Die Villen vom Ausseerland - Marie-Theres Arnbom - E-Book

Die Villen vom Ausseerland E-Book

Marie-Theres Arnbom

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Beschreibung

Sommerfrische im steirischen Salzkammergut Seit über 150 Jahren lockt das Ausseerland als Jagdgebiet ebenso wie als Kulisse romantischer Affären. Die Liste der prominenten Sommerfrischegäste und Villenbesitzer von Altaussee, Bad Aussee und Grundlsee liest sich wie ein Who is Who von anno dazumal: die Schriftsteller Jakob Wassermann und Hugo von Hofmannsthal, die Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald, der Industrielle Camillo Castiglioni, der Tuchhändler Wilhelm Jungmann und viele andere. Den Glanz von einst überschattet ab 1938 das NS-Regime: Jüdische Bewohnerinnen und Bewohner werden enteignet und verfolgt, während Nationalsozialisten in der "Alpenfestung" Zuflucht suchen und wertvolle Kunstschätze verstecken … Mit viel Feingefühl für menschliche Geschichten und Schicksale entführt Marie-Theres Arnbom auf eine weitere spannende Entdeckungsreise ins Salzkammergut. Mit Karte und zahlreichen Abbildungen aus Privatarchiven

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Marie-Theres Arnbom

Die Villen vom Ausseerland

Wenn Häuser Geschichten erzählen

Mit 143 Abbildungen

Gefördert vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2021 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagmotiv: Alt-Aussee © Austrian Archives/Imagno/picture-desk.com; Fotohalter: © iStock.com

Karte im Vorsatz: © arbeitsgemeinschaft kartographie

Lektorat: Helene Breisach

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH,

Heimstetten

Gesetzt aus der 11/14 pt Minion Pro Regular

ISBN 978-3-99050-199-3

eISBN 978-3-903217-72-0

Inhalt

Making-of …

Gebrauchsanweisung

Bad Aussee

1Die schreibenden Damen Schreiber

Emil-Ertl-Weg 26

2»In Salz- und Ham- und Pittsburg auch, da kennt man Baitz bereits«. Die wunderbare Welt der Lilli Baitz

Lerchenreith 110

3In Litzmannstadt ist man Inländerin. Das Schicksal der Aranka Munk

Marktleite 78

4»Oder hat ›die kleine Munk‹ wiedermal nicht gut aufgepaßt?« Ria Munk

Marktleite 78

5Von Alberti-Irsa nach Bad Aussee. Ein Familienclan

Rentmeistergütl, Obertressen 19

Kramergasse 187

Marktleite 211

Marktleite 196

6Kunstsammler versus Schulgründer. Das Ramgut

Obertressen 18

7Ein kämpferischer Rechtsanwalt. Robert Weishut

Lerchenreith 2

8»… hat seine Zugehörigkeit zur NSDAP nicht missbraucht«. Die Karriere des Eduard Beyerer

Altaussee

9Eine Sommerfrischenliebe. Helene Hammerschlag und Sebastian Isepp

Altaussee 118

10»Ich kann die Fülle meiner Erinnerungen oft nicht ertragen.« Paul und Irene Hellmann

Puchen 60

11Klein-Wien in Australien. Familie Gallia

Puchen 76

12Der Wienerwald in Massachusetts. Familie Drach

Lichtersberg 61, 71, 72 (heute nicht mehr erhalten)

13Die Ballerina der Berge. Paul Preuß

Puchen 53

14Von Altaussee nach Pine Bluff. Der weite Weg der Familie Geiringer

Altaussee 31

15Der Tuchhändler und seine Kundinnen. Wilhelm Jungmann

Altaussee 63

16Es werde Licht! Glühlampen und die blaue Büchse

Fischerndorf 52

17Aus Paris nach Altaussee. Cécile Meyerbeers Familie

Fischerndorf 48

18»… als wären wir in Grönland«. Der Schriftsteller Jakob Wassermann

Fischerndorf 48

19Ein olympischer Fechter. Ernst Königsgarten

Fischerndorf 59

Grundlsee

20»Gott behüt’ uns vor Regen und Wind, und vor Gesellen, die langweilig sind.« Ludwig und Zerline Gabillon

Bräuhof 33

21»Heute noch schlafe ich im Bett des großen Burgmimen Ludwig Gabillon.« Elisabeth Neumann und Edith Kramer

Bräuhof 33

22»Volkskunst von der Mur für den Broadway«. Familie Mautner

Archkogl 14, Gößl 134

23Graphic Designer der 1920er-Jahre. Viktor Hammer

Archkogl 62

24»Genia loci«. Eugenie Schwarzwald

Archkogl 31

25Die Frau in der zweiten Reihe. Marie Stiasny

Archkogl 31

26Aufstieg und Fall. Iphigenie und Camillo Castiglioni

Archkogl 38

Anmerkungen

Literatur und Quellen

Bildnachweis

Namenregister

Making-of …

Über das Ausseerland zu schreiben, bedeutet, in drei unterschiedliche Welten einzutauchen, denn jeder der so nahe beieinander liegenden Orte und Regionen ist geprägt von einem ganz eigenen Charakter – und das schon seit Beginn der Sommerfrische im frühen 19. Jahrhundert. Aussee, das 1911 den Zusatz »Bad« erhält, wächst mit dem zunehmenden Kurbetrieb, der sich langsam mit dem Sommerfrischeleben vermischt. Der Ort möchte mondän sein, das weiß die Badezeitung schon 1877: »In jedem Badeort gibt es zweierlei Fremde. Erstens solche, welche überallhin den Jammer der Stadt mit sich schleppen und nirgends die gewohnten Genüsse und Zerstreuungen des Stadtlebens entbehren können – und diese sind in der Mehrzahl. Zweitens solche, welche lediglich in vergnügter Einsamkeit, in den stillen Reizen der Natur Erfrischung von Körper und Geist suchen.«1

Altaussee stilisiert sich als Dorf der Künstler und der Aristokratie: »Romantisch und aristokratisch schmiegt sich das viel kleinere und bahnentlegenere, also schon darum um ein paar Grad noblere Altaussee unter die berühmte Felsnase des Loser«,2 analysiert der Schriftsteller Carl Marilaun im Jahr 1929. Von hier aus begeben sich schon früh aristokratische Familien auf die Jagd und errichten Jagdhäuser, die bis heute den Ort prägen.

