Tage des Todes - Eliot Pattison - E-Book

Tage des Todes E-Book

Eliot Pattison

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Beschreibung

Das Mysterium von den Orkneyinseln.

Cato Pike ist ein Veteran des amerikanischen Geheimdienstes. Als sein Vater, ein renommierter Historiker, ihn um einen Gefallen bittet, stimmt Cato widerwillig zu. Er soll in einer Abtei auf den sturmgepeitschten schottischen Orkneyinseln ein geheimnisvolles Paket abholen. Sein Auftrag und sein Leben ändern sich schlagartig, als er erfährt, dass der alte Schotte, der ihm das Paket übergeben sollte, gefoltert und ermordet wurde. Kurz darauf wird eine Nonne aus derselben Abtei in Neuengland getötet. Cato begreift bald, dass er in einen mörderischen Kampf mit mehreren Geheimdiensten geraten ist – an seiner Seite hat er nur eine wortkarge schottische Polizistin ... 

Ein sehr atmosphärischer Thriller über Mythen, Legenden und Geheimdienste, der über die Orkneyinseln, die USA bis nach Deutschland führt.

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Seitenzahl: 966

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Über das Buch

Cato Pike ist ein Veteran des Washingtoner Geheimdienstes, der sich von seiner Welt, die er als Labyrinth bezeichnet, abgewandt hat, weil er ihren Anführern nicht mehr traut. Als sein ihm fremd gewordener Vater, ein renommierter Historiker, Cato zu sich ruft, um ihn um einen Gefallen zu bitten, stimmt Cato widerwillig zu und reist zu einer Abtei auf den sturmgepeitschten schottischen Orkneyinseln, um ein geheimnisvolles Paket zu holen. Sein Auftrag und sein Leben ändern sich schlagartig, als er erfährt, dass der alte Schotte, der ihm das Paket übergeben sollte, gefoltert und ermordet wurde. Kurz darauf wird eine Nonne aus derselben Abtei in Neuengland ermordet, nachdem sie ein zweites Paket entgegengenommen hat.

Catos Suche nach den Paketen und den Mördern wird bald zu einem tödlichen Wettstreit mit rivalisierenden Geheimdiensten und ehemaligen Geheimagenten, die nun auf eigene Rechnung arbeiten. Schließlich findet er heraus, dass die Morde mit einem verräterischen Erbe des Kalten Krieges und einem zweitausend Jahre alten Artefakt zusammenhängen. Das größte Rätsel von allen ist, warum die exzentrischen Mönche und Nonnen von Orkney ihr Leben für uralte Artefakte und Dokumente aus dem Kalten Krieg riskieren.

Über Eliot Pattison

Eliot Pattison ist Journalist und Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in Oley, Pennsylvannia. Um den Ermittler Shan hat er eine zehnzeilige Kriminalserie geschrieben, die in Tibet spielt und komplett im Aufbau Taschenbuch vorliegt: »Der fremde Tibeter«, »Das Auge von Tibet«, »Das tibetische Orakel«, »Der verlorene Sohn von Tibet«, »Der Berg der toten Tibeter«, »Der tibetische Verräter«, »Der tibetische Agent«, »Tibetisches Feuer«, »Die Frau mit den grünen Augen« und »Die vier Toten von Tibet«.   Mehr zum Autor unter www.eliotpattison.com

Ulrike Seeberger, geboren 1952, Studium der Physik, lebte zehn Jahre in Schottland, arbeitete dort u. a. am Goethe-Institut. Seit 1987 ist sie freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Nürnberg. Sie übertrug Lara Prescott, Philippa Gregory, Charles Dickens, Greg Iles u. v. a. ins Deutsche.

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Eliot Pattison

Tage des Todes

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Seeberger

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Erläuterungen

Impressum

Kapitel 1

Cato Pike stolperte durch den Schlund eines tobenden Nordseeungeheuers. Einen so gewalttätigen Sturm hatte er noch nie erlebt, auch keinen, der so unvermittelt aufgezogen war. Er war mit seinen Fertigkeiten eher darauf eingestellt, mit menschlichen Feinden umzugehen, und er hätte lieber gegen Attentäter in seiner heimlichen Welt angekämpft als gegen diesen mörderischen Wind. Der englische Mönch, der ihn begleitete, hatte ihn hier auf Orkney vor beinahe einer Stunde über ein sonnenbeschienenes Inselmoor geführt, doch als sie sich ihrem Ziel, der Landzunge, näherten, waren die Wolken mit donnernder Wut hereingezogen. Jetzt schien der Orkan die Absicht zu haben, sie in das tosende Wasser unterhalb der Klippe zu stoßen, an deren Kante sie entlangliefen. Zweimal hatte Cato Bruder Andrew aufhelfen müssen, nachdem der Sturm ihn auf die Knie gezwungen hatte.

»Ein Seelenmacher!«, rief Catos Begleiter über den heulenden Wind hinweg und lachte über die Schulter zu ihm zurück.

Cato verstand die Belustigung des Mannes nicht. »Seelenmacher?«, rief er zurück und wurde vom Schneeregen gepeitscht, als er das Gesicht hob.

Der alte Mönch deutete auf eine Reihe hoch gestapelter Findlinge oben am Hang. Er beugte sich in den Wind und sprach erst wieder, als er Cato zu einer schmalen Öffnung zwischen den Felsblöcken geführt hatte.

»Nur ein kleiner Tobsuchtsanfall«, sagte Bruder Andrew, als sie in den Unterschlupf traten. »Dieser nordische Gott beschützt die Landzunge manchmal mit ziemlicher Gewalt. Wenn diese Winde wehen, können Leute umkommen. Und sie kommen auch um«, fügte er ganz sachlich hinzu und wischte Wasser von dem Anorak, den er über seiner braunen Tunika trug.

Cato hatte nicht erwartet, von einem Mönch aus der einsamen Abtei St. Ninian’s eine Klage über nordische Götter zu hören. Er wollte fragen, ob es einen anderen Weg gebe, bei dem man nicht in einem tobenden Orkan an einer Klippe entlanglaufen musste, als Andrew auf die Felswand neben ihnen deutete.

Sie waren in keinem von der Natur geschaffenen Unterstand, das sah Cato, als er nähertrat, sondern wieder in einem der von Menschen der Urzeit geschaffenen Bauten, die überall in Orkney in der gesamten Landschaft verstreut waren. Die schweren Steine, die er auf der Außenseite gesehen hatte, waren rau und mit Flechten überzogen, aber hier drinnen im Dämmerlicht konnte er die grob behauenen Kanten und Verbindungen erkennen, wo die Steinmetze einer fernen Vergangenheit die Steine zusammengefügt hatten, um eine runde Kammer von beinahe zwanzig Fuß Durchmesser zu schaffen. In die Steinmauer, vor der er stand, war ein Kreuz eingemeißelt, das einen ungewöhnlich dicken Querbalken hatte und über dem er eine Reihe Runen erkannte. Auf dem Lehmboden unter den Symbolen lagen zwei ungeöffnete Bierflaschen, schimmelige Brotscheiben und mehrere ausgetrocknete Lauchstangen.

»War das einmal eine Kapelle?«, fragte er, blickte auf und stellte fest, dass er allein war. Bruder Andrew war verschwunden. Cato machte sich auf den Weg zurück zum Eingang, als ihm auffiel, dass zwei Teile der hinteren Wand nicht miteinander verbunden waren. In dem Schatten dazwischen entdeckte er eine schmale, stark ausgetretene Steintreppe.

Die Stufen führten zu einer weiteren runden Kammer, die ein wenig kleiner als die untere war und zum größten Teil unter einem Dach aus Steinplatten lag, die von schweren Balken getragen wurden, von denen einer mit einer improvisierten Säule aus gestapelten Steinen verstärkt wurde. Bruder Andrew stand an einer Fensteröffnung, von wo man einen Blick auf ihr Ziel hatte, die Landspitze, welche die wütenden Gewässer der See von den geringfügig ruhigeren der Bucht trennte, an der die Abtei lag.

»Sie nennen diese Gebilde Brochs«, erklärte der Mönch. Er sprach in dem präzisen, hohen Tonfall, den Cato die britische Universitätsstimme nannte. Tatsächlich hatte Andrew beim Frühstück bestätigt, dass er früher in seinem Leben in Cambridge studiert und auch gelehrt hatte. »Einst gab es überall in Schottland Hunderte solcher Türme, die wahrscheinlich als Hausfestungen dienten. Doch dieser Ausblick hat mich vermuten lassen, dass es eher ein Wachturm war.«

»Um vor Wikingerüberfällen zu warnen«, schlug Cato vor, schaute über das Meer und dachte daran, welcher Schrecken die Herzen der Inselbewohner ergriffen haben musste, wenn eine ganze Flotte von Wikingerschiffen auftauchte. Am Vorabend beim Essen hatte der alte Schotte neben ihm davon gesprochen, wie die altnordischen Eindringlinge und Plünderer und später auch Siedler die Orkneyinseln geprägt hatten, die wenige Meilen nördlich der schottischen Highlands liegen. Beinahe jeder Ortsname in diesem aus siebzig Inseln bestehenden Archipel war altnordischen Ursprungs.

Der Mönch nahm seine Wollmütze ab und rieb sich die weiß gesprenkelten Stoppeln auf dem Kopf. »Die Wikinger waren nur vor tausend Jahren hier, obwohl diese Runen unten beweisen, dass sie sich hier herumgetrieben haben.«

»Jetzt kommen die Kids her und trinken unter einem Kreuz Bier«, merkte Cato an und mühte sich, Geduld in seine Stimme zu bringen, um seines kränkelnden Vaters willen, der ihn auf diese ärgerliche Reise geschickt hatte.

