Die vierte Braut - Julianna Grohe - E-Book

Die vierte Braut E-Book

Julianna Grohe

5,0

Beschreibung

In Wahrheit war die Sache mit Cinderella ganz anders . Auf Wondringham Castle findet eine riesige Brautschau mit vielen Prüfungen statt. Unzählige junge Damen aus allen Teilen des Landes kommen zum Schloss, um die Gunst eines der vier Prinzen zu erlangen. Aber die junge Gouvernante Mayrin Barnaby, die durch unglückliche Umstände ebenfalls dorthin gerät, will gar keinen Königssohn heiraten, sondern nur schnellstmöglich zurück nach Hause. Dort warten ihre beiden jüngeren Geschwister auf sie, für die sie verantwortlich ist. Als jedoch der charismatische Hauptmann dafür sorgt, dass Mayrin bleiben kann, beginnt ein aufregendes Abenteuer voll Leidenschaft und Intrigen.

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Seitenzahl: 534

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Julianna Grohe

Die vierte Braut

Astrid Behrendt Rheinstraße 60, 51371 Leverkusenwww.drachenmond.de, [email protected]

Satz, Layout Martin Behrendt

Lektorat / Korrekktorat www.abc-lektorat.de

Umschlaggestaltung Sarah Buhr / covermanufaktur.com

© Illustration: BuketGvozdey / Shutterstock.com © Frau: Falcona / Shutterstock.com © Texturen: Nik Merkulov ; tomertu; Dasha Petrenko; Rolau Elena / Shutterstock.com

ISBN: 978-3-95991-221-1 ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-121-4

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Mitgefangen, mitgehangen

Geprüft

Problem gelöst

Der Vertrag

Tändeln verboten

Abendessen mit Prinzen

Spaziergänge

Keine Chance

Streit mit dem Hauptmann

Wut im Bauch

Tanzstunde

Der Anschlag

Der Ball

Das Verhör

Einzelrendezvous

Staatsbesuch

In die Enge getrieben

Verbotenes Rendezvous

Rose

Falsches Spiel

Entführt

Prinzessin

Anderthalb Monate später

Personenverzeichnis

Dank und so …

In Wahrheit war die Sache mit Cinderella ganz anders …

Mitgefangen, mitgehangen

Name: Mayrin Barnaby, 19 JahreBesondere Fähigkeiten: –Grund, weshalb die Prinzen mich auswählen sollten: Es gibt keinen! Ich möchte mich nicht bewerben. Das war ein Missverständnis. Ich bitte um Entschuldigung! Hochachtungsvoll Mayrin Barnaby

Schwungvoll setzte ich meine Unterschrift auf das Blatt. Das sollte ja wohl deutlich genug sein!

Die anderen Mädchen schrieben alle noch eifrig. Außer dem Kratzen der Federkiele auf den Bewerbungsbögen war kein Laut zu hören.

Ich schob meinen Bogen von mir weg und lehnte mich zurück. Hinter mir ging gerade einer der Uniformierten vorbei. Eingeschüchtert zog ich die Schultern hoch.

Wie war ich bloß in diese unangenehme Situation geraten?

Ein paar Stunden zuvor …

Ein Flüstern weckte mich, und ich schlug die Augen auf. Die beiden Betten neben meinem waren leer. Auf meinen Ellenbogen gestützt, blickte ich suchend durch die Kammer.

Im blassen Licht des Morgens, das durch das kleine Dachfenster fiel, entdeckte ich meine beiden jüngeren Geschwister Neela und Leo. Sie standen in ihren Nachthemden am Fenster und schauten hinaus, die roten Haarschöpfe dicht beieinander. Wir alle drei hatten nahezu die gleiche Haarfarbe von unserem Vater geerbt. Leo hüpfte aufgeregt auf und ab, was er immer tat, wenn er sich freute.

Noch müde schlug ich die Bettdecke beiseite und trat zu ihnen. Die alten Holzdielen der Dachkammer waren eisig kalt unter meinen nackten Füßen, sodass ich zusammenzuckte.

»Was ist denn los, ihr zwei Schlafräuber?«, fragte ich gähnend und zerzauste beiden das Haar.

»Guck doch, Mayrin, die vielen Fahnen!«, rief Leo aufgeregt und deutete aus dem teils zugefrorenen Fenster. Sein breites Grinsen enthüllte seine doppelte Zahnlücke. »Oh, Mann, ist das toll!«

Tatsächlich. An sämtlichen Masten des kleinen Städtchens Talebridge, und sogar aus einigen Fenstern, wehten blaue Fahnen mit dem königlichen Wappen darauf. Natürlich. Heute war der Tag der Brautschau. Aber damit konnte ich mich jetzt nicht befassen.

»Auf, auf, waschen und anziehen, bevor ihr festfriert! Neela, hol bitte das Wasser von unten!«

Mit fast elf Jahren konnte man meiner Meinung nach so etwas von ihr erwarten. Ich erntete einen missmutigen Blick.

»Immer ich! Leo muss nie helfen!«

»Jetzt stell dich nicht so an!«, schimpfte ich ungehalten und schob sie aus dem Zimmer. Dann schlüpfte ich in meine langen Strümpfe, deren grober Stoff an den Beinen kratzte, flocht meine Haare mit geübten Bewegungen zu einem festen Zopf und steckte sie hoch. Offene Haare geziemten sich in meiner jetzigen Position nicht. Schlimm genug, dass sich trotz aller Mühen ständig störrische Strähnen aus meiner Frisur lösten.

Neela kam kurz darauf mit einem Eimer voll lauwarmem Wasser zurück und knallte ihn, heftiger als nötig, auf den abgenutzten Tisch. Ihre grünen Augen funkelten rebellisch.

Ich atmete tief durch, um angesichts ihrer schlechten Laune nicht die Beherrschung zu verlieren. Mit zusammengebissenen Zähnen kontrollierte ich, dass beide sich gründlich reinigten, und anschließend wusch ich mich selbst. Mittlerweile war das Wasser kalt geworden. Na wunderbar.

»Machst du mir die Hose zu, May?«, bat Leo, dessen vollständiger Name eigentlich Leopold war. Aber niemand nannte den kleinen Wirbelwind so. »Dürfen wir nachher mit zum Rathaus?«, plapperte er aufgeregt weiter. »Vielleicht sehen wir ja einen der Prinzen!«

Es war nicht leicht, einem zappelnden Sechsjährigen die Hose zuzuknöpfen.

»Das erlaubt sie bestimmt auch wieder nicht«, maulte Neela, während sie sich ein Kittelkleidchen über den Kopf zog. »Das ist echt fies!«

»Neela, es reicht!«, sagte ich drohend. Vermutlich sollte ich mich freuen, dass sie selbstbewusster wurde, und stolz auf sie sein.

»May, ich hab dich lieb, soooo lieb!«, versuchte Leo, die Situation zu retten, legte seine kleinen Ärmchen um meinen Hals und machte damit alles nur noch schlimmer.

»Pah!«, keifte Neela und feuerte ihr Nachthemd wütend in eine Ecke, wo es an einem (glücklicherweise nicht brennenden) Kerzenleuchter hängen blieb.

Ich musste mich beherrschen, sie nicht anzuschreien, genau, wie ich mich im vergangenen Jahr grundsätzlich bemüht hatte, so ziemlich alle Gefühlsregungen zu unterdrücken. Früher wurde ich oft von meiner Mutter ermahnt, dass ich mein Temperament zügeln müsse. Aber das war vor ihrem Tod gewesen.

»Ich glaube kaum, dass die Prinzen persönlich durch das Land reisen werden«, winkte ich ab. »Tionne wird heute bestimmt nur ihre Bewerbung abgeben. Ihr verpasst also nichts.«

Tionne war meine beste Freundin, die unbedingt an dieser Brautschau teilnehmen und sich um die Hand eines der vier Königssöhne bewerben wollte.

Alle adligen Familien des Landes hatten einen Brief erhalten, in dem stand, dass jedes ungebundene Mädchen zwischen siebzehn und fünfundzwanzig Jahren, welches Interesse an einer Ehe mit einem der Prinzen habe, sich im Rathaus der nächsten größeren Stadt einfinden solle. Doch weil Tionnes Eltern keine Zeit hatten, sollte ich sie heute zum Rathaus begleiten.

Ich blickte Neela und Leo nach, die sich gerade auf den Weg nach unten machten. Es tat mir leid, sie enttäuschen zu müssen, aber ich konnte mich in dem Gedränge, das auf dem Rathausplatz herrschen würde, nicht auch noch um die beiden Kinder kümmern.

Entschlossen strich ich mein dunkles, hochgeschlossenes Kleid glatt und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Nachdem ich Neelas Nachthemd vom Leuchter geholt und es ordentlich zusammengefaltet auf ihr Bett gelegt hatte, folgte ich meinen Geschwistern.

Der Duft von frischem Haferbrei schlug uns entgegen. Sallie knetete gerade einen Teig für das Teegebäck und blickte nicht auf, als wir die Küche betraten. Wehmütig dachte ich an die Zeiten zurück, als meine Eltern noch lebten und auch bei uns solche Delikatessen serviert wurden.

»Nehmt euch ’n Apfel dazu«, knurrte die Köchin und stellte drei großzügig gefüllte Schalen Brei vor uns auf den Tisch.

Sallie war kein Freund großer Worte. Dass wir zusätzlich einen frischen Apfel bekamen, zeigte ihre Sympathie für uns besser, als sie es mit Worten gekonnt hätte.

»Danke, Sallie.« Ich holte die Kanne mit Tee, die schon auf dem Herd bereitstand, und goss die dampfende Flüssigkeit in unsere Becher. Meine kalten Finger erwärmten sich, während ich am Tee nippte. Das tat gut.

