Die Vision lebt weiter - Ursula Häbich - E-Book

Die Vision lebt weiter E-Book

Ursula Häbich

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Beschreibung

'Aus Liebe zu Jesus zogen zwei junge Frauen aus Wolfsburg in den Jemen, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Noch weiß niemand, dass Rita und Anita von diesem Einsatz nicht wieder zurückkommen werden. Sie fallen einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Für ihre Familien und Freunde beginnt damit eine Zeit des Bangens, der Trauer und des Ringens um eine tragbare Perspektive das Leben dennoch weiter meistern zu können. Der Leser darf Einblick nehmen in eine schockierende Phase der Trauer, der völligen Niedergeschlagenheit, aber auch in die Hoffnung, die allein in dem tiefen Glauben an einen guten Gott gründet. Dieses Buch ist ein packendes Beispiel dafür, dass Gott über all unserer menschlichen Niedergeschlagenheit und manch einem Schutthaufen des Lebens immer wieder einen Weg der Hoffnung und neue Perspektive schenken kann. Der Inhalt ist berührend und überaus wertvoll für jeden Leser.'

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Ursula Häbich

Die Vision lebt weiter

Die Geschichte von zwei jungen Frauen, deren kurzes, erfülltes Leben,

Herzlichen Dank!

Ich danke den Familien Stumpp und Grünwald für ihre Offenheit. Sie ließen mich und somit auch den Leser des Buches tief in ihr Leben und Gefühle blicken. Ihre Lebenseinstellung trotz Leid ist vorbildlich und Mut machend.

Ursula Häbich

Die Vision lebt weiter

Die Geschichte von zwei jungen Frauen, deren kurzes, erfülltes Leben, andere zum Handeln inspirierte.

© 2013 Lichtzeichen Verlag GmbH, Lage

Bildmaterial: Privatarchiv, soweit nicht gekennzeichnet Umschlaggestaltung: Manuela Bähr-Janzen (Foto: Koschel) Satz: Gerhard Friesen

ISBN: 9783869549804 Bestell-Nr.: 548980

E-Book Erstellung:

LICHTZEICHEN Medienwww.lichtzeichen-medien.com

„Was wir auch tun,
wir tun es aus der Liebe heraus,
die Christus uns geschenkt hat.”

2 Kor. 5,14 a (Hfa)

Inhalt

Vorwort

Die Vision

Kapitel 1     Dunkle Junitage

Kapitel 2     Leben mit der Trauer

Kapitel 3     Vom Traum zur Wirklichkeit

Kapitel 4     Wasser für Mdeka

Kapitel 5     Gerufen und gesendet

Kapitel 6     Die Vision lebt

Kapitel 7     Veränderungen

Anhang

Lebensläufe

Familie Hentschel

Projektbeschreibung

VORWORT

Im Sommer 2009 erschütterte das Schicksal von evangelikalen Entwicklungshelfern viele Christen nicht nur in Deutschland. Im Jemen wurden damals am 12. Juni sieben Deutsche, eine Südkoreanerin und ein Brite entführt. Am 15. Juni fand man dann die Leichen von zwei deutschen Bibelschülerinnen und der Südkoreanerin. Vom Briten, vom deutschen Ehepaar Hentschel und seinem kleinen Sohn fehlt bis heute jede Spur. Nur ihre beiden Töchter wurden ein Jahr später – am 17. Mai 2010 – von einer Spezialeinheit aus Saudi-Arabien befreit. Sie leben heute bei Verwandten in ihrer Heimat in der Nähe von Bautzen im Freistaat Sachsen.

In diesem Buch geht es vor allem um das Leben der beiden Schülerinnen der Bibelschule Brake, die in dem vorderasiatischen, streng islamischen Land den ärmsten der Armen helfen wollten und deshalb ein Praktikum in einem staatlichen Krankenhaus in Saada im Norden des Jemen als Pflegehelferinnen absolvierten. Die Geschichte der beiden Frauen – Anita Grünwald (24) und Rita Stumpp (26) – berührt besonders in Europa, wo wir in Frieden und Freiheit leben können. Daran kann man sich gewöhnen und vergessen, dass Christsein – genau wie es Jesus verheißen hat – auch oft in Leid führen kann. Es bedeutet eben nicht – wie es immer wieder manche Bücher aus den USA einzuflüstern versuchen – in erster Linie Glück und Wohlergehen. Im irdischen Leben eines Christen wird nicht immer alles gut und hell. Wenn Christus dazu auffordert, dass wir unser Kreuz auf uns nehmen sollen, dann kann das eben auch Martyrium bedeuten. Jedes Jahr erleiden es Zehntausende Christen – besonders in islamischen, hinduistischen, buddhistischen oder kommunistischen Staaten. Keine religiöse Gruppe auf der Welt wird derart verfolgt wie die Christen.