»Das ist kein Kreuz, Cato, sondern ein Hammer. Thors Hammer, den hier die Wikinger zu Ehren der geheiligten Stätte eingemeißelt haben. Die Bierflaschen sind Opfergaben, genau wie das Brot und die Lauchstangen.«

»Und die Abtei lässt sie einfach hier liegen?«

»Wir sind nicht sicher, wer das macht«, erwiderte Andrew und zuckte mit den Achseln. »Dieser Ort ist das Zuhause vieler Völker und vieler Götter.« Er richtete seine tief eingesunkenen grauen Augen auf Cato. »Wen oder was immer Sie verehren, Mr. Pike«, sagte er mit einer Spur Herausforderung, »ich jedenfalls würde dies hier nur ungern stören. Dieser Broch war bereits zu Zeiten der Wikinger uralt«, fügte er hinzu und deutete auf das sanft hügelige Land jenseits der Bucht. »Hier finden sich viele Wikingerstätten, aber auf den Orkneyinseln gibt es pro Quadratmeter mehr Ruinen aus der Steinzeit und Bronzezeit als irgendwo anders in Europa. Irgendwo auf der Welt eigentlich. Diese Inseln sind schon immer ein überraschend geschäftiger Knotenpunkt der Menschheit, und die Anzeichen für menschliche Aktivitäten gehen hier zehntausend Jahre zurück. Wir haben Steinkreise, die lange vor Stonehenge errichtet wurden, und Grabstätten und Tempel, die älter sind als die Pyramiden.«

Der Mönch fuhr fort: »Die Inseln des Jenseits, so haben einige antike Schriftsteller sie genannt. Ich kann mich nicht recht entscheiden, ob das daran liegt, dass wir einfach jenseits der ihnen bekannten Welt lagen, oder ob die Inseln jenes mythische Land jenseits des Horizonts sind, das jeder zu erreichen wünscht.« Andrew legte eine Pause ein, musterte die Bucht, deutete dann auf ein robustes Fischerboot, das sich durch die unruhigen Gewässer der Bucht pflügte. »Angus Buchanan«, sagte er mit zufriedenem Nicken. »Seine Frau hält bestimmt Ausschau nach ihm und ist erleichtert, dass er wieder einmal den Kampf mit dem Meer gewonnen hat.«

Cato schaute von dem Boot zurück auf die elfenbeinfarbenen Schaumkronen jenseits der Mündung der Bucht. Die jahrhundertealte Abtei, von wo sie aufgebrochen waren, lag am Beginn der Halbinsel, die sich danach zu einer schmalen, gebogenen Landzunge verjüngte. Der Sturm, zumindest seine erste heftige Attacke, ebbte ein wenig ab. Zum ersten Mal hatte Cato einen klaren Blick auf die Anhöhe der Landzunge, und er sah dort nichts außer einer Ansammlung von Ruinen. Farness. In seiner Ungeduld, weil er die Aufgabe dieses Tages hinter sich bringen wollte, hatte er Andrew nicht nach dem seltsamen Namen gefragt, den der Mönch benutzt hatte, als er sich bei ihm erkundigt hatte, wohin sie gehen würden. Jetzt brauchte der Name Farness, »Weite Ferne«, keine weitere Erklärung. Die Ruine lag an der äußersten Spitze der schmalen Landzunge, war von steilen Klippen umgeben und nur über eine angsteinflößend schmale Landenge zu erreichen, als hätten die Erbauer in der fernen Vergangenheit versucht, ihr Gebäude so weit wie möglich vom Rest der Welt fernzuhalten. Der Pfad über die Landzunge wurde von Steinhaufen gesäumt, die in regelmäßigen Abständen aufragten, und führte von einem anderen, kleineren zerfallenen Gebäude aufwärts, das anscheinend einmal ein Torhaus gewesen war.

»Die Archäologie ist eine große Blenderin«, erklärte Andrew, während sie auf Farness starrten. »Man lehrt sie uns als Wissenschaft. Aber ich denke, dass sie letztlich eine spirituelle Suche ist. Erst als ich versucht habe, mit diesen längst verschollenen Baumeistern Verbindung aufzunehmen, habe ich letztlich begriffen, was es bedeutet, ein Homo sapiens zu sein.«

Cato hatte das ungute Gefühl, dass Andrew drauf und dran war, eine Predigt zu halten. »Ich bin nicht sicher, ob ich das verstehe«, gestand er zögerlich ein. Allmählich beschlich Cato das Gefühl, sein Vater versuchte, indem er ihn um diesen Gefallen bat, nur wieder einmal, den ungeratenen Sohn aus seiner Schattenwelt in seine eigene Welt der Philosophen und Gelehrten zu locken.

»Draußen in der Gesellschaft sind alle nur Teil eines Mobs, gefangen in einer hektischen Lebensart, die keinerlei tiefe Gedanken mehr toleriert«, fuhr Andrew fort und wandte sich dabei den Ruinen zu. »Hier kann man stehen und das Gesicht in den Wind halten und sich alle Krusten der modernen Kultur wegscheuern lassen. Hier steht man entblößt von all dem Drum und Dran der Gesellschaft. Hier ist man wie einer der Menschen aus der Urzeit, steht zwischen Erde und Meer, wo das Leben bis auf das Grundgestein freigelegt ist. Gib dich dem Wind hin, und schließlich bleiben nur du, der Planet und die Frage nach dem Warum übrig.« Andrew ließ diese Worte ein paar Herzschläge lang in der Luft hängen. »Zweifellos war das der Grund, warum die Abtei vor so vielen Jahrhunderten in der Nähe angesiedelt wurde.« Der Mönch wandte sich Cato zu. »Aber warum sind Sie hier?«, fragte er, und plötzlich lag Misstrauen in seiner Stimme.

Cato runzelte die Stirn und ließ der Frustration freien Lauf, die nun schon während der letzten zwei Tage mühseliger Reise in ihm hochkochte. Allmählich begann ihn dieser Mann zu irritieren, der so tat, als hätte er Ansprüche an Cato zu stellen. »Sie kennen den Grund. Um ein Päckchen entgegenzunehmen, das man anscheinend der Post nicht anvertrauen kann. Oder den Mönchen«, fügte er hinzu, bereute aber seine Boshaftigkeit sofort.

Andrew seufzte und schaute über das Wasser auf eine zweite schwarze Wolkenbank, die vom Meer hereingerollt kam. »Er hat vorhergesagt, dass Sie so sein würden. Zornig auf die Welt. Welche Worte hat Barnabus doch gleich gewählt? O ja, mein Sohn ist eine perfekt eingestellte Waffe, die nie ihr wahres Ziel gefunden hat. Obwohl ich mich auch erinnere, dass er einmal gemeint hat, Sie hätten eine suchende Intelligenz, seien der Spion, der sich an Wahrheiten anpirschte, denen niemand ins Angesicht schauen wollte. Das hat mich hoffen lassen.«

Cato hatte Mühe, seine Wut zu zügeln. Er hatte geplant, das geheimnisvolle Päckchen in Empfang zu nehmen und noch am Nachmittag die Heimreise anzutreten, doch die Aussichten darauf verschlechterten sich zusehends. »Sie haben mit meinem Vater gesprochen? Das überrascht mich ziemlich, denn er telefoniert gar nicht gern.«

Andrew lächelte. »Wir versuchen alle, das Telefon zu meiden, aus vielerlei Gründen. Ihr Vater und ich teilen öfter Brot und Wein. Manchmal genau an dieser Stelle, wenn auch unter angenehmeren Wetterbedingungen.«

Cato zögerte, er war sich nicht sicher, richtig gehört zu haben. »Mein Vater hat das Kloster besucht?«

»Viele Male. So oft, dass wir ein Zimmer für ihn bereithalten.«

»Er hat nie ein Wort darüber gesagt.«

»Worte scheinen zwischen Ihnen beiden ja nicht gerade häufig gewechselt zu werden. Wie oft haben Sie sein wunderschönes Farmhaus schon besucht?«

»Ich habe viel zu tun«, blaffte Cato zurück, bemerkte dann die missbilligende Miene des Mönchs. »Vier- oder fünfmal. Ich versuche, ihn an seinem Geburtstag anzurufen.« Er überdachte Andrews Worte. »Sie waren in seinem Zuhause in Maine?«

Andrew runzelte die Stirn. »Zweimal. Und Sie haben seit vier Jahren nicht mehr an seinem Geburtstag mit Ihrem Vater gesprochen. Beim letzten Mal war ich bei ihm. Er hat mit Ihrer Tochter geredet, dann hat er zu meiner Überraschung sein Telefon nicht ausgeschaltet, sondern nur gesagt, Sie würden noch anrufen. Am späten Abend habe ich ihn im Dunkeln allein angetroffen, wie er auf sein Telefon starrte. Und einschließlich des Ausflugs in sein Krankenhauszimmer in der letzten Woche haben Sie ihn in fünf Jahren viermal besucht«, tadelte ihn der Mönch.