Leo erzählte Paul, dem Kammerdiener von Mr Conley, währenddessen aufgeregt, dass er unbedingt die Soldaten sehen wolle, die heute für die Brautschau in die Stadt kommen würden. Er redete furchtbar gern und viel.

Neela hingegen war immer noch schlecht gelaunt. Ich würde ihr ins Gewissen reden müssen, damit sie sich wenigstens vor der Herrschaft untadelig benahm. Schließlich hing unsere Zukunft von deren Wohlwollen ab, und wir mussten dankbar sein, dass meine Geschwister mit mir kommen durften, als ich die Stellung hier angetreten hatte. Es war schwer genug gewesen, eine Familie zu finden, die mir überhaupt Arbeit als Gouvernante gab, da ich trotz meiner gestandenen neunzehn Jahre eher wie sechzehn aussah.

Ein Klirren riss mich aus meinen Gedanken. Stöhnend besah ich mir die Schweinerei. Leo hatte wieder einmal mit Händen und Füßen geredet und durch raumgreifendes Herumfuchteln seine Breischüssel vom Tisch gefegt.

Mit erschrockenen Augen, in denen sich Tränen sammelten, schaute er mich an, und seine Unterlippe begann zu zittern.

Es war wirklich zum Verrücktwerden. Ständig passierten Leo solche Missgeschicke. Mal rannte er auf der Straße aus Unachtsamkeit eine feine Dame über den Haufen, mal erforschte er, was Kletten im langen Haar seiner Schwester bewirkten (ich musste ihr anschließend einige Strähnen abschneiden). Und erst kürzlich hatte er versucht, auf die riesige Eiche hinter dem Haus zu klettern. Gerade noch rechtzeitig hatte ich ihn erwischt, als er schon auf einer Holzkiste balancierte, um an die unteren Äste zu gelangen.

»May, du musst dir keine Sorgen machen«, hatte er mir beruhigend erklärt. »Ich bin doch gesichert!«

Dabei deutete er auf das Seil, dessen Ende um seinen Oberschenkel gebunden war. Das andere Ende hatte er allerdings einfach um den Stamm des Baumes geknotet. Ich hatte nicht gewusst, ob ich lachen oder schimpfen sollte, und dann versucht, ihm klarzumachen, dass diese Art der »Sicherung« nicht funktionieren würde.

Und diese Vorfälle waren nur die Spitze des Eisberges.

Ich seufzte und stand auf, um die Scherben zu beseitigen und die Breispritzer wegzuwischen. »Leopold Barnaby, du bist wirklich eine Plage!«, schimpfte ich. »Jetzt hol schon den Lappen!«

Kleinlaut gehorchte er.

»Is schon gut«, brummte Sallie und schob Leo zurück auf die Bank. »Ich mach das.«

Während wir das Malheur gemeinsam beseitigten, kam das Spülmädchen hereingetanzt.

»Hach«, seufzte sie. »Wie gerne würde ich mich auch um die Hand eines der Prinzen bewerben. Das muss ein Leben sein! Nie wieder abwaschen, nie mehr raue, blutige Hände …«

Ich konnte ihren Wunsch nachvollziehen. Nie mehr abhängig sein von den Launen der Herrschaft …

Bis zum Tod unserer Eltern vor drei Jahren waren wir in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. Sie waren kleine Landadlige gewesen, die bei unserer Erziehung viel Wert auf gutes Benehmen und Bildung gelegt hatten. Nur dadurch war ich letztes Jahr, als das geerbte Geld zur Neige gegangen war, in der Lage gewesen, die Anstellung als Gouvernante bei den Conleys zu finden.

»Weshalb sind die Namen der Prinzen eigentlich alphabetisch geordnet?«, warf Neela ein und zählte auf: »Alexander, Byron, Caiden, Darion!«

Eine berechtigte Frage, wie ich fand. Vielleicht war das ein kleiner königlicher Witz? Mit leisem Stolz musterte ich die Sommersprossen auf ihrem zarten Gesicht – die besaßen wir alle drei. Ich wünschte nur, dass bei mir die braunen Tupfen verschwinden würden, denn sie ließen sich nicht mit meinem Wunsch nach einem seriösen Aussehen vereinbaren, wie es sich für eine Gouvernante ziemte. Das war wie mit meinem verflixten Temperament. Auch das wollte sich manchmal einfach nicht bändigen lassen.

Ich hatte vorher nie über die Prinzennamen nachgedacht. Überhaupt hatte ich mir bisher wenig Gedanken um die königliche Familie gemacht. Wondringham Castle, deren Stammsitz, lag weit entfernt.

Auch von den anderen Bediensteten war niemand in der Lage, Neelas Frage zu beantworten.

»Vielleicht kann Tionne uns helfen, es herauszufinden«, überlegte ich. »Schließlich möchte sie an der Brautschau teilnehmen. Ich werde sie bitten, die Prinzen danach zu fragen, wenn sie ihnen begegnet.«

»Würden Sie sich nicht auch gern bewerben, Miss Barnaby?«, fragte mich der Kammerdiener grinsend.

»Nein!«, winkte ich entschlossen ab. »Ich brauche keinen Prinzen. Bestimmt sind sie furchtbar selbstgefällig. Eigentlich möchte ich gar nicht heiraten.« Ich dachte an meine verstorbenen Eltern.

»Recht ham Se. Ich war auch mal verheiratet«, brummte Sallie.

Gespannt sahen wir sie an. Die Köchin erzählte sonst nie etwas von sich. Die Aufregung, die wegen der Brautschau unter den Angestellten der Familie Conley ausgebrochen war, schien auch sie angesteckt zu haben und ihre Zunge zu lockern.

»Mein John und ich waren noch Kinder, als unsere Eltern die Ehe beschlossen haben. Die ganze Woche vor meiner Hochzeit hab ich mir die Augen aus dem Kopf geheult. Er war fett, ungepflegt und grob.«

»Oh!«, stieß ich mitfühlend hervor.

»Macht nix, am Ende wurde alles gut. Ein paar Monate später hat er sich bei der Hochzeit von nem Verwandten mit Essen vollgestopft und den Schnaps literweise gesoffen. Dann bekam er Bauchkrämpfe und erstickte im Gebüsch an seiner eigenen …«

Sie hielt inne und blickte zu Neela und Leo, die interessiert lauschten.

»… Jedenfalls werd ich nich noch mal heiraten.« Sie wandte sich wieder dem Teig zu.

»Weshalb wollen die Prinzen eigentlich so überstürzt heiraten?«, unterbrach ich das unbehagliche Schweigen, welches den Worten der Köchin gefolgt war.

»Der König ist schwer krank«, berichtete die stets gut informierte Zofe von Mrs Conley, die ebenfalls mit am Tisch saß. »Die besten Ärzte wurden zum Schloss gerufen, um ihm zu helfen, aber es heißt, dass es wenig Hoffnung gäbe. Er möchte die Erbfolge vor seinem Ableben gesichert wissen. Deshalb will er möglichst schnell für jeden Prinzen eine passende Braut finden.«

»Die Armen!«, sagte ich und war froh, dass ich nicht in deren Haut steckte.

Das Gespräch in der Küche drehte sich immer noch um die Brautschau, als ich mich wenig später erhob und in die Bibliothek ging, um die Kinder der Conleys entgegenzunehmen.

Am späten Nachmittag, nachdem ich den Unterricht beendet hatte, ließ ich meine Geschwister bei Sallie zurück und machte mich auf den Weg, um mich mit Tionne zu treffen. Der eisige Winterwind ließ die blauen Fahnen mit dem Königswappen wild flattern und zerrte an meinem Hut, sodass ich die Schleife unter dem Kinn enger binden musste.

Dass meine Freundin sich näherte, bemerkte ich, ohne sie zu sehen, weil zwei Männern, die ganz in der Nähe flanierten, stehen blieben und sich die Köpfe verrenkten. In der Tat war sie eine Augenweide: schlank und wohlgestaltet, was man selbst unter ihrem Mantel erkennen konnte, riesige braune Augen und ein umwerfendes warmherziges Lächeln.

»Mayrin!« Strahlend lief sie mir entgegen und zog mich in ihre Arme. »Ist das alles nicht furchtbar aufregend?!« Ihre Stimme überschlug sich vor Begeisterung. »Sieh nur mein Kleid!«

Tionne öffnete ihren Mantel und präsentierte mir ihr tief dekolletiertes rotes Gewand. Auf ihren kastanienbraunen Haaren trug sie ein kesses Hütchen mit farblich zum Kleid passendem Band.

»Atemberaubend!«, hauchte ich ehrfürchtig.

Den beiden Herren, die Tionne immer noch anstarrten, fiel beinahe die Kinnlade herunter. Hastig bedeutete ich ihr, den Mantel wieder zu schließen, und zog sie mit mir davon. Tionnes Zofe folgte uns.

»Meinst du, es ist zu auffällig?«, fragte Tionne ungewohnt schüchtern.

Ich schüttelte den Kopf. »Du siehst wundervoll aus. Wenn du so nicht alle Blicke auf dich ziehst, weiß ich auch nicht weiter!«

Ich betrachtete sie kritisch und versuchte, sie mir als Prinzessin vorzustellen. Schön genug war sie allemal. Außerdem war sie wohlerzogen und klug. Und vor allem sehr freundlich. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass einer der Königssöhne Gefallen an ihr finden würde.

»Sieh mal, was ich dabeihabe!« Tionne zog eine Tüte hervor, aus der es dampfte, und hielt sie mir entgegen.

Maronen! Das Beste bei dieser Kälte! Das Wasser lief mir im Munde zusammen, als mir der Duft in die Nase stieg. Ich griff zu. Wir mussten bei den Conleys nicht hungern, aber so etwas Besonderes gab es dort für uns nicht.

