Die Villen von Baden - Marie-Theres Arnbom - E-Book

Die Villen von Baden E-Book

Marie-Theres Arnbom

0,0

Beschreibung

Sommerfrische in Baden Baden bei Wien – bis heute lockt die Kurstadt mit idyllischem Biedermeierflair wie zu Kaisers Zeiten. Zahlreiche illustre Kur- und Sommergäste kamen, um zu bleiben. Großindustrielle wie die Kohle-Gutmanns, der legendäre Bankier Samuel Ritter von Hahn, Fabrikanten wie die Zuckerl-Hellers oder Bühnenstars wie Paula Menotti und Mizzi Zwerenz erbauten sich Historismus- und Jugendstilvillen: eine spannende Mischung, die Baden seit bald zwei Jahrhunderten prägt. Doch auch hier erwiesen sich die Jahre 1918 und 1938 als dramatischer Einschnitt in das sonst so unbeschwerte Leben der Stadt … Marie-Theres Arnbom erzählt bewegend von Villenbewohnern und -erbauern zwischen persönlichen Schicksalen und großen Momenten der Geschichte. Mit Karte und zahlreichen Abbildungen aus Privatarchiven

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 189

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie-Theres Arnbom

Die Villen von Baden

Wenn Häuser Geschichten erzählen

Mit 109 Abbildungen

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2022 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagmotiv: Postkarte: Baden und Helenental © AKON/Österreichische Nationalbibliothek; Fotohalter: © iStock.com

Lektorat: Madeleine Pichler

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-99050-225-9

eISBN 978-3-903217-98-0

Inhalt

Making-of

Gebrauchsanweisung

Weg 1

1    Die Rückkehr einer Musiksammlung. Familie Jellinek-Mercedes

Wiener Straße 41

2    Baden und die weite Welt. Adolfine Malcher und ihre Kinder

Kaiser-Franz-Ring 43

3    »Soviel frische Natürlichkeit und Urwüchsigkeit«. Der Bühnenliebling Mizzi Zwerenz

Flamminggasse 49

4    Der Kampf um eine Villa. Der Münchner Architekt Emanuel von Seidl und die »Sunny Side« Badens

Trostgasse 23

5    »Gott bewahr’ das Haus, Glückliche nur gehen ein und aus.« Der Gärtner ist der Mörder

Trostgasse 5

6    Die Gigerlkönigin Paula Menotti

Kaiser-Franz-Ring 13

7    Die Villa Löwenstein

Kaiser-Franz-Ring 7

8    Die Spielhölle der Else von Ruttersheim

Kaiser-Franz-Ring 7

Weg 2

9    Der Juwelier Alexander Pollak reimt sein Testament

Kaiser-Franz-Joseph-Ring 40

10  Albert und Albert. Familie Benbassat

Christalniggasse 7

11  Ein Visionär. Architekt Fritz Malcher

Stiftgasse 4 und Josef-Höfle-Gasse 3

Weg 3

12  Bienenfeld & Rothberger. Ein Architekt und die Textilindustrie

Radetzkystraße 4 und 10

13  Gasglühstrümpfe und Weinhandel

Weilburgstraße 20

14  Eisenbahn und Bankgeschäft. Samuel Ritter von Hahn

Weilburgstraße 81–85

15  Verflossener Glanz. Von Marcelline Alexandrowicz zu Heinrich Klinger

Schloßgasse 31

16  »Bereisung der Auslandskundschaft« ohne Ausreisegenehmigung. Ein unmögliches Unterfangen: Familie Heller

Marchetstraße 76

17  Heinrich Strecker. Eine Annäherung

Marchetstraße 76

18  Hüte und Seide. Zwei innovative Unternehmen verbinden sich

Marchetstraße 50

19  Die Familie der Pseudonyme und verschiedenen Identitäten

Marchetstraße 45

Weg 4: Ausflug ins Helenental

20  Frank Lloyd und die Marlborough Gallery

Helenenstraße 118

21  Die Franzi und die Toni. Wie ich alte Freundinnen wiederfand

Helenenstraße 61

22  Die Geschichte eines Klaviers. Familie Gutmann

Helenenstraße 72

Anmerkungen

Literatur und Quellen

Bildnachweis

Namenregister

Die Autorin

Mercedes Jellinek stand Modell für den Brunnen im Badener Kurpark, geschaffen 1903 von Josef Kassin. Das Brunnenmodell befindet sich im Rollettmuseum.