Vom Grundlsee zeichnet wiederum der Schriftsteller Rudolph Lothar ein ganz anderes Bild: »Es ist eine Sommerfrische ohne Korso, ohne Kurmusik, ohne Jazz, ohne mondäne Konditorei, und in jedem dieser ›ohne‹ liegt eines seiner Reize. Es ist, was es immer war: ein Sommeraufenthalt für Eingeweihte. Und aus diesen Eingeweihten werden im Laufe der Zeit eingefleischte Fanatiker.«3 An diesem Ort liegt auch der Ursprung der bis heute wohlbekannten Liebesgeschichte zwischen Erzherzog Johann und Anna Plochl.

Diesen drei Charakteren gilt es, gerecht zu werden, unbekannte Episoden zu erzählen, Menschen der Vergessenheit zu entreißen. Dies bedeutet aber auch: Mut zur Lücke. Denn es gibt immer noch mehr Familien, Schicksale, Ereignisse, die berichtenswert sind. Der Platz in diesem Buch ist beschränkt, und so habe ich mich entschieden, über all diejenigen zu schreiben, die in der kollektiven Erinnerung kaum mehr präsent sind. Manche standen in den vergangenen Jahren im Fokus diverser Publikationen, Artikel oder Symposien. Individuelle Erzählstränge tradieren Erinnerungen – doch nicht in einem größeren Rahmen, einem komplexeren Kontext. Denn auch im Ausseerland gilt: Eine Familie zieht die nächste nach, Familienclans verbringen hier die Sommermonate und prägen die Gesellschaft. Doch auch beruflich verbundene Gruppen verbringen hier gemeinsam den Sommer: Seien es der fröhliche Kreis um das Ensemble des alten Wiener Burgtheaters, die Schülerinnen und kunstaffinen Freunde der charismatischen Eugenie Schwarzwald oder die linksgerichteten Psychoanalytiker um Elisabeth Neumann. Alle finden Platz, Anregung und Inspiration, Ruhe oder Amüsement – einen idealen Nährboden für Künstler und innovative Geister aller Art.

Jedes Buch entwickelt eine gewisse Eigendynamik und bestimmt die Reise mit. Das Ausseerland ist geprägt von starken Frauen: frühe Frauenrechtlerinnen und Schriftstellerinnen, Studentinnen und Schauspielerinnen, Salondamen und Reformpädagoginnen. Sie alle zeigen eines: Sommerfrische ist weiblich. Frauen und Kinder verbringen viele Monate auf dem Land, die Herren pendeln zu ihren Büros, Produktionsstätten, Fabriken und beteiligen sich nur am Rande am Alltagsleben.

Ab 1938 weht ein anderer Wind – die Sommergäste verschwinden, werden enteignet, verfolgt, vertrieben. Gerade das Ausseerland wird zum beliebten Zufluchtsort vieler Nazi-Bonzen, die sich in der sogenannten »Alpen-Festung« vermeintlich sicher fühlen. Über sie wurde schon vieles geschrieben, ich streife sie daher nur am Rande. Auch über all die Ereignisse rund um die versteckten Kunstschätze in den Stollen existieren profunde Bücher – ich widme mich lieber den Menschen.

Unzählige Villen werden 1938 beschlagnahmt und dann weiterverkauft – die Umstände erweisen sich einmal mehr als schrecklich, Häuser verfallen, weil keine Entscheidung getroffen wird, niemand sich zuständig fühlt. Ein Mann in Bad Aussee tritt als Treuhänder von zumindest 20 Villen zutage: Eduard Beyerer. Er administriert den Raub, an dem verschiedene Behörden mitschneiden. Und auch so mancher Bonze.

Die Lage nach 1945 ist chaotisch, Amerikaner beschlagnahmen Villen, eine Bibliothek verschwindet fast gänzlich, das Ausseerland kommt von Oberösterreich zurück an die Steiermark – so viele Behörden, Bund, Länder und Gemeinden weisen sich gegenseitig die Zuständigkeiten zu, führen Briefwechsel, die sich in die Länge ziehen. Und die einstmaligen Eigentümer versuchen, diesen bürokratischen Dschungel zu durchdringen. Vergleiche werden geschlossen, Villen billig verkauft. Und doch: Gerade zu dieser Landschaft bleiben die emotionalen Bindungen stark, und so manch einer kehrt zurück und verbringt den Lebensabend im Ausseerland.

Ein Buch, entstanden in schwierigen Zeiten – doch dank vieler Unterstützer konnte ich auf die notwendigen Quellen zurückgreifen, die meine Forschungen erst ermöglichen. Meine beiden dislozierten Archivhelden heißen Peter – und das ist ein gutes Zeichen, denn mein Großvater und mein Neffe heißen ebenso. Daher sei mir dieser nicht sehr sachliche, sondern emotionale Zugang verziehen: Peter Zauner vom Oberösterreichischen und Peter Wiesflecker vom Steirischen Landesarchiv haben sich als Kooperationspartner, Unterstützer und Freunde erwiesen in Zeiten von Schließungen, Beschränkungen, Problemen. Danke!

Und auch im Staatsarchiv habe ich einen Freund und Verbündeten: Hubert Steiner. Mit Verve, Begeisterung und freundschaftlicher Unterstützung hat auch er dazu beigetragen, dass ich die für dieses Buch notwendigen Akten einsehen und verwenden konnte.

Auch mein Mann Georg Gaugusch zählt zu den großen Unterstützern, er hat weitere relevante Quellen aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv erschlossen und ich kann dank seiner großartigen Recherche immer auf die Grundlagenforschung zurückgreifen. Nichts geht über Zusammenarbeit, für die ich zutiefst dankbar bin.

Als Basis bot mir Leo Walkners Dissertation Jüdisches Leben im steirischen Salzkammergut aus dem Jahr 2017 viele Hinweise, denen ich gerne nachgegangen und so auf neue Spuren gekommen bin. Seine Informationen, kombiniert mit weiteren Aktenbeständen aus Archiven und Familien, sind in dieses Buch eingeflossen.

Und nun zu meinen Unterstützern und »Antreibern«: Francisco Rumpf animiert mich seit Jahren, dieses Buch zu schreiben – nun hat sich seine stetige Beharrlichkeit bezahlt gemacht.