Ein Tentakel der am Himmel hereinziehenden Schwärze berührte Catos Herz. »Ich bin oft im Ausland unterwegs. Ich habe viel zu tun«, wiederholte er. Der Mönch hatte genau wie sein Vater die Miene des enttäuschten Professors aufgesetzt, der sich einem scheiternden Studenten zuwendet. Cato hatte nicht nur den Versuch aufgegeben, mit seinem Vater, dem scheltenden Pädagogen, sinnvolle Gespräche zu führen, er hatte wirklich seine Besuche bei ihm beinahe völlig eingestellt. Dass der alte Mann im Krankenhaus war, hatte er nur erfahren, weil seine Tochter Natalie es ihm erzählt hatte.

»Sie haben zu tun«, wiederholte Andrew. »Ex-FBI-Agent. ehemaliger verdeckter Ermittler. Ex-Professor. Ex-Ehemann. Sie haben vor allem viel damit zu tun, überall wegzulaufen. Die einzigen Brücken, die Sie noch nicht hinter sich abgebrochen haben, sind die, die Sie noch nicht überquert haben.«

Cato schleuderte dem Mönch einen wütenden Blick zu. Es war tatsächlich, als führte er diesen Dialog mit seinem Vater. »Wie man im Geheimdienstgeschäft sagt: Wenn man nicht die ganz Akte gelesen hat, zieht man seine Schlüsse auf eigene Gefahr.«

»Das waren eben seine Worte, nicht meine. Und jetzt erfahre ich, dass Ihre Regierung Ihnen ausdrücklich untersagt hat, bei Reisen die USA zu verlassen. Wenn er das gewusst hätte, so hätte Ihr Vater Sie niemals darum gebeten.«

»Das ist nur ein Überprüfungsausschuss. Die hatten nicht das Recht, meine Bewegungsfreiheit einzuschränken.«

»Aber man wird es als Beweis dafür werten, was immer man Ihnen vorwirft.«

Ein Donnerschlag rettete Cato vor der Notwendigkeit, darauf zu antworten. Er versuchte, seinen Groll darüber zu zügeln, dass sein Vater mit diesem Fremden über ihn geredet hatte. »Anscheinend wartet das Päckchen da oben in dieser Ruine auf mich, Gott weiß warum. Ich habe wirklich jetzt genug von diesem Melodrama. Ich finde von hier aus allein dort hin, danke, Bruder Andrew.« Er wandte sich zu der im Schatten liegenden Treppe.

»Cato, Ihr Vater stirbt.«

Cato erstarrte. Er schaute nicht zurück, als er antwortete. »Nein. Er ist für ein paar Eingriffe in der Klinik. Ein Bypass. Stents. Ein, zwei Wochen im Krankenhaus und dann wieder nach Hause, hat er gesagt.« Er schaute zu dem Mönch zurück und dann auf die Steinplatte zu seinen Füßen, und seine Wut wich den Schuldgefühlen, die ihn seit seinem letzten Zusammentreffen mit seinem Vater plagten. »Ich erwäge, mir ein Haus in Maine zu kaufen, um in seiner Nähe zu sein. Dann könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen. Meine Tochter kann auch öfter zu Besuch kommen. Er hat noch viele gute Jahre vor sich.«

»Hat er Ihnen das gesagt?«, fragte Andrew. »Ich denke, das hat er wohl gemacht, damit Sie sich einverstanden erklärten, ihn dort zurückzulassen und auf die Orkneyinseln zu reisen.«

Cato war zornig, weil sich dieser Außenstehende in seine schwierige Beziehung zu seinem Vater einmischte. »Die Leute neigen dazu, die Gesundheitsprobleme älterer Menschen zu übertreiben. Es sind nur Routineeingriffe. Sonst hätte er mich nicht weggeschickt«, sagte er und wandte sich Andrew zu.

»Umso mehr Grund, Sie zu schicken«, erwiderte der Mönch. »Sie werden das schließlich als ein Geschenk Ihres Vaters begreifen. Keiner von uns war überzeugt, dass Sie der Richtige sind, aber er hat darauf bestanden.«

Cato hielt inne, war verwirrt über die Andeutung, dass sein Vater in dieser abgelegenen Abtei irgendwie etwas zu sagen haben könnte. »Dieses geheimnisvolle Päckchen ist für mich?«, fragte er. Niemand, weder sein Vater noch irgendeiner der Mönche in der Abtei, wollte ihm erklären, was er da erhalten sollte. Man hatte ihm lediglich versichert, es würde ins Bordgepäck passen, und ermahnt, er dürfe es nicht aus den Augen lassen, bis er es an seinem Bestimmungsort übergeben hatte, den man ihm enthüllen würde, sobald er zu seinem Vater zurückgekehrt war. Es sei unbedingt notwendig, dass er diese Reise machte, hatte sein Vater mit heiserer Stimme gesagt. »Hilf mir dieses eine Mal, mein Sohn!«, hatte der alte Gelehrte ihn angefleht. »Mache, was ich nicht mehr machen kann«, hatte er hinzugefügt. Das ließ Cato nun überlegen, ob der Professor damit auch angedeutet hatte, dass er selbst bereits in der Vergangenheit solche Päckchen abgeholt hatte.

»Natürlich nicht«, war Andrews knappe Antwort. »Wir beschäftigen uns hier mit Menschheitsfragen, nicht mit Menschen. Nicht das Päckchen ist Ihr Geschenk. Die Reise ist es. Dass Sie diesem Wind ins Antlitz schauen, dass Sie diesen Pfad gehen und dass wir Ihnen unser Vertrauen schenken. Ihre Mission.«

»Menschheitsfragen?« Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack, klangen zu sehr wie eine der pathetischen Zeilen in den Büchern seines Vaters. »Sie meinen Viehzucht und Käseherstellung?«, grummelte Cato. »So habe ich St. Ninian’s bisher gesehen. Und jetzt bin ich auf einer Mission, als hätten Sie doch auch mit meiner Welt zu tun? Nein, ich tue ihm nur einen Gefallen, hole in Schottland ein Päckchen ab und bringe es über den Atlantik. Ich spiele für meinen Vater den Postboten, obwohl ich mich inzwischen eher wie ein Schmuggler fühle.«

Andrew machte ein langes Gesicht. »Ihr Vater war recht aufgeregt, als Ihre Tochter ihm erzählt hat, dass Sie wieder in Amerika waren, etwas, das Sie versäumt hatten, ihn wissen zu lassen. Er meinte, es sei Schicksal.« Der Mönch schaute nun wieder zur Bucht zurück, wo Angus Buchanans Boot langsamer geworden war. »So als würde sich unter Umständen diese bestens eingestellte Waffe aus der Welt der Spione erheben und endlich ihr Ziel erkennen«, meinte er, beugte sich vor und schirmte seine Augen mit der Hand ab, als die Sonne aus einer Lücke in den Wolken hervorblitzte. »Was ist das?«

Cato folgte seinem Blick auf ein zweites, kleineres Gefährt, das nun an dem Fischerboot vorbeiraste. »Es fliehen noch mehr Leute vor dem Sturm«, sagte er und musterte den hohen Wellengang. »Ein Zodiak-Schlauchboot, wohl das Beiboot eines größeren Schiffs. Vielleicht mussten Leute von Bord des Schiffes gehen. Oder sie haben dringend in der Bucht etwas zu erledigen.«

Andrew musterte das Boot mit plötzlicher Besorgnis. Als der Donner der zweiten Gewitterfront grollte, drängte Andrew sich an Cato vorbei und rannte die uralte Treppe hinunter.

Minuten später erreichten sie das verfallene Torhaus am Anfang des schmalen Pfades nach Farness. Jenseits davon war die Landenge kaum mehr als ein Dutzend Fuß breit, und rechts und links fiel das Gelände in steilen Klippen ab, auf der einen Seite zur See und auf der anderen zur Bucht. In dem kleinen Torgebäude war entlang einer Wand ein Altar aus Steinplatten errichtet worden. Ein seltsam vertrauter Duft lag in der Luft. In einer Pfütze auf dem Altar hatte sich eine bernsteingelbe Flüssigkeit gesammelt. Cato steckte einen Finger hinein, führte ihn an die Zunge und warf dann Andrew einen überraschten Blick zu.

»Whisky«, bestätigte Andrew mit einem Nicken. »Das macht Archie immer, aus Respekt vor den Altvorderen. Er nennt es schottisches Weihwasser.«

»Archie?«, fragte Cato. »Wir treffen uns hier mit Archibald Sinclair? Dem Verwalter der Abtei?«, fragte er, plötzlich sehr verärgert. »Herrgott! Den hätten wir doch in der Abtei treffen können!« Er sah Andrews gerunzelte Stirn, schaute dann zu dem Kreuz, das der Mönch um den Hals trug, und murmelte eine Entschuldigung. »Ich meine, da hätten wir uns nicht in dieses Unwetter hinauswagen müssen.« Den restlichen Gedanken brachte er nicht zum Ausdruck: dass er inzwischen längst auf dem Rückweg sein könnte, diese unsinnige Reise hinter sich hätte. Die einzige angenehme Stunde der letzten beiden Tage war seine Zeit mit Archibald, dem Schotten mit der silbernen Haarmähne, gewesen, der am Vorabend beim Essen neben ihm gesessen und ihn mit Geschichten aus dem Inselleben unterhalten hatte. Aber sicherlich war es doch nicht nötig, dass der alte Mann, der weit in den Achtzigern war, nach Farness wanderte, nur um Cato das Päckchen zu überreichen. Cato erinnert sich noch an eine weitere Sache, die sein Vater erwähnt hatte und die ihn beunruhigte, seit er die Worte gehört hatte. »Du musst sie vor deiner Welt beschützen«, hatte der kränkelnde Historiker ihn beschworen. Catos Welt war eine Welt des Betrugs, der Intrigen und der heimlichen Gewalt. Sie hatte nichts mit Mönchen und uralten Ruinen zu tun.