Wenn Familien nun vom Martyrium eines ihrer Mitglieder betroffen sind, dann stellt sich auch bei ihnen die Frage nach dem Warum. So war es auch bei den Eltern Grünwald und Stumpp aus der Immanuelgemeinde in Wolfsburg. Es sollte nachdenklich stimmen, dass in der Bibel die Frage „Warum?“ sehr selten gestellt wird. Stattdessen verbirgt sich hinter dem, was aus dem Hebräischen oft mit „Warum“ wiedergegeben wird, eigentlich die Frage „Wozu?“. „Warum?“ lenkt den Blick auf die Vergangenheit, „Wozu?“ auf die Zukunft.

Das Buch kann schon vorläufige Teilantworten geben. So wurde der Vater von Anita Grünewald nach dem Tod seiner Tochter Christ. Dadurch wurde die Ehe ihrer Eltern auf eine ganz neue Basis gestellt. Anitas Vision war es, in einem der ärmsten Staaten Afrikas – in Malawi – ein Heim für Waisenkinder zu gründen. Anita war bereits mehrmals in Malawi und hat sich dort um Waisenkinder gekümmert. Für ihre Eltern erwächst daraus die Verpflichtung, diese Vision wahr werden zu lassen. Mit den vielen Spenden, die zu Anitas und Ritas Begräbnis eingegangen sind, sowie mit Hilfe der Immanuelgemeinde und Helfern aus Deutschland schaffen sie es, dass das Projekt Wirklichkeit wird. Gott geht auf krummen, oft sehr schmerzhaften Wegen gerade. Das zeigt dieses spannend geschriebene, trostreiche wie wegweisende Buch, dem ich nur weite Verbreitung wünschen kann.

Helmut Matthies (Wetzlar),

Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea

Die Vision

Kinderlärm! Laufen, spielen, lachen, vor allem lachen. Das Strahlen in Gesichtern, die vorher von Einsamkeit, Hunger und Angst leer und starr waren.

Ein paar kleine Häuser, in denen die Geborgenheit wohnt. Räume, einfache Räume, in denen Heimatlose Schutz, Zuflucht und Ruhe finden.

Eine Feuerstelle, an der das einfache Essen gekocht wird. Hände, die Wunden verbinden und Tränen trocknen.

Bäume, unter denen Kinder und junge Menschen in kleinen Gruppen zusammen sitzen und Menschen bei sich haben, die ihnen ihr Ohr schenken, das den Kummer und Zweifel ihrer Herzen hört und ernst nimmt.

Platz zum Spielen und Toben, wo Kinder, die viel zu früh reif wurden, wieder Kinder sein dürfen.

Ein Ort, an dem die Liebe Gottes, die das eigene Herz erfüllt, an andere weiter gegeben wird.

Ein Ort, der aus Liebe zu Jesus entsteht.

Die Sonne verliert ihren Glanz

Samstag, der 13. Juni 2009.

Ein Sommertag wie im Bilderbuch. Die Leute in Wolfsburg zieht es in ihre Gärten oder zu einer Radtour an den Mittellandkanal.

Rita Grünwald ist mit ihrem Fahrrad in Ehmen unterwegs. An so einem schönen Tag genießt sie ihren Job. Sie ist Postzustellerin. Werbungen, Hochzeitskarten, Traueranzeigen, Rechnungen, Liebesbriefe – sie kennt den Inhalt ihrer Tasche natürlich nicht, weiß aber, dass sie Tag für Tag Freud und Leid in die Häuser trägt. An diesem Sommertag ahnt die Mutter von drei Kindern allerdings noch nicht, dass sie in wenigen Minuten eine Nachricht erreichen wird, die ihr Leben total umkrempelt.

Ihre Gedanken gehen auf die Reise und diese beginnt in Allerbüttel, bei ihr zu Hause. Sie denkt an Jenna, ihre Jüngste, die allerdings auch schon 17 Jahre alt ist. Die Mutter wirft einen Blick auf die Uhr, schmunzelt und vermutet, dass Jenna den schönen Sommertag erst jetzt oder noch später wahrnimmt. Der Samstag ist für sie der Ausschlaftag.

