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Kein anderes Thema bewegt die politische Diskussion in Deutschland so sehr wie Migration. Dabei wird oft übersehen, dass das Gebilde, was wir »Deutschland« nennen, nichts anderes ist als das Ergebnis verschiedenster Migrationswellen, die sich über viele Jahrhunderte erstreckten. Matthias von Hellfeld zeigt in seinem historischen Blick auf die verschiedenen Migrationsbewegungen zum einen, dass Ein- und Auswanderung nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall war, zum anderen, dass Migration und die mit ihr verbundene Kleinstaaterei Deutschland erst zu dem gemacht hat, was es heute ist. Damit gelingt ihm ein wichtiger Beitrag zur aktuellen politischen Debatte.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Matthias von Hellfeld
Die verunsicherte Nation
Vielfalt und Migration – eine andere Geschichte Deutschlands
wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
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nach Daniel Friedrich Sotzmann. Kupferstich
von Hieronymus Benedicti. Hrsg. von Franz Johann
Joseph von Reilly, Wien 1796 – © akg-images
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara
ISBN Print 978-3-534-61059-4
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-534-61060-0
„Ich weiß wohl, vor wem ich fliehen soll, aber nicht, zu wem.“
(Marcus Tullius Cicero)
Prolog
1. Die Rückkehr der Vergangenheit
Die Überhöhung der „Andersartigkeit“
Wir wissen nicht, wer wir sind, und haben keine Ahnung, wo wir hinsollen
2. Europa: Der Kontinent der Migration
20-50-30 – der europäische Bodyindex
Antike Migration
Integration als Motor des Wandels
Mythos Migration
Migration überall und immer
Kulturelle Anpassung
Neuzeitliche Migration
Wiener Kongress und ein Sommer ohne Sonne
Industrialisierung
Umgang mit Fremden
Zwei Weltkriege 1914 bis 1945
Weltbevölkerung
3. Mia san mia – die deutsche Kleinstaaterei
Das Fränkische Reich
Der erste europäische Binnenmarkt
Ein Franke als römischer Kaiser der „Deutschen“?
Die ersten Kleinstaaten
Uneinigkeit als Grundlage
Mia san mia – die Macht der Teile über das Ganze
Grundgesetz des Mittelalters
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
Lehnswesen und Feudalismus als Ordnungsprinzipien
Die Deutschländer
Der deutsche Nationalstaat
4. Deutschland – kein einig Vaterland
Wie wir wurden, was wir sind – das Land der Teilungen
Abgrenzung als Schutz
„Tod oder Taufe“
Reformation
Die europäische Katastrophe – Streit und Krieg zwischen den Konfessionen
Streit auch im Krieg
Nationenbildung?
Der Deutsche Bund
Wartburg 1817 – Hambach 1832 – Frankfurt 1848
Die „Deutsche Frage“
Teilung in der Einheit
Deutsche Teilung – europäische Spaltung
5. E pluribus unum
Europa auf der Suche nach Einheit
Deutsche Einheit 1990
Das „Reich der Deutschen“
Heiliges Römisches Reich „deutscher Nation“
Die Mittellage
Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Der Wiener Kongress
Der Deutsche Bund
Vormärz
Frankfurter Nationalversammlung 1848
Deutscher Krieg
Deutsches Kaiserreich
6. Die verunsicherten Deutschen
Vasallen der einstigen Kriegsgegner
DDR und BRD: Geteilter Blick auf die Vergangenheit
Kaiser und Fürsten
Geschichtsbewusstsein und nationale Identität
Die „deutschen“ Ahnen
Das Europa der Christen
Deutsche „Helden“
„Wer sind wir eigentlich?“
Das preußische Reich deutscher Nation
Wir und die anderen
Auschwitz und die deutsche Identität
Gemischte Identitäten
Entwurzelte Migranten
Europa und der Islam
Islamfeindlichkeit
Literatur
Anmerkungen
Über den Autor
Die deutsche Geschichte ist in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Gegenstand von Interpretationen und Deutungen gewesen, die einen Zusammenhang zwischen den „glorreichen“ Ahnen und der jeweiligen Gegenwart herstellen sollten. So musste der Cheruskerfürst Arminius, genannt „Hermann der Cherusker“, der im Jahr 9 römische Legionen aus dem Teutoburger Wald vertrieben hatte, Mitte des 19. Jahrhunderts herhalten, um den Kampf gegen französische Gebietsansprüche am linken Rheinufer abzuweisen. Heutzutage wird Karl Martell bemüht, um „Europa zu retten“, wie er es angeblich schon im Jahr 732 im Kampf gegen die muslimischen Mauren getan hat. Die Konstruktion einer direkten Herkunftslinie zwischen den heutigen Deutschen und den antiken Germanen ist aber nicht hilfreich und verstellt den Blick aufs Wesentliche. Gleichwohl legen diese Beispiele, die in den folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen werden, dar, dass die Deutschen mit sich und ihrer Vergangenheit zumindest teilweise nicht im Reinen sind.
