kraft und Stoff«, in der Leere dieses kausalen Schlachtfeldes, schien der Endsieg ihm gesichert. Auf seiner Seite kämpften die Errungenschaften der Technik – Telegraph, Telephon, der lenkbare Ballon des Grafen Zeppelin, die Flugmaschine der Gebrüder Wright-, die alle Völker im Äther einten, und das Nobelsche Dynamit, die Friedens-Quintessenz der Nihilisten.

Mit ihm war sein Gott der »besseren Maschine«, die automatisch die Ausgebeuteten, Unterdrückten, Verfolgten, die Proletarier, Kolonialsklaven für das Selbstbestimmungsrecht des Individuums auf die Barrikaden der Weltverbrüderung befördern würde – Deus ex machina.

Und als mein Vater, hinterrücks vom Schlag getroffen, mir in die Arme stürzte, als ihm Kants »Kritik der reinen Vernunft« aus den Händen fiel, hinterließ er mir seine Bibliothek, in der vorbildlichen Schlachtordnung des XIX. Jahrhunderts auf den Regalen aufmarschiert, für den Endkampf.

Nie hätte er – dieser Musterschüler des Rationalismus – sich vorstellen können, sich ausdenken wollen, in welchem Zustand ich die Bücher wiederfinden sollte – kopflos in Kisten geworfen und verfrachtet unter Lebensgefahr aller Mitbeteiligten – Band für Band, den ich auspackte, um die Ordnung wiederherzustellen, während das ganze Theater des Abendlandes im Blechgetöse und Paukenfortissimo eines Götterdämmerungsfinales zusammenkrachte.

Zweites Kapitel

Von Märchenhexen und Hexenprozessen

Vom Geschlecht Davids bis zu den israelitischen »Rougon-Macquart«

Satanische Genetik der Himmlischen Eingebung

Von den »Künstlichen Paradiesen« bis zu den »Journées de Sodome«

»Ergötzliche« Perversitäten

Indem ich nun daran ging, in dem chaotischen Bücherhaufen die Anordnung wiederherzustellen, die mein Vater nach seinem inneren Maßstab geregelt hatte, war es mir, als müßte ich mühselig ein Landschaftsbild meiner Kindheit aus Erinnerungstrümmern rekonstruieren – beginnend mit dem verschrobenen Gegiebel der Gruselmärchen bis zu den ragenden Massiven der Weltweisheit, ihren Gletschern toter Sprachen, dem ewigen Schnee ihrer frostigen Wahrheiten, den schwindelerregenden Abgründen ihrer Dialektik am Horizont meiner Begriffe.

Auch hatte man mir meine Kinderbücher und die griechisch-lateinischen Schultexte als Tarnung zuoberst gepackt, um den Grenzbeamten der Diktatur vorzutäuschen, daß es sich um eine Fracht staatspolizeilich wertlosen Plunders handele.

Und so, wie Aristoteles und Plato, wie die Alben und Nixen alle Papstbullen wider das Heidentum, wie die Froschkönige und Dornröschenprinzessinnen die Aristokratenhinrichtungen, wie Eros und Thanatos alle Impfversuche überstanden hatten, war auch diese Bibliothek noch einmal dem Bücherscheiterhaufen der Rassenreinigung entgangen, ja gerade unter der Obhut jener grauen Mythen- und Fabelwesen, die auch mich – zum Leidwesen meines Vaters – bei meinem Aufstieg zur Aufklärung – zur höheren Bildung – durch Zauberwälder und Drachensümpfe begleitet hatten … Mit ihnen also machte ich den Anfang.

Das pädagogische Bedenken: »Darf man Kinder mit dem Hokuspokus afrikanischer Zauberer und böser Feen unterhalten?«, kommt ungefähr der Frage gleich, ob man den Eskimos ihre Amulette und ihre Zauberpriester weiterhin gestatten solle.

Literarisch ließ sich gegen Märchen wie »La Belle au Bois Dormant«, »Le Petit Chaperon Rouge«, »Le Chat Botté«, »Riquet à la Houppe« eigentlich nichts einwenden; waren sie doch von einem Charles Perrault (de l’Académie Française)und seiner Geliebten, einer Comtesse d’Aulnoy – den Zeitgenossen der Boileau und La Fontaine – in die Aristokratensalons des Louis Quatorze eingeführt worden und hatten sich so manierlich, so chevaleresk aufgeführt, daß sie überall als geistige Sprößlinge ihrer durchaus hoffähigen Editoren empfangen wurden.

Ihr plebejischer, ja asiatischer, ja negroider Ursprung wurde erst im XIX. Jahrhundert aufgedeckt, als in Deutschland und Rußland Sprachforscher ihren Stammbäumen nachgingen; als die rechtsgelehrten Brüder Grimm ihre Erzählungen unverblümt dem Volksmund nachschrieben, um sie »in letzter Minute für die armen und einfachen Leute zu retten, denen man sie vorenthielt …«.