Ich danke den Nachkommen der Familien nah und fern, die mir in Mails, Gesprächen, nun modern gewordenen Zoom-Gesprächen Einblicke in die Familiengeschichten gewährt haben. Ich durfte private Filme ansehen, Fotos betrachten, Briefe lesen und dies alles der Vergessenheit entreißen. Es ist immer eine Freude, interessante und freundliche Menschen kennenzulernen. Dazu zählen Elizabeth Baum-Breuer, Alexander Demblin, Michael Garton, Andrew Grainger, Roswitha Huppmann, Jimmy Petterson, Joe und Marlo Poras, Tom und John Schueller, Anna Wexberg und Veronika Zalozieczky.

Viele Freunde haben mir in verschiedener Art und Weise geholfen: Mit Kontakten, Büchern, Erzählungen, Informationen, Bildern und Zuspruch – ich danke für das stetige Interesse und die große Unterstützung: Gérard Barbier, Erwin Barta, Johanna von der Deken, Ernst Denk, Raphael Einetter, Felicitas Eltz, Marianne Goertz, Marlis Jenny, Ursula Kals-Friese, Monika Kiegler-Griensteidl, Eva Koschuh, Barbara Motter, Marcus Patka, Franz Pichorner, Robert Streibel, Elisabeth Triulzi und Adelheid Wölfe.

Meine bewährten Korrekturleserinnen haben Tippfehler aufgespürt, inhaltliche Ungereimtheiten aufgezeigt und mit Interesse das Entstehen des Buches verfolgt: Mein Dank gilt Christiane Arnbom, Elisabeth Kühnelt-Leddihn und Johanna Ecker.

Die Zusammenarbeit mit den Damen des Amalthea Verlages erweist sich einmal mehr als unkompliziert, professionell und wertschätzend – danke!

Dies gilt auch für das bewährte Lektorat von Helene Breisach – sie legt den Finger auf sprachliche Wunden, findet Ungereimtheiten und lässt niemals locker – dafür gebührt ihr großer Dank!

Marie-Theres Arnbom

25. Mai 2021

Gebrauchsanweisung

Wie schon in den vergangenen Bänden dieser Reihe über die Villen habe ich versucht, Entdeckungstouren zusammenzustellen, doch erweist sich dies aufgrund der geografischen Gegebenheiten als schwierig. Die Runde in Altaussee dauert zu Fuß eine gute Stunde – ein gemütlicher Spaziergang durch den Ort führt an den beschriebenen Villen vorbei. (9–19* und zurück zu 9; 12 liegt außerhalb des Rundwegs: Die Villa existiert nicht mehr, der einstige Standort am Hang ist vom Rundweg aus zu sehen.)

In Bad Aussee ist es etwas umständlicher – auch hier lädt ein Rundweg (1–7) zum Entdecken ein. Zwei der beschriebenen Villen (5, 6) liegen jedoch ein wenig abseits – nehmen Sie doch das Fahrrad oder das Auto oder planen Sie einen längeren Marsch ein.

Rund um den Grundlsee (20–26; 22 in Gößl ist separat zu besuchen) nehmen Sportliche das Fahrrad – wie schon Theodor Herzl, Arthur Schnitzler und viele andere Sommerfrischler – und erkunden den See langsam und gemächlich. Das Auto steht als letzte Option natürlich auch zur Verfügung …

Natürlich muss man aber nicht physisch anwesend sein, denn die Schicksale der beschriebenen Menschen beziehen sich zwar alle auf das Ausseerland, gehen aber weit darüber hinaus und führen nach Wien und Berlin wie nach Sydney und New York.

Jedenfalls möchte dieses Buch dazu anregen, in die so spezielle Atmosphäre dieser Orte einzutauchen, die all diese Menschen in besonderem Maße anzog und verzauberte und ihnen viele unvergessliche Jahre beschert hat, in guten wie in schlechten Zeiten.

*Die Ziffern beziehen sich auf die jeweiligen Buchkapitel und entsprechen gleichzeitig der Positionierung der Villen auf der Karte im Buchdeckel.

Bad Aussee

1 Die schreibenden Damen Schreiber

Emil-Ertl-Weg 26

Der Aufstieg Bad Aussees zu einem angesehenen Kurort beginnt mit einer Ehe: Der aufstrebende junge Arzt Josef Schreiber plant die Gründung eines Sanatoriums, doch fehlen ihm die finanziellen Mittel. 1867 heiratet er Clara Hermann – mit ihrer Mitgift können sie seine Idee gemeinsam umsetzen. »In dem abgelegenen Marktflecken Aussee im steirischen Salzkammergut, stundenweise entfernt von jeder Eisenbahn, gründete Dr. Joseph Schreiber mit seiner jungen Frau ein Sanatorium für Lungenkranke, aber auch für sonstige Heilung Suchende. Die ›Schwindsüchtigen‹ – wie man sie nannte – sollten in staubfreier, waldreicher Gebirgsgegend, in Sonne und Licht, unter Zuhilfenahme milder Kaltwasserkuren Genesung finden.«4 Auch in einer zweiten Disziplin erweist sich Josef als Pionier, wie seine Tochter Adele in ihren Erinnerungen festhält: »In ähnlicher Weise hat später mein Vater, als Bahnbrecher für Massage und Heilgymnastik, in einem zähen Kampf für Winterkuren im Gebirge, künftige Entwicklungen vorausgesehen.«5

Josef Schreibers Karriere ist bis zu diesem Zeitpunkt eher ungewöhnlich verlaufen: Nach dem Studium in Wien arbeitet er eine Zeit lang in London und begibt sich danach als ärztlicher Begleiter eines jungen Kranken auf eine Reise nach Italien, Südfrankreich und die Schweiz6 – klingt wie in einem Roman und ist doch Wirklichkeit. Seine Erfahrungen mit Heilungschancen durch klimatische Gegebenheiten führen 1869 zur Eröffnung seines ersten Sanatoriums »Elisabethheim« im Ausseer Ortsteil Praunfalk.