Making-of

Ich habe mich gesträubt. Schon nach dem Erscheinen meines Buches über die Villen in Bad Ischl erhielt ich das erste E-Mail von Ulrike Scholda, verantwortlich für die Museen der Stadtgemeinde Baden. Ob ich mir nicht vorstellen könne, ein ähnliches Buch über Baden zu schreiben? Ich winkte ab, zu groß erschien mir die Stadt, um eine sinnvolle und repräsentative Auswahl an Villen treffen zu können. Heute weiß ich, dass es mehr als 500 Villen in Baden gibt – mein Gefühl hat mich damals also nicht getäuscht. Und doch habe ich mich nun darüber gewagt: Ulrike Scholda hat nicht lockergelassen – und steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Ihr Vorschlag galt einer Ausstellung im Kaiserhaus zu den Villen jüdischer Eigentümer. Mein Interesse war nicht nur geweckt, sondern dies ermöglichte auch eine überschaubarere Auswahl an Villen und damit verbundener Familiengeschichten. Ich sagte also zu. Und dachte zugleich: Wenn ich mich mit ausgewählten Villen jüdischer Eigentümer beschäftige, kann ich auch gleich ein Buch über Baden schreiben. Und so geschah es.

Zehn Familien werden in der Ausstellung Sehnsucht nach Baden – Jüdische Häuser erzählen Geschichte(n) porträtiert – und dazu gesellen sich in diesem Buch weitere, die der Sommerfrische Baden Ruhm und Skurrilität verliehen haben. Und andere, zu denen eine sehr innige persönliche Beziehung besteht. Reginald LeBorg – lesen Sie den Nachnamen von hinten. Dann landen Sie bei Gröbel. Harry Gröbel, einem ausgesprochen exzentrischen Zeitgenossen. Oder Franz Kurt Levai. Als Galerist Frank Lloyd legt er in London und New York eine glänzende Karriere hin.

Die Geschichte der Familie Neumann berührt den einstmals engsten Freundeskreis meiner eigenen Familie, darauf gestoßen wurde ich von den Neumanns selbst. Mit den Gutmanns beschäftigte ich mich vor mehr als 20 Jahren in meinem ersten Buch über fünf Familien des jüdischen Großbürgertums. Einige Nachkom men stellen mir Bildmaterial aus privaten Alben zur Verfügung, so Familie Jellinek-Mercedes. Bei Familie Heller verzweifle ich vorerst und kann keinen Kontakt knüpfen – bis zum 15. Juli 2022. Da erreicht mich ein E-Mail von Eve Heller und plötzlich eröffnet sich die Welt der Hellers in Baden. So viele Türen öffnen sich plötzlich. Und all dies sind keine Zufälle, sondern Geschichten, die auf den richtigen Zeitpunkt gewartet haben. Und ich bin privilegiert, darüber schreiben zu dürfen.

Meine Freundin Hanna Ecker, in deren Badener Familienvilla ich viele Abende verbringen durfte, zeigt mir interessante Orte und Straßen in Baden, so auch die Flamminggasse, die mich gleich in ihren Bann zieht. Ein Jugendstil-Gesamtkunstwerk, geschaffen von Julius Ferenczfy. Eine der beeindruckenden Villen nehme ich in dieses Buch auf.

