Die Vögel singen weiter - Lea Söhner - E-Book

Die Vögel singen weiter E-Book

Lea Söhner

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Beschreibung

Nun sitze ich selbst unter einer Buche. Nicht zum Sterben, sondern um die Sonne zu genießen, meine Leere zu erkunden und an dich zu denken. Vielleicht auch, um ein bisschen zu weinen. Ich will dir erzählen, von mir, von dir und Resümee ziehen aus unseren schwierigschönen gemeinsamen Jahren. Doch hier im Friedwald fallen mir vor allem Geschichten vom Sterben ein. Als ob die Seelen vorbeistreiften und mir einen Wink gäben. Als ob sie mir zärtlich zuflüsterten: "Erzähl auch von mir." Als ob sie mir Bilder schenkten von ihrem Leben, während sie noch bei uns waren. So entfaltet sich ein Kaleidoskop aus immer neuen Bildern von Menschen, die ihren Weg zu Ende gegangen sind. Wie einzelne Perlen in den Farben von Reue, Versöhnung, Liebe und Schuld flechten sich die Erzählungen in unsere gemeinsame Geschichte ein und hinterlassen mich mit Stille und Zuversicht.

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Seitenzahl: 204

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Inhalt

Einführung

Heinrich

Emma

Irmgard

Opa Rudolf

Gertrud

Dhyan

Fräulein Schmälzle

Friedrich und Hannah

Marie

Irmgards letzte Reise

Freddy

Käthe

Michael

Danksagung

Über die Autorin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

© 2022, Lea Söhner · lea-soehner.de

Satz u. Layout / e-Book: Büchermacherei · buechermacherei.de

Lektorat: Nadja Bobik · lektorat-mit-herz.com

Korrektorat: Dorrit Bartel · dorritbartel.eu

Covergestaltung: OOOGrafik · ooografik.de

Bildquellen: #106028266, #291469820 | AdobeStock

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-66899-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-66902-4

ISBN E-Book: 978-3-347-66903-1

Für meine Eltern

Erst jetzt kann ich dir die Geschichte meines Onkels erzählen, der nie mein Onkel geworden war, der nur Heinrich blieb, der Bruder meines Vaters. Heinrich, der zum Sterben an einen Baum gelehnt worden war und der niemals zu Ende betrauert werden konnte, weshalb die Trauer immer noch zähflüssig in den Stiefeln meines Vaters steht. Manchmal ist sie über den Rand geschwappt und ich bin hineingetreten. Nie wieder habe ich sie von den Füßen wegbekommen. Ich bin mit der Traurigkeit verwachsen. Sie gehört zu mir auf jedem meiner Lebensschritte, denn die Tränen, die der Krieg hinterlassen hat, können nicht nur von einer einzigen Generation weggeweint werden.

Erst jetzt kann ich dir Heinrichs Geschichte erzählen, jetzt, da ich durch dich den Tod gespürt habe wie einen freundlichen Hauch, da ich dabeisaß, als auch du in die andere Welt hinübergesickert bist, als du dich unter meinen Händen aufgelöst hast, so dass die Wand, die vorher fest und dick zwischen dem Leben und dem Tod gestanden hatte, zu Nebel verdampfte.

Nun sitze ich selbst unter einer Buche. Nicht zum Sterben, sondern um die Sonne zu genießen, meine Leere zu erkunden und an dich zu denken. Deine Urne ist hier begraben, hier unter der Buche im Friedwald.

Ich sitze da, um Löcher in die Luft zu starren. Vielleicht auch, um ein bisschen zu weinen. Geschichten möchte ich dir erzählen, von mir, von dir, wie sie mir einfallen, die schönen und die hässlichen. Doch hier unter der Buche im Friedwald fallen mir vor allem Geschichten vom Sterben ein. Als ob die Seelen vorbeistreiften und mir einen Wink gäben. Als ob sie mir zärtlich zuflüsterten: „Erzähl auch von mir.“ Als ob sie mir Bilder schenkten von ihrem Leben, während sie noch bei uns waren.