Von Anfang an ist klar, dass Josef und Clara Schreiber es gemeinsam führen. Josefs Karriere als Klimatologe geht steil bergauf, Vorträge und Publikationen verbessern seinen Ruf. Doch auch Clara bleibt nicht untätig: Sie engagiert sich für Frauenrechte und schreibt darüber Artikel und Bücher, sie hält Vorträge und führt einen Salon. Doch woher kommt dieses vielfältige Talent? Wohl von ihrer Mutter, Amalie Drach. Sie stammt aus dem ungarischen Hausbrunn und ist die Tante Moritz Drachs, der ebenfalls in Altaussee ansässig ist (Kapitel 12). Amalies erster Mann Aron Hermann stirbt, als Tochter Clara zehn Monate alt ist, die junge Witwe steht plötzlich allein da. Ihre zweite Ehe mit Moritz Spitzer führt Amalie nach Brünn, sie bekommt zwei weitere Kinder, Leopold und Emma. Ihre Töchter erzieht sie schon früh zu eigenständigem Denken, zur Selbständigkeit.

Josef und Clara Schreiber

Clara, geboren im Revolutionsjahr 1848, beobachtet ihre Umwelt aufmerksam und bringt ihre Erkenntnisse zu Papier. Im Jahr 1866 beginnt die 18-Jährige, wegen des drohenden Krieges gegen Preußen Tagebuch zu schreiben und gibt Einblick in das Alltagsleben. »Dann kam – Königgrätz!«, beschreibt sie diese traumatische Schlacht, die sich 140 Kilometer nördlich von Brünn abspielt. »Ich glaube kaum, daß jemand, der nicht in der nächsten Nähe eines Kriegsschauplatzes gelebt hat, den Schmerz und die Niedergeschlagenheit, welche diese Nachricht hervorrief, zu erfassen vermag.«7 Brünn wird zu einem einzigen großen Lazarett.

»Brünn ist Fabriksstadt. Das Gespenst der Arbeiterempörung schritt durch die Straßen. Die meisten der bekannten Familien entflohen. Mein Vater wünschte dringend, dass auch wir Brünn verlassen sollten, er selbst aber konnte nicht fort und wir wollten nicht ohne seine Begleitung reisen. Wohin sollten wir auch? Meine Eltern bewohnten ihr eigenes Haus. Es lag in der inneren Stadt. Die Straße hieß damals Alte Fröhlichergasse, jetzt Rudolfsstraße. Das Haus war klein. Wir bewohnten den ersten und einen kleinen Teil des zweiten Stockes. Als erste Einquartierung waren uns vierzig Mann, zwei Offiziere, ein Unteroffizier und ein Pferd angesagt. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, daß die preußischen Offiziere sofort um Zutritt zur Bibliothek bitten ließen. Wir haben keinen preußischen Offizier im Haus gehabt, der nicht um Bücher gebeten hätte. Es interessierte mich zu sehen, was die Herren wählten; sie griffen nach Walter Scott, nach Kant, nach Memoiren, von denen wir eine größere Anzahl besaßen.« Doch dann folgt die Cholera und setzt zu einem Rundumschlag an – die junge Clara hält alles penibel in ihrem Tagebuch fest, am Ende ihres Lebens plant sie, ihre Erinnerungen zu publizieren, doch ereilt sie zu früh der Tod: Die Fragmente erscheinen in der Neuen Freien Presse am 9. Juli 1906.

Clara gilt als große Salonière: Viele prominente Patienten kommen nach Aussee, um hier ihre Beschwerden auszukurieren, und Clara sorgt für die notwendige Zerstreuung und für intellektuelle Anregungen. Mit aller Konsequenz korrespondiert sie mit Schriftstellern, führt Gespräche in Aussee und erschafft abseits der Großstädte einen intellektuell anregenden Kreis, der sich auch in Wien sehen lassen könnte. »Meine Mutter war ein Menschenmagnet und zog wertvolle Menschen, die ihren Rat und ihre Freundschaft suchten, an«, schreibt Adele später.8

In dieser Atmosphäre wachsen ihre drei Töchter Ida, Adele und Lilli auf – und doch unterscheidet sich ihr Leben stark von dem der Mädchen in Wien: Es gibt wenig sozialen Umgang mit Gleichaltrigen. Begegnungen wie mit dem wohlwollenden Theodor Herzl bleiben in Erinnerung: »Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, diskutierte mit den reiferen Leuten und spielte mit uns Mädels Tennis.«9 Doch all das, was ein großstädtisches Leben ausmacht, bleibt den Mädchen verwehrt: Theater und Oper, Hausbälle und gemeinsames Eislaufen mit Freunden und Freundinnen, Cousins und Cousinen. So lernt man einander in der Stadt kennen und findet wohl auch meistens den Ehepartner. Doch der soziale Umgang in Kurstädten, seien sie auch noch so mondän, ermöglicht dies den Mädchen kaum, nur in den Sommermonaten ist die eine oder andere Cousine zu Gast. Eine von ihnen, Helene Klepetar, erinnert sich 1930 an die Sommer, die sie von 1895 bis 1900 in Aussee verbracht hat: »Der Jugend wurde in Alpenheim ihr volles Recht. Wir turnten, schwammen, ruderten und kraxelten.«10

Villa Schreiber, um 1885

Die Mädchen entwickeln eigene Gedanken und Wünsche, die sie auch durchsetzen: »Als meine jüngere Schwester und ich zu jungen Mädchen heranwuchsen und nach vielem Bitten die Erlaubnis erhielten, Radfahren zu lernen, schlugen Verwandte und Bekannte die Hände über dem Kopf zusammen – es war ja höchst unschicklich, unweiblich, und solche emancipierten Mädchen würden nie einen Mann bekommen«11, beschreibt Adele sich selbst und Lilli.

Clara verfolgt eine sehr moderne, fast revolutionäre Strategie: Sie erzieht ihre Töchter in der Überzeugung, dass auch Frauen ihrer Gesellschaftsschicht arbeiten sollten – mit oder ohne Ehe. Mädchen sollten sich selbst versorgen können, selbst bestimmen, selbst entscheiden. Für die 1870er- und 1880er-Jahre eine erstaunliche Einstellung, die Clara nicht nur zu Hause propagiert, sondern auch in Zeitungsartikeln und Büchern publiziert.

