Die vier Toten von Tibet - Eliot Pattison - E-Book
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Die vier Toten von Tibet E-Book

Eliot Pattison

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Beschreibung

Weise wie ein Mönch – klug wie Sherlock Holmes.

Shan, der Ermittler, den man nach Tibet verbannt hat, muss tatenlos zusehen, wie ein Tibeter vor seinen Augen erschossen wird – angeblich hatte er sich der Korruption schuldig gemacht. Doch dieser Tod ist nur der Beginn einer Reihe von mysteriösen Todesfällen. Die Chinesen versuchen ein großes Projekt gegen alle Widerstände durchzuziehen: den Bau eines Staudamms in einem Gebiet, das den Tibetern heilig ist. Shan scheint auf verlorenem Posten zu kämpfen. Doch da taucht ein Mensch auf, dem er all sein Wissen und seine Weisheit verdankt. Der alte Mönch Lokesh tritt wieder an seine Seite ...

Ein packender, sehr atmosphärischer Thriller um alte Götter, korrupte Beamte und die Suche nach Wahrheit.

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Seitenzahl: 592

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Über das Buch

Weise wie ein Mönch – klug wie Sherlock Holmes.

Shan, der Ermittler, den man nach Tibet verbannt hat, muss tatenlos zusehen, wie ein Tibeter vor seinen Augen erschossen wird – angeblich hatte er sich der Korruption schuldig gemacht. Doch dieser Tod ist nur der Beginn einer Reihe von mysteriösen Todesfällen. Die Chinesen versuchen ein großes Projekt gegen alle Widerstände durchzuziehen: den Bau eines Staudamms in einem Gebiet, das den Tibetern heilig ist. Shan scheint auf verlorenem Posten zu kämpfen. Doch da taucht ein Mensch auf, dem er all sein Wissen und seine Weisheit verdankt. Der alte Mönch Lokesh tritt wieder an seine Seite.

Ein packender, sehr atmosphärischer Thriller um alte Götter, korrupte Beamte und die Suche nach Wahrheit

Über Eliot Pattison

Eliot Pattison ist Journalist und Rechtsanwalt. Er ist oft nach Tibet gereist und lebt mit seiner Familie in Oley, Pennsylvannia.

Um den Ermittler Shan liegen im Aufbau Taschenbuch vor: »Der fremde Tibeter«, »Das Auge von Tibet«, «Das tibetische Orakel«, »Der verlorene Sohn von Tibet«, »Der Berg der toten Tibeter«, »Der tibetische Verräter«, »Der tibetische Agent«, »Tibetisches Feuer«, »Die Frau mit den grünen Augen« und »Die vier Toten von Tibet«.

Außerdem liegen dort seine Roman über den Highlander Duncan »Die Asche der Erde« und »Das Ritual« vor.

Mehr zum Autor unter www.eliotpattison.com

Thomas Haufschild, geboren 1967, arbeitet seit 1991 als Übersetzer und hat alle Romane von Eliot Pattison ins Deutsche übertragen.

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Eliot Pattison

Die vier Toten von Tibet

Ein Tibet-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Epilog

Anmerkung des Verfassers

Glossar der fremdsprachigen Begriffe

Impressum

Den unbesungenen Helden und Heiligen Tibets,

Bastion des menschlichen Geistes.

Kapitel Eins

In Tibet tragen die Frommen ihren Altar um den Hals, hatte ein alter Lama ihm vor vielen Jahren erklärt, kurz nachdem Shan in das Zwangsarbeitslager verlegt worden war. Bald darauf wusste er, dass fast jeder der Sträflinge in seiner Gulag-Baracke ein Gebetsamulett besaß, ein gau, das an einer Kordel oder einem Schnürsenkel hing und zumeist provisorisch aus gefaltetem Stoff oder Pappe gefertigt war, darin ein eingenähtes Gebet. Es kam gelegentlich vor, dass einer der inhaftierten Mönche auf seinen zerbrechlichen Behelfsaltar wies und nur halb im Scherz sagte, sein Leben hänge an einem Faden. Wenn ihnen Gefahr drohte oder sie von quälenden Erinnerungen heimgesucht wurden, umschlossen sie ihr gau mit einer Hand und hoben die Augen zu den fernen schneebedeckten Berggipfeln. Diese starren, wie ins Leere gerichteten Blicke hatten Shan zunächst verunsichert, weil er glaubte, die Männer würden ihren bevorstehenden Tod sehen, doch ein Lama im vierzigsten Jahr der Gefangenschaft hatte zu ihm gesagt, nein, sie würden lediglich eine höhere Existenzebene zurate ziehen.

Immer wenn Shan bei dem ausgedehnten Gebäudekomplex parkte, der sich nun vor ihm erstreckte, überkam ihn ein ähnlich inhaltsloser Blick. Seine Hand legte sich um das kleine kupferne gau, und seine Augen suchten verstohlen Halt bei dem quadratischen Stück Papier, das er über das Lenkrad gebreitet hatte und auf das ein kompliziertes Mandala gezeichnet war. Anfangs hatte er sich eingeredet, er würde meditieren, doch letztlich war ihm klar geworden, dass es sich eher um eine Art Trance handelte, die ihn einen Moment lang verleugnen ließ, wo er sich befand und was aus ihm geworden war.

Dann schreckte er jählings hoch, denn etwas schlug gegen die Tür des Pick-ups, mit dem er aus Yangkar hergefahren war, und als Shan aufblickte, sah er mitten in das höhnisch grinsende Gesicht von Major Xun Wengli, der vor einigen Wochen Shans kleines Ritual entdeckt und sich daraufhin angewöhnt hatte, mit seinem Knüppel laut gegen das Blech des Wagens zu hämmern.

Shan faltete das papierene Mandala sorgfältig zusammen, legte es zurück in das Handschuhfach und stieg aus. Xun wies mit dem Knüppel auf das gau, das immer noch offen auf Shans Brust hing, und lachte über dessen Verlegenheit. Shan ignorierte ihn, steckte das Gebetsamulett wieder unter sein Hemd und ging dann um den Wagen herum zur Beifahrertür, um die dort aufgehängte Uniformjacke zu holen. Xun wirkte enttäuscht, als Shan den obersten Knopf seines neuen Polizeidienstanzugs schloss. Dann forderte er Shan mit einer Geste auf, ihm zu dem dreigeschossigen Betongebäude vor ihnen zu folgen.

Oberst Tan, der Kommandant des Bezirks Lhadrung, hatte Shan ohne Angabe näherer Gründe hier in die gleichnamige Stadt beordert, die als Sitz der Bezirksverwaltung diente, doch Shan vermutete, dass Xun, der ranghöchste Adjutant des Obersts, ihn wieder mal zu einem Vortrag über den letzten Nationalen Volkskongress verfrachten sollte – oder zu einer weiteren Einführung in die neuen, noch strikteren Strafverfolgungsinitiativen in Tibet.

Zu seiner Überraschung legte man ihm am Empfang des neuen Verwaltungszentrums jedoch ein Formular zur Unterschrift vor, auf dem bereits in Druckbuchstaben sein Name stand. Die zugehörige Liste umfasste zudem weniger als zwanzig Personen, von denen Shan die meisten kannte. Das würde ja eine ziemlich private Propagandasitzung werden. Als sie die Tür des Vortragssaals erreichten, zögerte Shan und hielt nach Oberst Tan Ausschau, doch Xun schob ihn weiter und bog mit ihm in einen ungewohnten Korridor ab. Erschrocken begriff Shan, dass man ihn in den neuen Gebäudeflügel des Büros für Öffentliche Sicherheit führte, das seine Präsenz im gesamten Bezirk derzeit rasant verstärkte. Hektisch versuchte er sich die anderen Namen ins Gedächtnis zu rufen, die auf dem Formular gestanden hatten. Einige der Leute waren Polizeibeamte, andere hohe Militäroffiziere unter Tan – einschließlich dreier Direktoren seiner berüchtigten Straflager. Zwei der Namen tauchten oft am Fuß der Richtlinien auf, die von der Zentrale der Öffentlichen Sicherheit in Lhasa erlassen wurden. Eine dieser Direktiven hatte kürzlich angekündigt, dass alle Staatsbediensteten ihren Treueid gegenüber Peking erneuern mussten, diesmal aber angeschlossen an einen Lügendetektor. War das etwa der Anlass für Xuns hämische Miene? Shan verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt, die Füße wurden ihm bleischwer. Falls man ihn hier mit einem Lügendetektor testete, würde er wahrscheinlich noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder in einer Gefängniszelle sitzen, zumindest aber arbeits- und obdachlos sein.

»Beeilung, Wachtmeister!«, drängte Xun ungehalten. »Sie dürfen nicht zu spät kommen!« Der Major brachte ihn durch eine zweiflügelige Tür in eine große Kammer mit zwei Ebenen, deren Rückwand aus Fels bestand. Als Shan auf dem weiß getünchten Stein die verblichenen Abbildungen einer Lotusblume erkannte, lief ihm ein Schauder über den Rücken, und ihm fiel wieder ein, dass das neue Verwaltungszentrum, wie so oft in Tibet, absichtlich an der Stätte eines ehemaligen Tempels errichtet worden war. Die tiefer gelegene Hälfte des Raumes hatte einst zu einer Kapelle gehört, zweifellos eine jener unterirdischen gonkangs, in der grimmige, mitunter abstoßend wirkende Schutzdämonen verehrt worden waren.