Unabhängig von der falschen Vereinnahmung historischer Ereignisse ist ein unvoreingenommener Blick in die Geschichte gut geeignet, Schlussfolgerungen oder Erkenntnisse für die Gegenwart abzuleiten. Das will der vorliegende Text versuchen. Dabei rücken wir zwei besonders wichtige Aspekte der Geschichte jener Menschen ins Zentrum, die in der Mitte des europäischen Kontinents lebten. Über viele Jahrhunderte lebten die Ahnen der Deutschen in einer Kleinstaaterei. Das waren zuerst Germanen, die in vielen Völkern und Stämmen in „Germania Magna“ außerhalb des Imperium Romanum lebten. Später wurden sie Teil des Fränkischen Reichs unter Karl dem Großen, bis sie schließlich im Heiligen Römischen Reich aufgingen. Dabei entwickelten sich viele – teilweise über 350 – eigenständige Territorien, die sorgsam auf ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der kaiserlichen Zentralmacht achteten. Durch diese Autonomie der einzelnen Teile des Reichs haben sich unterschiedliche Identitäten gebildet, deren Wirkmacht bis heute überdauert hat.
Mit anderen Worten: Die meisten Deutschen identifizieren sich am ehesten mit ihrer regionalen oder gar lokalen Umgebung. Nationalstolz, das begeisterte Absingen der Nationalhymne oder übertriebener Nationalismus findet man in Deutschland eher selten. Das müssen die Deutschen akzeptieren, anstatt zu klagen, dass manche deutschen Fußballspielerinnen und -spieler schwarze Hautfarbe haben und mit einem deutschen Nationalstolz wenig anfangen können. Das ist kein Manko, sondern eine Folge der Geschichte.
Der zweite wesentliche Aspekt der europäischen Geschichte ist die Migration. Seit Anbeginn war Europa durch hohe Fluktuation gekennzeichnet. Immer wieder kamen und gingen Menschen, manche blieben länger, andere verließen das Land wieder. Zuwanderung und die Probleme, die sie verursachen konnte, waren der Normalfall. Mehr noch: Migration galt für viele als Motor von Veränderungen. Und tatsächlich hat es einen kulturellen Austausch zwischen der indigenen Bevölkerung und Migranten gegeben, dessen Hinterlassenschaft uns noch heute in Erstaunen versetzt. Kaum eine Region der Welt ist von so einer vielfältigen Kulturlandschaft überzogen wie der europäische Kontinent und in dessen Mitte Deutschland. Viele der Protagonisten waren zugereist oder in anderen Ländern geboren worden.