»Archibald hat auf Farness bestanden«, erklärte Andrew. »Diese uralten Orte sind ihm heilig. Die alten Geister seien noch dort, sagt er, und beschützten die Abtei. Es gibt bestimmte Dinge, bei denen sie Zeugen sein müssen, hat er mir erwidert, als ich versucht habe, ihn davon abzubringen, hierherzukommen. Er war in letzter Zeit in einer sehr düsteren Stimmung. Gestern beim Abendessen habe ich ihn zum ersten Mal seit Wochen wieder lächeln sehen. Er mag Sie, er meinte, Sie hätten die instinktive Neugier Ihres Vaters. Es ist wohl jemand auf der deutschen Seite seiner Familie gestorben, und das hat ihn schwer mitgenommen. Seither ist er in einer ungewöhnlich trüben Stimmung. Der Abschluss dieser Transaktion ist für ihn, für uns alle eine feierliche Angelegenheit, und ich war nicht geneigt, über den Ort der Handlung zu streiten.«

»Transaktion? Wieso würden Sie sagen …« Catos Worte gingen unter, als fünfzig Yards entfernt ein Blitz in einen der Steinhaufen am Pfad einschlug.

Andrew wies bedeutungsvoll auf den nun rauchenden Steinhaufen, als sei dies eine Warnung gegen weitere Fragen gewesen. Ohne ein Wort zog der Mönch den Anorak fester um sich und rannte auf den gefährlichen Pfad hinaus.

Der Regen prasselte so heftig auf sie ein, dass Cato erst wieder aufblickte, als sie an dem dritten Steinhaufen vorüber waren. Dann blieb er in ungläubigem Staunen stehen. Auf allen Steinhaufen sah man oben versengte Felsbrocken, und aus allen ragten lange Eisenstangen hervor, grob gefertigte Stangen, an denen man noch die Schläge des Schmiedehammers erkennen konnte.

»Die sind seit mindestens vierhundert Jahren hier!«, schrie Andrew über den Wind, rannte dann weiter den Pfad entlang. Cato holte ihn auf halber Strecke ein, wo aus einem großen Steinhaufen die höchste Eisenstange einige Fuß über den brusthohen Steinturm herausragte. Ehe Cato den Mönch daran hindern konnte, legte der schon eine Hand an die Stange und blickte zum brüllenden Himmel hinauf. Die andere Hand hob er, um Cato aufzuhalten, der ihn dort wegzuziehen versuchte. Catos Herz tat einen Sprung, als plötzlich ein metallischer Geruch in der Luft lag. Die Haare auf seinem Unterarm stellten sich auf. Nur einen Augenblick später schlug der Blitz in einen der Steinhaufen hinter ihnen ein, und es flogen Felsscherben über ihre Köpfe. Die ozonhaltige Luft schien zu beben. Andrew nickte den Wolken dankbar zu, raffte dann seine lange Tunika zusammen und rannte weiter.

Er kniete in dem Tunnel am Ende des schmalen Damms und hielt gerade ein Streichholz an eine Fackel, als Cato ihn einholte.

»Wie viele sind gestorben, die diese Stangen berührt haben?«, fragte Cato und schaute auf die Reihe von Steinhaufen zurück. Der Leichtsinn des Mönchs beunruhigte ihn.

»Das ist Tradition«, erwiderte der Mönch zerstreut. »Der Farness-Handel, so nennen es die Leute am Ort. Man berührt die Stange, um die Altvorderen zu würdigen, sie um Verzeihung und einen sicheren Weg zu bitten. Manchmal scheinen sie ein Urteil zu verkünden. Zwölf. Zwölf sind gestorben, soweit wir wissen.« Andrew hatte Schwierigkeiten, die Fackel zu entzünden, die aus einer verdrehten Eisenstange bestand, an deren Ende sich ein Drahtkorb voller Harzbrocken befand. »Aber vor dem sechzehnten Jahrhundert sind die Aufzeichnungen nicht so zuverlässig.«

Cato reichte dem Mönch sein Zigarrenfeuerzeug. Zu seiner Überraschung schien Bruder Andrew sich damit auszukennen, und wenige Augenblicke, nachdem er das Harz über die blaue Flamme gehalten hatte, brannte die Fackel. »Das Heiligtum ist am hinteren Ende dieses Durchgangs, ganz oben auf der Landspitze, das ist meilenweit der höchste Punkt. Archie hat sich bereit gemacht«, sagte der Mönch und deutete auf einen Haufen im Schatten. Cato trat näher heran. Dort lagen eine feuchte Jacke, ein Paar Gummigaloschen und in einer der Galoschen eine Armbanduhr.

»Das ist so seine Art«, erklärte Andrew mit unterdrücktem Lachen. »Er muss sich von diesem verfluchten modernen Jahrhundert reinwaschen, so nennt er es immer.«

Cato begriff, dass er noch viel mehr von dem alten Schotten nicht verstand, der da auf ihn wartete. Er versuchte, sich an weitere Einzelheiten ihres Gesprächs vom Vorabend zu erinnern. Archibald Sinclair hatte die Energie eines Mannes, der halb so alt war wie er. Vor dem Abendessen hatte Cato ihn gesehen, wie er auf der Kuhweide der Abtei Mist schleppte, Seite an Seite mit einem etwa zwanzigjährigen blonden Mann im Kilt. Mehr als alle anderen in St. Ninian’s hatte Sinclair den freundlichen Gastgeber gespielt und voller Stolz über den jahrhundertealten Gebäudekomplex gesprochen.

»St. Ninian’s ist wirklich und wahrhaftig ein heiliger Raum, Cato«, hatte Sinclair gesagt, »aber auch so viel mehr. Wir haben die großartige Bibliothek, wo Gelehrte seit vierhundert Jahren Bücher schreiben und weiter schreiben werden. Dann sind da die Felder und das Vieh, die vielen Menschen Arbeit geben, die sonst stempeln gehen müssten. Unsere Kühe und Schafe stammen noch von denselben Herden ab, die hier vor Jahrhunderten begonnen wurden. Die alte Art lebt hier noch, weißt du, mein Junge. Die alten Geister reden mit uns, es ist wie ein Flüstern über dem Moor. Meine liebe Großmutter hat sie gehört. Deswegen ist sie 1919 hiergeblieben, als alle anderen wieder zurück nach Hause, nach Deutschland gegangen sind.«

»Deutschland?«, hatte Cato gefragt.

Ein fernes Lächeln zerknitterte das wettergegerbte Gesicht des Schotten. »Weißt du nichts von den großartigen Ereignissen in Scapa Flow im Jahr 1919? In der Bucht gibt’s den großen Naturhafen, wohin sie die deutsche Kriegsflotte geschickt haben, nachdem der Kaiser den Ersten Weltkrieg verloren hatte. Die Schiffe sollten unter den Alliierten aufgeteilt werden, aber der deutsche Admiral konnte diese Schande nicht ertragen. Also versenkte er die Flotte, insgesamt zweiundfünfzig Schiffe. Viele von diesen Geisterschiffen liegen noch am Grund des Hafens, mein Junge. Sie bergen dunkle Geheimnisse und Knochen.« Archie nippte an seinem Whisky, den er sich nach dem Essen genehmigte und zu dem er auch Cato eingeladen hatte, während die anderen langsam den Tisch verließen.

»Meine Großmutter Gretchen war gekommen, um sich um ihren kranken Bruder an Bord eines der Schiffe zu kümmern, doch sie ist dem Zauber meines Großvaters und der uralten Inseln erlegen, wenn ich mir auch nie sicher gewesen bin, welches von beiden der größere Einfluss war. So ist es auf den Orkneyinseln nun mal. Hier prallen Schicksale aufeinander. Unsere Inseln knüpfen Knoten in die Fäden des Schicksals. Dein Père versteht das«, meinte Archie nach einem weiteren Schluck. »Deswegen hat er dich schließlich hergeschickt.« Der alte Schotte beugte sich näher zu Cato, schenkte ihm noch mehr ins Glas ein und senkte die Stimme: »Ich muss dich was fragen, mein Junge. Glaubst du, dass es das Böse in dieser Welt gibt?«

Cato zögerte, verdutzt von den Worten und der plötzlichen Dringlichkeit in Sinclairs Stimme. »Ich habe mein ganzes Leben dem Kampf gegen dieses Böse gewidmet«, antwortete er.

»Aber? Ich höre da ein Aber in deiner Stimme. Das Böse lässt sich immer schwerer identifizieren?«

»Ich wünschte, es wäre so«, erwiderte Cato. »Nein. Aber es wird immer schwieriger, ein Druckmittel dagegen zu finden. Früher hätte man es beinahe geografisch definieren können, aber nun nicht mehr.«

Archie lächelte und stieß mit Cato an. »Slàinte, mein Junge. Krieger von St. Ninian’s, zumindest zeitweilig«, sagte er und leerte das Glas. »Willkommen in unserem Außenposten gegen die Welt.«

»Außenposten?«

»Du wirst schon sehen. Die erste Lektion gibt es morgen.« Der Verwalter stand auf und streckte sich. »Es gibt Dinge, die ein Dreh- und Angelpunkt für die Welt sein können«, verkündete er und verschwand in einem schattigen Flur.