Baden weist einen ganz besonderen Charakter auf: Auf den ersten Blick wirkt es wie eine idyllische Biedermeier-Stadt, mit den wunderbaren niedrigen Häusern, die das Bild prägen. Kein Wunder, kann Baden ja als Vorgänger Bad Ischls angesehen werden, nicht nur als Kur-, sondern auch als Residenzstadt des Kaisers Franz II., der später zu Franz I. wird. Er selbst verkörpert gewissermaßen das Biedermeier, seine Residenz, in der meine Ausstellung stattfinden darf, entspricht keinem Palast, sondern einem geräumigen Stadthaus. Auch Kaiser Franz Joseph erbaut in Bad Ischl keinen Palast, er verbringt die Sommerfrische in einer Villa, die, eingebettet in einen großen Park, ein wenig abseits liegt. Die Zeit des Prunks ist jedenfalls in beiden Kur- und Sommermetropolen vorbei.

Doch auch abseits des Biedermeier entstehen in Baden beeindruckende Villen, erbaut von bedeutenden Architekten. Der Historismus hinterlässt ebenso Spuren wie der Jugendstil und die beginnende Moderne – es zahlt sich aus, mit offenen Augen durch die Stadt zu wandern und ein wenig durch Hecken und über Zäune zu schauen. Trotz der Fülle der vorhandenen Gebäude erweist sich die Zahl der nicht mehr existierenden Villen als groß, sie mussten Wohnblocks weichen, wohl nicht nur dem Zeitgeist der 1960er-Jahre, sondern auch den historischen Umständen geschuldet. Zehn Jahre russischer Besatzung haben ihre Spuren hinterlassen, Villen wurden requiriert und befanden sich 1955 oftmals in einem erbärmlichen Zustand. Doch das Unglück begann schon früher: 1938 wurden die Villen der jüdischen Bevölkerung enteignet, Menschen, die die Sommerfrische Baden mitgeprägt haben, vertrieben, entrechtet, ermordet. Gerade die führenden Persönlichkeiten der jungen Israelitischen Kultusgemeinde in Wien zählten zu den frühen und treuen Sommergästen Badens, wo vor 150 Jahren die erste Synagoge errichtet wurde.

Meine Nachforschungen erweisen sich abermals als vielfältig: Die Recherche im historischen Grundbuch des Bezirksgerichts Baden funktioniert unkompliziert, ebenso jene im Österreichischen Staatsarchiv. Mein Mann Georg Gaugusch hat die Aktenbestellungen im Wiener Stadt- und Landesarchiv für mich übernommen – die perfekte Arbeitsteilung! Die Forschung führt mich aber auch in ein Archiv in Charleston/South Carolina, wo die Benbassat papers Auskunft über eine Familie geben, die in Baden eine außergewöhnliche Villa besaß, und ins Bundesarchiv Koblenz, wo ich auf einen enormen Bestand zur Familie Jellinek-Mercedes stoße.

Mein besonderer Dank gilt Ulrike Scholda, der Direktorin der Museen in Baden, und ihren Mitarbeiterinnen Gabi Fischer und Birgit Doblhoff-Dier, die mich nicht nur während der Vorbereitung der Ausstellung, sondern auch bei Recherchen zu diesem Buch unermüdlich unterstützt haben und in den reichhaltigen Beständen des Rollettmuseums und des Stadtarchivs spannende Dokumente und Fotos gefunden haben. Stadtrat Hans Hornyik hat mich an seinem schier unerschöpflichen Wissen teilhaben lassen und so Details zum Vorschein gebracht, auf die ich allein nicht gestoßen wäre.

Ich danke Daniel Benbassat, Gustav Biach, Alexandra Bryk, Gaby Elias, Johannes Fleischmann, Verena Funtenberger, Eve Heller, Nick Kary, Dale Rosengarten, Gaby Steiner-Wagner, Michael Toth und Monica Wolf – sie alle haben durch ihre Unterstützung, ihre Geschichten und ihr Interesse viel zu diesem Buch beigetragen.

Meine treuen Korrekturleserinnen sind wieder mit mir in lustige und traurige, spannende und berührende Geschichten eingetaucht – danke an Christiane Arnbom, Hanna Ecker, Monika Kiegler-Griensteidl und Elisabeth Kühnelt-Leddihn.