Nach einem längeren Aufenthalt in Paris Anfang der 1880er-Jahre erscheint 1884 ihr Buch Eine Wienerin in Paris, eine Art Reiseführer oder vielmehr eine Gebrauchsanleitung, wie man in diesen Jahren eine Metropole wie Paris zu bereisen hat. Das Vorwort verfasst der Journalist Ferdinand Groß in überaus humorvoller Art und Weise und gibt zu bedenken, dass »ich, die Feder in der Hand, trotz allen Bestrebens mehr an das schöne, tugendreiche Aussee denke als an mein schönes, sündhaftes Paris – an Ihr Aussee, die Perle des Salzkammergutes. Sie können leichten Herzens ein Buch über Paris schreiben, denn nachdem Sie es gründlichst kennengelernt haben, widmen Sie sich nun den Freuden der Erinnerung in Ihrem wunderschönen ›Alpenheim‹, und Sie gedenken der Place de la Concorde, der Champs-Élysées und des Bois de Boulogne, indessen Ihre Blicke den Röthelstein streifen und den Sarstein und den Loser und die Trisselwand und die Kuppen des Dachsteins.«

In all dieser Verklärtheit versteht Ferdinand Groß Claras Beweggründe sehr gut: »Ihr Buch – erröthen Sie nicht! – hat nur eine Frau schreiben können, und zwar eine Frau, die nicht eine Ader vom Blaustrumpf hat, eine Frau, die mit gesunder Vernunft das Leben und die Menschen betrachtet, sich durch Phrasen nicht blenden läßt, den Dingen auf den Kern geht und doch mit ihren Mitschwestern so viel angeborene Fühlung behalten hat, daß sie nur von Dingen erzählt, welche diese interessieren. Es ist ein Buch von einer Frau für Frauen. Was so vielen Fremden entgeht, das haben Sie sicher erfaßt: den innersten Charakter der französischen Gesellschaft. Durch Ihre Schilderung geht ein frischer Lufthauch, der eine Menge alter Vorurtheile hinwegbläst.«

Dieser Lufthauch entpuppt sich eher als Sturm, der durch die Gesellschaft weht: »Umarmen möchte ich Sie – als altem Ehemann dürften Sie mir das wohl gestatten! – für Ihre Objectivität in der Betrachtung der französischen Kindererziehung. Es gehört Muth dazu, wenn Sie mit Hinblick auf unsere Verhältnisse es öffentlich aussprechen: ›Wie viele Frauen vergeuden ihre Zeit am Putztische, in leeren Kaffeegesellschaften, im Tratsch mit der Base und der Nachbarin, kümmern sich weit weniger um ihre Kinder als die Pariser Geschäftsfrau, welche deren Erziehung bewährten Händen anvertraut und sie regelt, welche die besten Jahre ihres Lebens daran setzt, um für ihre Kinder ein Vermögen zu erwerben.‹«12

Clara widmet das Buch ihrer Mutter Amalie. Das sagt viel aus, denn viele Kapitel widmen sich dem Kampf für die Frauenrechte, der Kindererziehung, herausragenden Journalistinnen und Salonièren – also starken Frauen, denen früh ihre Benachteiligung als Frau klar geworden ist und die sich auf verschiedene Art und Weise für eine Gleichstellung eingesetzt haben. Interessanterweise finden sich viele Formulierungen und Gedanken in den Publikationen von Claras Tochter Adele wieder – zu Hause wird wohl viel darüber diskutiert, auch wenn sich Adele in späteren Jahren von der Mutter distanziert. Die Bildungsmöglichkeiten verändern sich rasant: Jede dieser Frauen widmet sich im Kontext ihrer Generation diesem Thema, mit Verve und Kampfesgeist.

1892 erscheint Eva. Naturalistische Studien einer Naturalistin. Clara Schreiber setzt sich in diesem Buch einmal mehr dafür ein, dass »auch die Frauen der besseren Gesellschaft, der höheren Stände sich activ am Erwerbe der Familie betheiligen«, wie der Rezensent der Neuen Freien Presse berichtet. »Für diese also heißt es Platz schaffen und Arbeit finden. Nicht um der Ehe zu entrathen, sollen unsere Töchter erwerbsfähig gemacht werden; die Erwerbsfähigkeit derselben soll die Ehe erleichtern, die Lebensverhältnisse verbessern«, zitiert die Zeitung die Autorin, um dies gleich infrage zu stellen, denn wie könne eine erwerbstätige Frau den Haushalt leiten? Die Vernachlässigung der häuslichen Pflichten »wird bei Frauen der Fall sein, welche das geistige Mittelmaß überragen, bei Anderen schwerlich. Der normale Zustand eines Haushalts ist der, daß der Mann erwirbt, die Frau erhält.« Dass der Mann oftmals auf Basis der Mitgift seiner Frau »erwirbt«, bleibt unerwähnt. »Man legt das Buch mit der Überzeugung aus der Hand, daß sich ihre meisten Wünsche verwirklichen ließen, wenn die Mehrzahl der Frauen, so viel Verstand und Thatkraft besäße, wie die Verfasserin selbst.«13

Die 14-jährige Lilli Schreiber, 1888

Tatsächlich gibt Clara in diesem Buch viel von sich preis: Das Kapitel »Mutter und Tochter« beschreibt die Sorge der Mütter, ihren Töchtern in einem geeigneten Umfeld die bestmögliche Ausbildung angedeihen zu lassen. Clara kommt zu dem Schluss, dass sie diese am ehesten in einem Pensionat erhalten können.

Ihre eigenen Töchter werden tatsächlich in Pensionaten erzogen – wir befinden uns in den 1870er- und 1880er-Jahren, in denen es kaum andere Möglichkeiten für Mädchenbildung gibt. Vor allem in Frankreich und Deutschland existieren in diesen Jahren zahlreiche fortschrittliche und moderne Institute. Lilli und Adele besuchen ein Pensionat in Paris, endlich erfahren sie einen systematischen Unterricht, nach dem sie sich so sehnen. Lilli wendet sich der Kunst zu, besucht eine Kunstschule in Florenz, eine weitere in München und studiert an der Kunstgewerbeschule in Wien – eine der wenigen Möglichkeiten, die Mädchen offenstehen. Was meint Lillis Mutter Clara dazu? Sie nimmt den Staat in die Pflicht: »Die Hauptaufgabe des Staates wäre es, durch ein großmütiges Wort die morschen Schranken einzureißen, welche Vorurteile und verrottete Ansichten der Frauenarbeit entgegenbringen.«14