»Mmmh, köstlich«, seufzte ich und kaute genüsslich.

Tionne und ich kannten uns schon lange, noch aus den Tagen, als ich ebenfalls ein behütetes Kind aus gutem Hause gewesen war. Sie war genauso alt wie ich. Wenn ich mit ihr zusammen war, fielen die pflichtbewusste Gouvernante und die sorgende Schwester von mir ab, und die echte Mayrin kam zum Vorschein. Doch seit ich arbeiten musste, hatten wir viel zu wenig Zeit füreinander. Trotzdem hatte sie nicht vergessen, wie sehr ich heiße Maronen im Winter liebte.

»Ach, Mayrin, ist es nicht wunderbar, dass ich an der Brautschau teilnehmen darf?!«, jubelte Tionne.

»Nun ja …« Es fiel mir schwer, ihre Freude zu teilen.

»Im Grunde unseres Herzens sind wir doch alle Prinzessinnen!« Sie machte eine affektierte Armbewegung.

Ich verdrehte die Augen. »Heiraten Prinzen nicht üblicherweise irgendeine Prinzessin oder hochrangige Adlige aus dem Ausland, um die politischen Verbindungen zu verbessern?«, fragte ich, während wir mit zügigen Schritten Richtung Rathaus wanderten.

»Der König hat es ziemlich eilig, scheint mir!«, antwortete Tionne achselzuckend.

»Hat er etwa Angst, dass die Prinzen nicht alleine in der Lage sind, sich eine passende Ehefrau zu suchen?«, machte ich mich lustig. »Vielleicht sehen sie in Wirklichkeit ganz anders aus als auf den Bildern – kleinwüchsig, pickelig oder sie haben Mundgeruch …«

Tionne kicherte.

»Denkst du wirklich, dass du auf das Schloss eingeladen wirst?« Ich vergrub meine kalten Hände tief in den Taschen des Mantels.

»Zumindest wünsche ich es mir«, antwortete sie gelassen. »Ich wäre ja dumm, wenn ich es nicht täte! Denk nur an das aufregende Leben, das wir führen würden! Das Schloss, berühmte Gäste, all der Schmuck und die schönen Kleider!«

»Und nicht zu vergessen, die hässlichen Prinzen!«, fügte ich hinzu.

»Genau! Was meinst du: einer für dich und einer für mich?« Ihre Augen blitzten bei dem Gedanken. Dann sah sie meinen Gesichtsausdruck. »Komm doch bitte mit, Mayrin. Das wird ein großer Spaß!«

Ich schüttelte den Kopf und schnaubte. »Da gibt es ein kleines Problem … oder besser gesagt drei Probleme. Erst einmal: Ich habe gar keine Einladung bekommen …«

Entschuldigend hob ich die Hände. Die Zeiten, in denen ich zu den Mädchen aus gutem Hause gehört hatte, waren unwiederbringlich vorbei.

»… und die Probleme zwei und drei habe ich gerade bei der Köchin zurückgelassen, die den beiden versprochen hat, mit ihnen Soldaten angucken zu gehen.«

Ich deutete in die Richtung, in der die Villa der Conleys lag. Als »Viertens« hätte ich noch hinzufügen können, dass ich mich nicht gerade kompetent fühlte, die Rolle einer Prinzessin auszufüllen. Dafür musste man wohl mehr Schönheit und Charme besitzen – so wie Tionne.

Meine Freundin seufzte. »Ich weiß ja. Aber es wäre zu schön gewesen, mit dir zusammen dort hinzugehen!« Ihr Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an. »Wenn ich mir einen Prinzen geangelt habe, dann hole ich euch zu mir auf das Schloss, versprochen!«

Wir kicherten wie kleine Mädchen.

Schon von Weitem hörten wir den Lärm der Menge, als wir uns dem Rathaus näherten. Auf dem Platz davor drängten sich an die hundert junge Damen in hübschen Kleidern und deren Angehörige. Die gespannte Aufregung der Anwesenden war beinahe greifbar.

Als ich die Menschenmassen erblickte, war ich kurz davor, Tionne ihrem Schicksal zu überlassen und mich davonzumachen.

»Dafür habe ich etwas gut bei dir!«, stöhnte ich, während wir uns auf den Platz zwängten.

Grinsend hielt mir Tionne die Maronentüte entgegen.

Endlich ertönte eine Glocke, und ein Herr in Uniform erschien auf der Rathaustreppe. Auf dem Marktplatz wurde es still.

»Meine sehr geehrten Herrschaften«, begann er würdevoll. »Ich bin hocherfreut, zu sehen, wie viele reizende junge Damen sich am heutigen Tag auf den Weg gemacht haben, um sich für eine Verbindung mit einem unserer verehrten Prinzen zu bewerben. Da Sie verstehen werden, dass wir eine gewisse Vorauswahl treffen müssen, bitte ich die Bewerberinnen nun in den großen Ratssaal. Die Angehörigen müssen – so leid es mir tut – im Freien warten. Und nun …«, er machte eine große Armbewegung Richtung Eingangsportal, »… treten Sie bitte ein, meine Damen!«

Es begann ein schreckliches Gedränge hin zum Rathaus, in dem wir Tionnes Zofe aus den Augen verloren.

»Bis nachher! Viel Glück!«, rief ich Tionne zu und wollte aus dem Gewühl fliehen. Aber sie zog mich am Arm mit sich.

»Nur noch bis zum Eingang – bitte, Mayrin!«, bettelte sie. »Lass mich noch nicht allein!«

Ich folgte ihr – innerlich kopfschüttelnd. Diese Hysterie wegen der Prinzen fand ich ein bisschen albern.

Aber je näher wir dem Rathaus kamen, desto mulmiger wurde mir, denn Bewerberinnen, die aus allen Richtungen nachdrängten, schoben mich mit sich. Vom Abschied vor der Treppe konnte keine Rede sein. Ohne Chance auf ein Entkommen wurde ich die Stufen hinaufgedrängt. Verzweifelt versuchte ich, in letzter Sekunde am Eingangsportal zur Seite auszuweichen. Aber ein kräftiger Mann in Uniform hielt mich zurück.

»Dort entlang, Miss«, rief er mir grinsend zu. »Kneifen gilt nicht!«

»Nein! Warten Sie!«, rief ich erschrocken. »Ich bin nicht … Ich darf gar nicht …«

Aber schon schoben mich die Massen ins Innere des Gebäudes. Noch machte ich mir keine Sorgen, denn gewiss würde sich eine Möglichkeit ergeben, das Missverständnis aufzuklären.

Widerwillig folgte ich dem Strom der Mädchen in den großen Saal im ersten Stock des Rathauses. Auch ich bekam vor dem Einlass einen Briefbogen in die Hand gedrückt. Ich winkte ab, aber die Dame mit den Blättern sah mich daraufhin so grimmig an, dass ich nicht wagte, sie weiter zu verärgern.

Im Saal hatte man lange Tischreihen aufgebaut. Wir wurden angewiesen, uns zu setzen und Feder und Tintenfass zu nehmen, die auf den Tischen bereitstanden. Ich schaute mich nach Tionne um, konnte sie aber nicht entdecken.

»Schreiben Sie nun bitte Ihren Namen und Ihr Alter oben auf das Blatt und darunter Ihre besonderen Fähigkeiten. Ganz unten begründen Sie bitte, weshalb die Prinzen gerade Sie auswählen sollten!«

Um mich herum setzte hektische Betriebsamkeit ein. Alle Mädchen bemühten sich, möglichst viel zu schreiben, sicher, um sich gut darzustellen.

Währenddessen sah ich mich weiter nach meiner Freundin um. Ganz am anderen Ende des Saals entdeckte ich sie schließlich dank ihres leuchtend roten Kleides. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, aber sie saß völlig vertieft über ihrem Bewerbungsbogen.

»Hören Sie auf zu winken und beginnen Sie endlich!«, fuhr mich ein uniformierter Mann an, sodass ich zusammenzuckte.

Jetzt erst fiel mir auf, dass mehrere Männer zwischen den Tischen umhergingen und die Bewerberinnen genau beobachteten. Eine böse Vorahnung beschlich mich.

»Hören Sie, das ist alles ein Missverständnis.« Ich schob meinen Stuhl zurück und wollte mich erheben. »Ich will gar nicht hier sein und darf es genau genommen …«

Der Uniformierte schnauzte mich an, was mir denn einfiele, ob ich mich für etwas Besseres hielte, und drückte mich energisch auf den Stuhl zurück.

Verdutzt starrte ich ihn an und begann dann eingeschüchtert, mein Blatt auszufüllen.

Nachdem ich meine Unterschrift auf das Blatt gesetzt hatte, unterstrich ich sicherheitshalber den Satz »Ich möchte mich nicht bewerben« zweimal. Das sollte nun wirklich deutlich genug sein!

»Fertig?«, fragte einer der Uniformierten, die zwischen den Tischreihen hin und her gingen und die Bewerberinnen beobachteten.

»Ja, aber Sie müssen wissen, dass …«

Er ließ mich nicht ausreden, sondern entriss mir mein Blatt und ging weiter. Verflixt, warum hörte mir hier keiner zu?

Erstaunt bemerkte ich, dass die Männer nur bei einigen Mädchen das Blatt nahmen. Bei den meisten ließen sie es einfach liegen. Mir wurde eiskalt.

Au weia!, dachte ich. Treffen die etwa schon eine Vorauswahl?

Abermals versuchte ich, einen Mann anzusprechen und ihn darauf hinzuweisen, dass ich gerne gehen würde, aber niemand beachtete mich.