Bruder Andrew hatte liebevoll gelächelt, als Archie sich vom Tisch entfernte. »Archibald gehört zu diesem Ort wie die Steine und der Mörtel«, sagte er. »Sinclairs haben vor all den Jahrhunderten dabei geholfen, diese Abtei zu bauen, und dienen seit dieser Zeit als ihre Verwalter. Er kümmert sich um das Säen, Pflanzen und Ernten, das Milchvieh und die Schafe, aber es macht ihm immer noch Spaß, ab und zu eine Mistgabel oder Schaufel in die Hand zu nehmen. Immer im Kilt, bei jedem Wetter, den kleinen Flachmann immer in Griffweite. Ich schwöre, wenn ein Sinclair aus dem achtzehnten Jahrhundert jetzt hier durch die Tür träte, wir hätten Schwierigkeiten, die beiden auseinanderzuhalten. Und er ist ein Mann tiefer Geheimnisse. Aber er hat gesagt, wenn all das hier vorbei ist, wird er uns ein paar davon verraten. Er hat für diesen Anlass einen dreißig Jahre alten Single Malt bereitgestellt.«

Cato hatte sich in einem solchen Nebel aus Whisky und Jetlag befunden, dass er Archibalds letzte Worte des Abends nicht vollständig registriert hatte. Dein Pere. Der Schotte hatte seinen Vater gemeint, hatte erklärt, sein Vater hätte verstanden, dass auf diesen Inseln Schicksale aufeinanderprallten. Archibald Sinclair und Catos Vater hatten gemeinsame Geheimnisse, nicht zuletzt das mysteriöse Päckchen, das Cato auf dieser Reise holen sollte. Und warum hatte es so geklungen, als bräuchte der silberhaarige Verwalter einen Krieger? Wenn Cato an diesem Abend schon seine Flüge verpasste, dann wollte er mindestens eine Chance haben, diesen charmanten alten Schotten besser kennenzulernen, der sich in seinen Augen allmählich in eine freundlichere Ausgabe seines Vaters zu verwandeln begann. Wessen Schicksalsfäden wurden auf Orkney verknotet? Wieso hatte er die Abtei als einen Außenposten gegen die Welt bezeichnet? Der kalte Finger einer Vorahnung berührte Catos Rückgrat, ein Instinkt aus seiner Schattenwelt, der eigentlich inmitten dieser abgeschiedenen Mönche auf Orkney nichts zu suchen hatte.

Nun schaute Cato zu, wie Andrew mit hoch erhobener Fackel in den mit Steinplatten gefassten Durchgang trat. Plötzlich wurde ihm mit schlechtem Gewissen klar, dass er vielleicht zu müde und mit diesen seltsamen Mönchen zu ungeduldig gewesen war, als dass er versucht hätte, zu verstehen, was hier rings um ihn herum geschah. Trotz der Bitterkeit, die zwischen ihnen herrschte, hätte sein Vater ihn nicht auf eine völlig unnütze Reise geschickt. Nichts auf dieser abgelegenen Insel war so, wie es schien. Die Mönche waren nicht die aufbrausenden Menschenfeinde, die er vielleicht erwartet hatte, sondern hoch gebildete Männer unterschiedlichster Herkunft, die keine wallenden Kutten trugen, sondern knielange braune Tuniken über dunklen Hosen. Die Abtei selbst war ein Paradox, denn ihre äußere Erscheinung passte zwar zu seinem Eindruck, dass er in einer etwas schäbigen, asketischen Einsiedelei gelandet war, doch das Abendessen, das sie zu sich genommen hatten, war köstlich gewesen, der Wein hervorragend, und es hatten sich einige schweigsame Frauen zu ihnen gesellt, die auch Tuniken trugen, die allerdings grau und beinahe elegant geschnitten waren. Obwohl das ausgedehnte Hauptgebäude der Abtei ein wenig heruntergekommen wirkte, hatte das Innere eine schlichte Eleganz, und es hingen bemerkenswerte Gemälde an den Wänden. Im Speisesaal waren das nicht etwa religiöse Kunstwerke, sondern hervorragende Reproduktionen von Thomas Coles Zyklus Der Lauf des Reichs, der den Aufstieg und Fall einer großen Zivilisation darstellte und zu den Lieblingsgemälden seines Vater gehörte. Als Cato auf dem Weg zum Speisesaal falsch abgebogen war, hatte er einen Flur mit Büroräumen entdeckt, die mit den neusten Computern ausgestattet waren.

»Pike!«

Cato blickte auf und sah, dass Bruder Andrew ein Dutzend Schritte von ihm entfernt bei einer Treppe stand. Als Cato sich auf die flackernde Fackel zubewegte, wandte sich der Mönch um und begann die steilen Stufen hinaufzusteigen, so dass Cato durch den Schatten stolpern musste.

Er versuchte vergeblich, ihren Weg zu der Kammer oben an der Landzunge in Gedanken zu verfolgen. Der Tunnel schien sich unnötig zu schlängeln, führte durch dunkle Torbögen und manchmal an steinernen Altären oder staubigen grob behauenen Holzkonstruktionen vorüber. Schließlich holte Cato Andrew ein, als der Mönch stehen geblieben war, um einen weiteren Steinaltar zu betrachten. »Eine letzte Opfergabe«, sagte er und deutete auf eine zweite bernsteingelbe Pütze auf unebenen Stein. »Er erinnert uns daran, auch unser Scherflein anzubieten.« Der Mönch tastete seine Taschen ab, zog dann mit verlegener Geste einen kleinen Apfel hervor, legte ihn auf den Stein und warf Cato einen erwartungsvollen Blick zu.

Cato beugte sich vor und zeichnete mit dem Finger an die staubige Wand oberhalb des Altars ein Zeichen, das wie ein Y aussah, dessen Fuß nach oben verlängert war, bis zur Länge der beiden Arme. »In einem Sommer, als ich noch ein Junge war«, erwiderte Cato, »hat mein Vater mich die nordischen Runen auswendig lernen lassen. Die meisten stehen für Buchstaben oder Laute, aber einige der älteren sind Wörter oder Symbole. Die meisten habe ich vergessen.«

Andrew blickte Cato mit erneuertem Interesse an. »Aber diese hier nicht?«

»Es ist die Schutzrune«, sagte Cato. »Sie beschwört die alten Schutzgeister herauf.«

Andrew musterte Cato schweigend, nickte dann und ging an Catos Seite weiter den Gang entlang. »Später am Abend erhalten wir einen Anruf«, vertraute er ihm mit leiser Stimme an. »Nach dem Abendessen. Nein, nein, ich habe es vergessen. Die verabredete Zeit ist sechzehn Uhr, und dann wollten sie drei Stunden, um alles unter Dach und Fach zu bringen.«

»Sie?«, fragte Cato.

Andrew ignorierte ihn. »Und sie sind fünf Stunden hinter uns. Also wird es wohl eher Mitternacht werden. Dann kann es weg.«

»Es?«

»Das Päckchen. Sie. Zurück nach Neuengland.«

Cato verdaute diese Worte. »Irgendetwas muss in Amerika geschehen, ehe das Päckchen von Orkney freigegeben wird? In Neuengland?«

Andrew zuckte zusammen, als hätte er zu viel verraten, und eilte dann weiter den Tunnel hinauf. Der einfache Gefallen, den Cato seinem Vater tat, klang inzwischen immer mehr wie eine Geheimmission. Doch Cato hatte dieses Leben hinter sich gelassen, und sein Vater hatte tatsächlich dazu beigetragen, ihn davon zu überzeugen. Aber nun begannen sich ungebeten seine alten Instinkte wieder zu rühren. Hier lauerten Gefahren, alte und neue. Während Cato Andrew beobachtete, geriet der Mönch ins Stolpern und hätte beinahe die Fackel fallen lassen, als er sich mit einer Hand am Boden abstützen wollte. Cato eilte zu ihm, um ihm wieder festen Halt zu geben, wiederholte dann seine Frage. »Was muss in Neuengland passieren?«

Andrew runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf. Aber ja, sobald bestätigt ist, dass beide Seiten ihr Päckchen in die Hände eines vertrauenswürdigen Boten übergeben haben, kann die Rückreise beginnen.«

»Ein Tauschhandel also. Und ich bin ein vertrauenswürdiger Bote? Ich bin doch ein Fremder für Sie alle.«

»Ihr Vater hat alle davon überzeugt, dass man Ihnen vertrauen kann, dass Sie Dinge transportieren können, ohne dass Regierungen davon Notiz nehmen. Barnabus Pike hat viele interessante Freunde, und sein Wort gilt allen als verbindlich.«

Der Mönch blieb stehen und schloss die Augen, als sammelte er sich. Er war nervös. Etwas hatte ihn erschüttert. Er schaute kurz zu Cato zurück, war aber nicht in der Lage, den Blickkontakt zu halten. Warum, fragte sich Cato, sorgte sich die Abtei darum, dass Regierungen Notiz nehmen könnten? Er erinnerte sich an Archibalds Worte: Willkommen in unserem Außenposten gegen die Welt.

»Archie fürchtet, wir hätten zu viel von der Außenwelt in unsere Mauern eingeladen«, fuhr Andrew fort. »Er ist übervorsichtig. Aber er irrt sich. Die Gefahr wird uns hier nicht finden. Viele Schichten der Geheimhaltung sind unser Schutzschild. Ich weiß nichts über das Päckchen, außer dass es aus Deutschland kommt. Archie wird es erklären«, fügte der Mönch rasch hinzu, ehe er weiter den Gang entlang eilte.