Von der oberen Ebene aus gestatteten nun zwei Stuhlreihen den Ausblick auf den unteren, an eine Bühne erinnernden Teil, und Major Xun wies Shan den einzigen noch freien Platz zu, den letzten Stuhl in der ersten Reihe. Bei den anderen Anwesenden schien es sich um die Personen von der Unterschriftenliste zu handeln. Einer der grau uniformierten Offiziere der Öffentlichen Sicherheit, die von den Tibetern nur Kriecher genannt wurden, trat an ein Stehpult am Rand des kleinen Balkons, auf dem sie saßen, und nickte jemandem unterhalb zu, der sich außer Sichtweite des Publikums befand. Während der Offizier anfing, schnell und in gleichförmigem Tonfall aus einer Akte vorzulesen, nahm Shan die untere Ebene genauer in Augenschein. In den Fels waren vor langer Zeit Regale gemeißelt worden, auf denen dann die Statuetten niederer Gottheiten gestanden hatten. Trotz der weißen Tünche konnte man auf halber Höhe der Wand Rußflecke erkennen, wo auf einem Altar früher Butterlampen gebrannt hatten, die Tag und Nacht von Mönchsnovizen in Gang gehalten wurden, und das über Jahrzehnte, womöglich sogar über Jahrhunderte hinweg. Shan konnte nun außerdem die geisterhaften Umrisse von Dämonen ausmachen, die als Gemälde den Bereich über dem Altar geziert hatten. Manche der frommen Tibeter glaubten, dass diese Wesen in den alten gonkangs tatsächlich wohnten. Einer der Schutzdämonen wurde von der Betonwand des Neubaus zerquetscht. Die zentrale Figur zeichnete sich nur noch ganz schwach ab, doch bei genauerem Hinsehen erkannte Shan eine vierarmige weibliche Gestalt mit Pfeil und Bogen in zwei der Hände.

Als der Kriecher seinen eintönigen Vortrag über irgendeinen Aspekt der Strafverfolgung beendet hatte, konnte man hören, wie unterhalb von ihm eine Tür geöffnet wurde, und ein tibetischer Hausmeister kam in Sicht. Die Zuschauer verfolgten seltsam fasziniert, wie der Mann einen Schlauch abrollte und einen Mopp in die Ecke zwischen Betonwand und oberer Ebene stellte. Dann verschwand er und kam mit einem metallenen Lehnstuhl zurück. Kurz bevor er ihn vor der Rückwand abstellte, stolperte der Mann über den Schlauch, was das Publikum nervös auflachen ließ.

Shan hielt erneut nach Oberst Tan Ausschau, dem Kommandanten des Bezirks, der ihn herbeordert hatte, doch er konnte weder den Oberst noch dessen getreue mütterliche Assistentin Amah Jiejie entdecken. Xun erwiderte seinen Blick mit einem schmalen, erwartungsvollen Grinsen. Unten führte nun ein Sergeant der Öffentlichen Sicherheit einen Tibeter mittleren Alters heraus, einen Mann mit schütterem Haar und leerer, ausdrucksloser Miene. Der Tibeter streifte die Hand des Kriechers ab, zog seine Kleidung gerade, ging zu dem Stuhl und setzte sich. Er blickte hinauf zu seinem Publikum und fixierte jeden der Anwesenden kurz mit wachem, stechendem Blick. Shan kam als Letzter an die Reihe. Die Augen des Mannes verweilten bei ihm und ließen so etwas wie Neugier erkennen. Der Fremde krümmte die Finger einer Hand und hielt sie sich kurz vor die Brust. Ein anderer, jüngerer Offizier der Öffentlichen Sicherheit kam hinzu, ein Leutnant, dessen Haarfarbe einen ungewöhnlichen Stich ins Kastanienbraune aufwies. Er deutete vor dem Publikum eine Verbeugung an und wandte sich dann dem Tibeter zu. Die Miene des jungen Kriechers wirkte ernst und entschlossen, doch in seinem Blick glaubte Shan einen Anflug von Belustigung wahrzunehmen.

»Chou Folan?«, fragte der Leutnant.

Der Gefangene ignorierte ihn. Man hatte ihm einen chinesischen Namen zugewiesen, aber er weigerte sich, ihn anzunehmen.

Der Leutnant schaute hinauf zu dem Offizier am Stehpult, der ungehalten nickte.

»Metok Rentzig«, sagte der Leutnant.

»Ja«, erwiderte der Tibeter wehmütig. Dann drehte er sich plötzlich zu der schemenhaften Dämonin an der Wand hinter ihm um und rief mit nun trotziger Stimme: »Om Kurukulla hrih hum svaha!«

Erschrocken bemerkte Shan die Pistole in der Hand des jungen Offiziers. Der Kriecher hob sie mit einer schnellen, flüssigen Bewegung und schoss Metok in den Kopf.

***

Shan wusste nicht, wie lange er sitzen geblieben war und hinunter in die heilige Kapelle gestarrt hatte, die nun als Hinrichtungskammer dienen musste. Die anderen Zeugen waren eilig zur Tür hinaus geströmt, sobald der Mann am Pult die Zeremonie für beendet erklärt hatte. Major Xun hatte als Letzter den Raum verlassen und Shan beim Schließen der Tür noch einmal höhnisch zugelacht. Zwei Handlanger erschienen mit einer Bahre und schafften den Leichnam weg. Shan schaute wie betäubt dabei zu, als der alte tibetische Hausmeister angehumpelt kam und den Boden mit dem Schlauch abspritzte. Sobald das Wasser nicht mehr lief, konnte Shan ihn ein klagendes Mantra flüstern hören. Der Hausmeister entdeckte Blut- und Hirnspritzer an der hinteren Wand und zögerte kurz, dann wich er einige Schritte zurück und spülte sie weg. Dabei entging ihm ein Fleck weiter oben, dicht unter dem Auge der verblichenen Göttin. Sie schien blutige Tränen zu weinen.

Als der Hausmeister fast fertig damit war, das rosa gefärbte Wasser aufzuwischen, schloss eine Hand sich um Shans Schulter. Er blickte auf, genau in die eiskalten Augen des Bezirkskommandanten.

»Das war nicht meine Idee, Shan«, sagte Oberst Tan. »Ich wusste nichts davon, bis Amah Jiejie mir mitgeteilt hat, dass du hier bist. Dann bin ich gleich hergekommen.«

»Sie haben mich herbefohlen.«

»In mein Büro, nicht zu dieser Veranstaltung. Das hier geht auf Major Xuns Kappe. Für den Fall war eigentlich Lhasa zuständig, aber man hatte den Major um ein stilles Örtchen für die Exekution gebeten. Als er hörte, dass du herkommen würdest, hat er Amah Jiejie aufgetragen, dich an diesen Ort zu schicken, und dann hat er der offiziellen Zeugenliste deinen Namen hinzugefügt. Er schien das wohl für einen guten Witz zu halten.«

»Ich fand es nicht lustig.«

»Nein, das kann ich mir denken. Es tut mir leid. Major Xun ist der tüchtigste Adjutant, den ich je hatte, aber er kann bisweilen übereifrig sein.«

Shan entgegnete nichts, doch während er Tan leise nach draußen folgte, wurde ihm auf einmal klar, dass der Oberst sich gerade zum allerersten Mal in all den gemeinsamen Jahren bei ihm entschuldigt hatte. Tan führte ihn hinaus zu seinem wartenden Wagen, einer alten, kantigen Limousine, Modell Rote Fahne, die schon vor zwanzig Jahren hätte ausgemustert werden sollen. Sobald Tan neben Shan Platz genommen hatte, gab der Fahrer Gas und bog mit hoher Geschwindigkeit auf die gepflasterte Straße ein, die von dem ausgedehnten Behördenkomplex in eine Landschaft aus Gerstenfeldern und grasenden Schafen führte.

Tan starrte zum Fenster hinaus und wandte auch dann nicht den Kopf, als er schließlich das Wort ergriff. »Ich brauche dich, Shan.«

Shan hörte die unerwartete Sorge in der Stimme des Obersts und begriff, dass Tan seine Verzweiflung gespürt hatte. Hatte er auch erkannt, welche Worte Shan seit dem Moment auf der Zunge lagen, als Tan in der Hinrichtungskammer seine Schulter berührt hatte? Ich gebe auf, formte Shan stumm mit den Lippen und verkniff sich den Rest. Ich kann kein Rädchen in Pekings monströser Maschinerie mehr sein. Ich kann nicht länger als Polizist für Ihr seelenloses Reich arbeiten. Er hatte derartige Ansprachen in den letzten Monaten häufig geübt, war dabei aber stets zu der ernüchternden Erkenntnis gelangt, dass er von Tan nicht loskam. Er hasste den Oberst dafür, dass er als Tyrann den berüchtigtsten Straflagern im gesamten tibetischen Gulag vorstand, doch Shan verdankte dem Mann seine Freiheit, seine Anstellung, seine Unterkunft, sein Leben. Es würde ihm niemals gelingen, eine andere Stelle zu finden, einen anderen legalen Wohnort oder, was am wichtigsten war, die Sicherheit seines Sohnes Ko zu gewährleisten, der als Häftling in einem von Tans brutalen Gefängnissen saß.