»Meine Damen, ich weiß, dass Sie alle aufgeregt sind!«, ertönte die laute Stimme des Mannes, der schon vor dem Rathaus gesprochen hatte. »Trotzdem muss ich Sie bitten, nun zu schweigen und den weiteren Ablauf nicht zu stören.«

Als sein drohender Blick mich traf, sank ich verschämt in mich zusammen.

»Folgende Damen kommen jetzt bitte zu mir!« Er warf einen Blick auf das erste Blatt in seiner Hand. »Miss Bernadetta Kennington, Miss Mary Galtrim, …«

Ich musterte die jungen Damen, die zu ihm gingen, und wusste: Das waren die Kandidatinnen. Jede von ihnen war gepflegt und besonders hübsch. Mittlerweile waren es sechs.

Wenn sie aus jeder größeren Stadt des Landes so viele Mädchen wählen, kommt für die Brautschau eine ganz schöne Anzahl von Kandidatinnen zusammen, dachte ich und hörte im selben Moment: »… Miss Tionne Healing …«

Was? Sie war genommen?! Ich stieß einen wenig damenhaften Jubelschrei aus und warf meiner Freundin eine Kusshand zu. »Erobere dir einen Prinzen, Tionne!«

Sie schaute überrascht zu mir hin und strahlte dann über das ganze Gesicht. Der Redner räusperte sich missbilligend und warf mir einen weiteren warnenden Blick zu.

»Wenn wir nun bitte fortfahren könnten …«

Ich bemühte mich wieder um Haltung, freute mich aber unbändig für Tionne. Doch dann schoss mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Wenn sich einer der Prinzen tatsächlich für sie entscheiden sollte, würden wir uns vermutlich nie wiedersehen können. Ich schluckte.

»… und Miss Mayrin Barnaby.«

Ich erstarrte.

»Mayrin Barnaby?«, wiederholte er.

Jetzt wäre der beste Zeitpunkt, um das Missverständnis endgültig aufzuklären oder klammheimlich zu verschwinden. Doch wie gelähmt saß ich da und starrte den Sprecher an.

»He, das sind doch Sie!« Einer der Uniformierten tippte mir von hinten auf die Schulter.

Ich schüttelte den Kopf. Wäre ich doch nur unsichtbar!

»Natürlich sind Sie Miss Barnaby, ich habe Ihren Bogen doch eingesammelt! Stehen Sie schon auf und zieren Sie sich nicht so!«

Hatte denn niemand gelesen, was ich auf mein Blatt geschrieben hatte?!

Verlegen sah ich in die verständnislosen Gesichter um mich herum. Oh, wie peinlich!

Ich sprang auf und flüchtete geradewegs zum Ausgang. »Ich will keinen Prinzen heiraten«, murmelte ich mit hochrotem Kopf.

Doch die Frau, die am Eingang die Blätter verteilt hatte – die mit dem bösen Blick –, ergriff meinen Arm und führte mich zu den sieben Kandidatinnen. Der Gesichtsausdruck, mit dem sie mich jetzt bedachte, war noch finsterer.

»Bitte! Ich …«

»Machen Sie hier nicht so einen Aufstand! Wir haben nicht ewig Zeit!« Sie hielt mich fest, als ich mich weiterhin sträubte.

»Hören Sie, ich bin …«

»Wir haben jetzt schon siebzehn Städte hinter uns, und jedes Mal ist so eine Querulantin wie Sie dabei! Das ist doch nicht zu fassen! Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie einfach hier lassen.«

»Ja, bitte! Das alles ist ein Irrtum!«

Doch sie ignorierte meine Worte und redete einfach weiter: »Drei Städte pro Tag! So geht das schon die ganze Woche. Sogar morgen, am Sonntag, müssen wir noch in einer Stadt nach Möchtegern-Prinzessinnen Ausschau halten!«

Ich klappte meinen Mund wieder zu. Keine Chance.

Sie schob mich neben die anderen Mädchen, die mich abfällig, ja fast feindselig musterten. Aber dann entdeckte ich Tionne.

»Mayrin!« Sie streckte die Hand nach mir aus und zog mich mit einem breiten Lächeln neben sich.

Der Redner sah an meiner schlichten dunklen Kleidung herunter und warf dem Uniformierten neben sich einen fragenden Blick zu. Der zuckte nur die Schultern.

»Bitte, folgen Sie mir, meine Damen!«

»Kannst du denen nicht sagen, dass ich hier nur aus Versehen bin?«, fragte ich Tionne flehend. »Auf mich hört niemand!«

Man schob uns hinter dem Mann her. Im Weggehen vernahm ich, wie jemand den anderen Mädchen dafür dankte, dass sie dagewesen seien, und ein paar gewählte Worte darüber verlor, dass man nun einmal leider, leider nicht alle der bezaubernden Damen nehmen könne.

»Ach, komm schon, Mayrin! Es ist doch fantastisch, dass wir zusammen sind!« Tionne ließ meine Hand nicht los und zog mich mit sich. Ihre Augen leuchteten voll Vorfreude. »Stell dir vor: Vielleicht angeln wir uns beide einen Prinzen!«

Wir wurden durch einen Gang geleitet, der zu einer Hintertreppe führte.

»Himmel, Tionne!«, fauchte ich, mittlerweile ernsthaft besorgt, dass ich hier nicht mehr herauskäme. »Was soll denn bitteschön aus Neela und Leo werden?! Hast du darüber einmal nachgedacht?!«

»Oh nein!« Tionne blieb so abrupt mitten auf der Treppe stehen, dass das Mädchen hinter ihr gegen sie rannte und beide fast die Stufen herunterstürzten.

»Könnten Sie bitte weitergehen?!«, erklang es genervt von hinten, und wir setzten uns wieder in Bewegung.

»Natürlich helfe ich dir.« Tionne drängelte sich zu dem Redner nach vorn, der jetzt an einem Hinterausgang stand. »Entschuldigen Sie, bitte?«

Er sah noch nicht einmal zu ihr hin.

»Sir?« Sie tippte ihm auf die Schulter.

»Rein mit Ihnen!«, befahl er.

Anstatt ihr zuzuhören, packte man Tionne um die Taille und hob sie in eine geschlossene Kutsche, die direkt vor dem Hinterausgang stand.

»He!«, protestierte sie überrascht.

Im selben Moment wurde ich ebenfalls gegriffen und in den Wagen gestoßen.

»Was soll das?«, kreischte ich erschrocken und trat nach dem Mann, der den Wagen hinter uns Mädchen verschließen wollte. »Lassen Sie uns wieder heraus!«

Doch schon wurde die Tür zugeschlagen.

Dunkelheit.

Für einen Moment herrschte verstörtes Schweigen.

Dann zogen die Pferde mit einem Ruck an, und wir purzelten hilflos übereinander. Wie alle anderen rief ich verzweifelt um Hilfe und schlug mit den Fäusten gegen das Holz, bis meine Hände schmerzten.

Nach und nach verstummten wir. Irgendwann bat das Mädchen neben mir höflich: »Entschuldigung, könnten Sie bitte Ihren Fuß von meinem Rock nehmen?«

Wir alle bemühten uns, so gut es ging, unsere Gliedmaßen wieder zu sortieren und uns einen Platz an der Wand zu suchen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht.

»Weshalb transportiert man uns in einem Gefängniswagen weg?«, fragte eine zarte Stimme von der gegenüberliegenden Wand.

»Ich konnte noch nicht einmal meinen Eltern ›Auf Wiedersehen‹ sagen!«, schluchzte ein anderes Mädchen.

»Meint ihr, man hat uns entführt und wir fahren gar nicht zum Schloss?«

Alle redeten aufgeregt durcheinander.

»Mayrin?«, hörte ich Tionnes Stimme.

»Hier!« Ich spürte, wie sie sich neben mich zwängte und meine Hand nahm.

»Hast du auch Angst?«

»Natürlich! Ich muss dringend zurück!«

»Hoffentlich kann jemand meine Eltern beruhigen! Die machen sich bestimmt schreckliche Sorgen. Wo willst du denn hin? … Mayrin?«

Ich tastete mich zur Tür, um nach einem Fluchtweg zu suchen.

»Au! Das war meine Hand!«

Ich entschuldigte mich und suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, die Tür zu öffnen. Schließlich resignierte ich. Das Mädchen mit der zarten Stimme hatte recht gehabt, es musste sich um einen Gefängniswagen handeln. Es gab keine Möglichkeit, herauszukommen.

Ich hatte keine Ahnung, weshalb man uns hier hereingesteckt hatte, aber mir schossen die schlimmsten Befürchtungen durch den Kopf.

Waren das wirklich Männer des Königs gewesen? Wohl kaum bei deren unglaublichem Verhalten uns gegenüber.

Aber würde es tatsächlich jemand wagen, uns sozusagen vor den Augen der Eltern zu entführen? Und wenn ja: weshalb? Wollte man Lösegeld? Oder sogar Schlimmeres?

Ich konnte es mir beim besten Willen nicht erklären.

»Wenn eine von uns die Gelegenheit zur Flucht bekommt, muss sie sie ergreifen, egal, was mit der anderen passiert«, flüsterte Tionne mir zu, nachdem wir bereits einige Zeit unterwegs waren. »Dann kann wenigstens eine Hilfe holen.«

Ich wusste, dass sie mich meinte. Ich war schon immer die Flinkere von uns beiden gewesen. Mühsam schluckte ich und bemühte mich, in dem holpernden Wagen eine einigermaßen erträgliche Sitzposition zu finden.

Als wir nach stundenlanger Fahrt endlich anhielten, waren wir nur noch ein verängstigter Haufen junger Mädchen, weit davon entfernt – ganz abgesehen von mir –, sich als zukünftige Prinzessinnen zu fühlen. Es stank nach Angstschweiß, und ich hatte schrecklichen Durst.