Der Amalthea Verlag erweist sich einmal mehr als interessierter und sehr geduldiger Partner – danke, Madeleine Pichler, für das unkomplizierte und detailreiche Lektorat.

Es zahlt sich aus, mit offenen Augen durch Baden zu gehen – gerne mit diesem Buch in der Hand!

Marie-Theres Arnbom

August 2022

Gebrauchsanweisung

Hinaus nach Baden! Dieses Buch möchte anregen, die Villen der Stadt zu entdecken, und bietet daher vier Touren, die sowohl durch das nähere Stadtgebiet führen als auch zu einer Partie ins Helenental einladen. Ob zu Fuß oder per Fahrrad – die Vielfalt der Architektur besticht in jedem Fall und lässt flanierende Besucher und Besucherinnen Badens in die Atmosphäre der Stadt eintauchen.

Natürlich muss man nicht physisch anwesend sein, sondern kann das Buch gemütlich auf dem Sofa, dem Balkon oder im Garten lesen, denn die Schicksale der beschriebenen Menschen beziehen sich zwar alle auf Baden, gehen aber weit darüber hinaus und führen ebenso nach Wien wie nach South Carolina, Hollywood oder Buenos Aires.

Jedes meiner Bücher steht am Beginn der Forschung und will einladen, mit offenen Augen und Herzen durch die Stadt zu wandern und sich Gedanken darüber zu machen, welche Schicksale hinter blühenden Hecken, dicken Mauern, faszinierenden Fassaden und beeindruckenden Gebäuden zu entdecken sind.

Exlibris für die Partiturensammlung von Fernand Jellinek-Mercedes

Weg 1

1  Die Rückkehr einer Musiksammlung. Familie Jellinek-Mercedes

Wiener Straße 41

Bei der Recherche für meine Ausstellung in Baden stoßen die Mitarbeiterinnen des Rollettmuseums auf die Sammlung Raoul Fernand Jellinek-Mercedes’ in der Musikbibliothek Essen. Mein Interesse ist geweckt, ein Telefonanruf bringt Aufklärung. Jeder Band dieser enormen Sammlung enthält ein kunstvolles Exlibris, geziert mit den Großen der Musikwelt: Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach, Franz Schubert und Richard Wagner.

Wie kommt diese Sammlung überhaupt nach Essen? Fernands Witwe Leopoldine verkauft sie 1940; über Ernst Reichert, der seit 1930 der Direktor der städtischen Musikbücherei in Essen ist, kommt sie an diese Institution. Ernst Reichert ist 20 Jahre jünger als Fernand und ebenfalls Musikwissenschafter, doch wirkt er bereits ab 1926 in verschiedenen Funktionen in Essen.

1943 fürchtet Reichert, dass die Stadt vor Bombardement nicht gefeit ist und findet einen Lastwagenfahrer, der die 1000 Bände in Sicherheit bringt. Nach Bad Ischl. Und so schließt sich ein Kreis: In meinem Villen-Band über Bad Ischl findet sich ein Kapitel über Familie Reichert – und genau in dieser Villa übersteht die Sammlung Jellinek-Mercedes den Krieg. 1951 kehrt sie wieder nach Essen zurück als erster großer Kernbestand, denn der Rest der Bibliothek ist den Bomben zum Opfer gefallen.

50 Jahre später wird die Leiterin der Bibliothek, Verena Funtenberger, auf das Exlibris in den Bänden aufmerksam und beginnt, die Familiengeschichte zu recherchieren. Sie stößt auf Fernands Schwester Andrée, die hochbetagt in Wien lebt. Mit ihr wird ein Vergleich ausgehandelt, die Sammlung verbleibt in Essen – doch für Frau Funtenberger gibt es ein weiteres Ziel: Die Sammlung soll nach Wien zurückkehren. Sie kontaktiert das Historische Archiv der Wiener Philharmoniker und es klappt: Die Sammlung kehrt im Jahr 2022 nach Wien zurück.