»Sein Name war Metok Rentzig«, sagte Shan am Ende. »Mir war nicht klar, um was für eine Art von Versammlung es sich gehandelt hat. Ich dachte, es würde nur wieder eines dieser öffentlichen Bekenntnisse eines rehabilitierten Tibeters sein. Als der Schuldspruch verlesen wurde, habe ich gar nicht hingehört.«

»Metok war ein leitender Funktionär des neuen hydroelektrischen Projekts. Er hat sich bestechen lassen. Es stand in der Zeitung.«

Shan erinnerte sich daran, etwas über Korruption beim Fünf-Klauen-Damm gelesen zu haben, dem gigantischen Bauprojekt im Norden des Bezirks, knapp fünfzig Kilometer von seinem Polizeirevier in Yangkar entfernt. »Stimmt, seine Verhaftung wurde vermeldet. Danach aber nichts mehr.«

»Bestechlichkeit auf so hoher Ebene ist Peking peinlich. Die Öffentliche Sicherheit wurde angewiesen, in aller Stille vorzugehen.«

»Sie wollen sagen, es gab einen Geheimprozess«, übersetzte Shan. »Und dann eine geheime Hinrichtung.«

»Ich will sagen«, erwiderte Tan mit scharfer Stimme, »dass bei diesem Verfahren die Interessen des Mutterlands angemessen berücksichtigt worden sind. Die Partei hat die Zuständigkeit übernommen, und die Ermittlungen wurden von Lhasa aus geführt. Wir hier waren nicht daran beteiligt.«

Auch Shan sprach nun zum Fenster gewandt. »Korruption ist nicht das Werk eines Einzelnen. Und doch wurde nur ein Mann angeklagt und hingerichtet. Ein Tibeter.«

Tan stieß ein verärgertes Knurren aus, kanalisierte seine Wut aber dadurch, dass er eine Schachtel Zigaretten aufriss und sich eine anzündete. Nach der Entfernung eines Lungenflügels war ihm das Rauchen eigentlich strikt verboten worden. Doch als eine Krankenschwester vor einer Weile versucht hatte, ihm eine Zigarette aus der Hand zu nehmen, hatte er ihr die Nase gebrochen.

In angespannter Stille fuhren sie einige Minuten weiter, dann sah Shan die Türme des Geländes, das sie ansteuerten, und erstarrte. »Ich habe für heute genug ›Gerechtigkeit im Namen des Volkes‹ gesehen«, protestierte er gereizt.

»Nicht so wie hier«, murmelte Tan und schnippte den Zigarettenstummel zum Fenster hinaus, während sie vor dem Haupttor langsamer wurden. Die Wachen salutierten nervös vor dem Militärkommandanten und beeilten sich dann, das Tor aus dicken Balken und Stacheldraht zu öffnen.

Ein erst kürzlich gemaltes Schild an der Einfahrt besagte, dies sei das Lager Neues Erwachen. Shan hatte die Einrichtung bislang als 105.Umerziehungsbrigade gekannt, wenngleich die meisten der Insassen sie einfach die Schuhfabrik nannten. Es handelte sich bei den Leuten zwar ausnahmslos um Strafgefangene, aber sie galten noch nicht als hoffnungslose Fälle. Daher verbrachten sie einen Teil ihrer Tage in Unterrichtsräumen und prägten sich die Leitsätze der Partei ein, und den Rest der Zeit fertigten sie Schuhwerk für die Volksbefreiungsarmee an.

Der Wagen hielt nun vor dem Gebäude der Lagerleitung, und zum zweiten Mal an jenem Tag brachte man Shan zu einer Empore, die hier aber nur aus einer bescheidenen, dreißig Zentimeter hohen Plattform mit zehn Stühlen bestand. Aus der Lautsprecheranlage ertönte plötzlich ein Militärmarsch, und in der hinteren Sitzreihe nahmen Offiziere niederen Ranges Platz. Shan und dem Oberst wurden Stühle neben einem übergewichtigen nervösen Uniformierten zugewiesen, in dem Shan den Direktor erkannte. Dann öffnete sich das innere, mit Klingendraht bewehrte Tor der Anlage, und unter den aufmerksamen Augen bewaffneter Posten strömten die Gefangenen herein und nahmen, aufgeteilt nach Barackenzugehörigkeit, dreißig Meter vor dem Podium Aufstellung. Im Gegensatz zu den Häftlingen in Tans Zwangsarbeitsbrigaden, die man außerdem in entlegeneren Ecken des Bezirks untergebracht hatte, waren diese Männer zumeist keine Langzeitinsassen, sondern lediglich Unruhestifter, verurteilt zu verschärfter Umerziehung. Ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit konnte schon allein durch seine Unterschrift eine solche Strafe von bis zu einem Jahr verhängen, und sobald eine Zusammenkunft von Tibetern auch nur im Entferntesten nach politischem Protest roch, wurde von dieser Befugnis ausgiebig Gebrauch gemacht. Unter den Männern hier würden sich übergangsweise allerdings auch einige wenige Zwangsarbeitssträflinge befinden, denen entweder die baldige Entlassung bevorstand oder manchmal einfach nur das Ende ihres Lebens.

Einmal im Monat mussten die Häftlinge der Schuhfabrik antreten, um der Abschlussfeier beizuwohnen, wie die Lagerleitung das zu nennen pflegte. Shan rechnete mit den üblichen gönnerhaften Reden des Direktors und einiger Musterschüler, die einen vorgegebenen Text verlasen, um dem Mutterland kollektiv dafür zu danken, wieder auf den rechten Pfad gebracht worden zu sein. Nun erstarb die Musik, und ein junger Offizier erhob sich mit einem Megafon, um Auszeichnungen zu verteilen, eine Einheit für ihre saubere Baracke und eine andere für ihre guten Prüfungsnoten in chinesischer Geschichte zu loben. Nach einem halben Dutzend solcher Ankündigungen wurde dem Mann eine Liste gereicht, und er fing an, die Namen derjenigen zu verlesen, die entlassen werden würden. Acht Namen wurden aufgerufen, und die Männer traten jeweils zögernd vor, um ein aufgerolltes Stück Papier entgegenzunehmen, das den erfolgreichen Abschluss des Parteilehrplans bescheinigte. Dann erhielten sie eines der kleinen roten Bücher mit Zitaten Maos, die in Umerziehungslagern allgegenwärtig waren. Die Bücher waren jedoch auf Mandarin verfasst, und Shan bezweifelte, dass die Absolventen sie überhaupt lesen konnten. Jeder der Männer verneigte sich respektvoll vor dem Direktor und wurde dann zu einem Transporter beim Gebäude der Lagerleitung geführt, wo auch einige Reisetaschen auf dem Boden lagen, die vermutlich die Habseligkeiten enthielten, mit denen die Männer hier eingetroffen waren.

Der Offizier mit dem Megafon schaute fragend zu dem Direktor und rief nach dessen Nicken einen weiteren Namen auf. »Yankay Namdol. Tritt vor und empfange deine Papiere.«

Im ersten Moment hielt Shan den alten Mann, der sich aus den Reihen löste, für einen der ehemaligen Zwangsarbeitssträflinge, denn er humpelte mühsam, eine seiner Schultern sah irgendwie schief aus, sein struppiges Haar war überwiegend grau und sein Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Doch je näher er der Plattform kam, desto mehr richtete er sich auf und desto schwächer wurde sein Humpeln, als würde er zusehends jünger werden. Er warf einen langen Blick in Richtung des Tors, wo eine junge Tibeterin aufgetaucht war, die zwei Pferde am Zügel führte.

Der Direktor wirkte seltsam erleichtert, als der Mann namens Yankay Namdol ergeben den Kopf neigte. Vielleicht hatte er befürchtet, der Delinquent würde sich vor Tan respektlos verhalten. Ein Soldat warf dem Gefangenen einen schmutzigen Schnürbeutel hin, dann reichte der Direktor ihm seine Urkunde und das kleine rote Buch. Yankay verbeugte sich vor den versammelten Offizieren, trat zurück und zog aus seinem Beutel eine abgewetzte chuba hervor, einen jener Schaffellmäntel, wie sie vor allem von Hirten bevorzugt wurden. Sonderbar fasziniert und in aller Stille verfolgten die zahllosen Anwesenden, wie er den Mantel über seine Lagerkluft streifte, die an einen Pyjama erinnerte. Er wandte sich der Häftlingsbrigade zu, hielt das Buch hoch über seinen Kopf und verneigte sich besonders tief vor den Mitgefangenen, was weithin ein belustigtes Raunen hervorrief. Dann winkte er der Frau am Tor zu und ging in ihre Richtung, hielt jedoch inne, als aus den Lagerschuppen hinter dem Verwaltungsgebäude mehrere Hunde angerannt kamen und zu bellen begannen. Ein Maultiergespann mit einem Karren voller gesammelter Exkremente scheute und ging durch, und der Fuhrmann lief hektisch hinterher. Shan nahm bei dem alten Mann den Anflug eines Lächelns wahr, und als Yankay seinen Weg fortsetzte, humpelte er fast gar nicht mehr.

Die Bedeutung dieses kleinen Dramas war Shan nicht ganz klar, und er beugte sich zu Tan hinüber. »Was hat er verbrochen?«, fragte er.

»Er hat zwei Soldaten getötet.«

Shan riss ungläubig die Augen auf. Ein Tibeter, der zwei Soldaten getötet hatte, würde ein Jahr später nicht mal mehr am Leben sein, geschweige denn aus einem vergleichsweise harmlosen Umerziehungslager freigelassen werden.

Tan runzelte die Stirn. »Es gab Komplikationen«, erklärte er.

Doch Shan hörte nur mit halbem Ohr zu, denn er beobachtete das merkwürdige Verhalten des Tibeters. Dreißig Schritte vor dem Tor blieb er stehen und holte ein Bündel getrockneter Zweige aus seinem Beutel. Er reckte es in alle vier Himmelsrichtungen und zog mit seinem Absatz einen zwei Meter messenden Kreis in den Staub, dessen Rand er mit mehreren kurzen Tangenten versah. Dann ging er weiter. Der Direktor stieß eine leise Verwünschung aus, drehte sich zu einem seiner Untergebenen um, zeigte auf den Kreis und befahl dem Mann, die Markierung zu verwischen. Ein schroffer Befehl von Oberst Tan brachte den jungen Offizier jedoch zum Stehen.