Jemand öffnete die Wagentür. Endlich frische Luft! Ich hielt Tionnes Hand fest umklammert. Draußen war es mittlerweile Nacht geworden. Bewaffnete Männer zerrten uns aus dem Wagen und schoben uns durch ein geöffnetes Tor. Ich hatte keine Möglichkeit, zu erkennen, wo wir waren. Alles ging zu schnell, und es war so dunkel.

Aber dies kann die letzte Chance zur Flucht sein!, dachte ich. Sind wir erst einmal hinter den hohen Steinmauern verschwunden, sitzen wir sicher in der Falle.

Ich nahm all meine Kräfte zusammen und riss mich los. Nur fort! Sie hatten schon so viele Mädchen, da würde eines mehr oder weniger doch nichts ausmachen! Aber kaum hatte ich ein paar Schritte in die Dunkelheit getan, da packte mich eine Pranke. Riss mich zurück. Ich schnappte nach Luft. Hier mussten wirklich überall Wachen herumstehen!

»Wir sind doch keine Schwerverbrecher! Dazu haben Sie kein Recht!«, rief ich, holte aus und trat dem Mann mit aller Kraft gegen das Schienbein.

Überrascht stöhnte er auf und ließ mich los. Ich nutzte die Möglichkeit, schnellte zur Seite und … prallte gegen einen Mauervorsprung, den ich in der Dunkelheit übersehen hatte.

Benommen sackte ich zu Boden, doch schon hatten mich zwei Männer gepackt und zerrten mich unnachgiebig zu einer Tür, aus der ein schwacher Lichtschein drang. Ich protestierte schwach, aber niemand nahm davon Notiz.

Sie schleiften mich eine Treppe hinunter. Ein dunkles Gewölbe, massive Türen. Durch eine davon wurde ich gestoßen. Ich taumelte, stürzte auf die Knie, kroch so schnell ich konnte weg. Da waren noch andere Mädchen. Dann fiel die Tür hinter mir zu, und ich vernahm das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss umgedreht wurde.

Zitternd kauerte ich an der Wand und rang nach Atem. Mein Kopf schmerzte.

»Mayrin?«, sagte eine vertraute Stimme.

Ich schluchzte auf, als Tionne mich in ihren Arm zog. Sie hielt mich, bis ich wieder in der Lage war, meine Umgebung wahrzunehmen.

Sie hatten uns acht Mädchen aus Talebridge in einen Kerkerraum mit rohen Steinwänden und schmalen Fenstern in vier Metern Höhe geworfen. Es roch unangenehm nach feuchtem Stein. Zum Glück war es nicht kalt, und eine Fackel steckte in einer Halterung an der Wand und beschien unser armseliges Grüppchen mit rötlichem Licht.

Mehrere Mädchen klammerten sich wimmernd aneinander. Eine kreischte hysterisch und hämmerte gegen die Tür. Aber niemand kam, um zu helfen. Tionne hockte neben mir und starrte finster vor sich hin. So ernst hatte ich sie noch nie erlebt.

Es musste sich um einen Irrtum handeln oder um einen Albtraum. Das hier konnte einfach nicht wahr sein. Alle – mit Ausnahme von mir – hatten nichts Schlimmeres getan, als ihre Bereitschaft zu bekunden, die Prinzen kennenzulernen!

Vor meinem inneren Auge sah ich Leo und Neela, die sich ebenso verschreckt aneinanderklammerten, wie wir es taten. Sie waren ganz allein, ohne die große Schwester, die für sie sorgte. Würde sich jemand bei den Conleys um sie kümmern? Mein Magen verkrampfte sich vor Sorge um die beiden.

Seit mein Vater mit meinen beiden Brüdern, die nach mir geboren worden waren, bei einem Schiffsunglück ertrunken war und meine Mutter sich kurz darauf das Leben genommen hatte, lastete die Verantwortung für den Rest der Familie auf meinen Schultern.

Lange Zeit war meine einzige Gefühlsregung zu meiner Mutter hilfloser Zorn gewesen. Wie hatte sie ihre Kinder einfach so im Stich lassen können? Mit knapp sechzehn war ich auf einmal für zwei jüngere Geschwister verantwortlich gewesen.

Dann kamen die Geldprobleme, die meine gesamte Kraft forderten. Zwar hatten wir einen sogenannten Vormund, doch der war ein verarmter Cousin und an Schnaps, aber herzlich wenig an unseren Belangen interessiert. Die Situation hatte es erfordert, dass ich schnell erwachsen werden musste, und meistens gelang es mir ganz gut, wie ich fand, das Leben mit meinen Geschwistern zu meistern. Aber in diesem Moment hätte ich mich am liebsten wieder in die Arme meiner Mutter geflüchtet. Wäre ich bloß nicht mit Tionne zum Rathaus gegangen! Hätte ich doch mit mehr Nachdruck darauf bestanden, wieder hinausgelassen zu werden!

Tränen brannten in meinen Augen, aber ich blinzelte sie weg. Jetzt war nicht der passende Moment, um die Nerven zu verlieren. Ich musste stark und aufmerksam sein, um den richtigen Augenblick zur Flucht nicht zu verpassen. Ich hatte die Pflicht dazu, die Verantwortung für meine Geschwister! Und es war nicht meine Art, kampflos aufzugeben.

Ich bemühte mich, meinen Hut zu richten, aber der war hoffnungslos zerdrückt. Ich zitterte. Jedes Geräusch ließ mich zusammenzucken.

Was wollten die bloß von uns?

Geprüft

Es wurde eine lange Nacht. Angst und nagender Hunger zermürbten mich. Sie hatten uns seit dem Nachmittag nichts zu essen gegeben, nicht die allerkleinste Brotkante. Nicht einmal etwas Wasser hatten sie uns gebracht, was sich bei mir durch bohrenden Kopfschmerz bemerkbar machte. Den anderen schien es nicht besser zu ergehen. Von Zeit zu Zeit wimmerte eines der Mädchen neben mir. Ich bemühte mich, ihr Mut zuzusprechen, aber was konnte ich schon sagen?

Einmal war mir, als hätte ich jemanden an einem der Fenster hoch über uns gesehen, doch das Dämmerlicht konnte mir auch einen Streich gespielt haben. Ich zog meinen Mantel enger um mich. Tionne war an die Wand gelehnt eingeschlafen und stöhnte ab und zu leise im Traum. Die Fackel erlosch. Ich verlor jegliches Zeitgefühl.

Ich zuckte zusammen, als auf dem Flur schwere Schritte zu hören waren. Mehrere Männer näherten sich. Wollten sie zu uns? Was würden sie … Mühsam kam ich auf die Beine.

»Tionne!« Ich rüttelte an ihrer Schulter, bis sie erwachte, und half ihr auf.

Ich fühlte mich entsetzlich hilflos und spürte, wie mir kalte Angst den Rücken hochkroch. Auch die anderen Mädchen standen nach und nach auf. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht, dann schwang die Tür auf. Das Licht mehrere Fackeln blendete uns. Mit Säbeln bewaffnete Männer stürmten in die Zelle, griffen nach den vier Mädchen, die der Tür am nächsten standen, und zerrten sie mit sich.

Als die Tür hinter ihnen zufiel, herrschte im Kerker stummes Entsetzen. Alles war viel zu schnell gegangen, als dass eine von uns hätte reagieren können.

»Verdammt!«, murmelte Tionne schließlich erschüttert.

Ich konnte nicht antworten, weil ich vollkommen damit beschäftigt war, Luft zu bekommen. Wir hielten uns an den Händen, als könnte uns das helfen. Tionnes Hand war so eiskalt wie meine.

Panik überrollte mich, als ich wenig später die Schritte der Männer wieder näherkommen hörte. Unkontrolliert zitternd drückte ich mich an die Wand. Diesmal würden sie uns holen, und es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren, keine Chance, zu fliehen.

Abermals öffnete sich geräuschvoll die Tür. Sie kamen allein. Ohne die vier Mädchen. Oh Gott! Was hatten sie mit ihnen gemacht?

Einer von ihnen packte mich mit erbarmungslosem Griff und zwang mich vorwärts. Sein Atem erklang drohend an meinem Ohr.

Sie schleppten uns durch die Gewölbe in einen fensterlosen Raum. Heftig sog ich den Atem ein, als ich erkannte, wo wir uns befanden. Mein Herz raste, und mir war übel.

An den Wänden hingen metallene Geräte, Schellen, Seile, Schwerter, Stachelrollen. Daneben standen ein mit Nägeln gespickter Stuhl und ein Feuerkorb. In der Mitte des Raumes sah ich einen Tisch mit einem großen Rad an einer Seite. Und dieser Geruch …

Das war eindeutig eine Folterkammer.

Ich hatte nicht gewusst, dass es so etwas noch gab. Und ich hätte viel darum gegeben, wenn mir dieses Wissen weiterhin verborgen geblieben wäre. All die armen Seelen, die hier gepeinigt worden waren, erschienen vor meinem inneren Auge. Ihre Schmerzen, das ganze Blut …

Ein schrilles Kreischen riss mich in die Wirklichkeit zurück. Es war eines der beiden fremden Mädchen aus Talebridge. Das andere sank soeben in Ohnmacht, wurde aber im letzten Moment von einem der Soldaten aufgefangen, die mit tief ins Gesicht gezogenen Fellmützen und ausdruckslosen Gesichtern um uns herum standen.

Ich fühlte mich, als hätte jemand alle Luft aus meiner Lunge gepresst. Trotzdem straffte ich mich. Meine Würde war das Einzige, was mir blieb. Ich rang um Konzentration. Was sollte das Ganze?