Man könnte auch sagen, dass die Deutschen das Ergebnis dieser kulturellen Mixtur sind und dass sie davon profitiert haben. Deutschland ist wie kaum ein anderes Land divers: Sprachen, Kulturen, Traditionen oder Speisen – all das gibt es in einer Vielzahl von Varianten. Von dieser Vielfalt profitieren die Deutschen heutzutage, sie sollten es als ein besonderes historisches Erbe bewahren. Derzeit aber scheint es schwieriger geworden zu sein, in Vielfalt oder Diversität einen Vorteil zu erkennen. Zu sehr lasten aktuelle Ereignisse und Krisen auf vielen Menschen, von denen einige in leichtfertigen historischen Vergleichen von rechtspopulistischen und rechtsextremen Ideologen einen Ausweg suchen. Wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, taugen diese Parolen nicht als Ausweg, weil ihre Rückschlüsse schlicht falsch sind. Migration wird es mit oder ohne rechte Ideologen immer geben. Europa war und ist ein attraktiver Migrationskontinent. Dem müssen sich die Menschen in der Mitte Europas stellen, und sie müssen Regeln vorgeben, nach denen die Migration erfolgen kann.
Im Folgenden streifen wir durch 2000 Jahre europäischer Geschichte und beobachten die Menschen in der Mitte des Kontinents. Dabei kommen wir auf einige Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven mehrmals zu sprechen, um sie besser verstehen zu können. Migration und Kleinstaaterei stehen am Anfang, in der Mitte und am vorläufigen Ende der deutschen Geschichte, denn auch in der Bundesrepublik finden sich noch die alten „Kleinstaaten“ des Mittelalters. Wir werden den Weg dorthin in sechs Kapiteln nachzeichnen. Nach einigen Anmerkungen zum Umgang mit der deutschen Geschichte konzentrieren wir uns zunächst auf die Migration seit der Antike, die in aller Regel durch die Mitte des Kontinents verlief – also dem Lebensraum zunächst der Germanen und dann der vielen kleinen und großen Territorien des Heiligen Römischen Reichs. Die Migranten trafen auf eine im dritten Kapitel näher betrachtete zersplitterte geopolitische Situation, denn die kontinentale Mitte war durch die sogenannte Kleinstaaterei gekennzeichnet. Die damit gemeinten teilweise sehr kleinen Territorien befanden sich im Heiligen Römischen Reich, und die Territorialherren wachten sorgsam darüber, dass ihr Herrschaftsbereich so eigenständig wie möglich blieb.
Das Kapitel vier greift diesen Zustand auf und beschäftigt sich mit den vielen Trennlinien, die sich zwischen den einzelnen Territorien entwickelt haben, zwischen den Fürstenhäusern, zwischen den beiden christlichen Konfessionen und zwischen den Reichsständen: Fürsten oder Grafen und Herzöge sowie Vertreter von Ritterorden, der Freien Städte und des Klerus. So strittig das Verhältnis untereinander auch sein konnte, so einig waren sich die Territorialherren hingegen gegenüber der kaiserlichen Zentralmacht. Sie versuchten ihre eigene Stellung im Heiligen Römischen Reich auf Kosten der Befugnisse des Kaisers zu verteidigen und, wenn es ging, auch zu erweitern. Dennoch hat es Bemühungen gegeben, aus den vielen Einzelstaaten ein „deutsches Ganzes“ zu machen. Unter dem Motto „E pluribus unum“ („aus vielen eines“) stehen heute noch die Vereinigten Staaten von Amerika, und wir betrachten im fünften Kapitel die entsprechenden Einigungsversuche der vergangenen fünf Jahrhunderte in Europa. Sie waren erst 1989 erfolgreich, als es den Deutschen in Ost und West gelang, ihre Staaten zu vereinigen und ihren neuen, gemeinsamen Staat in einen europäischen Einigungsprozess zu integrieren.