Alle auf dem Gelände sahen nun schweigend dabei zu, wie das Tor sich öffnete, Yankay auf eines der Pferde stieg und die junge Frau auf das andere. Dann trabten die beiden davon, und noch immer rührte sich niemand sonst.

»Zurück an die Arbeit«, sagte der Direktor sichtlich erleichtert, und der junge Offizier gab die Anweisung mit dem Megafon weiter. Die Häftlinge befanden sich auf dem Weg durch das innere Tor, als einige von ihnen etwas riefen und die Arme ausstreckten. Manche zeigten auf den entlassenen Gefangenen, der auf einem nahen Hügel vom Pferd gestiegen war und da oben eine Art Tanz vollführte, wobei er abermals das Bündel Zweige über dem Kopf schwenkte. Andere wiesen auf den hohen hölzernen Fahnenmast in der Mitte des großen Antreteplatzes. Er wankte hin und her.

Verwirrt wurde Shan Zeuge, wie der Mast plötzlich brach und die chinesische Flagge in den Staub fiel. Dann schwankte auf einmal der ganze Boden.

Es war kein starkes Erdbeben, sondern lediglich eine der kleineren Erschütterungen, wie sie in Teilen von Tibet alle paar Wochen vorkamen, doch die Lagerbediensteten hasteten panisch aus dem Verwaltungsgebäude ins Freie. Einer der jungen Offiziere keuchte auf und rannte hektisch auf einen der Wachtürme zu. Zwei Soldaten sprangen dort im letzten Moment von der Leiter, bevor die Streben mit lautem Krachen barsten. Der Turm kippte auf die Seite, gefolgt von einem weiteren lauten Krachen hinter dem Podium. Shan drehte sich um und sah, dass die Stützbalken des kurzen Vordachs am Eingang des Verwaltungsgebäudes nachgegeben hatten und dass das heruntergefallene Dach nun die Tür blockierte. Dann hörte das Erdbeben genauso abrupt auf, wie es begonnen hatte.

Die Gefangenen stimmten auf dem Rückweg in ihre Baracken einen Gesang an. Die Melodie klang wie eines der Arbeitslieder der Strafkolonnen beim Ausheben von Gräben oder dem Zertrümmern von Felsen für eine Straßenbettung. Doch nach einigen Zeilen erkannte Shan, dass dies nur ein Trick war, um die Aufseher zu täuschen. Der Text war der eines alten tibetischen Dankliedes an die Schutzdämonen.

Shan bemerkte, dass der Direktor, der nun vor ihnen stand, etwas sagen wollte. Tan starrte immer noch in Richtung des inzwischen menschenleeren Hügels, auf dem der entlassene Häftling getanzt hatte. »Herr Oberst?«, wiederholte der Direktor.

Shan berührte Tan am Ellbogen. Der Oberst wandte sich zu dem Direktor um und schaute dann an ihm vorbei zu dem umgestürzten Wachturm. Zu Shans Überraschung wirkte sein hageres Antlitz dabei nicht wütend, sondern eher fasziniert. »Weitermachen, Major«, sagte er zu dem bestürzten Direktor und fügte dann hinzu: »Der Fahnenmast muss bis Einbruch der Nacht wieder stehen.«

Draußen ließ Tan seinen Fahrer nach hundert Metern anhalten. Wortlos stieg er aus und fing an, den Hügel zu erklimmen, auf dem der Gefangene getanzt hatte. Shan öffnete ebenfalls seine Tür, hielt dann jedoch inne. »Wer war dieser Mann, der gerade entlassen wurde?«, fragte er den Fahrer, einen alten Sergeanten, der schon ewig unter Tan Dienst tat.

Der Soldat zeigte auf den umgekippten Turm. »Ein Zauberer«, erwiderte er beunruhigt. Shan wusste noch, wie abfällig und herablassend der Fahrer früher stets über die Tibeter gesprochen hatte, genau wie Tan selbst. Mittlerweile machte das keiner der beiden mehr.

Shan fand den Oberst oben auf dem Hügelkamm vor, wo Tan auf einem großen flachen Felsblock saß und eine weitere Zigarette rauchte. Von dem tibetischen Zauberer war nur noch eine Staubwolke in Richtung der nördlichen Berge zu sehen.

Tan nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Es wird Ärger geben«, verkündete er.

Shan setzte sich neben ihn. »Was für Ärger?«, fragte er und blickte der Staubwolke hinterher. Dort im Norden befand sich sein eigentlicher Zuständigkeitsbereich, die abgelegene Stadt Yangkar samt Umgebung. Erleichtert sah Shan, dass die Hufspuren nach Osten abbogen, weg von seiner Gegend und hin zu dem höchsten der fernen schneebedeckten Gipfel.

»Deine Art von Ärger.«

Shan beobachtete einige Atemzüge lang die Staubwolke. »Vergessen Sie nicht, Herr Oberst«, sagte er, »ich habe heutzutage eher mit der Suche nach entlaufenen Yaks zu tun oder muss einen Streit auf dem Marktplatz schlichten. Letzte Woche durfte ich entscheiden, ob ein Huhn zehn Kohlköpfe wert ist oder fünfzehn.«

Tan gab ein Grunzen von sich, das vielleicht so etwas wie ein Lachen sein sollte. Dann fiel auch sein Blick auf die immer weiter entschwindende Staubwolke, und er wurde wieder ernst. »Eine kleine Kolonne aus der Provinz Szechuan war in Lhadrung unterwegs, bloß zwei Armeelaster, eskortiert von zwei Fahrzeugen der Öffentlichen Sicherheit.«

»Sie meinen, einige sehr spezielle Gefangene wurden in eine Ihrer Einrichtungen überstellt.« Tans Straflager waren in ganz China dafür berüchtigt, dass man Häftlinge dort für immer von der Bildfläche verschwinden lassen konnte. Deshalb war auch Shan vor vielen Jahren zur 404.Baubrigade des Volkes verlegt worden.

Tan widersprach ihm nicht. »Nur sechs Mann, drei pro Transporter, mit jeweils zwei Wachen auf der Ladefläche und den Wagen der Öffentlichen Sicherheit davor und dahinter. Der befehlshabende Offizier des Büros, der eben erst nach Lhadrung versetzt worden war, hatte beschlossen, eine der alten Straßen durchs Hochgebirge zu nehmen, was mir bis heute nicht einleuchtet. Falls jemand sich die Mühe gemacht hätte, mich zu fragen, hätte ich die Leute gewarnt, dass diese Straßen zu unzuverlässig sind und man dort mit Erdrutschen und Schlimmerem rechnen muss.« Er zog erneut an seiner Zigarette. »Als sie um eine Biegung kamen, war da auf der Straße plötzlich ein alter Mann, der herumfuchtelte und einen seltsamen Tanz aufführte. Alle paar Sekunden hielt er inne und schüttelte sein Bündel Zweige in Richtung Himmel, der sich immer schneller verdunkelte. Die Männer aus dem vorderen Wagen der Öffentlichen Sicherheit sowie zwei der begleitenden Soldaten sind ausgestiegen und haben dem Mann zugerufen, er solle Platz machen, aber er schien sie nicht zu hören. Sie schossen in die Luft, doch er hat nur gelacht und nach oben gezeigt. Als sie sich ihm genähert haben, fing es an zu hageln, und zwar nicht in Erbsengröße, sondern mit riesigen Eisbällen, groß wie Äpfel. Scheiben gingen zu Bruch, und alle rannten zurück zu den Fahrzeugen. Die beiden Männer des Büros konnten sich in Sicherheit bringen, einer mit gebrochenem Schlüsselbein. Aber für die zwei Soldaten war der Weg zu ihrem Laster weiter. Zu weit. Sie hatten nur weiche Uniformmützen auf, und so wurden ihre Schädel zertrümmert. Sie waren beide sofort tot. Als der Hagel aufhörte, sahen ihre Körper aus, als hätte man mit Hämmern auf sie eingeprügelt.«

»Und der alte Mann?«

»Du hast ihn gerade wegreiten gesehen. Es hieß, er sei mit Einsetzen des Hagels verschwunden und gleich nach dessen Ende wieder auf der Straße aufgetaucht. Dann sei er zu den Toten gegangen und habe irgendeinen Gesang angestimmt, bevor er verhaftet wurde.«

»Verhaftet?«

»Leutnant Huan, der leitende Offizier der Öffentlichen Sicherheit, hat darauf bestanden, der Mann habe den Hagel über sie hereinbrechen lassen und müsse daher wegen Mordes angeklagt werden. Doch nicht mal die gefügigen Richter, die von der Öffentlichen Sicherheit ausgewählt werden, haben ihm diese Geschichte abgekauft. Wie könne die Regierung offiziell einräumen, dass es tibetische Zauberer gibt, hat der Richter den Offizier gefragt. Er sei selbst dabei gewesen, hat Huan entgegnet, und Yankay Namdol habe sie so kaltblütig getötet, als hätte er eine Pistole benutzt. Der Richter zitierte daraufhin einen Bericht, dem zufolge die besagte Straße dermaßen bekannt für ihre Hagelschauer sei, dass die Einheimischen sie den Eiskugeldamm nennen würden. Er wies die Anklage ab. Der Tod der Männer sei vielmehr auf die fahrlässige Entscheidung des Offiziers zurückzuführen. Ich habe dafür gesorgt, dass er eine dreijährige Beförderungssperre erhielt und aus Lhadrung versetzt wurde, bevor er überhaupt richtig angekommen war. Zuvor aber hat er seine Befugnisse genutzt, um den alten Tibeter für ein Jahr ins Umerziehungslager zu schicken, in die Schuhfabrik.«

»Und heute war die Strafe verbüßt.«

Tan schaute zurück zu dem Lager, wo die Insassen die Trümmer des Wachturms wegräumten. »Und zwar mit einem dramatischen Auftritt.« Er zog die nächste Zigarette aus der Packung. Sein Arzt hatte längst vor Tans Sturheit kapituliert und darauf bestanden, dass er wenigstens auf Filterzigaretten umstieg. Tan brach nun den Filter ab und warf ihn weg, bevor er sich die Zigarette anzündete. »Wie, zum Teufel, hat er das mit dem Erdbeben gemacht?«, knurrte er.