Doch wer hat diese Sammlung zusammengetragen? Raoul Fernand Raymond Maria de las Mercedes Jellinek-Mercedes lautet sein Name – »Fernand Raymond« bedeutet in deutscher Übersetzung Ferdinand Raimund. Ein Zufall? Fernand kommt 1883 in Algier zur Welt, sechs Jahre später folgt seine Schwester Mercedes, deren Name weltberühmt wird, da ihr Vater Emil einem Auto ihren Namen gibt. Die Kinder wachsen zwischen Algier, Nizza und Baden auf – hier erwirbt ihre Mutter Rachel im Jahr 1890 eine Villa in der Wiener Straße 41.

Die Villa Mercedes in Baden

Emil Jellinek-Mercedes in seinem geliebten Automobil (oben). Die Namensgeberin: Mercedes.

Die Freude des Karikaturisten: Emil Jellinek und seine prägnanten Züge.

Automobilzeitung

, 3. Februar 1918 (oben). Ein Blick ins Familienalbum: Familie Jellinek-Mercedes auf Ausfahrt (unten)

Fernands Freund Kurt Frieberger erinnert im Jahr 1949 in der Zeitung Die Presse an die Familie: »Den jüngeren Sohn Fernand hätte der Vater gern als Dr. juris und Rechtsberater bei seinen großzügigen Transaktionen sich zugesellt, der aber, ein ernster, stiller Denker, den berühmteren Oheimen gleichgeartet, fand keinen Gefallen daran, widmete sich mit Leidenschaft der Musik, spielte drei Instrumente – Klavier, Cello und Horn – wurde Doktor der Philosophie, wobei er kennzeichnenderweise zum Gegenstande seiner Dissertation französische Moralisten wählte, vor allem Vauyenarbues, der das schöne Wort niederschrieb: ›Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen‹. Wohl freute den Mann der Finanzwelt jenes kapitalistischen Zeitalters die abseitige Lebensführung seines Sohnes nicht, aber als Menschenkenner schätzte er den Charakter des jungen Mannes, dem er ruhigen Gewissens einen unbegrenzten Bankkredit einräumte. Niemand hätte würdigeren Gebrauch von solcher Macht üben können.

Fernand Jellinek-Mercedes widmete sein Leben ganz der Kunst und Wissenschaft. Unterbrechung erzwang nur der Krieg, in dem der Zehnerjäger am Plöcken verwundet wurde und später als Offizier LKW-Kolonnen auf dem Balkan und in Italien kommandierte. So kräftig er schien, litt er doch schwer an Rheumatismen, suchte immer wieder auf großen Reisen Heilung im Süden auf, aber er war zu tief in der Wiener Kultur verwurzelt. Nur hier gab es die Oper Gustav Mahlers, gab es die Philharmoniker. Hier trafen sich die Freunde zu Kammermusik. Hier hatte er eine wunderbar reichhaltige Handbibliothek aufgebaut, eine ganz einzig vollständige Partituren-Sammlung aller Klassiker und Romantiker, alles Wertvolle mit dem erlesenen Geschmack eines Bibliophilen gebunden. Betreut von seiner Gattin, lebte er als einer der Stillen im Lande, die in jener Zeit, da Hermann Bahr das künstlerische Gewissen der Stadt war, für die schaffenden und ausübenden Künstler so wesentlich und wertvoll waren, denn sie bildeten das Publikum, waren die aufnahmsfähigen und geschmackvollen Zuschauer und Zuhörer. So gehörte auch er zu den seelisch und künstlerisch Gebildeten, bei allem Wohlwollen von unfehlbarem und unerbitterlichem Geschmack.«1

Fernand und Poldi Jellinek-Mercedes

Mit seiner Frau Leopoldine2, genannt Poldi, die aus Baden stammt, lebt er in der Villa in Baden. Ihr Kennenlernen schildert die Familie wie eine Szene aus einer Operette: Fernand besucht einen Schneidersalon in Baden zur Anprobe, die junge Schneiderin Poldi muss abstecken und verletzt den Kunden mit einer Nadel. Er geht, sie ist verzweifelt und fürchtet, ihren Posten zu verlieren. Am nächsten Tag erscheint er wieder – mit Rosen. Und hält um die Hand der jungen Schneiderin an.