Ob du wohl die beiden Schmetterlinge sehen kannst? Tanzen sie für dich? Oder bringen sie Botschaft von jenem fernen Onkel? Möchte Heinrich in meine Trauer um dich eingeschlossen werden, damit seine Seele endlich Frieden findet?

Heinrich

Die Schmetterlinge sind wiedergekommen. Schon früher haben sie für ihn getanzt. Wärme umhüllt ihn, füllt ihn aus. Schwerelos wird er, wie die beiden Pfauenaugen, die zwischen den Blättern flattern. Ihr zärtlich-luftiger Liebesreigen scheint ihm zu gelten. Was flüstern sie ihm zu, diese zwei? „Erinnere dich noch einmal, dann flieg mit uns.“

Auch Vögel hatte er geliebt. Sie sangen für ihn und die Blumen verschenkten sich mit ihrem Duft und ihrer Schönheit. Wie sehr er die Arbeit gemocht hatte: Allein in den Weinbergen, diese Stille, in die er eintauchen konnte wie in eine andere Welt. Das Knacksen der abgeschnittenen Reben, Vogelgezwitscher, der trunkene Flug der Hummeln durch die kristallblaue Luft, Fliegengesumme, sein eigenes Liedchen auf den Lippen und immer wieder Schmetterlinge in ihren tausend Farben.

Die Mutter erscheint ihm – groß und stark. Wie gerne hatte er mit ihr zusammen im Krautgarten gearbeitet. Auch dort tummelten sich Schmetterlinge. Nicht alle mochte die Mutter. Die Kohlweißlinge, deren Raupen den Kohl fraßen, konnte sie nicht leiden, er aber hatte alles geliebt, was da so luftig und leicht herumflatterte. Fliegen sollte man können!

Als er noch ein Kind war, gab ihm seine Mutter oft das innerste Herz des Kopfsalats zu essen. Er genoss diesen feinen, leicht bitteren Geschmack, frisch und durchwärmt von der Sonne. Wie die Sommerwärme lag auch ihr Blick auf ihm. Mit Wohlbehagen biss er in die zarten hellgelben Herzblätter. Manchmal strich die Mutter ihm über seinen blonden Haarschopf, nur beiläufig, ein bisschen geniert, bevor sie sich rasch dem nächsten Arbeitsschritt zuwandte.

Als Paradies erscheint ihm die Kindheit jetzt, da die Erinnerungen durchscheinen wie die Sonne durch die Gräser. Nun kommt der Schmerz wieder, reißt ihn in Stücke, seine Hand ist nass vom Blut, keine Kraft mehr, das Loch im Bauch zusammenzuhalten.

Er hatte es gewusst in dem Moment. Er hatte gewusst, dass er nicht mehr heimkommen würde, und er sagte es seinem kleinen Bruder, als er das Fahrrad in den Hof schob: „Ich komm nicht mehr heim!“ Und er sah die Angst in den Augen des Jüngeren.

Schweigend wurde das Rauchfleisch aufgeschnitten und das Brot, das gute Weißbrot, von Mutter gebacken, das es in diesen Zeiten nur selten gab. Jetzt bekam er es als Vesperbrot mit auf seinen Weg in den Krieg.

„Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …“

Das Gebet, so oft gemeinsam gesprochen, so vertraut. Zentnerschwer wog jetzt jedes Wort. Sorgenvoll die Augen der Mutter. Sie sollte nicht sehen, dass er um sein Schicksal wusste, sie wollte es auch nicht sehen, und er verbarg seinen Blick vor ihr. Schweigend war der Abschied von den Eltern, den Schwestern und dem kleinen Bruder. Gotthilf, der Älteste war schon in Russland. An ihn dachte man jetzt auch.

Sie standen unter dem Hoftor und schauten ihm wortlos nach. Nicht umschauen, nur nicht umschauen. Ein Schritt um die Ecke und sie würden ihn nicht mehr sehen. Es war, als triebe man einen Keil in sein Leben. Wie in ein Holzscheit, den man spaltete.