Was für ein Kämpferin! Auch die Festlegung auf »typisch« weibliche Berufe wie Lehrerin, Erzieherin oder Krankenpflegerin kritisiert Clara scharf: »Noch immer ertönt das Feldgeschrei: die Frau soll nicht Arzt, sondern Krankenwärterin, Diakonissin werden. Merkwürdig!«15 Und sie verweist auf Amerika, wo bereits 3000 Ärztinnen ihre Arbeit tun. »Es ist geradezu unbegreiflich, daß vornehme, männliche Geister noch heute vom Katheder herab gegen das ärztliche Studium der Frauen sprechen und alle möglichen und unmöglichen Gründe dagegen anführen.«16

Denn es gibt ja zahllose berufstätige Frauen in anderen Gesellschaftsschichten – und so wird klar, dass sich Clara in erster Linie gegen ihre eigene wendet, in der weibliche Erwerbstätigkeit verpönt bleibt. »Wollte man doch endlich aufhören, die Frau zu bemitleiden, wenn sie sich bemüht zu erwerben, wollte man doch aufhören, sie aus Humanität zur Entbehrung selbst zum Hunger zu verurteilen.«17 Claras innige Verbundenheit mit ihrem Mann bringt sie in ihrer Widmung zum Ausdruck: »Nach 25 Jahren gemeinsamer Arbeit widmet dieses Buch ihrem Gatten die Verfasserin.«18

Clara setzt sich früh für die Berufstätigkeit der Frauen ein und geht als gutes Beispiel voran. Darüber hinaus verhilft sie anderen Frauen ebenfalls zu einem Lebensunterhalt. 1880 gründen Josef und Clara Schreiber gemeinsam mit Johann Chlumetzky den Ausseer Hausindustrie-Verein. Dieser verfolgt ein hehres Ziel: Die Armut im Ausseer Tal soll gelindert werden durch Arbeitsmöglichkeiten während des Winters. Der Hintergrund dafür ist aber auch ein ganz anderer: Da die Menschen im Sommer genug für das ganze Jahr verdienen müssen, klagen die Sommergäste »über Teuerung und Ausbeutung der das Thal besuchenden Fremden. So ist das Salzkammergut in argen Verruf gekommen.«19

Welche Maßnahmen ergreift nun der Verein? Alte Hausindustrien erfahren Modernisierung, zusätzlich entstehen neue, wie eine Korbflechtschule und ein »Fachzeichenkurs für Gehilfen und Lehrlinge der Baugewerbe«20, der 1890 von immerhin 107 Schülern besucht wird. Für die weibliche Bevölkerung wird die bereits bestehende »Buntstickerei auf Leinen« vervollkommnet – 102 Arbeiterinnen finden hier Beschäftigung, ihre Tischtücher, Servietten und andere Textilien werden im Sommer im Kurhaus ausgestellt und von den Sommergästen erworben oder vorbestellt. Diese Hilfe zur Selbsthilfe passt ganz in Claras Konzept.

1873 verkauft Josef Schreiber sein Sanatorium und kann aufgrund einer 10-jährigen Tätigkeitssperre – einer Art Konkurrenzklausel – erst 1883 wieder in Aussee ein eigenes Haus führen: das Alpenheim, jährlich geöffnet von 20. Mai bis 1. Oktober. Den Grund dafür erwirbt Josef gemeinsam mit dem Cousin seiner Frau Clara, Moritz Drach, dessen Familie Altaussee ebenfalls verbunden bleibt (siehe Kapitel 12).

Dr. Schreibers Cur- und Wasserheilanstalt »Alpenheim« in Aussee. Illustrirte Fremden-Zeitung, 20. Mai 1901

In den Jahren bis 1883 baut Josef ein zweites Sanatorium für die Wintermonate in Meran auf, um nun mit dem Sanatorium Alpenheim in Aussee wieder durchzustarten. Medizinische und intellektuelle Betreuung gehen Hand in Hand, in der Zwischenzeit hat sich die Anzahl der Sommergäste erhöht. Claras Aktivitäten erweitern sich einmal mehr auf die soziale Ebene, Jahr für Jahr veranstaltet sie Wohltätigkeitsakademien und Jahrmärkte, an denen die Gäste des Alpenheims ebenso mitwirken wie die Sommergäste des Ortes. Schuhe und Kleidung werden an die ansässigen Kinder verteilt. Eine Akademie im Sommer 1893 bringt 400 Gulden an Einnahmen und darüber hinaus ein ambitioniertes künstlerisches Programm: Das Schauspieler-Ehepaar Joseph Lewinsky und Olga Precheisen lesen Grillparzers Esther, die Sängerin Antonie Löwy-Hartmann singt Schumann und Grieg. Ihr Mann Siegfried Löwy zählt zu den treuen Chronisten der Theaterszene rund um Ludwig und Zerline Gabillon in Grundlsee (siehe Kapitel 20). Auch ein anderer Sommergast wirkt mit: Der Berliner Musikwissenschafter Dr. Max Friedländer trägt Balladen vor, seine Frau, die Schauspielerin Alice Politzer (siehe Kapitel 5), spielt Klavier. »Eine eigenartige Überraschung bereitete dem Publicum der Wiener Vertheidiger Herr Dr. Heinrich Steger, welcher sich als Pianist von großer Bravour entpuppte.«21

Doch neben all diesen wohltätigen Aktivitäten vergisst Clara nicht ihr eigentliches Interesse und Anliegen. So hält sie in Meran einen Vortrag zur Erwerbstätigkeit der Frau: »Über dieses moderne Thema hielt am letzten Mittwoch abends im großen Kurhaussaale vor einem weniger interessierten als neugierigen Auditorium die Doktorsfrau Klara Schreiber einen über eine Stunde währenden Vortrag.« Ein offen antisemitischer Angriff in der Zeitschrift Der Burggräfler folgt: »Wir wollen uns nicht weiter darum kümmern, aus welchen Gründen und mit welcher Berechtigung gerade Klara Schreiber (Israelitin) sich mit dem Studium der Frauenfrage befasst und darüber christlichen Frauen vorträgt und sie belehrt, sondern wir wollen nur sagen, daß wir uns mit den in dem Vortrage entwickelten Grundsätzen nichts weniger als einverstanden erklären können.«22

Claras Tod kommt überraschend, mit nur 56 Jahren erliegt sie 1905 in Meran einem Schlaganfall. Nachrufe würdigen ihr schriftstellerisches Talent, ihr Engagement für die Rechte der Frauen, ihren Einsatz für die Sanatorien und nicht zuletzt ihre Fähigkeit, interessante Persönlichkeiten zusammenzubringen: »Alles war groß an ihr: Geist, Herz, Gemüt!«23

Claras Ansichten sind modern, aber nicht radikal: »Ich bin mir wohl bewußt, zahlreiche Gegner zu finden. Viele der Kämpferinnen für die Frauensache werden mir Engherzigkeit, Beschränktheit, Lauigkeit vorwerfen«, schreibt Clara im Schlusswort zu Eva. Sie versucht, Fortschritte zu erzielen, ohne alle Traditionen über Bord zu werfen.