Dann eilen die Gedanken nach Portugal zu Steve, ihrem Sohn. Was wird er an diesem Wochenende machen? Den Tag am Strand verbringen? Ziemlich sicher wird er das tun. Er macht zwar keinen Urlaub, das VW-Werk hat ihn beauftragt, dort in einem Zweigwerk der Firma zu arbeiten. Sie hofft aber, dass er nicht nur arbeitet, sondern auch Zeit findet, um das Land zu entdecken und zu genießen.

Ihre Gedanken ziehen noch weiter weg. Sie fragt sich, wie ein Samstag im Jemen aussehen mag. Ihre Tochter Anita und ihre Nichte Rita Stumpp sind im Jemen. Sie arbeiten für einige Wochen in einem jemenitischen Krankenhaus. Vor ein paar Tagen hat sie noch mit den beiden telefoniert. Die Mädels klangen richtig fröhlich und waren voller neuer Eindrücke. Sie freut sich, dass die beiden diese Erfahrungen machen dürfen.

Die Leute in Ehmen grüßen sie, als sie an ihren Vorgärten vorbei zieht oder zu den Briefkästen eilt. Es kommt ihr vor, als hätte der ganze Ort gute Laune, da macht die Arbeit auch am Samstag Spaß.

Gut, dass Jenna, ihre Jüngste, noch zu Hause ist. Über die Jahre hinweg waren die beiden Großen immer wieder in der weiten Welt unterwegs. Sie unterstützte sie in diesen Vorhaben und gönnte ihnen von Herzen die Erfahrungen im Ausland, dennoch war es auch jedes Mal ein Loslassen, wenn sie die Sachen wieder packten und in die Ferne zogen.

Anita war am meisten unterwegs. Ihrer Ältesten hat es Afrika angetan. Schon einige Male war sie zur Mitarbeit in einem Kinderdorf in Malawi. Im Rahmen ihrer Bibelschulausbildung macht sie nun zusammen mit ihrer Cousine ein Praktikum im Jemen. Der Jemen ist schon was völlig anderes als Portugal oder Malawi, dessen ist sich die Mutter bewusst, sie weiß aber auch, dass die beiden nicht leichtfertig in das Land gereist sind.

Die Reise ihrer Gedanken wird durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen.

Ein Blick auf das Display verrät ihr, dass die Freundin ihres Sohnes anruft. Sie steigt vom Fahrrad und nimmt das Gespräch an. „Rita, die Jugendgruppe der Gemeinde hat schon eine Gebetskette gebildet, wir beten für die Mädels“, die junge Frau will ihr Mitgefühl ausdrücken und die Mutter ermutigen. Rita Grünwald kann das Gesagte aber nicht einordnen. Warum wollen die jungen Leute eine Gebetskette machen? Was ist so dringlich? Wie soll sie das auch verstehen, sie ist noch völlig ahnungslos. Dann hört sie, zwischen den Häusern, neben ihrem Fahrrad stehend, die Schreckensnachricht.

Die Mutter kann nicht fassen, was sie gehört hat. Es kann nicht wahr sein, es darf einfach nicht wahr sein. Wahrscheinlich ist es ein Gerücht, eine Verwechslung, ein Irrtum. Augenblicklich greift sie mit zittriger Hand nach ihrem Handy und wählt die Nummer von Maria Stumpp, ihrer Schwägerin. Vielleicht weiß Maria etwas, schließlich ist sie auch betroffen, ihre Tochter Rita ist ja mit Anita zusammen im Jemen.

Maria nimmt das Telefon sofort ab. Als Rita die Stimme hört, stockt ihr Herz. Es muss etwas passiert sein. Maria hört sich bedrückt und verstört an.

Stockend und unter Tränen berichtet sie: „Wir hatten einen Anruf von der Bibelschule Brake. Die Mitarbeiterin hat auch bei euch angerufen, aber niemand erreicht.“ Rita Grünwald merkt, dass der Schwägerin das Reden schwer fällt, trotzdem drängt sie: „Maria, was ist passiert?“ Dann hört sie, was sie nicht glauben will: „Seit gestern sind neun Personen, alles Mitarbeiter der Klinik in Saada, in der unsere Mädels arbeiten, verschwunden. Man weiß noch nichts Genaues, aber es deutet vieles auf eine Entführung und Geiselnahme hin. Rita und Anita gehören zu diesen neun vermissten Personen.“

Rita Grünwald hält sich am Fahrrad fest, die Nachricht will den Boden unter den Füssen rauben.