Was folgte, waren Schwärze, Härte, Kälte, Tod, Tod, Tod. Hass, das war es, was er nicht zu entwickeln vermochte. „Schieß!“, hieß es. Er konnte nicht, obwohl er es doch soeben gelernt hatte.

„Schieß, schieß!“

Da waren Augen ihm gegenüber: Panik, Verzweiflung, Stolz, Erstaunen im Blick des dunkelhaarigen Kindes.

„Schieß! Schieß endlich, du Idiot!“, schrie es in sein Ohr.

Er schoss – Lachen, böses Lachen.

„Na also, geht doch!“

Menschen fielen um, sackten in ihr Blut. Dunkelheit, schwarzes Eis, die Schmetterlinge waren längst geflohen, auch die Sonne und der Wind.

Truppen wurden von Ost nach West verlegt und er wusste, sie würden mit dem Zug durch sein Dorf fahren. Er schrieb Feldpost: „Ich fahr durch Schwaigern, ich werde winken.“

Und er wusste, sie würden täglich am Bahnhof stehen. Immer mittags, wenn die Soldatenzüge vorbeirauschten, um ihn für einen Moment am Fenster winken zu sehen. Doch als der Zug durch den Heimatbahnhof fuhr, schloss er sich in die Toilette ein und weinte.

Bald hatte sich alles gewendet. Der Feind rückte näher, Kameraden neben ihm fielen in den Dreck. Aufspritzende Gehirne, splitternde Knochen, abgeschossene Hände – immer leichter fiel ihm das Töten. Der Hass hatte sich endlich eingestellt und wuchs mit jedem zerfetzten Kameraden. Wie ein schwarzes Ungeheuer beflügelte er ihn, überrauschte seine Taubheit. Den Ami-Schweinen werd ich’s zeigen! Sportlich fühlte er sich, dann endlich: Er wurde getroffen. Das Geschoss zerriss seinen Leib, aber schon vorher war alles andere in ihm zerrissen. Nur noch Schmerz war da und Schreien, Dreck, Schlamm, Blut.

Die Bucheckern treiben schon aus. Eine Buche ist es also, unter der ihn seine Kameraden liegen haben lassen. Das schmerzende Tier in ihm beruhigt sich, bald müsste sein Geburtstag sein. Siebzehn Jahre wäre er geworden und seine Mutter wird schweigend weinen. Sie wird ihn nicht wiedersehen. Ihren Schmerz fühlt er jetzt, diesen alles zerreißenden Schmerz in seinen aufgesprengten Gedärmen, den Schmerz, der den Vater niederhämmert, bis sein Rücken krumm ist und er nicht mehr geradestehen kann. Auch der ältere Bruder wird nicht mehr kommen, er weiß es jetzt in diesem Moment. Die silbrige Luft sagt es ihm, sie lässt ihn noch einmal atmen. Noch nie hat er ein Mädchen gehabt. Warum fällt ihm das gerade jetzt ein? Sind es die beiden Schmetterlinge, die ihn ans Leben erinnern? Das Frühjahr, so schön, wie die zarten Blätter glitzern. Alles ist auf einmal leicht. Hell ist der Himmel und groß. Wie ein Vogelflug in die Sonne hinein.

Wie leise es ist, hier im Friedwald. Und wie leicht die Bilder kommen, wenn man still wird. Ich lege eine Bucheckernschale auf den Platz, wo deine Urne vergraben ist. Für Heinrich. Mein weicher Blick ruht auf dieser kratzigen Samenhülle, gedankenverloren, ohne Sinn. Da senkt sich eine Stille in mich, die nicht von mir zu kommen scheint. Auf einmal weiß ich, dass jetzt alles gut ist.

Ungenutzt lasse ich die Zeit verstreichen. Sie streicht um mich herum, rennt nach vorne, hüpft zurück und immer lässt sie uns denken, sie liefe geradeaus. Was sie nie tun würde. Rückwärts geht sie jetzt, weit zurück, dahin, wo ich herkomme.