Wie wirkt sich das auf ihre Töchter aus?

Die älteste, Ida, bleibt unverheiratet und lebt bei den Eltern. Vater Josef stirbt 1907, die Sanatorien in Bad Aussee und Meran stehen vor großen finanziellen Schwierigkeiten und müssen verkauft werden. Ida betreibt das Erholungsheim Villa Speranza in der Larochegasse 15 in Wien-Hietzing, bleibt dem Metier des Sanatoriums also in wesentlich kleinerem Rahmen treu. Ein eher unspektakuläres Leben, doch scheint in ihrem Verlassenschaftsakt, der kaum materiellen Besitz aufweist, eine Pflegetochter auf, Johanna Gallia. Diese tritt wiederum als Schriftstellerin in Erscheinung und veröffentlicht am 22. November 1931 in der Neuen Freien Presse eine kleine Geschichte in der Rubrik »Das unbekannte Talent«.

Adele übertrumpft ihre Mutter und geht deren Weg mit wesentlich mehr Radikalität weiter. Sie wird zu einer der einflussreichsten Frauenrechtlerinnen Deutschlands und bringt es bis zur Reichsratsabgeordneten.24 In ihren Erinnerungen spielt die doch sehr eigenwillige Kindheit eine große Rolle. Einerseits lernen die Schwestern Ida, Adele und Lilli schon früh große Künstler kennen und wachsen mit deren Darbietungen auf: »Die Kuranstalt war auch der Mittelpunkt künstlerischer Veranstaltungen, viele junge Talente, die während der Sommerszeit in Badeorten Vorträge und Konzerte abhielten, begrüßten es dankbar, wenn ihnen unser großer Saal zur Verfügung gestellt wurde, meist verbunden mit freundlicher Einladung meiner Eltern.«25

Adele genügt es nicht, in Bad Aussee und Meran im Hause der Eltern zu leben und auf den richtigen Ehemann zu warten. Sie schreibt für internationale Zeitungen und macht sich als Journalistin einen Namen. 1897 erhält sie das Angebot, eine Frauenversicherungsgesellschaft in Berlin aufzubauen, und sie wagt den Schritt in die Freiheit: »Es war ein etwas seltsamer Weg für die angehende Novellistin und Schriftstellerin, sich zunächst dem Studium des Versicherungswesens zu ergeben, aber es war ein Weg in die Selbständigkeit, in die Arbeit, in die pekuniäre Unabhängigkeit. Darum wurde er mit Jubel begrüßt.«26 Sie bleibt einige Jahre bei der Versicherungsgesellschaft, fasst gleichzeitig in der Frauenbewegung Fuß und macht als Journalistin und Schriftstellerin Karriere.

Adele betätigt sich auf vielfache Weise, Kinder liegen ihr besonders am Herzen. Im Jahr 1906 gibt sie das Buch vom Kinde heraus, das viele Bereiche von Erziehung, Ernährung, Kleidung und künstlerischem Empfinden berührt. Adele selbst schreibt einen Artikel über die »Kleidung des Kindes«: »Das Wohl des Kindes verlangt, daß die liebe Eitelkeit der Mütter sich Zügel anlege!«27 Keine reich verzierten, bodenlangen Seidenkleider mehr, sondern »kurze, lose Hänger für die Kleinen beiderlei Geschlechts.« Eine Zeichnung dieser Kleidchen erinnert stark an Reformkleider. »Wieviel Tränen werden vergossen, wieviel überflüssige Strafen und Strafpredigten ausgeteilt, um verdorbener Kleider willen!« Auch in der Behandlung der Geschlechter tritt eine Änderung ein: »Heute beginnt sich die Ansicht Bahn zu brechen, daß die kleinen Mädchen so gut wie die Jungen ihre Körperkräfte stählen und entwickeln dürfen.«28 Und ein wenig schimmern wohl auch Adeles eigene Kindheitserfahrungen durch: »Ein bedauernswertes Geschlecht bleichsüchtiger, blutarmer, freudloser Mädchen ist unter dem alten System, dessen oberster Grundsatz lautete: ›Das schickt sich nicht für Mädchen‹, herangewachsen. Viel Freude bereitet den meisten Kindern das Barfußlaufen, wie viele von uns haben wohl in der Kindheit deshalb mit Neid auf die Dorfkinder geblickt!«29

Reformkleider für Kinder, abgebildet im Buch vom Kinde und getragen von den Kindern Hofmannsthal

Auch Adeles Schwester Lilli Baitz kommt in diesem Buch zu Wort mit einem Artikel über »Die künstlerische Ausgestaltung der Kinderstube«. Dieser beginnt gleich mit einem Statement: »Die Zeiten, in denen das schlechteste Zimmer der Wohnung zur Kinderstube gewählt wurde, sind vorüber.«30 Lilli gewährt Einblick in ihre eigene Ausbildungsstätte, die Wiener Kunstgewerbeschule, an der die künstlerische Gestaltung von Kinderzimmern thematisiert wurde. Ihre Lehrer Josef Hofmann und Kolo Moser beteiligten sich an Wettbewerben und gewannen Preise, haben sie doch »schlichte Klarheit der Farben gepredigt«. Lilli steht wie ihre Schwester Adele auf dem Standpunkt, dass die Erziehung der Kinder auf vielfältige Art und Weise geprägt wird – und dazu zählt auch ein künstlerisches und geschmackvolles Umfeld. »Geschmack und ästhetisches Gefühl müssen ebenso erzogen werden wie gute Manieren«, schreibt Lilli, um jedoch auch drauf hinzuweisen, dass dies für Familien aus nicht wohlhabenden Verhältnissen schwierig durchzuführen sei. Doch hat ihr eigenes Kinderzimmer so ausgesehen, wie sie die abschreckende Variante schildert? Ausgestattet mit alten, beschädigten Möbeln, »schlechten schreienden Öldrucken in blinden abgebröckelten Goldrahmen, bei Tombolas gewonnenen Dekorationsgegenständen und all dem Kram, der sonst nirgends hinpassen will«?31