Cato blieb einen Augenblick zurück und starrte durch den von der Fackel erleuchteten Tunnel. Alles, was der Mönch an diesem Tag gesagt und getan hatte, war ihm ein Rätsel. Cato hatte schon Geschichten von Klöstern gehört, die sich zu Zufluchtsstätten unausgeglichener Menschen entwickelten. Irgendetwas am seinem Begleiter war bestimmt nicht völlig im Lot, und nun fragte sich Cato, ob seine Reise nicht Teil irgendeines komplizierten Spiels war, das sich taperige alte Männer ausgedacht hatten, die schlicht zu viel Zeit hatten. Warum sollte Archibald andeuten, dass mit dieser Aufgabe eine Gefahr verbunden war? Diese abgelegene Abtei konnte doch sicherlich nicht zusammen mit seinem Vater in einen Kampf auf Leben und Tod um ein mysteriöses Päckchen verwickelt sein, von dem er immer mehr den Verdacht hegte, dass es sich um irgendein historisches Objekt von zweifelhaftem rechtlichem Status handelte.

Er biss die Zähne zusammen, erinnerte sich daran, dass er für seinen Vater hergekommen war, mehr nicht, und eilte hinter dem Mönch her. In ein paar Tagen würde er mit dem alten Historiker zusammensitzen, entweder in seinem Krankenhauszimmer oder auf der Veranda seines Farmhauses in Maine, und sie würden über die exzentrischen Bewohner von St. Ninian’s lachen.

Bruder Andrew wartete in einem Torbogen auf ihn. Die Wände dahinter waren aus unebenem Stein und wirkten ungeheuer alt.

»Der ursprüngliche Tempel«, erklärte Andrew. »Bronzezeit. Aus Gründen, die niemand kennt, war er völlig von Erde überdeckt und lag so über Jahrhunderte verborgen. Dann legte einer unserer wilden Stürme die Nordseite frei, als hätte eine höhere Gewalt gewollt, dass man ihn wieder findet.« Andrew hob die Fackel höher. »Er wird drinnen sein, wahrscheinlich am großen Altarstein. Hören Sie sich seine Anweisungen genau an. Schreiben Sie nichts auf.«

Die Kammer, die sie nun betraten, war so trübe beleuchtet, dass Cato eher spürte als sah, wie groß sie war. Andrew ging an einer der Wände entlang, und die Fackel beleuchtete immer nur ein paar Fuß einer Gewölbedecke, erhellte dann ein schweres Balkengerüst, das einen durchhängenden Teil des Gewölbes abstützte. Cato war unwillkürlich beeindruckt von der Kunstfertigkeit der Bronzezeit. Hier hatten vor Tausenden von Jahren Männer und Frauen schwer gearbeitet, um das Heilige zu ehren. Er bemerkte, dass er stehen geblieben war und lauschte, während er in die Dunkelheit starrte. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, dass die an einem solchen Ort gesprochenen Gebete nie ganz starben, sondern nur immer leiser von Wand zu Wand hallten.

Plötzlich schrie Andrew laut auf und rannte vor. Cato zögerte, verstand nicht recht, holte ihn dann aber ein. Der Mönch war gegen die hintere Wand gesackt und glitt schluchzend an ihr herunter, hielt die flackernde Fackel an seiner Seite. Er hob eine zitternde Hand. Sie war von Blut bedeckt. »Retten Sie ihn!«, stöhnte Andrew.

Cato packte die Fackel und schwang sie hin und her, fand aber nur Linien aus frischem Blut, die auf den Steinplatten des Bodens ein Ellipsenmuster zeichneten. Dann hörte er, wie ein Seil knarzend über Holz rieb, und schaute hoch. Ein Eiszapfen durchbohrte sein Herz. Es würde heute Abend keinen Scotch zur Feier des Tages geben, keine enthüllten Geheimnisse. Blut triefte von Archibald Sinclairs nackten Füßen und malte Muster auf den Boden, als sie hin und her schwangen. Man hatte den sanften alten Schotten brutal gefoltert, und dann hatten ihn seine Peiniger an der Decke des uralten Tempels aufgehängt.

Kapitel 2

Bruder Andrew saß da und starrte auf Archibald, zu benommen, um etwas zu hören. Cato rüttelte ihn an der Schulter und deutete an die Stelle, wo man das Seil, das über den höchsten Balken des Gerüsts geschlungen war, an einem Pfosten festgebunden hatte. Als er keine Antwort bekam, rannte er zu dem Pfosten und löste selbst den Knoten. Nach und nach ließ er vorsichtig das Seil herunter, als Andrew sich aufrappelte und vorwärts rannte, um den Leichnam aufzufangen. Cato gab sich alle Mühe, das Seil langsam herunterzulassen, doch seine Last war erstaunlich schwer. Andrew hatte erst die Knie umfangen, als das Seil Cato aus der Hand rutschte. Sinclair fiel auf Andrew, und die beiden sackten zu Boden. Cato murmelte eine verzweifelte Entschuldigung, als er sich hinunterbeugte, um den Lebenden von dem Toten zu trennen, hielt aber inne, als Andrew Widerstand leistete. Er hatte den Toten fest umarmt, als wolle er ihn durch die schiere Kraft seines Willens wieder ins Leben zurückholen.

»Archie, gesegneter Archie! Nein, nein, nein!«, stöhnte der Mönch.

Cato zog die Jacke aus, die man ihm in der Abtei gegeben hatte, rollte sie zusammen und legte sie auf die Erde. Dann zog er den Leichnam herüber, bettete vorsichtig den wettergegerbten, silberhaarigen Kopf auf dieses improvisierte Kissen. Er löste Andrews Hand vom Arm des Toten und half dem schmerzerfüllten Mönch auf die Beine, hob dann die Fackel auf und schwang sie im Kreis herum. Kein Päckchen war zu sehen.

Andrew starrte verwirrt auf die gleichmäßig verteilten Blutflecken auf seiner Tunika, die den Wunden des Toten genau entsprachen. Zwei an den Schultern und vier weitere oben und unten an jeder Seite seines Brustkorbs, die zwei parallele Linien bildeten, die sich auf Sinclairs Oberkörper widerspiegelten. An jeder der Wunden war der Stoff vom Leinenhemd des Schotten in sein Fleisch gedrückt.

»Sie haben etwas gefunden, Bruder Andrew«, sagte Cato. »Als Sie durch den Tunnel gingen. Ich dachte, Sie seien ins Stolpern geraten, aber jetzt glaube ich, dass Sie etwas aufgehoben haben.«

Andrew starrte ins Antlitz des Toten. »Bist du bei uns?«, fragte der alte Mann.

Cato missverstand ihn und antwortete: »Er ist tot.«

Andrew wandte sich zu Cato, die Augen in tiefer Trauer versunken. »Bist du bei uns?«, wiederholte er.

Bilder flackerten vor Catos innerem Auge auf. Sein gebrechlicher Vater, der Cato mit schwachen Fingern beim Arm packte, als er sich abgewandt hatte, um das Krankenzimmer zu verlassen, nachdem er ihm die Bitte abgeschlagen hatte. »Wann habe ich dich je um einen Gefallen gebeten? Mach diese letzte Sache für mich!«, hatte sein Vater ihn mit brechender Stimme beschworen. Er sah auch die Enttäuschung in der Miene seiner Tochter, als er ihr einen Monat zuvor erzählt hatte, er habe ein Angebot ausgeschlagen, an der Polizeiakademie zu unterrichten. Und schließlich sah er diesen Toten, wie er am Abend zuvor vom Tisch aufgestanden war. »Du passt schon«, hatte Archibald zu Cato gesagt. Es hatte irgendwie den Anschein eines Segens gehabt.

Er erwiderte Andrews düsteren Blick. »Ich bin bei euch«, gelobte er, obwohl er nicht wusste, was Andrew für ihn vorgesehen hatte. Doch ihm war bewusst, mit welcher Verzweiflung er zu tun haben würde, wenn er seinem Vater und seiner Tochter gegenübertreten und ihnen erklären musste, dass er sie wieder einmal enttäuscht hatte.

Andrew fasste in seine Tasche und ließ dann einen kleinen Gegenstand in Catos ausgestreckte Hand fallen. »Ich weiß nicht, was es ist. Es ist ein Ding aus Ihrer Welt, nicht aus unserer.« Seine Worte wurden von einem erneuten Seufzer erstickt. Er fiel auf die Knie, legte eine Hand auf die Stirn des Toten. »Archie«, wiederholte er in einem verzweifelten Flüstern.

Das schwarze Metallstück ähnelte einer winzigen Rakete, an deren Basis schmale Seitenflossen herausragten. Es wäre fast so lang gewesen wie sein Daumen, wenn die Nase nicht bei einem Aufprall, vielleicht auf einer Steinmauer, plattgedrückt worden wäre. Etwas stieg eiskalt in Cato auf, als er den Gegenstand musterte. Es war die Waffe eines Profis, eines hinterlistigen, kaltblütigen Killers.