Shan ließ noch einmal Revue passieren, wie der Häftling zu dem Direktor gehumpelt war und seine Habseligkeiten in Empfang genommen hatte. Seine alte chuba war abgewetzt gewesen, das Futter aus Schaffell verschmutzt. Auf dem Rücken und den Ärmeln des Mantels hatte es verblichene Abbilder gegeben, manche davon komplexe geometrische Muster, andere die Darstellungen von Gottheiten, aber zu klein und undeutlich, als dass Shan sie erkannt hätte. Auf dem Weg zum Tor hatte Yankay dann diesen Kreis gezeichnet. Shan beugte sich vor und zog mit dem Finger nun eine kleinere Version davon in den sandigen Boden, einen Kreis mit vier kurzen Tangenten in jeweils gleichem Abstand zueinander. »Er ist ein Hageljäger«, sagte Shan.

»Eher ein Hagelmörder, wenn man der Öffentlichen Sicherheit glauben darf«, erwiderte Tan.

»Im alten Tibet waren solche Männer nicht unüblich«, erklärte Shan. »Meistens handelte es sich um hochrangige Mönche, die ihre Klöster verließen, um durch die Gegend zu ziehen und die Macht der Gottheiten anzuzapfen, die über Land und Himmel herrschen. Bauern bezahlten sie dafür, das Wetter zu beeinflussen. Oft sollten sie den Hagel abhalten, der binnen weniger Minuten ganze Ernten zu vernichten drohte, aber den Fähigsten unter ihnen wurde nachgesagt, dass sie den Hagel auch herbeirufen konnten. Von manchen hieß es sogar, sie würden sowohl die Erd- als auch die Himmelsgötter heraufbeschwören können.«

»Die Erdgötter, die den Boden erbeben lassen«, warf Tan ein.

Shan sah ihn überrascht an. »Das sind bloß alte Geschichten, Oberst. Nicht mehr als Folklore.«

»Natürlich sind sie das, verflucht noch mal!« Tan konnte sich ebenso schnell aufregen wie wieder beruhigen. »Aber es spielt keine Rolle, was ich glaube. Der Mann hat eine Gefolgschaft. Es ist, als hätten sie eine Gesetzeslücke gefunden.«

»Indem sie die Götter einsetzen?«

Tans Miene verhärtete sich erneut. »Komm mir ja nicht dumm! Es ist egal, ob du oder ich die Götter für echt halten. Aber viele Tibeter sind fest von ihrer Existenz überzeugt!«

»Ich bin mir nicht sicher, worauf Sie hinauswollen«, erwiderte Shan.

Tan wies mit seiner Zigarette auf die ferne Staubwolke. »Er reitet genau auf das Projekt zu.«

»Das Projekt?«

»Das verdammte hydroelektrische Projekt. Fünf-Klauen-Damm heißt das Ding. Die größte Investition, die die Regierung je in dieser Region getätigt hat. Der Bau soll noch zwei weitere Jahre dauern, und trotzdem ist die Einweihungsfeier schon im Terminkalender des Vorsitzenden vermerkt. Acht Kilometer weiter nördlich und es wäre nicht mehr mein Bezirk gewesen.« Er schüttelte den Kopf. »Da die strategischen Interessen des Landes betroffen sind, folgt man einem neuen Modell, einem Schnellverfahren. Der Genehmigungsprozess findet in aller Stille statt, und die Bauarbeiten fangen an, bevor die Bevölkerung auch nur etwas ahnt. Sogar mir hat vorher niemand Bescheid gesagt, geschweige denn mich um Erlaubnis gebeten.«

Shan sah ihn an. Korruption war eine lässliche Sünde, verglichen mit der Untergrabung von Tans Autorität.

»Wie genau sieht dieser Anfang denn aus?«, fragte Shan.

»Sie gestalten das Tal um und reißen ein paar alte Ruinen ab.«

Shan musste plötzlich an die Ereignisse vom Morgen denken. Er hatte der Hinrichtung eines Mannes beigewohnt, der an dem hydroelektrischen Projekt beteiligt gewesen war. »Ein paar Meilen weiter westlich, und es würde in meinem Zuständigkeitsbereich liegen«, flüsterte Shan und war abermals erleichtert, dass der sonderbare Tibeter nicht in Richtung Yangkar ritt. Doch warum hatte Tan ihn an jenem Morgen überhaupt herbeizitiert? Wieso hatte er mitten in der Nacht aufstehen und die stundenlange Fahrt nach Lhadrung antreten müssen?

Dann erschauderte er innerlich, denn Tan verzog das Gesicht zu einem schmalen Lächeln. »Richtig«, sagte der Oberst. »Als Wachtmeister von Yangkar braucht dich das nicht zu kümmern. Aber …« Er griff in seine Jacke, zog einen Umschlag hervor und reichte ihn Shan.

Das Schreiben war einfach adressiert an Shan Tao Yun, Yangkar. Als Shan es entgegennahm, zog sein Magen sich zusammen. Während er las, legte Tan ein kleines schwarzes Lederetui auf den Felsen. Shan starrte den Brief an, als könne er die Worte durch reine Willensanstrengung verschwinden lassen.

»Du bleibst der Wachtmeister und behältst dein Revier, aber ich erhöhe dein Gehalt um fünfzig Prozent.«

Shan las den Amtstitel, den Tan ihm verlieh. »Sonderinspektor für das Büro der Bezirksverwaltung. So was gibt es gar nicht.«

»Doch, sobald ich das anordne.«

»Ich hätte damit aber keinerlei Befugnisse.«

»Amah Jiejie hat für die Akten eine entsprechende Verordnung aufgesetzt. Der Bezirkskommandant hat in seinem Zuständigkeitsbereich die gleichen polizeilichen Befugnisse wie die Öffentliche Sicherheit. Und meine Zuständigkeit wurde auf Nachschubgüter der Armee erweitert, da Lhadrung ja als neuer regionaler Versorgungsknotenpunkt des Militärs vorgesehen ist.« Er schob Shan das Etui herüber. »Klapp es auf. Es war ihre Idee. Sie sagte, es würde dir helfen.«

Die lederne Hülle enthielt auf einer Seite ein Abzeichen aus Messing und auf der anderen eine laminierte Karte. Sie war mit Tans Unterschrift versehen und auf Shan Tao Yun, Sonderinspektor ausgestellt. Darunter stand: Militärkommandantur, Bezirk Lhadrung.

»Das mache ich nicht«, sagte Shan.

»Du hast keine andere Wahl.«

»Wieso?« Die Frage war überflüssig. Sie kannten beide den Grund, aus dem Shan, der in Ungnade gefallene abtrünnige Ermittler aus Peking, Jahre zuvor aus dem Zwangsarbeitslager freigekommen war, in dem er eigentlich hätte sterben sollen. Er war zu einer Haftstrafe von unbestimmter Dauer verurteilt worden, was für all jene, die das Missfallen des Staatsrats erregt hatten, lebenslänglich bedeutete, vorzugsweise mit einer deutlich verkürzten Lebensdauer. Doch nach fünf Jahren im Lager war er Tan bei einem Problem behilflich gewesen, und der Oberst hatte ihn eigenmächtig freigelassen, ohne Peking davon zu unterrichten. Shan konnte daher auch nicht außerhalb von Tans Bezirk leben und nirgendwo eine Stelle annehmen, es sei denn von Tan persönlich. Doch der wichtigste Grund war sein Sohn Ko, der als Häftling in Shans einstigem Lager einsaß. Der Direktor und die Aufseher hatten Shan gehasst, und Ko würde sich ohne den Schutz von Tan und Amah Jiejie in ernster Gefahr befinden. Die Frau besuchte den jungen Mann so regelmäßig, dass das Personal sie bereits als Kos Tante bezeichnete.

Doch Tan überraschte Shan. »Ich brauche dich, Shan«, sagte er zum zweiten Mal an jenem Tag. Die Verbindung zwischen ihnen hatte sich im Laufe der Jahre ziemlich kompliziert entwickelt, von zunächst erbitterter Feindschaft allmählich zu widerwilligem gegenseitigem Respekt. Shan hatte Tan mehrfach vor dem Verlust seines Ansehens bewahrt und einmal sogar vor der Todesstrafe für ein Verbrechen, das der Oberst nicht begangen hatte. Tan hatte Shan vor der gnaden- und oft auch gewissenlosen Hand Pekings geschützt. Nachdem er letztes Jahr durch Shan erfahren hatte, dass ein verehrter General, ein gottgleicher Volksheld, in Wahrheit ein korrupter Mörder war, hatte Tan nach und nach erkennen lassen, dass er, genau wie Shan, seiner Regierung nicht mehr vertraute. Er hatte den General in Shans Anwesenheit getötet und so engere Bande zwischen ihnen geschaffen.

»Der Fünf-Klauen-Damm ist ein nationales Projekt unter Pekings Leitung. Man hat Metok von Lhasa aus belangt«, erinnerte Shan den Oberst.

»Es ist mein Bezirk, verdammt noch mal!« Nicht ohne Grund bezeichneten manche Leute Tan als den Kriegsherrn von Lhadrung. Er war seit so langer Zeit mit eiserner Faust der Kommandant dieser riesigen Region, größer als so manche Provinz im Osten, dass das Gebiet inzwischen eher wie sein privates Königreich wirkte.