Wie auch immer ihr Kinderzimmer ausgestattet war, sie zieht die entscheidende Conclusio: »Die frühesten Erinnerungen sind die lebendigsten, drum laßt die ersten Blicke der Kinder auf Schönes fallen, umgebt die Kinderjahre mit Schönheit, damit sie die Erinnerung daran ein ganzes langes Leben treu begleite.«32

Lilli Baitz’ Kindervilla (li.) und »Der gute Onkel«, 1907

Lilli und Adele leiden darunter, dass sie zwar in der herrlichen Ausseer Natur aufwuchsen, diese aber nicht auskosten durften: »Die schönste Kinderstube, die unseren Großstadtkindern leider versagt bleibt, liegt draußen, vom hohen, weiten Himmel überwölbt, die nimmermüde See, die grüne, blumenbestreute Wiese, der rauschende Wald im wechselnden Schmuck der Jahreszeiten, die große Freundin Natur, die mit uns jung war.« Ein wahres Trauma, das die Schwestern begleitet. Adele geht noch einen Schritt weiter und sieht in dieser Abschottung eine große Gefahr, Kindern ihre natürlichen Sympathien auszutreiben. »Erst nach und nach, durch den Einfluß dessen, was das Kind täglich um sich sieht und hört, wird die Reinheit des kindlichen Denkens getrübt und wir pflanzen in den Garten der Kinderseele all das Unkraut von Vorurteilen, Standesdünkel, Kasten-, Klassen- und Rassenmißgunst ein, das in der Geschichte der Menschheit gleich einer Giftpflanze wuchert.«33

Adeles soziales und politisches Engagement wächst, unermüdlich setzt sie sich für die Rechte benachteiligter Gruppierungen ein und schreibt für internationale Zeitungen. Auch der Erste Weltkrieg hinterlässt seine Spuren: So schreibt sie in ihrer 1918 erschienenen Broschüre Frauen! Lernt wählen! Revolution und Frauenrecht!: »Wir Frauen, zu welcher Partei wir auch immer gehören mögen, wir wollen kein neues Blutvergießen, wir wollen keinen Bürgerkrieg, wir wollen keinen neuen Jammer, wir wollen Ordnung, Brot und Freiheit haben.«34

Sie gibt die Zeitschrift Frauenstimmrecht heraus und verfasst 1917 das Filmdrehbuch Die im Schatten leben über das Schicksal unehelicher Kinder – Engagement mit allen künstlerischen Mitteln.

Vortragsreisen führen sie nach Frankreich und Amerika, nun macht sich der intensive Sprachunterricht ihrer Jugend bezahlt: Sie kann polyglott über ihre Erfahrungen referieren.

Am 5. März 1933 verlässt Adele Deutschland und geht in die Schweiz: »Heimatlos – staatenlos, ohne sinnvolle Arbeit verfolgt man mit Grauen die immer grausameren Zustände in dem Lande, dem man Jahrzehnte der Arbeit gewidmet, sieht es versinken in Barbarei. Man beklagt den Verlust der Jugendheimat Österreich, das in den Vernichtungsstrudel hineingerissen wird.«35

Sie bleibt in der Schweiz und kann weiter als Publizistin arbeiten – hier fühlt sie sich aus verschiedenen Gründen wohl: »Ich bin kein Asphaltkind, das Salzkammergut, Tirol sind meine Heimat, darum bin ich glücklich, meinen Lebensabend umgeben von Bergen, Seen, Wäldern zu verbringen.«36 Adeles Lebensabend endet 1957 im Schweizer Herrliberg.

2 »In Salz- und Ham- und Pittsburg auch, da kennt man Baitz bereits«. Die wunderbare Welt der Lilli Baitz

Lerchenreith 110

1902 heiratet Lilli Schreiber 28-jährig den Kaufmann Roman Baitz, sie leben nach dem Rhythmus des Kurlebens abwechselnd in Aussee, Meran, aber auch in Wien. 1905 stirbt Lillis Mutter Clara, zwei Jahre später der Vater. Die Sanatorien, die die Familie so viele Jahre ernährt haben, geraten ins Schwanken. Die finanziellen Probleme treten schon zu Claras Lebzeiten zutage, Clara pflegt offenbar eine recht lockere Art, mit finanziellen Verpflichtungen umzugehen. »Unter diesen Umständen traut sich Mama einfach nicht nach Hause, so fürchtet sie sich vor Papa und seinen Vorwürfen, da sie aber auch kein Geld hat und Papa ihre Ausgaben hier für höchst überflüssig findet, haben wir ihr angeboten, zu uns zu kommen«, schreibt Lilli am 15. Dezember 1904 ihrer Schwester Adele. »Ich verspreche mir kein Vergnügen davon, aber Mama ist so ein armer Hascher, dass sie einem zu leid tut.«37 Schon zu diesem Zeitpunkt steht das Sanatorium Alpenheim in Aussee kurz vor dem Bankrott, die Kinder gehen auf Distanz zur Mutter. Was für eine schwierige Beziehung: Zum einen propagiert Clara immer und immer wieder die Berufstätigkeit der Frau, zum anderen scheitert sie selbst – eine traurige Bilanz am Ende ihres Lebens.

Roman und Lilli Baitz, um 1903

Auslagengestaltung à la Baitz: Der gestiefelte Kater

Die Sanatorien müssen verkauft werden, die Schwestern sind nun tatsächlich auf sich allein gestellt. Nun zeigt sich, was die Mutter in ihnen gesät hat. Lilli und Roman übersiedeln 1909 nach Berlin, wo auch Adele lebt. Sie hat sich hier einen Namen als Schriftstellerin gemacht. Sie befassen sich mit einem jungen Phänomen: der Schaufensterdekoration für große Kaufhäuser ganz in dem ihnen eigenen Stil, geprägt von der Welt ihrer Kindheit – dem Ausseerland.