Tionne, die dicht bei mir stand, bemühte sich ebenfalls um Haltung. Mit gerunzelter Stirn musterte sie die Männer. Dem Mädchen neben ihr gelang das nicht. Zitternd und schluchzend klammerte es sich an Tionne.

Irgendetwas lief hier entsetzlich falsch.

Meine Gedanken rasten. Wie hatte man uns vor den Augen der Angehörigen entführen können? Die Kutsche war nicht schnell gefahren, man hätte uns eigentlich ohne Probleme auf jedem halbwegs gesunden Pferd einholen können. Und wer nahm es auf sich, acht adlige Mädchen zu entführen und sich mit deren gesamten Familien anzulegen? Es war einfach nicht logisch!

Und weshalb sollte man uns foltern wollen?! Keine von uns hatte meines Wissens etwas Böses getan. Weshalb sollte man unschuldige junge Frauen so quälen und ihnen absichtlich Angst einjagen, es sei denn … Natürlich!

Endlich begriff ich: Die Auswahl war bereits in vollem Gange und man versuchte, uns zu testen!

Konnte das sein? Solch eine unglaubliche Behandlung bei adligen Damen, von denen vier potentielle Prinzessinnen waren? Das war reichlich merkwürdig, gelinde gesagt.

Ich überlegte hin und her, aber ich fand keine andere sinnvolle Erklärung.

»Das ist vielleicht eine Prüfung!«, flüsterte ich Tionne zu.

Dass sie mich gehört hatte, zeigte sie nur dadurch, dass sich ihre Augen weiteten, als sie mich ansah. Dann nickte sie fast unmerklich.

Ich atmete tief durch. Wenn ich recht behielt, dann schreckten diese Leute vor nichts zurück, um die Bewerberinnen auf ihre Prinzessinnen-Qualitäten zu überprüfen. Aber es würde auch bedeuten, dass sie uns nichts antun wollten.

In mir regte sich Wut. Unglaublich, was wir uns hier gefallen lassen mussten!

Als weiterhin nichts geschah, hielt ich die Ungewissheit nicht länger aus, und mein Zorn ließ mich jede Vorsicht vergessen. Obwohl ich am ganzen Körper bebte, ergriff ich gespielt forsch das Wort.

»Mit Verlaub, wir können hier natürlich noch ein wenig länger die Ausstattung bewundern. Ich weiß allerdings nicht, wie es Ihnen geht, meine Herren, aber ich persönlich hatte eine harte Nacht, habe Durst und benötige dringend saubere Kleidung.«

Der auf meine Worte folgende Moment eisigen Schweigens ließ mich zweifeln. Hatte ich mich doch geirrt, und würde mich meine freche Äußerung nun den Kopf kosten?

Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch und war kurz davor, mich hinter Tionne zu verstecken. Doch dann hörte ich hinter mir ein Geräusch, das nach einem unterdrückten Lachen klang, und anschließend eine Klappe, die geschlossen wurde. Ich fuhr herum und entdeckte ein winziges Fenster, durch das man uns anscheinend beobachtet hatte.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und ein älterer Herr mit Vollbart betrat die Folterkammer. Seine Augen blitzten. Er trug einen blauen Hut mit drei riesigen Federn darauf und ein farblich dazu passendes Gewand aus festem Tuch. Weil auf seinem mächtigen Bauch das Wappen der Königsfamilie prangte, wirkte er wie eine lebende Fahne. Um seinen Hals lag eine ausladende Krause, und sein Schnauzbart war kunstvoll in Form gezwirbelt.

»Meine Damen …«, dröhnte seine Stimme so kraftvoll durch den Raum, dass wir zusammenzuckten, »… ich denke, wir können dieser kleinen Scharade ein Ende bereiten.«

Fassungslos starrte ich ihn an. Kleine Scharade? – Hatte er das, was wir an Schrecken und erniedrigender Behandlung in den letzten Stunden über uns hatten ergehen lassen müssen, gerade wirklich so bezeichnet? Uns so zu ängstigen! Was glaubte er denn, wer er war? Nur mühsam gelang es mir, mich zu beherrschen.

»Im Namen von König Osbert, Königin Theodora und den Prinzen begrüße ich Sie hier im Wondringham Castle und danke Ihnen für Ihr Interesse an unserem Auswahlverfahren.«

Erzürnt schüttelte ich den Kopf und schnaubte, was mir einen warnenden Blick von Tionne einbrachte. Dieser Mann wollte nach all dem, was man uns angetan hatte, einfach so weitermachen? Ohne sich wenigstens zu entschuldigen?! Ich atmete tief durch und presste die Lippen zusammen.

Das in Ohnmacht gefallene Mädchen war wieder zu sich gekommen und durfte sich auf einen Hocker setzen – einen normalen Hocker, ohne Stacheln auf der Sitzfläche … Ein Soldat reichte ihr einen Becher Wasser.

»Bei insgesamt mehr als zweihundert jungen Damen, die im ganzen Königreich ausgesucht wurden – und es werden heute im Laufe des Tages noch ein paar dazukommen –, verstehen Sie sicherlich, dass nicht alle Bewerberinnen in das Schloss einziehen können. Daher sahen wir uns gezwungen, diese – zugegebenermaßen ein wenig ungewöhnliche – Vorauswahl zu treffen. Eine zukünftige Prinzessin des Reiches muss jedoch in der Lage sein, in jeder Situation die Haltung zu wahren, und sei sie noch so angsteinflößend.«

Er machte zu einem Wachmann eine auffordernde Handbewegung und bekam zwei Geldbeutel gereicht, die er den beiden Mädchen übergab, die mit uns hierhergekommen waren.

»Für Ihre Unannehmlichkeiten erhalten Sie diese Entschädigung, und natürlich werden Sie in einer königlichen Kutsche nach Hause geleitet.«

Das klang zwar schon viel netter, aber immer noch brannte in meinem Magen der Zorn. Nur mühsam konnte ich eine scharfe Bemerkung unterdrücken.

»Ihre Angehörigen wurden bereits über Ihren Verbleib informiert, als Sie Ihre Heimatstadt verließen. Es ist also allgemein bekannt, wo Sie sich gegenwärtig aufhalten.«

Na, wenigstens das! Aber hatte irgendjemand so klug kombiniert, dass auch mein plötzliches Verschwinden mit der Brautschau zusammenhing, und die Familie Conley und auch meine Geschwister informiert?

Der Bärtige geleitete die beiden Mädchen aus dem Raum hinaus.

»Warten Sie, Sir! Ich nehme auch lieber das Geld!«, rief ich ihnen hinterher.

Er sah sich schmunzelnd zu mir um, als hätte ich einen guten Witz gemacht, und ging einfach weiter.

»Ich meine das ernst!«, erklärte ich den Soldaten, aber niemand beachtete mich. Das schien zur Gewohnheit zu werden.

Stattdessen führten zwei der Wachen Tionne und mich eilig zu einem Waschraum, der ein Stockwerk höher lag. Wahrscheinlich wurden schon die nächsten Bewerberinnen in die »Folterkammer« geschleppt.

Im Waschraum sah es schon viel einladender aus. Durch ein großes Sprossenfenster fiel Tageslicht herein. Es gab eine Brunnenschale, in die Wasser floss, und sogar einen riesigen Spiegel, in dem man sich von Kopf bis Fuß betrachten konnte.

Ich warf einen Blick auf meine Aufmachung und seufzte. Mein ohnehin nicht vorzeigefähiger Mantel war zerknittert und beschmutzt. Auf dem Rock prangte ein Schuhabdruck.

Aus der Anzahl der Mädchen, die nach und nach mit ebenfalls leicht verwirrtem Gesichtsausdruck den Waschraum betraten, konnte ich schließen, dass es mehrere Gefängniszellen geben musste.

Viele kicherten, und es war mir nicht ganz klar, ob es Vorfreude oder Erleichterung war. In meinen Ohren klang es ein wenig hysterisch. Ich jedenfalls fühlte mich tief erschöpft, da ich die ganze Nacht über kein Auge zugetan hatte.

»Was denkst du, wie es jetzt weitergeht?«, fragte Tionne, nachdem wir unseren Durst gestillt hatten.

»Bestimmt folgt bald eine weitere bösartige Prüfung.«

Ich half Tionne, ihren Hut zu richten. Das Gedränge und Getuschel im Waschraum nahm zu.

»Vielleicht ein kleines Wettrennen im Park?«, witzelte ich, wobei mir eher zum Schreien zumute war. »Wer als Erste bei den Prinzen ist?«

»Hör auf damit, Mayrin! Du machst mir Angst!« Tionne lachte und zupfte an einer Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte. »Komm, ich helfe dir mit deiner Frisur.«

»Nicht nötig«, bedankte ich mich. Wenn ich so schnell wie möglich zu meinen Geschwistern zurückkommen wollte, musste ich den denkbar schlechtesten Eindruck erwecken, damit niemand auf die Idee kommen würde, mich hier behalten zu wollen. »Ich kann ja hoffentlich bald zurück nach Hause. Wenn ich geahnt hätte, dass eine Ohnmacht oder ein wenig Hysterie ausgereicht hätte …«

Doch Tionne ignorierte meine Worte, steckte mir die Haare ordentlich fest und wischte mir Schmutz aus dem Gesicht.

»Fertig«, sagte sie endlich. »Ich möchte mich schließlich für meine beste Freundin nicht schämen müssen!«

Als wir hinaustraten, empfingen uns die Morgensonne und eisige Winterluft. Das Ganze wirkte auf mich wie ein Guss kalten Wassers und brachte mein Gehirn wieder zum Arbeiten. Ein Blick zurück zeigte, dass wir in einem Turm gewesen waren, der zu einem imposanten Schloss gehörte.

Wondringham Castle. Der Stammsitz der Königsfamilie.