Die Schwägerin hat bestätigt, was sie zuvor von der jungen Frau schon erfahren hat. Anita, ihre Tochter, und Rita, ihre Nichte, werden vermisst. Ihre Gedanken überschlagen sich: Im Jemen entführt. Opfer einer Geiselnahme. Geiselnahme! Anita und Rita Geiseln? Nein, das kann nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein!

Die Sonne hat ihren Höhepunkt erreicht und strahlt in voller Pracht auf Ehmen herab. Für Rita Grünwald hat sie in diesem Moment jedoch den Glanz verloren. Eine dunkle Wolke der Ungewissheit und Angst hat sich auf ihre Seele gelegt.

Sie will sich nicht in ihre Gefühle und Sorgen hineinsteigern. Warum auch gleich das Schlimmste vermuten? Sie schickt ein Gebet zum Himmel und steigt wieder auf ihr Fahrrad. Pflichtbewusst will sie die Arbeit zu Ende bringen und dann nach Hause fahren.

Das Gehörte breitet sich allerdings mit jeder Sekunde mehr in ihr aus. Die Post in ihrer Tasche wird bleischwer, ihre Konzentration ist dahin. Tausend Fragen gehen ihr durch den Kopf. Sie muss unbedingt Näheres erfahren. Im nächsten Moment drängt sich ein weiterer Gedanke auf: Viktor! Weiß Viktor, ihr Ehemann, schon Bescheid? Wenn er informiert wäre, dann hätte er sie angerufen. Sie muss zu ihm, sie muss ihn informieren.

Wie gut, dass ein Kollege bereit ist einzuspringen und die restliche Post in Ehmen zuzustellen.

Erinnerungen auf einem schweren Weg

Auf dem Weg zu ihrem Mann ziehen die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf der Mutter. Es sind nicht nur Sorgen, Fragen und Vorstellungen über das Ergehen von Anita und Rita, sondern auch Erinnerungen. Bilder aus den Kindheitstagen tauchen vor ihrem inneren Auge auf.

Anita, ihr kleines Mädchen mit den großen, hübschen Augen, das 1984 geboren ist.

Rita und Viktor waren damals noch sehr jung und zudem noch gar nicht lange in Deutschland. Ihre Heimat ist in Kasachstan, sie und Viktor stammen aus dem gleichen Dorf, man nannte es einfach „Die vierte Abteilung“. Rita ist 1980 mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Als Viktor mit dem Militär fertig war, verließ auch er „Die vierte Abteilung“ und kam nach. Seine Verwandten wohnten bereits in Wolfsburg. Dort traf er Rita wieder. Die Liebe zwischen den beiden blühte auf, alles nahm ganz schnell seinen Gang. Anita kündigte sich eigentlich zu früh an, sie war noch nicht geplant. Am 4. Oktober 1984 wurde sie in Wolfsburg geboren. Mit ihren großen Augen, den tief schwarzen Haaren und der samtigen Haut eroberte sie die Herzen der Eltern in der ersten Sekunde. Anita war ein bildhübsches Baby.

Über das Gesicht der Mutter huscht ein Lächeln. Sie erinnert sich daran, wie das hübsche kleine Mädchen zum sturen Trotzköpfchen wurde. Von klein an wusste das Kind sehr genau, was es wollte und setzte es auch durch.

Da rollt auch schon die nächste Erinnerungswelle über sie hinweg: Schon im Kindergarten hatte die Kleine ihre Liebe zu Pferden entdeckt. Die Erzieherin musste ihr immer wieder Pferde auf kleine Zettel malen, diese dekorierten dann das ganze Haus und alle mussten sie bewundern. Als Anita größer wurde, wollte sie natürlich ein eigenes Pferd haben. Dieser Wusch war allerdings nicht zu erfüllen. Welche Gründe die Eltern auch nannten, Anita war damit nicht zufrieden. Wenn es schon kein Pferd sein kann, dann wenigstens eine Katze. Es dauerte nicht lange, da hatten die Grünwalds eine Katze. Das war allerdings nur der Anfang, später kamen ein Hund dazu und irgendwann auch noch Hühner. Anita sorgte für ihren kleinen, privaten Zoo.