Bäuerlich sind meine Wurzeln, das weißt du schon lange und konntest es doch nie nachfühlen. Alle meine Ahnen waren Bauern und Bäuerinnen. Ich trage es in mir, das Bauern-Dasein, die Erinnerung an den Duft der frühlingshaften Erde, den Jubel über die herrliche Erdbeerzeit, die Wärme der Sonne und die Freude über die Fülle der Feldfrüchte, den Schweißgeruch der Arbeit, den Dunst des Herbstes und die Eile, vor dem ersten Frost alles einzuholen.

Ich kenne den Schock des Frühsommerhagels, der die wohlbestellten Felder zerstört. Ich rieche den Diesel des Traktors, während ich mit Freundinnen, Mutter oder Schwester auf der Pflanzmaschine sitze, singend und schwatzend. Ich spüre die väterlichen Sorgen wie eine unsichtbare Last auf mir, ob der Hof die große Familie ernähren kann. Und ich erinnere mich daran, wie ich meine Vitalität beim Aufladen von Salatkisten genoss.

Auch verhasste Arbeiten gab es, aber wer hat schon gefragt damals. Wengert spritzen. Mit dem Schlepper – Traktor ist ein hochdeutsches Wort und wurde niemals benutzt – mit dem Schlepper also, auf dessen Anhänger ein längliches Fass aus Glasfaserkunstharz stand, voll mit Hektolitern von Pestiziden, fuhren wir hinaus in den Weinberg. Während der Vater mit der Handspritze die steilen Reihen entlangging und jede Rebe sorgfältig abspritzte, saßen wir Kinder rittlings mit kurzen Hosen auf dem Fass. Wir rollten den Schlauch ab und zogen ihn jedes Mal wieder ein, wenn Vater nach oben kam. Der schwarze schwere Schlauch war verschmiert mit Erde und weißlicher Spritzbrühe. Am Abend brannten die Innenschenkel vom Glasfaserfass, die Augen von der Müdigkeit und die Hände vom Spritzmittel. Die Nase war taub vom durchdringenden Chemiegeruch, der Mund pappig, und weil wir uns mit der ungewaschenen Hand den Schweiß abgewischt hatten, bekamen unsere Gesichter manchmal rote Pusteln. Ab und zu war uns auch ein wenig schwindlig.

Unbemerktes Gift atmeten nicht nur unsere Lungen, sondern auch unser kindlicher Geist ein. Unbemerkt, weil wir nichts anderes kannten und die Verformung erst spät spürbar wurde. Wenn überhaupt. Da war der Kindergarten, in dem eine von Nazis geschulte Kinderschwester immer das gleiche Kind bestrafte, gerade das lebhafteste und lauteste. Auch ich war von Natur aus lebhaft und laut. Nicht aber in diesem Kindergarten. Anstatt mich auszudehnen, lernte ich mich einzuengen. Anstatt mich auszudrücken, lernte ich zu schweigen, anstatt mich auszuprobieren, lernte ich nur das zu tun, was sicher war.

Die Schule, wo das Nachplappern belohnt wurde, wo Lehrer uns sprichwörtlich rieten, das Denken den Pferden zu überlassen, hat uns Scheren in den Kopf getrieben, welche bis ins Alter ganze Arbeit leisten. Dieselben Lehrer demütigten schwache Schüler vor der Klasse (meist nur die Jungs) und gaben kritische Fragensteller der Lächerlichkeit preis.

Dicke Luft atmeten wir auch unter der Dunstglocke einer engen Religiosität, des schwäbischen Pietismus, ein. Auch sie hat uns den Geist verwirrt und die eigene Lebensspur verwischt, doch wir konnten ihr leichter entkommen als der allgegenwärtigen Nachkriegsideologie.

Wie unterschiedlich unserer beider Kinderwelten trotz allem waren:

Ich, eines unter fünf Geschwistern – du, einziger Sohn einer Kriegerwitwe.

Ich, eingebunden in die kleinbäuerliche Großfamilie – du, Abkömmling einer großstädtischen Akademikerfamilie.