Ehrfürchtig betrachtete ich die mächtigen Mauern und verspürte den leisen Wunsch, einmal in meinem Leben durch dieses Schloss zu spazieren.

Alle Mädchen, die die Kerker- und Folterkammerprüfung erfolgreich überstanden hatten, wurden in den weitläufigen Schlosspark geführt. Die Szenerie war so unwirklich: etwa zwanzig leicht derangiert aussehende Mädchen in ihren stark verschmutzten besten Kleidern, die fröhlich schwatzend die verschneiten Wege entlangspazierten, als wäre nichts gewesen. Hier ein für den Winter stillgelegter Springbrunnen, dort ein lauschiger Pavillon – es hätte alles so schön sein können!

Da wir uns relativ frei bewegen konnten, gingen Tionne und ich an der Mauer des Parks entlang und suchten nach Ausgängen. Doch an jedem Tor waren Wachen postiert. Ich war mir nicht sicher, ob sie uns beschützen oder festhalten sollten. Auch über die Mauer würde ich nicht entkommen können, sie war viel zu hoch. So kehrten wir unverrichteter Dinge zurück und beobachteten, wie die letzten jungen Damen aus dem Gefängnisturm traten.

Dienerinnen – jede von ihnen trug ein besseres Gewand als ich – kamen und reichten uns heißen Würzwein und kleine Brötchen. Ausgehungert und durstig, wie wir waren, langten wir gierig zu. Das Gebäck war frisch, sogar noch warm. Ich genoss das knusprige Gefühl in meinem Mund.

Als ich eine der Dienerinnen ansprach und fragte, an wen ich mich wenden müsse, um nach Hause zu können, sagte sie, dass ein solches Gespräch erst am kommenden Tag möglich wäre, da zunächst einmal die Vorbereitungen zur Brautschau abgeschlossen werden müssten.

Im gleichen Moment erklang eine Fanfare, und der Mann mit dem Federhut trat aus dem Turm heraus und bat um Ruhe. Alle kamen näher und warteten auf das, was er zu verkünden hatte.

»Der Herold!«, flüsterte neben mir ein Mädchen mit wunderhübschen hellblonden Locken ihrer Nachbarin zu.

»Meine Damen, Sie werden nun in Kürze die Ehre haben, der Königin zu begegnen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Dazu stellen Sie sich bitte in einer Reihe am Tor auf. Ich werde Ihnen ein Zeichen geben, wenn Sie vortreten dürfen.«

Ein aufgeregtes Getuschel setzte ein, während sich aus den Mädchen nach und nach eine geordnete Reihe bildete. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, reihte ich mich ebenfalls ein. Schritt für Schritt rückten wir in der Schlange vor. Schließlich waren wir bis in den Vorhof gelangt, und Tionne war an der Reihe. Ich wünschte ihr viel Glück. Hoffentlich würde auch die Königin merken, was für eine wunderbare Frau sie war!

Tionne war die beste und loyalste Freundin, die man sich nur denken konnte. Ich rechnete ihr hoch an, dass sie mich nicht fallen gelassen hatte, seit ich nur noch eine Gouvernante war, sondern mich weiterhin wie ihresgleichen behandelte. Im Gegensatz zu vielen anderen alten Bekannten, die plötzlich auf der Straße die Seite wechselten, wenn sie mich erblickten.

Ich rieb mir die klammen Finger und trat von einem Fuß auf den anderen. Je länger ich von meinen Geschwistern getrennt war, desto unruhiger wurde ich.

Während des Wartens bemerkte ich, dass die Mauer am Vorhof so niedrig war, dass man hinüberklettern könnte. Unauffällig beugte ich mich über die Mauer. Oh! Auf der anderen Seite ging es mehrere Meter in die Tiefe bis zum Schlossgraben.

Ein Wachmann unterbrach meine Erkundungen und geleitete mich in den Innenhof. Staunend sah ich mich um. Filigrane Türmchen, kunstvoll verzierte Balkongitter, große geschwungene Bögen. So prunkvoll hatte ich es mir nicht vorgestellt. Für die Königin hatte man einen prächtig verzierten Stuhl nach draußen getragen und ihn mit Fellen gepolstert, damit sie es bequem hatte.

Sie blickte mir in würdevoller Haltung mit einem freundlichen Lächeln entgegen. Ihre dunklen Haare waren zu feinen Löckchen arrangiert, und sie trug ein großes Diadem. Ich hatte vorher noch nie in meinem Leben solch ein wunderschönes, bestimmt sehr wertvolles Schmuckstück gesehen und war beeindruckt. Neela und Leo würden Augen machen, wenn ich davon erzählen würde!

Als ich schließlich vor Königin Theodora stand, war ich unsicher, wie ich mich verhalten sollte. Zaghaft machte ich einen Knicks.

»Guten Morgen, meine Liebe«, begrüßte sie mich freundlich, »wie ist Ihr Name und woher kommen Sie?«

»Ich bin Mayrin Barnaby aus Talebridge, Eure Majestät«, antwortete ich und überlegte, wie ich der Königin sagen sollte, dass ich sofort nach Hause musste.

»Was ist das Beste in Ihrem Leben?«, unterbrach sie meine Überlegungen.

»Meine Familie«, sagte ich ohne Zögern.

»Und weshalb sind Sie hier?«

Diese Frage überrumpelte mich. Was glaubte sie denn, weshalb sich hier all die Mädchen drängten? (Nun gut – vermutlich alle außer mir.)

»Weil mir keiner zuhören wollte«, antwortete ich wahrheitsgemäß und reckte mein Kinn.

Die Königin wirkte erstaunt. Gerade wollte ich zu einer ausführlicheren Erklärung ansetzen, da deutete sie schon mit der Hand auf eine Tür. »Bitte gehen Sie dort entlang.«

Damit war unser Gespräch beendet, und ein Diener führte mich durch ein Portal in das Schloss.

Einmal mehr hatte mir niemand zugehört.

Zu erschöpft, um Widerstand zu leisten, folgte ich dem Diener durch einen Gang, der mit Wandteppichen und Gemälden geschmückt war, zu einem riesigen Saal, in dem sich bereits einige Mädchen aufhielten.

Fasziniert blickte ich mich um. Große Bogenfenster ließen jede Menge Licht herein, das von unzähligen Spiegeln reflektiert wurde und eine kunstvolle Stuckdecke beschien. Der Parkettboden war so glatt gebohnert, dass man darauf hätte ausrutschen können. Prächtige Kronleuchter und üppige Blumenarrangements rundeten das beeindruckende Bild ab.

Und dann dieser Geruch! Kaum zu beschreiben – ein Duftgemisch von Blumen, Holz, Kerzen und Bohnerwachs … einfach majestätisch.

Ich schluckte eingeschüchtert.

Auch hier standen Wachen – unauffällig, aber präsent –, deren Anwesenheit erneut jeden Fluchtversuch im Keim erstickte.

Erleichtert entdeckte ich Tionne. Mit einem strahlenden Gesicht stürmte sie auf mich zu und umarmte mich.

»Mayrin! Ist es nicht wundervoll hier?«

Schmunzelnd löste ich mich von ihr. »Ist dieser Wahnsinn nun endlich vorbei oder geht es noch weiter?«

Sie zuckte mit den Schultern und zog mich in eine Ecke. »Ich glaube, dass sie es gern spannend machen und es genießen, uns im Unklaren zu lassen!«

»Wie überaus liebenswürdig von ihnen …«, konnte ich mir nicht verkneifen und seufzte. »Hauptsache, ich kann bald wieder zurück nach Talebridge!«

Das Feuer in den Kaminen sorgte für wohlige Wärme, die meine Müdigkeit noch verstärkte. Ich zog meinen Mantel aus und legte ihn mir über den Arm.

»Wann bekommen wir endlich die Prinzen zu sehen?«, fragte Tionne sehnsüchtig. »Ich will wissen, ob sich der ganze Ärger gelohnt hat!«

»Hab ich’s nicht gesagt?«, flüsterte ich ihr hinter vorgehaltener Hand zu. »Sie werden möglichst lange versteckt gehalten, um die Bewerberinnen nicht zu verschrecken. Sie haben Pickel und Mundgeruch!«

Hinter mir ertönte ein ersticktes Husten. Erstaunt wendete ich den Kopf. Einer der Soldaten stand ganz in der Nähe und hielt sich die Hand vor den Mund. Ein dunkelhaariger junger Mann mit harten Gesichtslinien und markanten Wangenknochen. Für einen winzigen Moment traf mich der Blick aus hellwachen Augen.

Ich war mir nicht sicher, ob er meine Bemerkung gehört oder sich nur verschluckt hatte. Stirnrunzelnd musterte ich ihn. Machte er sich etwa über mich lustig? Aber er blickte bereits wieder mit unbewegter Miene geradeaus.

Nun betrat der Herold den Saal. Sofort verstummten die Gespräche, und gespannte Aufmerksamkeit zeigte sich auf den Gesichtern. Auch ich war trotz meiner Erschöpfung neugierig.

»Sehr geehrte Damen, Sie dürfen nun Ihre Zimmer beziehen!«

Für einen kurzen Moment herrschte überraschte Stille, doch dann brachen die anderen elf übrig gebliebenen Mädchen in ein schrilles Jubeln aus, das mich veranlasste, mir verzweifelt die Ohren zuzuhalten.

Um Himmels willen! Hörte dieser Albtraum denn nie auf? Ich konnte mich hier doch nicht einquartieren lassen! Stöhnend befreite ich mich aus Tionnes Griff, die versuchte, mit mir im Kreis zu tanzen.