»Ein Flechette«, erklärte er. »Mit einem Spezialgewehr abgeschossen. Eine Lieblingswaffe der Osteuropäer, weil die Sowjets mehrere Waffenserien dafür entwickelt haben, die meisten mit Luftdruck angetrieben.« Er beugte sich mit grimmiger Entschlossenheit über den Toten. Der Körper war noch warm. Blut sickerte aus den Wunden, und bei zwei davon waren kleine schwarze Lamellen ins Fleisch eingebettet. »Sie haben ihn gefoltert«, sagte Cato. »Sechsmal auf ihn geschossen, aber so sorgfältig gezielt, dass sie ihn nicht getötet haben. Dann haben sie ihn aufgehängt.«

Andrew schloss die Augen für mehrere lange Atemzüge, hob dann das Kreuz, das er um den Hals trug, und starrte darauf. In seinem Blick lag eher Herausforderung als Ehrerbietung. »Zumindest ist das Ende schnell gekommen«, murmelte er.

Cato schaute auf die Augen des Toten hinunter, die von zerplatzten Äderchen rot gefärbt waren, und schloss ihm sanft die Lider. »Nein. Das war es nicht. Sie haben ihn nicht mit dem Strick um den Hals fallen lassen, um ihm das Genick zu brechen. Sie haben ihn wahrscheinlich am Hals hochgezogen, dann das Seil festgebunden und ihn so sterben lassen. Er ist erstickt. Das hat wohl mehrere Minuten gedauert.«

Der Mönch ließ den Kopf in die Hände sinken. »Das Päckchen ist fort«, stöhnte er. »Sie haben es mitgenommen und ihn getötet. Wir haben unsere Chance verpasst. Jetzt sind die Bluthunde von der Leine. Auf dem Päckchen stand das Wort Gift, ich habe es ihm doch gesagt. Das könnte das Ende von allem bedeuten.«

Cato musterte Bruder Andrew und wunderte sich nicht zum ersten Mal über dessen merkwürdige Wortwahl. Welche Chance hatten sie verloren? Er sah hier nicht das Ende aller Dinge, nur das eines liebenswerten alten Schotten. Und wessen Bluthunde waren von der Leine? »Nicht unbedingt«, sagte Cato. »Dass Sie ein Flechette gefunden haben, bedeutet, dass sie schon im Gang auf ihn geschossen haben. Irgendwo da draußen im Tunnel hat er bemerkt, dass die ihn verfolgten, und er ist in diese Kammer gerannt. Er ist vor ihnen hier angekommen, hatte vielleicht noch Zeit, das zu verstecken, was immer er bei sich trug. Oder vielleicht hatte er mich hier treffen wollen, um dann mit mir an einen anderen Ort zu gehen und dort das Päckchen zu holen. Sie hätten keinen Grund gehabt, ihn zu foltern, wenn er das Päckchen bei sich gehabt hätte. Und was meinen Sie mit Gift?«

»Ich verstehe das mit den Flechettes nicht«, sagte Andrew.

»Sie haben ihn gefoltert, um herauszufinden, wo das Päckchen ist. Aber ich glaube nicht, dass er es ihnen gesagt hat. Wenn er nicht geredet hat, nachdem eines oder zwei von diesen Flechettes ihm das Fleisch zerfetzt hatten, haben die restlichen auch nichts mehr ausgerichtet. Sie mussten ihn ohnehin töten, weil er ihre Gesichter gesehen hatte.« Er musterte Andrew, der Catos Worte zu verarbeiten schien, und erinnerte sich dann an Andrews Bericht darüber, dass ein Todesfall in Deutschland Archibald sehr erschüttert hatte.

Andrews graue Gesichtszüge spannten sich an, und er sammelte sich. Er legte die Hände des Toten übereinander auf den Bauch des Leichnams. »Wir müssen ihn in die Abtei tragen.«

»Nein. Sie sollten Hilfe holen. Menschen mit starkem Rücken und andere, die Lichter halten können. Ich bleibe hier. Er sollte nicht allein sein.«

Andrew schien aus Catos Vorschlag Kraft zu schöpfen. Er richtete sich auf und holte tief Luft, während sein Blick noch einmal auf Sinclair ruhte. Dann hob er die Fackel hoch. »Es gibt entlang der Mauer noch weitere Fackeln«, sagte er im Gehen.

Einige Minuten saß Cato im Schneidersitz neben dem Leichnam, und das einzige Licht war der Dämmerschein, der durch die Risse in der Gewölbedecke hereinsickerte, der einzige Laut in der uralten Dunkelheit das gespenstische Stöhnen des Windes. Aus schmerzlicher Erfahrung kannte er die einzigartige Einsamkeit einer Totenwache. Er war allein und doch nicht allein, denn vor ihm lag alles, was dieser Mann je gewesen war. Die Erinnerung an seine eigene Begegnung mit ihm war noch so frisch, dass Cato seine kratzige Stimme zu hören meinte. Jeder Tod veränderte die Welt auf immer. Unsere Inseln knüpfen Knoten in die Fäden des Schicksals. Sinclair wahrte Geheimnisse, die nun niemals mit anderen geteilt würden und von denen einige für Cato bestimmt gewesen waren. Archie war kein Mensch gewesen, der sein Leben leichtfertig wegwerfen würde, kein Mann, der in der Hoffnung auf Reichtümer oder Ruhm starb. Er war ein Mann gewesen, der für ein Prinzip, für einen Wert, für eine Wahrheit starb.

»Was für eine Wahrheit ist das gewesen«, flüsterte Cato dem Leichnam zu, »die deinen Lebensatem wert war?« Nach einigen Herzschlägen wählte er andere Worte, weil er sich an sein Gespräch vom Vorabend erinnerte. »Was war das Böse, vor dem du andere schützen musstest?«

Cato musterte den Leichnam genauer, untersuchte die durch die Flechettes gerissenen Wunden, dann die Male im Gesicht des alten Mannes, wo ihn jemand geschlagen hatte, brutal hart geschlagen hatte. Sinclair trug eine Kette um den Hals, und mit einer geflüsterten Entschuldigung zog Cato sie vorsichtig unter dem blutgetränkten Leinenhemd hervor. Es hing ein kleiner, grob gearbeiteter Anhänger in der Form eines umgekehrten Dreizacks daran.

Archibald hatte vorn vor seinem Kilt den traditionellen Sporran, eine Tasche aus grauem Fell getragen. Mit einer weiteren Entschuldigung machte Cato die Tasche auf. Drinnen befanden sich zwei silberne Gegenstände, ein abgegriffener Whisky-Flachmann und ein Füllfederhalter. Er hob den Füller kurz hoch und fand ihn ungewöhnlich schwer. Archie hatte alles aus dem modernen Jahrhundert abgelegt, nur dies nicht, ein elegantes Schreibwerkzeug. Cato steckte es in eine seiner Taschen. Als er den Sporran wieder schloss, bemerkte er eine Beule unter dem Strumpf an Archibalds rechter Wade. Er hob die schwere Wollsocke an und zog ein ebenfalls sehr abgegriffenes Lederfutteral heraus, als hätte Archibald an diesem Tag all seine Erbstücke mitgenommen. Es war wohl ein kleines Messer darin gewesen, mit einer etwa drei Zoll langen Klinge.

Cato schob sich von den Knien nach hinten und setzte sich wieder hin, blickte erneut ins Archibalds Gesicht. Er wusste nicht, warum das Leben dieses schlauen Schotten in dieser uralten Ruine sein Ende gefunden hatte, aber er war sich schmerzlich bewusst, dass Sinclair sich wegen ihm, Cato, in diese Gefahr begeben hatte und wegen der mysteriösen Transaktion, über die niemand reden wollte. Vielleicht war der einzige Mensch, der Catos Fragen beantworten konnte, sein eigener Vater. Aber Cato grauste es vor diesem Wiedersehen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ihn sein Vater gebeten, etwas für ihn zu tun, und trotz seiner Bedenken hatte er versprochen, das zu machen. Und sein Vater hatte ihm vertraut. Sinclair hatte ihm auch vertraut, weil er der Sohn von Barnabus Pike war, der Bote für dieses geheimnisvolle Päckchen.

Doch Cato hatte versagt, und Archibald war tot. Cato hätte die Tragödie vielleicht verhindern können, wenn er seine Aufgabe ernster genommen hätte. Er hatte die uralte Abtei lediglich als ungelegene Zwischenstation betrachtet, während sie in Wirklichkeit der Schauplatz einer gewalttätigen Intrige gewesen war. Zu spät wurde ihm nun klar, dass man ihn genau wegen dieser Intrige ausgewählt hatte. Die Schuld lastete auf ihm wie eine weitere schwarze Wolke, die aus dem Norden hereinzog.

Einen Augenblick lang stieg Wut in ihm auf, als er begriff, dass die Mönche, sogar sein Vater wohl zumindest eine Ahnung von der Gefahr gehabt haben mussten. Aber sie hatten es vorgezogen, ihn nicht zu warnen. Hätte er es gewusst, so hätte er Sinclair schützen können, hätte zuerst ihren Treffpunkt ausspähen können. Aber sie hatten ihn ja bestens gekannt, ihn, den unsteten Einzelgänger aus der geheimen Welt, der gelernt hatte, zynisch zu denken und allen zu misstrauen. Dabei hatte er auch viel über Tod und Grausamkeit, über Gerechtigkeit und Überleben gelernt. Sie hatten ihn ausgewählt, weil er eine genau eingestellte Waffe war, die immerzu auf der Suche nach einem Ziel war. Sein Vater hatte ihn in eine tödliche Mission eingebracht und angenommen, dass sein Instinkt den Rest besorgen würde. Die Leute in der Abtei beschäftigten sich vielleicht nur mit Menschheitsangelegenheiten, doch Cato hatte mit dem Bösen in allen einzelnen Menschen zu tun. Er stand auf und ging die Fackeln suchen, die Andrew erwähnt hatte.