Ich, bis zur Pubertät die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln – du, die feinen Hände, immer sorgfältig gepflegt.

Ich, eingeschlossen in Scham und religiöse Enge – du, eingeschlossen in das seelische Trauma eines Kriegskindes.

Ich, noch mit dreißig Hemmungen über meinen schlechten Schulabschluss – du mit der nachlässigen Arroganz des Gebildeten.

Ich vierzehn Jahre jünger – du vierzehn Jahre älter.

Wie haben wir uns herausgefordert.

Mit dir begannen die Freiflüge meines Lebens, schmerzhafte Bauchlandungen miteingeschlossen. Du hast mich herausgetrieben aus meinem Nest, das zusammengeflochten war aus dem dornigen Geäst von Kummer, Scham und Selbstzweifeln. Wie wütend du oft warst über meine Verzagtheit. Was haben wir gestritten! Immer spürtest du die Kraft hinter meiner Kleinmütigkeit. Du hast schon das Scharren meiner Füße gehört, als ich es noch vorzog, mich zu verschanzen.

Doch ich bin ausgebrochen und wir haben dreißig Jahre lang miteinander das Leben durchstreift. Voller Aufregung und Abenteuer, voll Freude und Streit, mit Urlaub im Campingbus, mit Firmenaufbau, Gedankentiefe und Konflikten. Wir sind weitergezogen mit Goethe-Gedichten auf den Lippen, mit Geldsorgen und Waldspaziergängen. Wir hatten Liebhaber und Liebhaberinnen und unsere Ehrlichkeit war schonungslos. Wir liebten Bach-Kantaten und sind uns schrecklich auf die Nerven gegangen. Wir brüteten schräge Ideen aus (darin warst du Meister!), wir konnten unsere Gedanken lesen, mochten Tantramassagen und den Kirchenchor. Wir führten ein verrücktes Leben und mancher Drahtseilakt misslang, doch Netz und doppelter Boden waren aus den Seidenfäden der Liebe gewoben – hauchzart, sinnlich, reißfest. So tanzten wir miteinander zwischen Loslassen und Festhalten, zwischen Zank und Zärtlichkeit, und immer noch einmal Loslassen, sich wiederfinden, sich Halt geben, so lange, bis das endgültige Loslassen gefordert war.

Aber das weißt du ja alles. Na und? Es kann vorkommen, dass sich Geschichten wiederholen, wenn man sich lange kennt. Die Trauer selbst ist es, die Erlebtes wiederholt und wiederholt. So lange bis alles gut ist. Dazu braucht sie Zeit.

Schnell, schnell dagegen, soll heute alles gehen. Ein Jahr Trauer, danach braucht man Psychopharmaka. Dem Leben seinen Gang zu lassen, seine eigene Zeit der Regeneration, der Selbstheilung, der Verarbeitung – dafür scheint es kaum Platz zu geben.

Rührendes, Belangloses, in den Sozialen Medien gepostet, mit einem Wimpernschlag wieder vergessen, schnell schnell und die nächste Nichtigkeit ist schon eingetippt. Kitsch und Hits, Kram und Krempel, geistige Umweltverschmutzung.

Das Geschichten-Erzählen ist ein versunkenes Kulturgut. Man sollte es bergen wie einen Goldschatz aus dem Wrack der Welt von gestern.

Geschichten sind eine Art der gemeinsamen Verdauung, ein Wiederkäuen der Geschehnisse, damit das Leben sein Werk der Heilung und der Ganzwerdung verrichten kann.

Wir Älteren tragen immerhin noch romantische Bilder in uns: Lange Winterabende oder Sonntagnachmittage bei Kaffee und Kuchen unter der Birke. Was haben wir getratscht! Schon lange bekannte Begebenheiten wurden hervorgeholt und jedes Mal anders erzählt, Geschichten von verbotenen Lieben, von grandiosen Hochzeiten, von Geburten und vom Sterben. Auch vom Glück und vom Scheitern wurde berichtet und was zwischen den Zeilen verschwiegen wurde, war oft allzu leicht zu erraten.