Am Schluss betrachten wir im sechsten Kapitel die Verunsicherung der Deutschen, wenn es um ihre Nation und den Blick auf die germanische und deutsche Vergangenheit geht. Jahrhundertelang wurden Mythen aufgebaut, um eine direkte Linie zwischen den germanischen Stämmen der Antike und der Gegenwart zu konstruieren. Das hat über einen ebenso langen Zeitraum zu falschen Geschichtsbildern geführt, die eine eigene heldenhafte Vergangenheit suggerieren sollten. Aus diesem Umstand hat sich eine Unsicherheit über die eigene Vergangenheit und Herkunft der Deutschen herausgebildet. Derzeit wird diese Verunsicherung von rechtsextremen Politikern oder populistischen Rhetorikern von rechts und links geschürt, um daraus für sich politischen Profit zu schlagen. Das hat einen fatalen Prozess in Gang gesetzt, in dem die Angst vor islamistischen Terroristen zu einer weitverbreiteten Ablehnung von Muslimen geführt hat. Das ist nicht nur mit Blick auf die jüngere deutsche Vergangenheit gefährlich, sondern auch, weil sich die auf dem Arbeitsmarkt dringend benötigten Fachkräfte angesichts eines fremdenfeindlichen und antisemitischen Klimas von Deutschland abwenden und ihr Glück lieber anderswo versuchen. Diesem Trend muss die Zivilgesellschaft entgegenwirken!
Dieses Buch ist auch mit der wertvollen Hilfe meines Bruders Joachim, meiner Frau Kerstin sowie der Unterstützung von Christoph Gade und Claus Walter Schröder zustande gekommen. Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank.
Matthias von Hellfeld
Bremervörde im März 2025
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Es ging ein Aufschrei durch deutsche Landen, als Veröffentlichungen des Recherchenetzwerks Correctiv bekannt wurden, nach denen sich Ende November 2023 in einem Landhaus bei Potsdam rechtsextreme Denker getroffen haben, darunter zwei in der rechten Szene bekannte Geschäftsleute, zwei CDU-Mitglieder sowie Mitglieder der AfD und der vom Bundesamt für Verfassungsschutz überwachten Identitären Bewegung. Die Aufregung entzündete sich an dem vom österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner vorgetragenen Plan zur „Remigration von unerwünschten Personen“, die aus Deutschland entfernt werden sollten. Dabei ging es dem Referenten um die Frage, ob „wir als Volk im Abendland noch überleben oder nicht“. Und dann wurde starker Tobak aufgetischt, denn Sellner nannte drei Gruppen, die man „rückabwickeln“ wolle: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und „nicht assimilierte Staatsbürger“.
Das Treffen der Rechtsextremen in dem Potsdamer Nobellandhaus war aber nur die Spitze des Eisbergs. Da die plumpen „Ausländer raus!“-Rufe nicht mehr ziehen, haben sich rechtsextreme Denker das Konzept des sogenannten Ethnopluralismus ausgedacht, das nichts anderes als eine Variante der völkischen Blut-und-Boden-Ideologie der NSDAP ist. Demnach hat jedes Volk einen Raum, auf dem es das alleinige Recht zu leben hat. Dieser Kulturraum muss von anderen respektiert werden, und die dort lebenden Menschen haben das legitime Recht, ihren Raum zu verteidigen. Damit wird aus der Remigrationsrhetorik ein Plädoyer für eine ethnische Homogenisierung Deutschlands, die grundgesetzwidrig wäre: „Der Syrer, der zu uns kommt, der hat noch sein Syrien. Der Afghane, der zu uns kommt, der hat noch sein Afghanistan. Und der Senegalese, der zu uns kommt, der hat noch seinen Senegal. Wenn wir unser Deutschland verloren haben, dann haben wir keine Heimat mehr“1, predigt der AfD-Rechtsextremist Björn Höcke und knüpft damit an das ethnopluralistische Konzept an. Noch deutlicher sind die Posts, die seit vielen Jahren auf verschiedenen Social-Media-Kanälen von AfD-Ortsgruppen oder AfD-Mitgliedern veröffentlicht werden. Da wird vom „Untergang des deutschen Volks“, von der „Abschaffung unseres Landes“ oder von der „alltäglichen Brutalität dank Ampel-Politik“ und vom „Ansturm auf Deutschland“2 schwadroniert.