Fernand und Poldi leben in Baden sehr bescheiden, denn Fernand hat sein Geld in anderer Weise investiert: »Wem er seine Freundschaft schenkte, dem war er selbstlos treu. Als ein ehemaliger Frontkamerad ihn gebeten hatte, ihn in seiner Stellung bei einer Privatbank durch Kapitaleinlagen zu unterstützen, und dann das Unternehmen der Inflation zum Opfer fiel, da ruhte Fernand Jellinek-Mercedes nicht, bis die Freunde, die er bewogen hatte, ebenfalls den Kameraden zu unterstützen, ihre Einlagen zurückerhalten hatten, und trug allein den schweren Verlust, der ihn zwang, sich sehr einzuschränken. Zurückgezogen lebte er in seiner Badener Villa, fuhr nur zu künstlerischen Veranstaltungen nach Wien, arbeitete an einem umfassenden genealogischen Werk und setzte seine Napoleon-Forschungen fort.« Fernand veröffentlicht Artikel über seltsame Berufe, eine Hundeschule, über Betrüger und seine Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in verschiedenen Magazinen wie auch der Badener Zeitung. Er trägt eine bedeutende Kunstsammlung ebenso wie eine umfassende Bibliothek zusammen und zählt zu den Förderern der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde.

Dann kommt das Jahr 1938. »Dann kam der ›Umbruch‹«, schreibt Frieberger. »In die Einsamkeit und Zurückgezogenheit des stillen Gelehrten brach plötzlich der ganze Haß der Nürnberger Gesetze.« Fernand war nie jüdischer Konfession und empfindet sich daher auch nicht als gefährdet. Doch kann er das Gegenteil nicht beweisen: Die Geburtsdokumente aus Algier geben keine Konfession der Eltern an, daher wendet sich Fernand an seinen Cousin Walter Jellinek, der ihn bei genealogischen Forschungen unterstützt, doch ohne Erfolg. Fernand muss wie alle Personen, die von den Nazis als Juden definiert werden, sein Vermögen anmelden. Kurt Frieberger, der engste Freund, berichtet: »Mit einemmal sah er sich verfemt. Unerträglich lastete das Gefühl auf ihm, verachtet zu sein. Mit melancholischem Lächeln sagte er, wenn ihm die zutraulichen Finken seines Gartens auf die Hand flogen, um sich gewohntermaßen Futter zu holen: ›Die nehmen noch, was ich ihnen gebe …‹ Dabei wunderten sich die Badener, daß er rassistisch verfolgt sein könne, sah er doch wie ein Stockfranzose aus mit seinen gütigen hellen Augen. Aber es gab keine Rettung, so bekümmert auch nachher seine algerischen Verwandten waren, die ihm, hätten sie es gewußt, die nötigen Papiere zu senden in der Lage gewesen wären. Er, der zu stolz war zu fliehen, nicht verlassen mochte, was ihm das Leben lebenswert machte, mußte erfahren, wie der liebenswürdige und von ihm sehr geschätzte Lyriker Alfred von Ehrmann Selbstmord beging.«3