Schweigend saßen sie da. Über den fernen Gipfeln riss die Wolkendecke auf, und die Sonne ließ die Schneekronen erstrahlen. Auf den unteren Hängen der nächstgelegenen Berge konnte Shan mehrere Punkte erkennen, die ebenso weiß leuchteten. Es handelte sich um chorten, kleine Bauten mit Kuppel und Spitze, uralte Schreine, die von den ortsansässigen Tibetern insgeheim restauriert worden waren. Sie standen in einer Linie wie Wächter über den Straflagern im Tal. Das Gebirge barg auch heutzutage noch sehr alte, überaus gut versteckte Geheimnisse.

Tan wies auf die immer kleiner werdende Staubwolke. »Metoks Hinrichtung war kein Ende, sondern ein Anfang«, sagte er in dem grimmigen, wissenden Tonfall eines alten Kriegers. »Der Hageljäger reitet nicht ohne Grund zu den Fünf Klauen.«

Shan begriff, dass Tan mit dieser Entwicklung gerechnet hatte. »Ich verstehe nicht ganz, Herr Oberst«, sagte er. »Soll ich etwa Verbrechen untersuchen, die noch gar nicht verübt worden sind?«

Er erwartete eine barsche Zurechtweisung, aber Tan wog seine Antwort sorgfältig ab. »Tibet ist ein Land verwüsteter Orte und gebrochener Menschen«, sagte er nachdenklich. »Und du, Shan, kannst diese Bruchstücke besser zusammenfügen als jeder andere, den ich kenne.« Dann stand der Oberst auf und ging zurück zum Wagen.

Dort erwartete sie ein junger Offizier aus dem Lager. »Der Direktor lässt mitteilen, dass das Erdbeben unsere Zisternen beschädigt hat«, meldete er Tan. »Wir haben kein Wasser und werden Tanklaster benötigen. Darüber hinaus hat im Unterrichtssaal das neue Wandgemälde des Vorsitzenden einen Riss davongetragen, mitten durch sein Gesicht.«

Tan warf Shan einen vielsagenden Blick zu. Auch das Lager Neues Erwachen war zu einem jener verwüsteten Orte geworden.

Kapitel Zwei

Als vor ihm Yangkar auf der anderen Seite des Tals in Sicht kam, hielt Shan am Straßenrand. Nach dem von Tan erzwungenen Umzug hierher war die staubige, vom Wind geplagte Stadt ihm anfangs wie ein trostloses Exil vorgekommen, doch mittlerweile fühlte Shan sich hier so sehr zu Hause wie zuvor nirgendwo seit seiner Kindheit. Viele der tibetischen Einwohner waren ihm ans Herz gewachsen. Sie grüßten ihn mit mattem Lächeln und bemühten sich nach Kräften, ihn vor den wenigen Unverbesserlichen zu beschützen, die prinzipiell jeden chinesischen Polizisten hassten. Die Stadt barg so manch dunkles Geheimnis und bittere Erinnerung, genau wie Shan selbst, aber sie hielt trotz aller Narben und Beschwerlichkeiten weiter durch, ebenfalls genau wie Shan. Ausschlaggebend für seine Zufriedenheit war wahrscheinlich die Erkenntnis, dass die tibetischen Traditionen hier im Verborgenen weiter Bestand hatten. Als Folge der Abgeschiedenheit und des unwirtlichen Wetters hatten die Eiferer, denen in Peking das Büro für Religiöse Angelegenheiten unterstand, die Stadt Yangkar nämlich weitgehend ignoriert. Die Aufgabe dieser Behörde war es, die Religion im Volksparadies auszumerzen, und vor einigen Jahrzehnten war das uralte Kloster von Yangkar dem Büro auch tatsächlich zum Opfer gefallen. Seitdem aber hatten seine Schergen sich kaum jemals mehr hier blicken lassen.

Als drei Schafe nun vor Shan in der Dämmerung die Straße überquerten, fiel ihm etwas plötzlich wieder ein. Er stöhnte auf, legte den Gang ein und gab Gas. Zehn Minuten später kam er mit einer Vollbremsung auf dem Schotterweg vor dem Schulgebäude zum Stehen, und die junge Tibeterin, die dort auf der Treppe saß, stand auf und warf sich einen Rucksack über die Schulter.

»Es tut mir leid, Yara«, sagte Shan und stieg aus. »Ich musste nach Lhadrung. Ich hätte dich von dort aus anrufen müssen.« Dann hielt er der tibetischen Lehrerin den Wagenschlüssel hin. Ihr warmherziges Lächeln ließ sein Schuldgefühl verschwinden.

»Vielleicht besser so«, entgegnete Yara. Sie legte ihren Rucksack auf die Sitzbank und nahm am Steuer Platz. »Die Schulleiterin wirft mir jedes Mal argwöhnische Blicke zu, wenn der Wachtmeister für mich anruft.« Sie schaute zu den steilen Hängen oberhalb der Stadt, die am Talgrund bereits in tiefem Schatten lag. »Meine Großmutter wird allerdings nicht im Dunkeln auf der Ladefläche sitzen wollen.« Yara brachte die alte Frau hinauf zum Lager des Großvaters, der dort die winzige Herde aus Schafen und Yaks hütete und darauf wartete, dass die Pässe unterhalb der Sommerweiden schneefrei sein würden.

»Sie kann natürlich vorn bei dir sitzen«, sagte Shan. »Sie möchte nur diesmal bitte nicht die Sirene einschalten.«

»Du weißt aber schon, dass sie die ganze Zeit ihre Zigarre rauchen wird? Der Wagen wird eine Woche lang danach riechen.«

Shan nickte reumütig. »Das ist die Strafe für meine Verspätung.«

Yara lächelte erneut, zog dann ein gefaltetes Stück Papier aus der Tasche ihrer Bluse und reichte es Shan. »Während der Wartezeit habe ich einen Brief geschrieben«, sagte sie. »Ich stelle den Wagen dann wie üblich hinter dem Revier ab«, fügte sie hinzu und fuhr los, um ihre Großmutter von der Arbeit in der Teppichfabrik abzuholen.

***

Der Marktplatz lag fünf Blocks vom Betongebäude der Schule entfernt. Unterwegs betrachtete Shan die gedrungenen windschiefen Häuser zu beiden Seiten der Straße. Bei fast allen waren rund um die Türrahmen Lotusblumen, Muscheln, Fische oder andere Glückssymbole aufgemalt. Der neue chinesische Friseur hatte sich jedoch ein Poster des Vorsitzenden an die Haustür gehängt. Ein alter Mann auf einem Fahrrad fuhr vorbei und schenkte Shan ein nahezu zahnloses Grinsen. Im Korb an der Lenkstange saß ein Terrier. An einem Ende des Platzes kniete eine Frau bei dem kleinen chorten und nickte Shan zu. Am anderen Ende landete eine Taube auf der überdimensionalen Büste des Großen Steuermanns Mao. Als das Polizeirevier in Sicht kam, rannte dort soeben eine Ziege zur Tür heraus, gefolgt von einem geworfenen Stiefel.

Shan seufzte kurz, richtete dann seine Uniform, überquerte die staubige Straße und betrat das Revier. Vorn im Büro stritten zwei Tibeter miteinander. Als Shan geräuschvoll die Tür schloss, verstummten sie abrupt und keuchten erschrocken auf. Der ältere Mann huschte nach nebenan. Der jüngere, Anfang dreißig, nahm Haltung an und hob die Hand an die Stirn, was entfernt nach einem Salut aussah.

»Wachtmeister Shan«, sagte sein Stellvertreter nervös und warf einen Blick auf die Ziegenköttel am Boden.

»Wachtmeister Choden«, erwiderte Shan kühl, »ist das Ihr Stiefel da draußen auf der Straße?«

»Ein Winterstiefel, den ich nachher mit nach Hause nehme«, erklärte Choden verunsichert.

»Aber was wollen Sie dann tragen, wenn ich Sie hoch in die Berge schicke, um dort an unserem Vorposten Schafe zu zählen? Da liegt oft tiefer Schnee.«

Der junge Polizist erblasste. »Ich hole ihn sofort, Chef.«

Der Mann lief hinaus. Shan blickte ihm durchs Fenster hinterher und fragte sich, ob er das bereits ausgefüllte Formular einreichen sollte, mit dem er um Chodens Versetzung bat. Sein früherer Stellvertreter hatte sich als skrupelloser Mörder erwiesen und sogar Shans Vorgänger umgebracht. Daher war Oberst Tan bei der Auswahl des neuen Polizisten besonders sorgfältig vorgegangen. Choden hatte die Ausbildung als bester Tibeter seines Jahrgangs abgeschlossen, doch er schien nicht in der Lage zu sein, mit der notwendigen Autorität aufzutreten.

»Ich habe Lhakpa schon vor einer Stunde gesagt, die Ziege muss raus«, nörgelte Choden, als er mit seinem Stiefel zurückkam.

»Weil Sie wussten, dass ich dann wieder hier sein würde.«

»Genau«, bestätigte Choden und stutzte, als wittere er eine Falle. »Ich habe ihm gesagt, der Besuch von Angehörigen sei nur für täglich eine Stunde gestattet. Gefängnisvorschrift.«

»Es ist eine Ziege«, betonte Shan.