Die graue Tante Emma kommt mir in den Sinn, von deren spektakulärem Abschied meine Mutter erzählte. Du kennst meine Mutter Lydia und weißt, dass sie ein ausgesprochen nüchterner Mensch ist. Was sie bei Tante Emmas Tod erlebt hatte, vermochte sie nie richtig in Worte zu fassen und doch leuchtete es durch zwischen ihren spröden schwäbischen Sätzen.

Es gibt ein Foto von der Emmatante, wie sie nach damaligem Brauch genannt wurde. Mir sind vor allem ihre enorm dicken, aufgeschwemmten Beine aufgefallen, ihre grau-braune Kleidung, ihr dünnes Haar zu einem brüchigen Dutt gebunden. Sie hatte grobe Hände und natürlich trug sie, wie alle Bauersfrauen, zum Arbeiten immer ein Kopftuch.

Emma

Wir schreiben das Jahr 1956. Es ist Pfingstsonntag und die Emmatante geht mit schwerem Gang von ihrem einsamen Haus zum Hof ihrer Base Marie. Sie soll Maries frisch eingeheiratete Schwiegertochter kennenlernen, man hat zum Mittagessen eingeladen.

Lydia, die junge Bäuerin, begrüßt sie mit einer Herzlichkeit, die Emma tief Luft holen lässt. Es ist, als würde sich sekundenlang ein Schleier heben, der seit so langer Zeit über Emmas Leben liegt, als würde die Begegnung mit dieser unbefangenen jungen Frau in Emmas grauverhangenem Herzen eine Wolkendecke aufreißen, die für einen Augenschlag die Sonne hereinblitzen lässt, bevor sich der Vorhang wieder schließt.

Abends sitzt Emma in ihrer Küche. Gedankenverloren greift sie nach dem Evangelischen Gemeindeblatt, um einen letzten ungelesenen Abschnitt zu suchen, doch Erinnerungen nehmen sie mit wie sanfte Wellen auf dem Fluss ihres Lebens. Vage, fast vergessene Bilder entstehen im Dunst der Träumereien. Da rennt das fröhliche Kind, barfuß wie immer, und luftig verschwimmend mit diesem Kindergesicht taucht Lydias Bild auf, Maries Schwiegertochter, dieser jungen Frau mit dem unverteidigten Herzen eines Kindes. Warum ist Emma selbst niemals eine solch lebensfrohe Ehefrau geworden?

Sie schnauft durch, streicht die Brotkrumen auf dem Wachstuch zu einem kleinen Häufchen zusammen, stützt sich mit den Händen am Tisch ab und schiebt sich hoch. Schwer ist sie geworden, denkt sie, als die Fata Morgana dieses lachenden Kindes noch einmal in ihre Gedanken hineinleuchtet. Goldfarben scheint die Sonne in das blonde Haar, Glitzerfäden durchziehen die Luft in diesem Erinnerungsbild und die alte Frau am Küchentisch fühlt fast noch einmal die Liebe, die dieses Mädchen damals ausgefüllt hatte. Jeder Grashalm lebte, mit jedem Baum sprach sie und jede Schnecke erzählte ihr Geschichten.

Als wolle sie die Erscheinung vertreiben, wischt sie vor sich durch die Luft und begibt sich zu Bett.

Ein Kratzen an der Tür schreckt sie auf und sie weiß, die Dämonen kommen wieder. Schon fängt sie an zu schwitzen, obwohl sie friert. Das Kratzen hört auf und leise öffnet sich die Tür. Der schwere Mann kommt näher, sein Schemen im Mondlicht, seine kurzen Atemstöße. Die Dielen unter seinen Füßen knarren. Sie will schreien, aber kein Ton kommt aus ihrer Kehle. Sie kämpft wie eine Ertrinkende um eine einzige Bewegung, will sich wehren, will schlagen. Doch sie bleibt gelähmt. Eine Wolke aus Schleim und stinkendem Nebel hält sie gefangen. Ekel windet sich in ihrem Rachen, läuft zäh den Hals hinunter. Sie will sich erbrechen, kann nicht einmal husten. Sie kann nicht mehr atmen. Als sie nach Luft schnappend erwacht, spürt Emma die warme Nässe ihres Urins im Laken.