Fernands jüngerer Bruder Guy schreibt über einen Brief, den Poldi an Walter Jellinek richtet: »Fernand Jellinek-Mercedes geriet infolgedessen immer tiefer in eine depressive Krise. Schon am 14. November 1938, also vier Tage nach der Pogromnacht, schrieb er sein Testament neu.4 In den folgenden Wochen und Monaten zog er sich immer mehr in eine selbstgewählte Isolation zurück. Er hegte Selbstmordpläne und teilte diese auch seiner völlig verängstigten – nach den Nazi-Kriterien rein ›arischen‹ – Frau mit. ›Ich kann nicht leben, ich kann nur als freier Mann leben, nicht aber als ausgeschlossener, als Paria‹, so gab sie in einem Brief an Walter Jellinek, in dem der seelische Zusammenbruch ihres Mannes ausführlich geschildert wurde, dessen Sicht der Situation wieder. Je näher der Termin für die Zahlung der zweiten Rate, der 15. Februar 1939, rückte, desto düsterer wurde sein Gemütszustand.5 Als am 10. Februar ein Finanzbeamter ins Haus kam und – nachdem er darauf hingewiesen worden war, daß kein Bargeld zur Verfügung stand – alle in der Wohnung befindlichen Gegenstände für gepfändet erklärte, sah Fernand Jellinek-Mercedes keinen Ausweg mehr: Sobald der Beamte gegangen war, erschoß er sich mit seiner seit dem Ersten Weltkrieg aufbewahrten Dienstpistole wohl in der Hoffnung, mit seinem Tod sei die Sühnesteuer-Angelegenheit erledigt und seine Frau mithin materiell abgesichert.6 Diese Annahme erwies sich jedoch als Irrtum. Die Finanzbehörden verlangten nun die Abgabe von der Witwe, die das Vermögen geerbt hatte, obwohl Poldi für sich selbst einen Ariernachweis erbringen konnte.«7 Sie zahlt 6000 RM Erbschaftssteuer und 12 000 RM Sühneabgabe. »Der Rest des Vermögens«, schrieb sie in einem Gnadengesuch an das Reichsfinanzministerium, »besteht in schwer veräußerlichen Grundstücken und Mietwohngrundstücken.«8

Poldi beschreibt dies 1958 in einem Bericht an die Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und das Burgenland rückblickend mit den Worten: »Am 10. Februar 1939 erschoss sich mein Gatte nach einer Amtshandlung des Vollstreckungsbeamten. Mein Gatte stand vor der Verhaftung. Ich musste nach meinem Gatten an Judenvermögensabgabe 32 000 RM bezahlen. Um diese enorme Summe aufzubringen, musste ich die überaus kostbare Bibliothek, die einzigartige Partitursammlung und mein Grundstück in Baden, Germergasse 26, ferner Schmuck und fünf sehr wertvolle Perserteppiche weit unter Wert veräußern, um die Sühneabgabe, ›Juva‹, von 32 000 RM zu leisten.«9

Die Gartenseite der Villa Mercedes in Baden

Am 14. November 1938 hat Fernand sein Testament verfasst und vermacht seinen Grundbesitz der Stadtgemeinde Baden mit der Auflage, »dass besagte Stadtgemeinde meiner Frau eine monatliche Rente von 350 RM auf Lebenszeit bezahlt«10. Er wendet sich auch direkt an seine Frau und empfiehlt ihr, »meine Bibliothek sowie meine Musikinstrumente zu verkaufen, die Zinnfiguren einem Museum unter der Bedingung zu schenken, dass es für sämtliche Spesen und Gebühren (Transport und Erbgebühren) aufkommt«11. Selbst sein Begräbnis regelt Fernand: Außer seiner Frau und der Familie soll »nur noch mein bester Freund Dr. Kurt Frieberger teilnehmen. Er möge als letzten Liebesdienst meine Frau trösten und zur Erinnerung an mich meine kleine Omega-Uhr, das Elfenbeinpapiermesser mit der Lupe und meine sämtlichen Spazierstöcke nehmen.«

Im Sommer 1939 besucht Fernands Schwester Andrée ihre Schwägerin Poldi in Baden, wie sie ihrem Cousin Walter Jellinek berichtet. Sie hat selbst große Sorgen, denn ihr Mann Richard Alexander ist als Chef der österreichischen Sturmabteilung der Vaterländischen Front sofort verhaftet worden und seit 2. April 1938 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Andrée ist verzweifelt: »Ich habe nicht nur einen schweren Namen zu tragen, sondern habe auch öfters Schwierigkeiten wegen meiner Abstammung, meine Tochter macht natürlich das gleiche mit, besonders in der Schule. Ich lebe sehr zurückgezogen mit Danielle und der treuen Pepi, und warte auf die Rückkehr meines Mannes. Wann wird die sein! Durch Fernands Tod fühle ich mich noch einsamer, er war der einzige nahe Verwandte, den ich hier hatte.«12

Am 5. Juni 1940 wird Richard Alexander entlassen und arbeitet danach als Dolmetscher in Berlin. »Deshalb kam ich der Bitte meines Mannes nach und willigte in die Ehescheidung ein. Nach 18 Jahren Ehe, ein schauriger Schluss! Ich bleibe vorläufig mit meiner Tochter hier«,13 informiert Andrée ihren Cousin Walter.