Bis es dem Herold endlich gelang, wieder Ruhe und Ordnung herzustellen, verging einige Zeit. Dann wurden jeweils sechs Mädchen abgezählt und hinausgeführt. Tionne ließ meine Hand nicht los, und so durften wir zusammenbleiben.

Als ich an dem Wachmann vorbeikam, der das komische Geräusch gemacht hatte, zuckte dessen Mundwinkel.

Man brachte uns im Nordflügel unter – leider dem Teil von Wondringham Castle, der am weitesten vom Schlosstor entfernt lag, wie ich enttäuscht feststellen musste. Gemeinsam mit vier anderen Mädchen führte uns eine junge Frau nach oben.

»Ich bin Fanny, Ihr ganz persönliches Zimmermädchen«, stellte sie sich vor. »Ich werde für Sie während Ihres Aufenthaltes in Wondringham Castle zuständig sein und mich bemühen, Ihnen jeden Wunsch zu erfüllen.« Sie öffnete uns eine Tür.

Unser Zimmer empfing uns mit warmen Creme- und Ockertönen und war genauso schön wie der Teil des Schlosses, den ich bisher gesehen hatte. Vier große Betten mit geschnitztem Kopfteil standen an der Wand aufgereiht. Dazwischen hatte man zwei weitere Matratzen auf den Boden gelegt. Die werden wohl nicht lange benutzt werden, vermutete ich. Sprossenfenster ließen Licht herein, daneben hingen schwere Vorhänge. Es gab einen doppelten Schminktisch mit zwei zierlichen Stühlchen davor und eine gemütliche Sitzecke. Auf dem Tischchen standen eine große Schale mit Obst und eine Wasserkaraffe mit Gläsern bereit.

»Wenigstens sorgen sie für eine behagliche Unterkunft, nach diesem rüden Empfang!«, flüsterte ich Tionne zu.

»Am Ende des Ganges finden Sie die Toilette und den Waschraum, wenn Sie sich frisch machen möchten«, erklärte Fanny. »Ich werde Sie in einer halben Stunde zum Mittagessen abholen.«

»Müssen wir dort so erscheinen?«, fragte eines der anderen Mädchen entsetzt und deutete auf ihr ehemals weißes Kleid, das an der Rückseite eine hässliche graubraune Farbe angenommen hatte.

»Leider ja«, sagte Fanny mit entschuldigendem Gesichtsausdruck. »Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie anschließend die Möglichkeit erhalten werden, sich umzuziehen. Es wird kein Mitglied der königlichen Familie beim Essen anwesend sein – Sie müssen sich also keine Sorge um Ihr Aussehen machen.«

Nachdem sie sich noch unsere Namen notiert hatte, wollte das Zimmermädchen geschäftig weitereilen. Ich hielt sie auf und nutzte die Gelegenheit, um ihr zu erklären, dass ich dringend nach Hause müsse und dass nicht nur wegen der Art und Weise, in der man uns hierher geschafft hatte.

Fanny sah mich mitleidig an und sagte: »Ich bin leider nicht befugt, eine Entscheidung zu fällen. Doch ich verspreche Ihnen, sobald ein wenig Ruhe eingekehrt ist, werde ich mit den Verantwortlichen reden, und wir werden eine schnelle Lösung für Sie finden. Sie sehen ja selbst, wie es hier gerade zugeht!«

»Aber …«, begann ich, doch Fanny eilte bereits nach draußen.

Ich seufzte. Dann musste ich eben selbst eine Lösung finden. Ich hoffte inständig, dass Neela und Leo alleine zurechtkamen, bis ich wieder bei ihnen sein konnte. Aber spätestens morgen früh, wenn üblicherweise mein Unterricht begann, würde es Probleme geben. Wie lange würden die Conleys bereit sein, meine beiden Geschwister durchzufüttern, wenn ich meiner Arbeit nicht nachkam? Die Zeit drängte.

»Das hier nehme ich!«, rief eine wunderhübsche Rotblonde namens Cecilia, die sehr selbstbewusst auf mich wirkte, und ließ sich auf das Bett direkt am Fenster fallen.

»Aber da wollte ich schlafen!«, fauchte die kurvige Rose mit den kastanienbraunen Haaren.

Ich musste schmunzeln. Es ging schon los. So viele Mädchen auf einem Haufen, die alle dasselbe wollten – da war Streit vorauszusehen.

»Ich nehme eine von den Matratzen, da ich quasi nur auf der Durchreise bin«, sagte ich, wurde aber nicht weiter beachtet.

Während die anderen die Schlafstätten untereinander aufteilten, begab ich mich auf die Suche nach dem Waschraum … und einem Ausgang aus diesem vermaledeiten Schloss. Tionne winkte mir kurz zu, während sie das Bett direkt an der Tür in Beschlag nahm.

Auf dem Gang blickte ich mich neugierig um. Auch hier: Stuck, Parkett und goldgerahmte Bilder. Große Fenster öffneten sich zur Galerie über dem Innenhof. Leider waren Wachen an beiden Enden des Flures postiert. Regungslos standen sie in Nischen.

Gemeinsam mit zwei Kandidatinnen aus einem anderen Zimmer erreichte ich den Waschraum. Ich stutzte: Sie mussten Zwillinge sein. Beide hatten dieselben zarten Gesichter und glänzende mittelblonde Haare.

»Oh! Wie schön! Guck dir mal das Brunnenbecken an, Alice! Ist das echtes Gold?«, rief eine von ihnen begeistert. Sie stellte sich mir als »Kathleen« vor.

Ich musste ihnen recht geben. Auch hier war alles sehr luxuriös und großzügig. Zu Hause hatte es so etwas Exotisches wie Wasser, das von ganz allein in eine Schale floss, nicht gegeben. Eigentlich schade, dass ich diesen Luxus nicht lange würde genießen können.

Nachdem ich mich erleichtert hatte, kehrte ich in das Zimmer zurück und legte mich auf die übrig gebliebene Matratze. Tionne hatte mir den Platz direkt neben sich frei gehalten.

Die anderen Mädchen mutmaßten, wie die Prinzen wohl aussahen und sich verhalten würden. Die gemeinsam überstandenen Strapazen hatten bewirkt, dass sich alle gleich untereinander duzten, obwohl dies nicht der Etikette entsprach.

Ich beteiligte mich nicht am Gespräch. Mir waren die Königssöhne herzlich egal, denn ich hatte wirklich andere Sorgen. Vor Erschöpfung nickte ich für einen Moment ein. Doch schon kurze Zeit später kam unser Zimmermädchen, um uns abzuholen.

Sie führte uns durch lange Gänge zu einem Turm. In einem kreisrunden Saal waren sieben Achtertische für uns eingedeckt. Viele der Plätze waren bereits besetzt, und so empfing uns ein Stimmengewirr, als fände ein Fest statt. Die meisten Mädchen trugen saubere Kleider. Das waren wahrscheinlich diejenigen, die schon länger auf dem Schloss weilten.

»Ist es nicht schön hier?«, flüsterte Tionne mir zu, während wir uns zwei freie Stühle suchten, und deutete auf die graublaue Stoffbespannung der Wände und die bemalte Decke.

Ich nickte. Mittlerweile war ich so müde, dass ich nicht mehr in der Lage war, meine Umgebung gebührend zu würdigen. Ich wollte nur noch nach Hause in mein Bett.

Als alle Platz genommen hatten, trugen Diener riesige Platten mit Speisen auf. Jede sicherlich köstlich, aber ich hatte nicht viel Appetit. Tionne unterhielt sich lebhaft mit ihrer anderen Sitznachbarin. Wie durch einen Nebelschleier nahm ich einige Gesprächsbrocken der Mädchen am Tisch wahr.

»Meinst du, dass der Richtige für dich dabei ist?«

»Hast du die Arme mit den dicken Lippen da hinten gesehen? Die hat doch keine Chance!«

»Wonach werden sie wohl bei der Auswahl gehen?«

»Ich hoffe, dass die Prinzen keine Langweiler sind!«

Die Stimmen verschwammen in meinem Kopf zu einem undurchdringlichen Brei. Mühsam würgte ich ein paar Bissen hinunter und konzentrierte mich darauf, dass mein Kopf nicht auf den Teller sank.

Nach dem Essen hatte Fanny noch eine Überraschung parat. Sie brachte uns zurück nach oben, öffnete dann jedoch die Tür zum Raum direkt neben unserem Zimmer. Weil ich als Letzte müde hinter den anderen hergeschlurft war, begriff ich zunächst nicht, weshalb meine Zimmergenossinnen so laut quietschten, seufzten und kicherten.

Dann sah ich es ebenfalls: Es war ein Ankleidezimmer mit einem bodentiefen Spiegel an der Wand, gefüllt mit hübschen Tageskleidern, märchenhaften Ballkleidern, Hüten, Tüchern, Bändern, Schuhen und allem, was man benötigte, um für jeden Anlass passend gekleidet zu sein. Überall Rüschen, Seide, Tüll, Spitze und Volants – ein Traum für jedes Mädchen mit Prinzessinnenambitionen.

Ich gähnte und blinzelte, um meine Augen offen zu halten.

»Jeweils zwei Zimmer teilen sich einen Ankleideraum«, erklärte uns das Zimmermädchen. »Später, wenn sich die Zahl der Teilnehmerinnen weiter verringert hat, werden Sie maßgeschneiderte Kleider erhalten. Bis dahin müssen diese genügen.«

Genügen? Ha! Das hier war überwältigend!

Die Begeisterung der anderen, die bereits aufgeregt in den Regalen und an den Kleiderstangen wühlten, steckte mich an, und ich strich über den Stoff eines grün schillernden Kleides. Er fühlte sich hauchzart an. So ein Kleid hatte ich noch nie gesehen. Schade, dass es für mich keine Gelegenheit geben würde, es zu tragen.