Der Traum vom Pferd war mit Katze, Hund und Hühner aber nicht ausgeträumt, er fand in einem Pflegepferd seine Erfüllung. Nun schleppte sie ihre Mutter immer wieder mit in den Secondhandshop, dort erstanden sie Gerte, Bürsten, Helm - alles, was die kleine Reiterin eben brauchte. Der Geruch nach Pferdestall war für Anita Duft.

In dieser Zeit hat sie mit ihrem Vater einen schriftlichen Vertrag abgeschlossen, der beinhaltete, dass sie zum 16. Geburtstag ein eigenes Pferd bekommt. Viktor hatte aber Glück, mit sechzehn hatte sie so viele Interessen, dass für ein eigenes Pferd gar keine Zeit mehr war.

In Anitas Leben spielten aber nicht nur die Tiere eine Rolle. Schon früh merkten ihre Freunde und auch Lehrer, dass das kleine, zierliche Persönchen immer auf Harmonie und Gemeinschaft bedacht war. Sie liebte es, unter Menschen zu sein. Zu den Pferdebildchen kamen irgendwann Kinderbilder, aber erstaunlicherweise waren es lauter schwarze Kinder, die hatten es ihr angetan.

Ja, ihre Anita hatte einen starken Willen. Wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, dann blieb sie trotz Hindernissen zielstrebig dran. Das war nicht nur bei den Tieren so und auch nicht nur im Kindesalter. Mit dieser Zielstrebigkeit setzte sie sich für die Kinder in Malawi ein und diese Einstellung brachte sie in den Jemen.

Rita Grünwalds Gedanken gehören in dieser Stunde aber auch ihrer Nichte, die sogar ihren Vornamen trägt. Schon nimmt sie das nächste Bild gefangen:

Ein Mann, der einen kleinen Jungen an der Hand und ein noch jüngeres Kind auf dem Arm hält. Es ist Albert, ihr Bruder. Er sah etwas verloren aus, als wäre er in einer anderen Welt gelandet. So ähnlich war es aber auch. Mit zwei Koffern und etwas Bettzeug kamen sie am 24.12.1985 über Alma-Ata und Moskau aus Kasachstan. Am Flughafen in Frankfurt sah sie Rita, ihre Nichte, zum ersten Mal. Das Bild prägte sich tief in ihr Herz. Zwanzig Monate war das kleine Mädchen alt, das nach ihr genannt war. Rita Grünwald wird diesen Moment ein Leben lang nicht vergessen. Wie sehr hatte sie ihren Bruder Albert vermisst, mit ihm war sie immer durch dick und dünn gegangen, nun war er endlich da. Natürlich hatte sich in ihrer beider Leben viel verändert. Albert hatte zwei Kinder und sie selbst war auch verheiratet und hatte ein kleines Mädchen. Jeder hatte in den zurück liegenden Jahren seine eigenen Erfahrungen gemacht, sie hatten sich viel zu erzählen und dazu war nun Zeit. Sie fuhren vom Flughafen aus zu den Eltern Stumpp. Sie kamen pünktlich an, um miteinander den Heiligenabend zu feiern. Welch ein Weihnachtsgeschenk! Für ihre Eltern war das Geschenk besonders groß, nun waren ihre Kinder alle in Deutschland.

Plötzlich drängt sich mit voller Wucht die Gegenwart in ihre Erinnerungsreise, die Sorge um Anita und Rita. Die Kindertage mit den vielerlei Sorgen scheinen ihr nun so leicht im Gegensatz zu der jetzigen Situation. Wie mag es den beiden gehen? Die Situation ist für die Mutter buchstäblich unvorstellbar. Ihr bleibt nur eine Zuflucht und das ist Gott. Sie lebt schon viele Jahre in bewusster Beziehung zu Gott, deshalb macht sie aus der Sorge ein Gebet: „Du weißt alles, du hast alles in der Hand, auch die Situation unserer Mädchen.“

Unserer Mädchen – ja, es sind „ihre Mädchen“. Rita, ihre Nichte war ihr sehr nahe. Als die Stumpps nach Deutschland kamen, sind ihr Alberts und Marias Kinder schnell ans Herz gewachsen und umgekehrt war es genauso.