Diese Ideologie, die seit Jahren verbreitet wird, fand im Treffen in Potsdam ihren vorläufigen Höhepunkt. Dabei sind die Anknüpfungen an die Ideologie der NSDAP nicht nur unübersehbar, sie sind offenbar auch erwünscht. Ganz im Stile der nationalsozialistischen Vorstellung von „lebensunwertem Leben“ sprach Björn Höcke 2023 von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen als „Belastungsfaktoren“, die man „vom Bildungssystem wegnehmen müsse“.3 In Potsdam schlug Martin Sellner in die gleiche Kerbe. Um die „Remigration von unerwünschten Personen“ und die dafür notwendige Aufspaltung der Gesellschaft in „erwünscht“ und „unerwünscht“ zu erreichen, schlug er vor, einen „hohen Anpassungsdruck“ auszuüben und eine alte Idee der NSDAP wieder auszupacken. 1940 war nämlich der Plan ins Spiel gekommen, möglichst viele europäische Juden nach Madagaskar zu verfrachten, wo sie dann – ohne Möglichkeit, die Insel zu verlassen – unter sich sein könnten. 2023 machte Sellner aus Madagaskar einen nordafrikanischen „Musterstaat“, in den er rund zwei Millionen Menschen ausweisen möchte. Dort könnten sie sich dann mit „Ausbildung und Sport“ beschäftigen. Und damit endlich Ruhe in Deutschland einkehre, könnten diejenigen, die sich für Geflüchtete einsetzten, gleich mit nach Nordafrika auswandern.
Vielleicht war es Zufall, aber das feine Landhaus bei Potsdam liegt nur rund acht Kilometer von der Villa am Berliner Wannsee entfernt, wo auf der gleichnamigen Konferenz am 20. Januar 1942 durch ranghohe SS-Leute und Beamte verschiedener Ministerien die Ermordung der europäischen Juden beschlossen und geplant worden ist. Diese Analogie und die Verwendung des Begriffs „Deportation“ auch für unangepasste, „nicht assimilierte“ deutsche Staatsbürger hat Millionen Menschen aufgerüttelt und zu großen Demonstrationen auf die Straße getrieben. Für die AfD spielen „Remigration“ und „Assimilation als weitestgehende Form der Integration“ eine zentrale politische Rolle. Nach außen waschen Parteifunktionäre ihre Hände in Unschuld und beteuern, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen, im Internet aber propagiert die Partei „Sozialsystem retten, Remigration starten“ oder „Hürden zum Entzug der Staatsbürgerschaft senken – Remigration ist unumgänglich!“4. Die Debatte polarisiert die deutsche Gesellschaft. Während die einen kein Problem mit Deportationen von unliebsamen Menschen haben, kämpfen die anderen für deren Verbleib in Deutschland, zumindest so lange, bis Aufenthalts- oder Asylverfahren beendet sind.
Die Ausweisungsphantasien können nur gedeihen, wenn eine vermeintlich erkannte „Andersartigkeit“ zwischen Deutschen und Nichtdeutschen verzerrt und überhöht dargestellt wird. Eine solche Haltung hat Geschichte: Im Mittelalter war das Beharren auf Eigenständigkeit ein probates Mittel gegen unerwünschte Einflüsse von außen oder gegen abweichende religiöse Ideen. Mit der Überhöhung der Andersartigkeit ließen sich Pogrome gegen Juden – bis hin zur Shoah – „erklären“. Der angeblich „minderwertige galizische Hausierer“ wurde im deutschen Kaiserreich ebenso denunziert wie das „für die Zivilisation nutzlose Dasein von Tschechen, Slowenen und Slowaken“. Jahrhundertelang waren Franzosen als „Erbfeinde“ Quell alles Bösen, das von den Deutschen ferngehalten und, wenn nötig, kriegerisch bekämpft werden musste. Als Gegenbild diente die „Germania“, die von Hermann dem Cherusker, der im Teutoburger Wald die römischen Legionen des Varus geschlagen hat, bis zur deutschen Revolution und zum Ersten Weltkrieg den Deutschen in guten wie in schlechten Zeiten als Heilsbringerin, Göttin und Bewahrerin des Guten zur Seite stand. Die Deutschen haben sich lieber mit derartigen Mythen beschäftigt, als einen vorurteilsfreien Blick in die Vergangenheit zu wagen. Dabei wären sie ihren Ahnen begegnet, die weder trinkfeste Waldbewohner waren, wie uns der römische Geschichtsschreiber Tacitus glauben machen wollte, noch Raufbolde, die unentwegt Streit mit den Nachbarn gesucht haben.