»Nun ja …«, setzte Choden an, als wolle er Einwände erheben. Er war nur wenige Meilen entfernt in einer der vielen Familien aufgewachsen, die nicht nur inbrünstig an das Prinzip der Reinkarnation glaubten, sondern auch wussten, dass viele ihrer unmittelbaren Vorfahren schwere Schuld auf ihre Seelen geladen hatten und deshalb als niedere Lebensformen zurückgekehrt waren. In fast allen der traditionellen Haushalte der Gegend lebten Tiere, die als wiedergeborene Verwandte galten. »Er ist überzeugt, sie sei seine junge Nichte, die letztes Jahr bei einem schrecklichen Sturz in den Bergen gestorben ist. Er sagt, aus diesem Grund sei sie als Ziege heimgekehrt – um zu lernen, besser auf die Pfade zu achten.« Choden sah Shan hoffnungsvoll an, als glaube er, die besseren Argumente zu haben. »Ich habe sie heute Morgen am anderen Ende der Stadt in einem Stall angebunden. Aber sie findet stets zu ihm zurück, egal, wo er ist. Wirklich schlau, dieses Mädchen. Er sagt, sie habe die Augen seiner Nichte.« Der letzte Satz klang eher unschlüssig.

Shan setzte sich an seinen Schreibtisch und unterdrückte ein Gähnen. »Keine Tiere im Zellentrakt«, stellte er fest und bemerkte dann den kurzen getippten Bericht, der vor ihm lag. Er las ihn laut vor. »Vorfall eins. Es wurde gemeldet, dass ein Yak an der Schnellstraße bei Kilometerstein 300 Verkehrsschilder umwirft.« So etwas kam hier in der Gegend beinahe jede Woche vor. »Vorfall zwei«, fuhr er fort. »Frau Lu gibt an, jemand habe von ihrer Fensterbank drei Zwiebeln gestohlen. Vorfall drei. Herr Xing meldet, ein Vandale habe mit Kreide ein Sonne-und-Mond-Symbol auf die Rückwand seines Hauses geschmiert.« Shan sah seinen Stellvertreter fragend an.

Choden zuckte die Achseln. »Ich habe ihm gesagt, es sei zu seinem Schutz gedacht, als eine Art Glücksbringer, und dass es helfen würde, die Mäuse von seinem Getreide fernzuhalten.« Die chinesischen Einwohner machten ungefähr fünf Prozent der Stadtbevölkerung aus, waren aber für neunzig Prozent der Beschwerden verantwortlich.

»Vorfall vier«, las Shan weiter. »Ein Transporter mit vier Wissenschaftlern des Instituts hat in der Stadt gehalten. Die Leute haben im Nudellokal zu Mittag gegessen.« Er blickte auf. »Was für Wissenschaftler? Von welchem Institut?«

Sein Stellvertreter zuckte abermals die Achseln. »Vier Leute aus Peking.« So nannten die Tibeter alle Chinesen, seit mehrere hartnäckige Propagandakampagnen verkündet hatten, alle Tibeter müssten sich selbst als Chinesen bezeichnen. »Marpa hat sie bedient.« Das war der Eigentümer des Lokals. »Sie haben ihm erzählt, sie seien nur auf der Durchreise und wollten die Berge untersuchen.«

Shan und Choden wussten beide, dass niemand auf der Durchreise nach Yangkar kam. Die Stadt lag am Ende eines langen Zubringers zur Schnellstraße. »Welche Art von Wissenschaftlern?«

Wieder zuckte Choden die Achseln. Die Geste war typisch für ihn. »Bergwissenschaftler, schätze ich.«

Shan las den letzten Teil der Seite und erschauderte. »Was soll das heißen, die Öffentliche Sicherheit in Lhasa will mich sprechen?«

»Eine Beamtin der Öffentlichen Sicherheit hat aus Lhasa angerufen und sich erkundigt, ob Shan Tao Yun hier der leitende Wachtmeister sei.«

»Und das haben Sie als Vorfall vermerkt?«

»Es klang wichtig, Chef. Ich kann mich nicht erinnern, wann zuletzt die Zentrale der Öffentlichen Sicherheit hier angerufen hätte. Die Frau hat gefragt: ›Spricht Wachtmeister Shan Tibetisch und trägt er ein Gebetsamulett?‹« Choden blickte auf seine verschränkten Hände. »Es tut mir leid. Ich musste ihr die Wahrheit sagen.«

Shan ging in Gedanken die Zeugen bei Metoks Hinrichtung durch. Da war zunächst der höhere Offizier gewesen, der die Vergehen des Ingenieurs verlesen hatte. Dann der arrogante, aalglatte jüngere Offizier, der mit einem Lächeln den Abzug betätigt hatte. Weibliche Mitarbeiter der Öffentlichen Sicherheit waren Shan nicht aufgefallen, jedenfalls nicht in Uniform. Doch Tan hatte gesagt, für den Fall sei Lhasa zuständig gewesen.

Shan stand auf, ging zu der Nische, die ihnen als provisorische Küche diente, und schenkte sich dort aus der Thermoskanne eine Tasse Tee ein. Der Tee war kalt. »Gehen Sie noch eine halbe Stunde lang auf Streife und dann nach Hause«, wies er Choden an, der dankbar nickte und gleich darauf die Stirn runzelte, weil Shan auf die Ziegenköttel zeigte.

Gehorsam reinigte der Stellvertreter den Boden, wollte dann aufbrechen, hielt an der Tür aber inne. »Haben wir wirklich einen Vorposten in den Bergen?«, fragte er. »Um dort Schafe zu zählen, meine ich.«

Shan schüttete die Tasse im Spülbecken aus. »Das werden Sie noch früh genug herausfinden, falls Sie unser Revier weiterhin wie einen Stall behandeln«, erwiderte er und schickte seinen Stellvertreter mit einem Wink zur Tür hinaus.

Er brühte eine frische Kanne Tee auf, füllte zwei Becher und trug sie durch die Tür in der Rückwand des Büros. Nachdem er einen der Becher auf den Tisch vor den beiden Zellen gestellt hatte, öffnete er die unverriegelte Tür der ersten Zelle und stellte den zweiten Becher dort drinnen auf einen Hocker an der Wand. Dann setzte er sich draußen an den Tisch.

»Ich habe heute oben in den Bergen am Straßenrand die ersten Blumen gesehen«, behauptete er nach einigen kleinen Schlucken.

Lhakpa, der alte Mann, der meditierend neben dem Hocker saß, kam allmählich wieder zu sich. Er öffnete die Augen, wandte Shan langsam den Kopf zu und nahm dann mit beifälligem Nicken den dampfenden Becher. »Der Frühling lässt sich dort immer viel Zeit«, stellte er fest. »Aber in ein paar Tagen steige ich selbst hinauf.«

»Ich habe für dich eine zusätzliche Decke aufgetrieben«, erklärte Shan. »Und ich gebe dir so viel Gerste mit, wie du tragen kannst.«

Lhakpa war vor einigen Wochen in der Stadt aufgetaucht und hatte in leeren Ställen übernachtet, weil Shan ihm leider mitteilen musste, dass er nicht neben dem chorten auf dem Marktplatz lagern dürfe. Mehrere der chinesischen Einwohner, vertreten durch ihr selbsternanntes Leitendes Bürgergremium, hatten sich beschwert, der Obdachlose sei eine Beleidigung der sozialistischen Gesellschaft, so als hätte Lhakpa beschlossen, als Zeichen des politischen Protests auf einen festen Wohnsitz zu verzichten. Shan möge doch bitte seine Aufenthaltsgenehmigung überprüfen. Lhakpa besaß keine solche Genehmigung, das wusste nicht nur Shan, sondern es wussten auch die Tibeter der Stadt, die angefangen hatten, ihn mit Vorräten zu versorgen, die sie eigentlich nicht entbehren konnten. Nachdem er den alten Mann eines Morgens zitternd und schneebedeckt unter einem Baum sitzen gesehen hatte, nur gewärmt durch die Ziege auf seinem Schoß, war Shan eine Lösung eingefallen. Er hatte Lhakpa festgenommen, was das Bürgergremium zufriedenstellte, und ihn für den Rest des Winters in einer warmen, trockenen und unverriegelten Zelle untergebracht. Dabei hatte er aber nicht mit der Anhänglichkeit der Ziege gerechnet, die Lhakpa auf Schritt und Tritt folgte. »Sie muss draußen bleiben, mein Freund«, sagte er nun.

Lhakpa lachte leise auf. »Ich wünschte, du hättest meine Nichte Tara kennenlernen können, Shan. Blitzgescheit und obendrein ziemlich hübsch. Ihr Blick war so aufgeweckt und voller Leben. Es ist ihr viele Jahre lang gelungen, den Leuten aus dem Weg zu gehen, die sie in eines dieser Internate verfrachten wollten, aber mit fünfzehn hat man sie dann doch erwischt. Sie musste mir versprechen, ihr Bestes zu geben, und man hielt große Stücke auf sie und wollte sie sogar für eine der Universitäten im Osten vorschlagen.«

Shan beugte sich vor. Lhakpa hatte ihm gegenüber noch nie so bereitwillig von der Ziege erzählt. Der Tibeter war ein Mann vieler Geheimnisse, doch das traf auf jeden Wanderer in Tibet zu, und Shan wollte ihn zu nichts drängen. Leute wie Lhakpa hatten allen Grund, der Polizei nicht zu vertrauen.