Cato hatte sich so sehr darauf konzentriert, den feuchten Brennstoff der Fackeln zu entzünden, dass er keine Pause eingelegt hatte, um sich den Raum ganz anzuschauen, ehe er die letzte zum Brennen gebracht hatte. In stummer Bewunderung starrte er nun auf die uralte Kammer, betrachtete die schlichten, anmutigen Linien ihrer Gewölbedecke, der geschwungenen Wände und den runden, kniehohen Stein in der Mitte, der ein Altar zu sein schien. Er schloss die Augen, stellte sich die Gläubigen der längst vergangenen Zeiten vor, lauschte erneut ihren Gebeten, hörte dann in Gedanken das Todesröcheln von Archibald Sinclair. Mörder waren mit Flechettes gekommen, und zwar wegen eines Päckchens, das sein Vater und die Abtei liefern lassen mussten, ohne dass Regierungen davon Notiz nahmen. Es gibt Dinge, die ein Dreh- und Angelpunkt für die ganze Welt sein können. Hatte sich Sinclair damit auf das Päckchen bezogen? Cato schwebte nicht etwa in einer ihm kaum vertrauten Welt, er befand sich noch immer an jenem unbarmherzigen Ort, den er »das Labyrinth« nannte, und irgendwie waren sein Vater und die Abtei nun auch dort hineingefallen. Als Cato die Augen wieder aufschlug, lag darin das scharfe Glitzern eines Kriegers.

Er schritt den Raum ringsum ab und fand vier weitere Flechettes, alle gestaucht vom Aufprall auf die Mauer, dann eine weitere Fackel auf dem Boden. Die hatte Sinclair wohl mitgebracht und fallen lassen, um im Schatten zu verschwinden, als das leise Knallen des tödlichen Luftgewehrs ihn verfolgte. Die Dunkelheit war die letzte Verteidigung des alten Schotten gewesen. Aber seine Mörder hatten zweifellos Lampen gehabt.

Auf dem Altar in der Mitte waren sechs kleine Blutlachen, die in zwei parallelen Linien angeordnet waren. Dies war also die Stelle, wo die Eindringlinge – es mussten mindestens zwei gewesen sein – Sinclair niedergehalten und ihm diese das Fleisch zerfetzenden Geschosse in den Körper gefeuert hatten. Cato sah eine weitere schwache Blutspur und musterte genau das grob gezeichnete U und die in die entgegengesetzte Richtung verlaufenden geschwungenen Linien links davon. War dies eine Botschaft im Angesicht des Todes? Er schaute sich die Zeichnung aus verschiedenen Blickwinkeln an und kam zu dem Schluss, dass es einfach die Stelle war, wo Sinclair in seiner Qual den Stein umklammert hatte.

Aus keinem bestimmten Grund kniete er sich vor den Altar, die Hände auf dem kalten Stein, und dachte über den Zeitablauf nach. Wenn man danach ging, wie warm sich der Leichnam noch anfühlte, hatten die Mörder die Kammer kaum mehr als zwanzig oder dreißig Minuten vor Catos und Andrews Ankunft verlassen. Es gab nur einen Pfad über diese kahle, schmale Halbinsel, aber Cato und sein Begleiter waren den Tätern nicht begegnet. Er stand auf, ging um den Toten herum, murmelte dann Archibald eine weitere Entschuldigung zu und schlüpfte erneut in den Gang zurück. Er hielt eine Fackel vor sich in die Höhe und fand schon bald, was er gesucht hatte: eine schmale, im Schatten verborgene Öffnung. Cato ging den sich dahinter auftuenden Tunnel entlang, wobei seine Schultern zu beiden Seiten den Fels berührten. Er trat bei einem Felsvorsprung ins Freie, der auf halber Höhe der Klippe über der Bucht lag. In den Fels gehauene Stufen führten zu einer winzigen Bucht hinunter, die zwischen den Klippen geschützt dalag. Dort hatte man vor langer Zeit einen flachen Felsbrocken zu einer kleinen Pier mit einem Eisenring zum Festmachen eines Boots umfunktioniert. Also hatten Andrew und er die Mörder doch gesehen, als sie in ihrem schnittigen Schlauchboot in der Bucht das Fischerboot überholten. Nach tausend Jahren waren wieder einmal Eindringlinge bei einem Überfall von der See gekommen.

Zu Catos Überraschung kehrte Bruder Andrew mit einer langen Prozession von Menschen zurück. Zehn schweigsame, trauernde Gestalten schritten in das uralte Heiligtum, darunter auch vier von den verdrießlichen Frauen, die er in der Abtei gesehen hatte. Der jüngere Mann mit dem strohblonden Haar, den er zusammen mit Archibald bei der Arbeit beobachtet hatte, ging hinter ihnen. Er trug hohe Gummistiefel unter seinem Kilt und balancierte eine faltbare Trage auf der Schulter. Ihm standen Tränen in den Augen.

Zwei Nonnen knieten sich neben den Leichnam und murmelten Gebete, während die Mönche halfen, die Trage auseinanderzufalten. Als Cato sich näherte, legte ihm Andrew eine Hand auf den Arm, um ihn aufzuhalten. Er ließ sie dort, bis vier Mönche die Bahre anhoben, auf der der Leichnam lag, über den sie eine Decke gebreitet hatten. So leise, wie sie gekommen war, ging die lange Reihe der Trauernden wieder fort, die Bahre in ihrer Mitte. Als das letzte Paar an Cato vorübergezogen war, wandte sich der Mönch, der am nächsten an ihm vorüberging, zu ihm um. Die Verachtung in seinem Blick war unverkennbar.

»Die denken doch sicherlich nicht, dass ich für das hier verantwortlich bin?«, fragte Cato an Andrew gewandt. Trotz seiner Schuldgefühle würde er die Verurteilung durch diese selbstgerechten Mönche nicht hinnehmen.

Andrew redete erst wieder, als er auf die Landenge getreten war und sich davon überzeugt hatte, dass die anderen außer Sichtweite waren. »Dieses Geschoss mit den Lamellen. Sie haben sofort gewusst, was das war.«

»Die Killer waren meinetwegen hier«, sagte er.

»Nein, Archie war Ihretwegen hier.« Das klang ganz nach einem Vorwurf.

Cato schluckte die Galle herunter, die in ihm aufstieg. »Das Päckchen, das ich in Empfang nehmen sollte«, erkundigte er sich. »Wie groß war es genau?«

Andrew antwortete, blieb seinem Kreuz zugewandt. »Ich habe es nur kurz gesehen. Es ist mit der Post gekommen, aus Deutschland. Es war eine schwere Schachtel mit einem handgeschriebenen Etikett. Als Adresse war A. Sinclair, Abbey St. Ninian’s angegeben, und daraus habe ich geschlossen, dass Englisch nicht die Muttersprache des Schreibers war. Die Schachtel war in Packpapier eingeschlagen und verschnürt. Sie hatte keine harten Kanten. Es ist mir vorgekommen, als wäre es ein Pappordner oder vielleicht ein Papierstapel. Archie hätte niemals etwas Wichtiges einem elektronischen Format anvertraut. Das Päckchen kam an, als er wegen dieser Beerdigung in Deutschland war. Als er es im Büro abgeholt hat, zeigte er mir das Wort, das jemand handschriftlich auf die innere Verpackung geschrieben hatte, mit einem Ausrufungszeichen dahinter. Dann wirkte er verwirrt, weil er meinte, es sei nicht die Handschrift seiner Nichte. ›Aber sieh nur, da steht auf Englisch Gift, also Geschenk‹, hat er vermutet, ›das wäre folglich eine Art Gruß.‹ Dann habe ich ihm die Übersetzung des deutschen Worts Gift gesagt. ›Oh‹, meinte er, drückte das Päckchen an die Brust und verschwand. Er hat nie wieder ein Wort darüber verloren, außer als er mir einen Füllfederhalter zeigte und sagte, seine Nichte hätte ihn mit dem Paket geschickt, als Zeichen ihrer Zuneigung, da sie wusste, wie sehr er Füllfederhalter mochte. Sonst nichts. In den Tagen danach war er sehr still, verbrachte mehr Zeit in seinen Räumen, und ansonsten war er meist bei seinem Neffen. Großneffen sollte ich sagen.«

»Das ist der junge Mann, der mit der Trage gekommen ist?«, fragte Cato.

»Er heißt Rory.«

»Wie viele Kammern gibt es hier in dieser Anlage?«

»Diese große, das zentrale Element, wenn Sie so wollen. Es existieren vielleicht noch an die zehn weitere, alle kleiner, die vielleicht Lagerräume oder Einsiedlerzellen waren. Nur eine andere, laut den Archäologen die älteste, war ein Schrein. Beim Öffnen kamen Unmengen von Beinknochen von Rindern zum Vorschein. Warum fragen Sie?«

»An Archies Stelle hätte ich das Päckchen vor dem Treffen versteckt, als Vorsichtsmaßnahme. Archie war schlau, aber er hat sich Sorgen gemacht. Er hat vielleicht die Altvorderen an diesem Ort respektiert, aber hier ist auch der perfekte Platz für ein heimliches Treffen. Zugang nur über einen einzigen, gut überschaubaren Pfad, auf der einen Seite mit einem meilenweiten Blick über das Land und über das offene Meer auf der anderen. Außer dass er den kleinen Anlegeplatz da unten übersehen hat.«