Unsere Vorfahren lebten einerseits ungewollt, anderseits aber auch zu ihrem Vorteil in sehr vielen, teilweise sehr kleinen, aber unabhängigen Staaten – der sogenannten Kleinstaaterei. Dort entwickelten sie eigene regionale Identitäten und sorgten für kulturelle, politische und soziale Diversität, die sich bis in unsere Tage erhalten hat. Sie lebten über neun Jahrhunderte nur lose verbunden in einem riesigen Vielvölkerstaat mit einem „römischen“ Kaiser an der Spitze, der sich von der Nordsee zum Mittelmeer bis hinter das Herzogtum Spoleto, im Osten entlang der Oder bis nach Kroatien und im Westen bis Frankreich einschließlich der heutigen Beneluxstaaten erstreckte. In diesem Heiligen Römischen Reich war Deutsch nur eine Sprache unter vielen.
Mitunter scheint es, als seien derzeit viele Deutsche auf der Suche nach einer nationalen Identität. Aber haben die Deutschen des 21. Jahrhunderts so etwas überhaupt, und wenn ja, mit welchen Inhalten ist sie ausgestaltet? Worauf könnte sich eine deutsche Identität berufen, auf eine gemeinsame Sprache, auf gleiche kulturelle Erfahrungen oder eben auch auf eine gemeinsame Geschichte? Dabei verwirrt ein Blick zurück mehr, als er zur Klärung beitragen kann, denn „die Deutschen“ haben keine jahrhundertealte gemeinsame und vor allem keine gleiche Geschichte. Die protestantischen Fischer aus dem Herzogtum Mecklenburg lebten in einer anderen Welt und hatten andere Ideale als die rheinischen Katholiken aus dem Herzogtum Kleve, das nach dem Wiener Kongress 1815 von einem auf den anderen Tag zum protestantischen Königreich Preußen gehörte. Gemeinsame politische oder historische Wurzeln wird man bei diesen und Millionen anderen „Deutschen“ nicht finden. Das liegt vor allem daran, dass sie und viele Generationen vor ihnen seit der Reichsteilung unter den Enkeln Karls des Großen im 9. Jahrhundert in unterschiedlichen Territorien des Heiligen Römischen Reichs gelebt haben.
Der Prozess der Trennung in zunächst zwei Länder begann mit dem Vertrag von Ribemont 880. Seitdem lebten sehr viele unterschiedliche germanische Stämme und Völker wie Friesen, Sachsen, Thüringer, Franken, Alamannen, Elsässer, Lothringer, Bayern und Österreicher im Ostteil des alten Frankenreichs, später kamen noch die Bewohner Böhmens hinzu. Und dann wurde nach dem Ende des karolingischen Erbstreits dem ostfränkischen König auch noch der nördliche Teil Italiens zugesprochen. Mit anderen Worten: Der Kaiser der Deutschen, der sich „römisch“ nannte, regierte einen Vielvölkerstaat von der Nordsee bis zum Mittelmeer. Das war ein Riesenreich, in dem sehr viele Ethnien lebten und in dem bis zu zwölf Sprachen gesprochen wurden. Kommunikation war nur für Sprachgenies möglich – aber wer war das schon. Es war also ein bunter Haufen höchst unterschiedlicher Stämme und Völker, die gemeinsam im Heiligen Römischen Reich mit einem Kaiser an der Spitze lebten, der dementsprechend auch „römischer“ Kaiser war. Schon der Umstand, dass alle Deutschen bis 1806 in einem Römischen Reich lebten, verdeutlicht die Komplexität des Problems bei der Spurensuche nach einer deutschen Identität. Zweifellos hatten alle – nennen wir sie ab jetzt „Deutsche“, obwohl sie es (noch) nicht waren –, zweifellos also hatten alle Deutschen auch gemeinsame Erfahrungen, die sie gleichermaßen prägten. Sowohl die gemeinsamen als auch die unterschiedlichen, ja teilweise gegenläufigen Prägungen der bis zu 350 eigenständigen Territorien auf deutschem Boden erfolgten über einen langen Zeitraum und sind dementsprechend tief verankert – so tief, dass bis heute mitunter der Eindruck entsteht, die Deutschen trennt mehr, als sie eint.