Aber was da zum Vorschein kam, wuchs den Philologen über den Kopf, wie das so oft im Eifer der Wissenschaften vorkommt. Bei ihrem Vorhaben, im reinsten Interesse der Germanistik heimische Sagenschätze schlichter Bauern und ehrbarer Ammen freizulegen, waren sie auf Aushöhlungen gestoßen, aus denen ihnen geile Succuben entgegenflatterten, giftiges Schlangen-und Basiliskengezücht entgegenkroch, der Blutgeruch shakespearischer Hexenkessel in die Nase stieg.

Auch hatten sie damit, ohne es zu wollen, einer überall gärenden permanenten Verschwörung Vorschub geleistet – nämlich einer der Kinder aller Rassen, aller Zeitläufte, die heimtückisch mit dem Revanchegelüst zu kurz gekommener Zwerge das abstruse Riesenreich der Erwachsenen unterwühlen.

Vorbeugend hatte mein Vater mir die deutschen »Kinder und Hausmärchen« der Jakob und Wilhelm Grimm in einem philologisch-didaktischen Nachdruck der Originalausgabe von 1832 beschert. Und an den gefährlich langen Winterabenden las er mir daraus vor, als Belohnung dafür, daß ich – ohne zu mäkeln – mein Nachtmahl aufaß, wobei er die Abscheulichkeit von Kinder- und Eisenfressern, die Brenzlichkeit im Ofen schmorender Hexen durch einen skandierten Vortrag veredelte. Indem er mich auf die poetischen Reize der Folklore aufmerksam machte, in die Spruchweisheiten von kräuterkundigen Schäfern, philosophierenden Totengräbern und mütterlichen Spinnstuben-Parzen einweihte, belehrte er mich, wie man sich der Poltergeister in den Schornsteinen, der Heinzelmännchen in den Kommoden, der Nachtmahre in wehenden Gardinen erwehren könne, wenn man sie vor dem »Gute Nacht!« ordentlich wieder in ihre Fächer zurückgestellt habe. Er verhehlte mir nichts; nicht die Tücken giftmischerischer Stiefmutterköniginnen, nicht die Missetaten der Räuberhauptmänner, die törichte Jungfrauen mit dreierlei Wein berauschen, sie zerstückeln und einsalzen; er ahmte den irren Singsang der Gänsemägde und ihrer Wechselbälge nach – und ließ nicht den Volksspaß von dem wucherischen Juden aus, der sich nach der Zauberflöte eines Bauernlümmels im Dornendickicht zuschanden tanzen muß.

Denn er mißbilligte jede Zensur; und so wenig wie an den Judenfratzen gotischer Tafelbilder, wenn er mich ins Museum führte, übte er sie an dem Werk der Brüder Grimm. Sie hatten doch dem Bund der »Göttinger Sieben« angehört, einer Gruppe liberaler Universitätsprofessoren, die gegen den Absolutismus – das »Schwarze Kabinett« des Fürsten Metternich – und gegen den König von Hannover frondiert hatte.

Mein Vater stellte mir meine Abendkost in einer fast puritanisch stil-gereinigten Diät zusammen, aus den saubersten, bekömmlichsten Übersetzungen; und daran hatte keine europäische Literatur damals einen so reichen Vorrat wie die deutsche. Die Deutschen hatten im XVIII. Jahrhundert alle Anlagen dazu gehabt, die Enzyklopädisten des Gemütes zu werden, wie es die Franzosen die der Vernunft geworden waren. Sie hätten zwischen »Ilias« und »Edda«, zwischen Lateinern und Slawen kunstsinnig vermitteln können, dank ihrem Reformator des »gesunkenen Geschmacks«, dem evangelischen Geistlichen und Humanisten Johann Gottfried Herder, der ihnen ein Brevier mit Nachdichtungen aus der gesamten Naturpoesie gegeben hatte – einen Psalter hebräischer, persischer, schottischer, lappländischer, estnischer, grönländischer Volkshymnen, des »Cid« und des »Ossian« –: das »Evangelium der tönenden Natur« von der Gleichberechtigung aller Völkerstimmen im Reich der Ästhetik.

So hatte ich im Elternhaus einen streng literarischen Religionsunterricht – nach dem Katechismus des Sittlich-Schönen, des Kalos k’agathos – empfangen, war zur Andacht vor der künstlerischen Vollendung angeleitet worden, in der alles seinen Platz hat: das Mineral, die Pflanze, Tier und Mensch und die Götter. Ich glaubte an die Olympischen Götter, an Satyrn und Sirenen, an Amor und Psyche so fest wie an einen Allah, an die 74 Huris, an Djinns und an den Vogel Roch; ich glaubte dem Homer, der Scheherazade und den Satansmemoiren des deutschen Pubertätsromantikers Wilhelm Hauff; ich glaubte an den Pantheismus des Hans Christian Andersen, der in den Zungen der Schwalben, Zinnsoldaten, Teekessel und Strickzeuge sprach und schrieb – ein dänischer Franz von Assisi des Hausrats; und ich glaubte an die staatliche Ordnung im Tierreich des La Fontaine, die ich mehr respektierte als die angehängte menschliche Moral.