Bis zum Morgengrauen liegt sie wach und diesmal lässt sie das Grauen ihrer Vergangenheit zu. Zum ersten Mal kann sie sogar um dieses lebendige Kind von damals weinen. Dennoch spürt sie, dass das Tränenfass zu groß ist, um ihre Traurigkeit zu Ende zu weinen. Es ist die Trauer um jenes Mädchen, das in ihrem vierzehnten Lebensjahr getötet wurde. Das war, als sie auf dem Gutshof in Stellung war und es war der Chef, der das Mädchen getötet hat.

Damals lief sie nachhause. Vier Stunden brauchte sie und sie wollte nicht zurückkehren. Ihre Mutter sagte, sie könne nicht einfach davonlaufen. Das seien nette Leute und sie bekomme dort ordentlich zu Essen und sogar einen kleinen Lohn. Da könne man doch nicht einfach so weglaufen, wie sehe das denn aus.

Am nächsten Morgen spannte der Vater das Pferd ein und brachte sie zu dem Gutshof zurück. Emma hat sich leer gemacht, als gäbe es sie nicht, als wäre sie anderswo, weit weg, vielleicht in der Stadt, aber sie war noch nie in einer Stadt gewesen. Sie wusste auch nicht, wie man dort hinkommen konnte. Wie gern wäre sie weggegangen, aber sie konnte doch nicht einfach davonlaufen.

Später wurde sie krank. Man nannte es die Schlafkrankheit, weil sie drei Wochen lang nur aufgewacht ist, wenn man sie geschüttelt und ihr Milch eingeflößt hat. Als die Schlafkrankheit zu Ende war, war sie eine andere. Zum Gutshof musste sie nicht mehr. Otto Schreinacker hielt um ihre Hand an und sie sagte ja. Dann fasste er sie an und sie erbrach sich. Er ging nachhause und kam nicht wieder. Niemand sagte etwas. Ein paar Wochen später verlobte er sich mit einem anderen Mädchen.

Dann kam der Krieg. Der Bruder fiel, die Mutter starb und sie führte den Hof mit dem Vater zusammen weiter. Nach dem Tod des Vaters hat Emma die Äcker verpachtet. Mit der Pacht und dem, was in ihrem Krautgarten wächst, hat sie ihr bescheidenes Auskommen. So sind die Jahre dahingegangen.

Fremd ist sie sich und anderen geblieben, selbst im eigenen Dorf. Gewiss, man behandelt sie höflich, doch bei jedem Gruß schwingt unbestimmtes Mitleid, gar ein Anflug von Geringschätzung mit. Sie hat sich so daran gewöhnt, dass sie es kaum bemerkt. Vielleicht liegt es daran, dass sie nie geheiratet hat. Wer ist man schon ohne Kinder?

In manchen Lebensphasen wurde eine alte Sehnsucht wach – laufen, weglaufen, egal wohin. Aber es ist diese Last in ihr, grau und undurchdringlich, die sie immer gehalten hat, die sie unbeweglich gemacht und sie an die Erde ihres Krautgartens gefesselt hat. Mit der Zeit sind auch ihre Beine immer dicker und schwerer geworden. Jetzt ist sie alt, aber diese junge Lydia hat sie angestrahlt, als würde sie das glückliche Kind in Emma begrüßen, als wäre all das Schwere, das sie umgibt, gar nicht vorhanden.

In den nächsten Wochen treffen sie sich häufiger, sie kennen sich jetzt. Lydia bringt ihr alle paar Tage Milch und ab und zu auch ein Stück Braten. Im Krautgarten an der Stadtmauer rufen sie sich Grüße zu oder tauschen Setzlinge aus. Die junge Frau läuft barfuß bis zum ersten Bodenfrost. Wie Emma als Kind.