Wenn wir uns jetzt auf die Reise in die Vergangenheit der Deutschen begeben, dann suchen wir nach der Identität des gesamten deutschen Volkes und nicht nur nach Identitäten einzelner Gruppen der deutschen Gesellschaft. Es geht also um gemeinsame Werte und Erfahrungen, um kulturelle Übereinstimmungen oder politische Verankerungen, die für alle Deutschen zwischen Kiel und Konstanz und zwischen Aachen und Frankfurt an der Oder von Bedeutung sind. Dabei werden wir uns natürlich nicht gemein machen mit rechtsextremen Vorstellungen derjenigen, die „Identität“ als Vehikel zur physischen Ab- und Ausgrenzung anderer missbrauchen. In diesen Kreisen ist die Rede von einer „ethnisch homogenen Identität“, die durch eine „Islamisierung“ bedroht sei. Diese – auch vom AfD-Politiker Björn Höcke verwendete – biologistisch begründete „Identität“ erinnert sehr an die nationalsozialistische Rassenideologie, auch wenn die Denker der „Identitären“ ihre Vorstellungen in den abweichenden Begriff „Ethnopluralismus“ verpacken. Diese Ideologie klingt geradezu wissenschaftlich, sie meint aber nichts anderes, als dass alle Völker dieser Erde ein Recht auf einen „völkisch reinen“ Staat haben: Deutschland den Deutschen, Afghanistan den Afghanen – so werden „Ausländer raus“-Rufe und Schlimmeres hinter Worthülsen versteckt.
Anders als die „Identitären“ es sich wünschen, begegnen wir auf der Reise in die deutsche Vergangenheit sehr vielen Nichtdeutschen. Ihre Anwesenheit hatte unterschiedliche Gründe und traf auf unterschiedliche Reaktionen. Das Land in der Mitte des Kontinents war (und ist) ein Transitland. Migrationsbewegungen verliefen oft durch die europäische Mitte, Warenströme durchquerten das Land der Deutschen. Nicht selten wurden Menschen ins Land gelockt, während auch viele Millionen das Land verließen. Auch früher hatten die vielen Nachbarn Deutschlands ein großes Interesse an einer „freien Fahrt“ durch die Mitte des Kontinents. Wollte vor Hunderten von Jahren ein französischer Händler seine Waren in Polen verkaufen, musste er durch das Heilige Römische Reich und traf dabei, wenn er Pech hatte, auf mehr als ein Dutzend Zollstationen, die ihn jedes Mal zur Kasse baten. Aber nicht nur Händler auf der Suche nach Abnehmern ihrer Waren oder Wanderprediger und Herolde, die christliche Botschaften und Heilsversprechen verkündeten, durchquerten das Heilige Römische Reich. Vielfach wurden Arbeitskräfte von den Landesfürsten gesucht und angelockt, die deren handwerkliche Fähigkeiten brauchten. Zudem kam es zu geopolitischen Entscheidungen, nach denen ganze Landstriche per Dekret den Besitzer wechselten und die Bewohner neue Nachbarn bekamen – ob sie wollten oder nicht.