»Alles ging verloren«, endet Kurt Frieberger seinen Artikel, »die kostbare Bibliothek an ein großes Aktionshaus in Leipzig, die Notensammlung nach Essen. Den Rest zerstörte der Krieg. Was blieb, waren ausgebrannte Ruinen, wo einst in Wien die schönen Bücherschränke mit dem Weimarer Goethe, mit den Werken Händels standen, wo in Baden der einsame Denker Traumforschungen nachhing, er, zutiefst verbunden mit einem Zeitalter, das endgültig dahin ist.«14

Doch kommt es während der Beschlagnahme seiner Musikaliensammlung einschließlich der Originalschränke zu einem Vorfall, wie Andrée Jellineks Schwiegersohn Ludwig Steiner schreibt: »Zur Sammlung gehörte auch eine Büste vom bekannten Prediger Adolf Jellinek, dem Großvater von Fernand Raoul Jellinek-Mercedes und der Mutter meiner Frau. Als der Gestapo-Mann die Büste in der Hand hielt, sagte er: ›Den Beethoven können Sie behaltene.‹ Diese Büste war so das einzige Stück der Sammlung, das übrig blieb.«15 Die erstaunliche Ähnlichkeit entspricht auch der Wahrnehmung David Feuchtwangs, Rabbiner in Wien. 1925 beschreibt er das Äußere Adolf Jellineks: »Er sah (wie Beethoven) direkt boshaft aus. Diese Ähnlichkeit mit Beethoven forcierte Jellinek absichtlich. Ein hoher Stehkragen ließ das Gesicht noch schärfer abgegrenzt hervortreten.«16 Und auch Philipp Bloch, Oberrabbiner von Posen, beschreibt dessen äußere Erscheinung, »die geradezu an den Beethovenschen Gesichtstypus erinnerte: ein träumerisches, dabei lebensheiteres Augenpaar forschte dem Besucher entgegen und wurde durch eine hervortretende kräftige Stirne gekrönt.«17

Der Rabbiner und Prediger Adolf Jellinek, zum 70. Geburtstag im Jahr 1890

Dieser, der große Prediger, hatte im Jahr 1884 die Gefahren des immer stärker werdenden Nationalismus erkannt: »Das Judenthum den Juden, das Christenthum den Christen«, betitelt Jellinek einen Artikel am 4. Jänner 1884. »Das Judenthum den Juden – so lange dieser Satz nicht in das Bewußtsein der Völker übergegangen und so lange die Anerkennung des Judenthums nicht überalldurchgedrungen ist, wird der Kampf gegen die Juden nicht aufhören und so nicht zur Ruhe gelangen. Denn wohl hat der Antisemitismus das Moment der Race [Rasse] auf seine blutbefleckte Fahne geschrieben, in seinen Führern, stillen und lärmenden Anhängern aber agirt auch der confessionelle Unterschied.«18

Die zerstörte Villa Mercedes

Zurück nach Baden: Poldi bleibt nach dem Tod ihres Mannes in der Villa. 1945 besetzen die Russen die Stadt – und die Villa geht in Flammen auf. Wer nun wirklich dafür verantwortlich ist, bleibt im Dunkeln. Übrig bleibt bis heute die Garage – als Erinnerung an den so automobilbegeisterten Emil Jellinek-Mercedes.

2 Baden und die weite Welt. Adolfine Malcher und ihre Kinder

Kaiser-Franz-Ring 43