»Aber sie hat es gehasst«, fuhr Lhakpa fort, »und ist alle zwei oder drei Monate weggelaufen, um zu uns zurückzukehren. Dann sind ihre Eltern gestorben, und sie hatte nur noch mich und meinen Bruder. Als sie das nächste Mal ausgerissen und zurückgekommen ist, habe ich zu ihr gesagt, es sei ihr bestimmt, auf die chinesische Universität zu gehen, denn ihr sei sonst nichts geblieben. Sie würde die Aussicht auf ein neues Leben erhalten, weit weg von all dem Leid in Tibet. Da wurde sie wütend und hat mich zum ersten Mal überhaupt angeschrien. Sie wisse, wer sie sei, hat sie gesagt, und sie sei keine Marionette der Chinesen. Dann ist sie hinausgestürmt. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Später kam ein Brief von ihr, in dem sie sich entschuldigt hat. Sie würde heimkommen, um mich persönlich um Verzeihung zu bitten. Ob ich mir vorstellen könnte, gemeinsam mit ihr ein neues tibetisches Leben für unsere Familie aufzubauen, vielleicht auf einem Bauernhof? Um unser Dorf zu erreichen, musste sie fünf Tage durch die Berge reisen. Am dritten Tag gab es einen Eissturm.« Lhakpa trank einen weiteren Schluck Tee. Als er weitersprach, war seine Stimme nur noch ein Flüstern. »Ein Hirte hat ihren Leichnam gefunden. Sie war auf dem Pfad ausgerutscht und eine Klippe hinabgestürzt.«

»Das tut mir sehr leid«, war alles, was Shan sagen konnte.

»Es war einer der Gründe dafür, dass ich ein Schneemönch werden will«, erklärte Lhakpa. Der Tibeter hatte Shan schon vor einer Weile mitgeteilt, dass er sich auf ein Dasein als Einsiedler vorbereite, doch bislang hatte er noch nie über seine Motivation gesprochen. »Nach ihrem Tod musste ich weg von zu Hause, um der Welt ein oder zwei Jahre lang in Einsamkeit zu begegnen«, sagte Lhakpa und spielte damit auf die unregistrierten tibetischen Mönche und Nonnen an, die ein abgeschiedenes, verstecktes Leben im Hochgebirge führten. »Sechs Monate später ging ich einen Pfad entlang und hörte auf einmal dieses laute Meckern. Dann lief auch schon eine junge Ziege auf mich zu. Es gab in der Nähe kein Hirtenlager und keinen Bauernhof. Trotzdem habe ich mehrmals versucht, sie wieder wegzuschicken, denn sie musste ja von irgendwo entlaufen sein. Aber sie ließ sich nicht abwimmeln, und als ich an jenem Abend mein Lager aufschlug, hat sie sich vor mich hingesetzt und mich angestarrt. Und da sind mir zum ersten Mal ihre Augen aufgefallen, dieser tiefe, energische Blick, den ich bis dahin nur von meiner Nichte kannte.« Lhakpa trank erneut und zuckte die Achseln. »Ich habe Tara gesagt, sie muss draußen bleiben. Wachtmeister Choden hat sie heute Morgen sogar den ganzen weiten Weg auf die andere Seite der Stadt gebracht. Aber eine Stunde später war sie wieder hier und hat mit dem Kopf an die Hintertür geklopft.«

»Es überrascht mich, dass sie hier nirgendwo im Kochtopf gelandet ist.«

»Nein, nein. Das würde niemand wagen. Tserung von der Autowerkstatt hat ihr letzten Monat rotes Garn umgebunden.« Für die Tibeter bedeutete diese Kennzeichnung, dass das Tier freigekauft worden war, dass jemand sich durch Zahlung eines Geldbetrags beträchtliche spirituelle Verdienste erworben hatte, um die Ziege für immer vor dem Schlachter zu bewahren.

Shan erinnerte sich an die erste Begegnung mit Lhakpa und der Ziege. Auch da hatte sie bereits rotes Garn um den Hals getragen. »Sag mal, alter Mann, wie oft hast du ihr Leben denn schon verkauft?«

Der Gefangene stieß ein leises schnaufendes Lachen aus. »Die Leute fühlen sich dann immer so gut. Aber ich behalte das Geld nie für mich selbst. Letztes Mal habe ich etwas Getreide für Tara gekauft, ein paar Münzen der Frau zugesteckt, die sich um den Erhalt der Schreine kümmert, und den Rest an die tibetische Krankenschwester gegeben, die hier durch die Berge reist. Sie soll davon Medikamente kaufen.«

Shan hob anerkennend den Becher und verharrte dann kurz schweigend, bevor er aufstand, um aus dem Büro eine Kerze zu holen. Er zündete sie an und schaltete die Deckenbeleuchtung aus, weil er wusste, dass der Tibeter lieber bei warmem Kerzenschein meditierte als im grellen Licht der nackten Glühbirnen.

»Ich habe heute bei der Hinrichtung eines Mannes zugesehen«, gestand er Lhakpa, der in dieser Stadt einem echten Mönch noch am nächsten kam.

»Das tut mir leid«, sagte Lhakpa und wies auf die abgenutzte mala, seine Gebetskette, die auf dem Hocker lag. »Verrat mir seinen Namen, und ich werde heute Nacht eintausend Perlen für ihn beten.«

»Ich wurde als offizieller Zeuge verpflichtet«, erzählte Shan. Sein Herz kam ihm wie ein kalter Stein vor, während er schilderte, wozu man ihn gezwungen hatte. »Es hat sich angefühlt, als würde ich selbst abdrücken.«

Lhakpa starrte in seinen dampfenden Becher. »Dann werde ich auch für dich eintausend Perlen beten, Wachtmeister.«

Shan trank einen Schluck. »Hast du heute draußen gearbeitet?« Bei schönem Wetter half Lhakpa für gewöhnlich auf dem Marktplatz aus, vermeintlich im Zuge eines polizeilich verfügten Arbeitseinsatzes. »Sind dir die Besucher aufgefallen?«

»Diese Chinesen? Als die aufgetaucht sind, haben die meisten Leute fluchtartig den Platz verlassen. Frau Lu kam aus ihrem Haus und hat einen kleinen chinesischen Wimpel geschwenkt. Sie scheint sehr einsam zu sein.«

»Wachtmeister Choden sagt, die Leute hätten zu Mittag gegessen und seien dann weitergefahren.«

»Aber erst haben sie noch auf die Berge geschossen.«

»Wie bitte?«

»Sie haben ein Gerät mit Stativ aus ihrem Transporter geholt und sind damit auf den alten Torturm gestiegen. Ähnlich wie ein Teleskop, aber nicht ganz. Eine Kamera war es auch nicht. Ich glaube, es war eines dieser Dinger, mit denen man Laserstrahlen verschießt, um etwas zu vermessen.« Lhakpa versetzte Shan nicht zum ersten Mal in Erstaunen. Kaum ein Tibeter und vor allem so gut wie kein Schneemönch hätte von der Existenz derartiger Geräte gewusst. »Ein Mann hat damit nacheinander alle Berge rund um das Tal anvisiert und jeweils Zahlen abgelesen, die ein anderer auf einem Klemmbrett notiert hat. Dann hat ein dritter Mann mit einer echten Kamera vom Turm aus Fotos gemacht, viele Fotos, und sich alle paar Sekunden ein kleines Stück weitergedreht, einmal komplett im Kreis. Als er nach unten kam, hat er Tara und mich bemerkt und gelacht, und dann hat er auch uns fotografiert.«

Shan fiel der Brief ein, den Yara ihm gegeben hatte. Er musste seinem Sohn Ko einen eigenen Brief schreiben, dessen Umschlag als Tarnung diente, denn Tan hatte dafür gesorgt, dass Shans Briefe an Ko vom Lagerpersonal nicht geöffnet werden durften. Er trank aus und stand auf.

»Wie war der Name des Toten?«, fragte Lhakpa. »Für meine Gebete.«

Shan zögerte. Er fühlte sich dem Mann, der hingerichtet worden war, auf seltsame Weise verbunden. »Chou Folan«, sagte er dann und verspürte sofort ein Schuldgefühl, weil er den chinesischen Namen des Toten wählte. Doch aus irgendeinem Grund wusste er, dass es zwischen ihm und Metok Rentzig noch so einiges zu klären gab, was vorerst niemanden sonst etwas anging.

»Ich werde dafür beten, dass seine Seele Frieden findet«, verkündete der Schneemönch. Und obwohl er auch für Shan beten wollte, schien er wenig Hoffnung zu haben, dass für den Wachtmeister Aussicht auf Frieden bestand.

***

Shan erwachte noch vor Anbruch der Dämmerung, setzte sich auf die Bettkante und musterte im trüben Licht, das von der Straßenlaterne im Hof hinter dem Revier hereinfiel, seine verstreuten Habseligkeiten. Genau wie Lhakpa hatte er sein Winterquartier bezogen und war in die Dienstwohnung des leitenden Wachtmeisters von Yangkar gewechselt, doch er sehnte sich nach der Abgeschiedenheit seines kleinen Bauernhauses oberhalb der Stadt. Leider konnten dort die Risse in den Wänden des lange Zeit herrenlosen Gebäudes den eiskalten Wind nicht abhalten, und bei starkem Regen leckte das Dach, doch es war trotzdem sein Zuhause. In der sterilen Umgebung des Behördengebäudes hinter dem Revier kam er sich deplatziert vor, und die Polizeiuniform fühlte sich immer mehr wie eine Verkleidung an.

Er wusch sich und ging dann hinaus. Tara, Lhakpas Ziege, lag auf der Stufe vor der Hintertür des Zellentrakts. Shan füllte einen Eimer Wasser für sie, und als sie ihn aus ihren feuchten und merkwürdig flehentlichen Augen ansah, setzte er sich und streichelte ihr den Rücken. Nach einigen Minuten ging er um das Gebäude herum auf den Marktplatz. Dies war der einstige Innenhof des riesigen Klosters, das früher die Stadt dominiert hatte, und im grauen Licht der Dämmerung stellte Shan sich oft vor, wie damals der gleichförmige Singsang des Morgengebets der vielen Mönche über die leere Freifläche gehallt sein mochte.