Kurze Zeit später stolpert Emma an den Steintreppen zu ihrer Haustür. Sie stürzt, doch im Fallen weiß sie, dass es nicht die Stufen sind, sondern ihr Herz, das offenbar nicht mehr will. Die Nachbarin sieht sie liegen, hilft ihr ins Haus, kleidet sie aus und deckt sie zu. Sie fragt, ob sie den Doktor holen soll. „Nein“, sagt Emma. „Aber gib der Marie Bescheid, dass sie ihre Schwiegertochter schickt.“

So kommt es, dass Emmas Nachbarin an der Söhner’schen Haustür klopft und nach Lydia fragt. Die Emmatante liege im Sterben und lasse nach ihr bitten.

Lydia tritt ans Krankenbett und ergreift Emmas Hand. Die fühlt sich noch warm, aber leblos an. In diesem Moment ist es Lydia, als erstrahle schräg über dem Fenster ein weiches, überhelles Licht. Als erklinge Musik wie von tausend Engeln gesungen. Alles erscheint ihr plötzlich schwebend, fließend. Freude erfüllt den Raum und klingt auch in ihr selbst auf. Ein Choral kommt ihr in den Sinn: Gloria sei dir gesungen. Sonst gibt es nichts, was mit Worten zu beschreiben wäre. Kein Umriss, kein Bild, nichts Greifbares. Alles wird Schwingung und befreite Melodie. Ein paar Sekunden und es ist verschwunden, als sei Emmas Seele aus dem Sterbezimmer hinaus getanzt, jubelnd und leichtfüßig, endlich in Freiheit.

Wer kann die Größe eines Schicksals bestimmen? Was ist Emmas kleines Leben im Vergleich zum einsamen Sterben eines Michael Jackson? Wie groß ist das Schicksal eines verhungernden Kindes verglichen mit dem von Napoleon? Wer misst?

Im Gegensatz zu mir bist du atheistisch aufgewachsen. Trotzdem hast du dich in deinen späteren Jahren für Spiritualität geöffnet. Eine vage Sehnsucht lebte in dir. Das vorsichtige Erahnen einer größeren Wirklichkeit hat uns später verbunden. Mit unseren unterschiedlichen Prägungen suchten wir nach dem Darüberliegenden oder vielmehr nach dem tief in uns Liegenden. Du musstest dein atheistisches und ich mein christliches Weltbild loslassen, um das je Eigene zu finden.

War es meine Schuld? Mich vermochte die Frohe Botschaft des Christentums nie froh zu machen. Ein Gott wurde in mich hineingepflanzt, der mit seinen feinen Würzelchen mein ganzes Sein durchzog und der trotzdem auf Distanz blieb. Ein Gott, der einen kritisch beäugte, der alles forderte und dem man nie gut genug sein konnte, egal, wie man sich bemühte. Deshalb musste auch Jesus für uns sterben. Welch eine Logik.

Als ich Kind war, sprach Gott: „Böse von Jugend auf!“ Und ich fühlte mich schuldig. Als mein Körper sich rundete, sprach er: „Alles falsch!“ Und ich schämte mich. Als mein Geist Flügel bekam, stutzte er sie und sprach: „Nur ich allein bin dein Herr.“

Erst nach Jahrzehnten konnte ich im Werk von Johann Sebastian Bach etwas von der Schönheit des Christentums entdecken. Das größte Geschenk des christlichen Glaubens erkannte ich aber, als ich dich kennenlernte. Welch kostbares und in Deutschland so seltenes Geschenk ist es, dass meine Ahnenfamilien gegen Hitler waren. Heimlich lasen sie Texte von Dietrich Bonhoeffer und glaubten, Hitler sei der Antichrist.

Heute schwant mir, dass dies ein fadenscheiniger Trost ist. Die Nazigeneration wurde als Ganzes schuldig gesprochen, ohne Richter, ohne Anklage, ohne Unterschied. Wir Nachfolgenden haben das Gefühl dafür verloren, was es in der Tiefe heißt, von unseren Ahnen abgeschnitten worden zu sein.