So erging es 1815 den sogenannten Beutepreußen, die als Bürger der katholischen Rheinprovinzen nach dem Wiener Kongress über Nacht Bürger des protestantischen Preußen wurden. Sie machten ähnlich schlechte Erfahrungen wie vor ihnen die protestantischen Hugenotten, die Frankreich nach acht Kriegen und der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes im 17. Jahrhundert verlassen und zu Tausenden in Brandenburg eine neue Heimat gefunden hatten. Der große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg hatte ihnen wegen ihrer hohen handwerklichen Fähigkeiten Steuervergünstigungen und sonstige Privilegien garantiert, was den Widerstand der brandenburgischen Bevölkerung provozierte. Die Integration ausländischer Arbeitskräfte war offensichtlich auch früher nicht unproblematisch. Die Vertragsarbeiter aus Vietnam oder Mosambik lebten in der DDR unter menschenunwürdigen Umständen und wurden oft als „Fidschis“ und Schlimmeres abqualifiziert. Die Liste ausländerfeindlicher Attacken mit Todesfolge in der Bundesrepublik würde Seiten füllen. Das sind dramatische Hinweise darauf, dass es innerhalb der deutschen Bevölkerung eine bis zur Mordbereitschaft reichende Ablehnung von Menschen anderer Ethnien, Religionen oder Hautfarben gibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Menschen geflüchtet oder mit dem Versprechen auf gut bezahlte Arbeit nach Deutschland geholt worden sind oder es sich um Angehörige der dritten Generation einst eingewanderter Familien handelt.
Die deutsche Gesellschaft ist beim Umgang mit diesen Menschen gespalten. Zwei Gruppen stehen sich gegenüber, deren Ansichten diametral entgegengesetzt und nur schwer zusammenzuführen sind: Menschen, die sich aufopferungsvoll für das Wohlergehen von Geflüchteten einsetzen, auf der einen Seite und auf der anderen jene, die das Gegenteil wollen und von „Deportationen“ sprechen. Eine kontroverse, mitunter von Gewalt begleitete Debatte über den Umgang mit einer steigenden Zahl von Menschen, die in Europa eine neue Bleibe suchen, gibt es auch in anderen europäischen Ländern. Aber die Diskrepanz zwischen Zustimmung und Ablehnung kommt in Deutschland offenbar am heftigsten zum Vorschein.
Ein Grund könnte in dem Umstand liegen, dass jene hierherkommen, die alle Wurzeln gekappt und ihre Heimat verlassen haben. Sie sind im wahrsten Sinne entwurzelt, entheimatet, ihrer Identität beraubt und mit der neuen Situation in der Regel überfordert. Um im Bild zu bleiben, treffen sie in Deutschland auf Menschen, die aufgrund ihres, wie es der österreichische Historiker Dieter Langewiesche formuliert hat, „föderativen Nationalstaates“5 in gewisser Weise auch wurzellos sind. Ihr Aufeinandertreffen könnte also von einer gegenseitigen Unsicherheit oder Wurzellosigkeit geprägt sein. Das wiederum führt einerseits zu den verzweifelten, oft auch hilflosen Versuchen, alle Geflüchteten integrieren zu wollen, und andererseits zu deren ebenso kompromissloser Ablehnung. Die Deutschen schwanken zwischen einer beispiellosen Willkommenskultur und einer an finstere Zeiten erinnernden Androhung von Deportationen. Die Deutschen können, wie wir gleich sehen werden, nicht auf gemeinsame, gleiche Wurzeln zurückblicken, die sie von Kiel bis Passau einen würden. Ihre jahrhundertealte Kleinstaaterei, die scharfe Trennung der christlichen Konfessionen und die schier endlose Heterogenität verhindern das. Und nun treffen sie auf Menschen, die nichts weiter als ihre Hilfe benötigen.
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