Robert und Rita waren zwei quicklebendige, süße Kinder. Es ist, als würde sie die beiden vor sich sehen, wie sie Hand in Hand miteinander loszogen. Ja, so gingen sie Tag für Tag die Straße entlang zum Kindergarten. Robert war der Beschützer der kleinen Schwester. Die beiden waren früh selbständig, Maria machte ja noch eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester, da war keine Zeit zum Verwöhnen. Geschadet hat das den Zweien aber nicht, im Gegenteil, sie entwickelten eine enge geschwisterliche Verbindung und meisterten miteinander ihren kindlichen Alltag.

Es dauerte nicht lange, da kamen weitere Familienmitglieder. Stumpps bekamen ihre Christin und Rita Grünwald brachte Steve und später ihr drittes Kind, Jenna, zur Welt. Der Name ihrer Jüngsten ruft eine neue Geschichte in ihr wach. Sie heißt Jenna, weil Anita es so wollte. Anita kannte ein Mädchen, das so hieß, und sie fand den Namen so schön, deshalb wollte sie, dass ihre kleine Schwester auch Jenna heißt und weil der Name den Eltern auch gefiel, erhielt die Kleine den Namen Jenna.

Eigenartig, selbst die Mülltonnen am Straßenrand bringt sie mit den Mädels in Verbindung: Anita und Rita hatten ständig Ideen. Eines Tages steckten sie ihre kleinen Schwestern in Mülltonnen, nur die Köpfe der kleinen Damen schauten noch heraus, so zogen sie die Mädchen durch die Straße, alle vier kicherten und kreischten dabei.

Die Cousinen, Anita und Rita, sind wie Schwestern aufgewachsen. Die ganze Kindheit über hingen sie aneinander. Sie waren sehr verschieden und hatten doch viele Gemeinsamkeiten. Rita war immer ein geballtes Energiebündel. Der Sport war ihr Ding. Sie turnte und brachte es bis zur Landesmeisterin. Maria und Albert, die Eltern, dachten gar nicht daran, dass sie es so weit bringen könnte. Die Tochter nützte das für einen cleveren Deal aus: „Wenn ich Landesmeisterin werde, dann kauft ihr mir ein Kaninchen.“ Die Eltern sagten zu, sie wähnten sich auf der sicheren Seite und waren sicher, dass das Kaninchen keinen Einzug halten würde. Das Turnier kam und am Ende war Rita Stumpp Landesmeisterin und wenige Tage später auch glückliche Besitzerin eines Kaninchens.

Ach ja, diese Mädel, sie sorgten immer für Überraschungen. Aber all das ist lange her. Nun sind sie erwachsen und noch immer sehr verschieden und doch auch ähnlich. Beide verbindet die tiefe Liebe zu Gott und den Menschen. Wenn irgendjemand Hilfe braucht, dann ist Rita zur Stelle, niemals würde sie jemand im Regen stehen lassen. Sie hat ein weites Herz für andere und ist gerne bereit zu vergeben. Rita kann nicht lange nachtragen, sie ist immer bereit, auf Menschen zuzugehen, die klar Schiff wollen.

Anita ist etwas verschlossener, aber zielstrebig und willensstark, dennoch ist sie sehr einfühlsam. Auch sie kann niemand leiden sehen, sie muss sich für Benachteiligte einsetzen, sie kann gar nicht anders. - So sind sie, ihre Mädchen, kein Wunder, dass sie sich die tätige Nächstenliebe auf die Fahnen schrieben und in das Armenhaus Arabiens zogen.

Da ist sie wieder, die Gegenwart, und damit auch die Tatsache, die wie Blei auf der Seele der Mutter liegt. Sie versucht sich zu beruhigen. Es muss ja alles gar nicht so schlimm sein. Im Jemen gab es schon so manche Entführung, mit der irgendwelche Dinge erpresst wurden. Sie erinnert sich an Berichte, wo die Geiseln unversehrt frei kamen.

Nun wird ihr wieder bewusst, wohin sie fährt, was ihre nächste Aufgabe ist. Sie muss zu ihrem Mann, sie muss ihm diese traurige Nachricht überbringen, er darf es nicht von anderen erfahren. Wie wird er reagieren?

Viktor hat es nicht gerne gesehen, dass seine Tochter in dieses arabische Land zog. Was wird die Nachricht bei ihm auslösen? Ihr Herz zieht sich bei dieser Frage zusammen. Sie selbst spürt schon jetzt, dass sie in ihrer Beziehung zu Gott Kraft und Trost findet, aber Viktor hat diese Quelle nicht.

Selbstvorwurf, Vorwurf, Unverständnis