Wiederfinden - Lea Söhner - E-Book

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Lea Söhner

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Beschreibung

Stuttgart 1942. Die Eltern der sechsjährigen Helene verschwinden spurlos. Daraufhin wächst sie bei Pflegeeltern in der Schweiz auf und kommt 1955 als junge Opernsängerin zurück nach Stuttgart. Dort trifft sie Paul Schwartz und heiratet ihn, ohne zu wissen, wie unheilvoll seine Familie mit dem Schicksal ihrer Eltern verknüpft ist. Als das Geheimnis schließlich zutage kommt, beginnt eine Reihe von schicksalhaften Ereignissen, die auch das Leben des Sohnes von Helene und Paul tief prägen. Wolfgang führt ein ausschweifendes Leben mit vielen Frauengeschichten und heiratet später die farblose, tugendhafte Bettina. Doch er hat seine Frau gründlich unterschätzt. Will er die Liebe retten, muss er sich endlich den Schatten seiner Vergangenheit stellen. Wie ein Streichholz, das Licht ins Dunkel bringt, aber auch Feuer legen kann, wirkt die Prostituierte Yvonne in die Geschicke aller Generationen hinein. Sie trägt selbst ein Geheimnis, dessen Tragweite ihr erst in ihren reifen Jahren bewusst wird. Die Folge davon bekommt Sarah, die Tochter von Wolfgang und Bettina, als junge Frau zu spüren. Eine Familiengeschichte, die Brücken baut zwischen Opfern und Tätern des Naziregimes, zwischen Religiosität und Prostitution, zwischen Kriegstrauma und Lebenslust. Sie spiegelt die letzten fünfundachtzig Jahre deutscher Geschichte. Nach Lea Söhners erfolgreichem Debüt-Roman Vielleicht im Himmel einmal (Silberburg-Verlag 2017), ist ihr mit Wiederfinden ein wunderbar leichter und doch tiefsinniger Familienroman gelungen. Über Vielleicht im Himmel einmal (Silberburgverlag 2017) wird geschrieben: "… eine Familiengeschichte, die durch falsch verstandenen Gauben geprägt ist, meisterhaft erzählt", dicketilla auf lovelybooks "Hätte Tilmann Moser seine als "Gottesvergiftung" titulierten Erinnerungen nicht in die literarische Form eines fiktiven Gebets gegossen, sondern einen Roman geschrieben – er könnte so aussehen." Deutsches Pfarrerblatt "Dieses Buch zieht den Leser von der ersten Minute in das Geschehen hinein. Die Autorin entführt in eine menschliche Tiefe, die einem phasenweise den Atem stocken lässt." Angelika auf Amazon Dieses Buch (…) ist etwas sehr Besonderes. Der Schreibstil ist klar und leicht verständlich. Die Personen werden so gut beschrieben das man mit ihnen leidet und sich auch freut. Gartenfee von Leserjury

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Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

© 2023, Lea Söhner · lea-soehner.de

Satz u. Layout / e-Book: Büchermacherei · buechermacherei.de

Lektorat u. Korrektorat: Nadja Bobik · lektorat-mit-herz.com

Covergestaltung: OOOGrafik · ooografik.de

Bildquellen: #2219466, #170749857, #316156470, #498745161 | AdobeStock

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-93275-3

ISBN Hardcover: 978-3-347-93276-0

ISBN E-Book: 978-3-347-93277-7

Für Angelika

Schläft ein Lied in allen Dingen

Joseph von Eichendorff

Das Religiöse und das Geschlechtliche sind die beiden stärksten Lebensmächte. Wer sie für ursprüngliche Widersacher hält, lehrt die ewige Zwiespältigkeit der Seele. Wer sie zu unversöhnlichen Feinden macht, zerreißt das menschliche Herz. Und es ist zerrissen worden! Wer über Religion und Eros nachsinnt, muss seine Finger in eine der schmerzlichsten Wunden legen, die in der Tiefe des Menschen blutet.

Walter Schubart, Religion und Eros, 1942

Schmerz

Helene Hinrichsen, Suter, Schwartz, geb. 1936

Mai 1942

Wie ein stummer Lakai steht der Flügel vor ihr, schwarzglänzend und griesgrämig, den Deckel zugeklappt.

»Was hast du? Ich komm doch wieder!«, zischt Helene. Da tritt sie ihm gegen das Schienbein, reißt sein breites Maul auf und schlägt mit der flachen Hand auf die weißen und schwarzen Zähne, dass er einen wütenden, hässlichen Schrei ausstößt.

»Helene!« Der Vater zieht die Augenbrauen hoch. »Wie weit bist du? Gleich müssen wir los.«

»Nur noch die Küche, dann bin ich fertig!«

Bevor sie das Musikzimmer verlässt, streift sie die Bücherwand entlang. Schlaft gut, bis ich wiederkomme und euch lesen kann, denkt sie, denn Bücher verstehen auch gedachte Wörter. Dann rennt sie in die Küche.

»Leb wohl Küchenschrank. Leb wohl Spüle. Leb wohl Tisch.« Sie tappt mit der Hand auf all die Dinge, die ihr so vertraut sind. Hoch und schrill wird ihre Stimme, denn sie muss sich an dem schleimigen Klumpen in ihrem Hals vorbeidrücken, und als Helene das kalte Metall des Gasherds berührt, blitzt ein Bild in ihr auf, das ihre Beine einknicken lässt.

Bevor das Irrlicht von den Knien in den Kopf steigen kann, ertönt Vaters Stimme: »Beeil dich jetzt, Mädchen! Ich gehe schon vor und halte ein Taxi an. Du kommst sofort, in Ordnung?«

»In Ordnung.«

Die Mutter hält ihr den Mantel hin und kniet nieder, um die Knöpfe zu schließen. »Warum kommst du nicht mit, Mama?«

»Du weißt doch, ich komme nach. Wir können nicht alle gleichzeitig fahren. So ist es nun mal.« Sie nimmt Helenes Kopf in die Hände und legt ihre Stirn an die ihre, sodass sich die Nasen berühren. Mamas Nase ist feucht.

»Warum kommst du nicht mit zum Bahnhof, damit wir winken können?«

»Du weißt doch, dann müsste ich den hässlichen Mantel anziehen.«

»Der mit dem blöden Stern?«

»Psst«, macht die Mama. »Über diesen Stern schweigen wir, das haben wir so besprochen, nicht wahr?«

In Helenes Kehle ballt sich eine Regenwolke zusammen. Sie will ihr Gesicht an Mamas Brust drücken, ihre weichen Hände in den Haaren spüren. Warum muss ich gehen, Mama, schreit sie ohne Worte. Da bohrt sich das Klingeln der Türglocke in ihre Ohren.

»Du musst gehen, mein Herz«, sagt Mama und umarmt Helene. Die macht sich frei, schlägt der Mama gegen das Bein und rennt die Treppe hinunter.

Im Taxi legt Papa den Arm um sie, da sprengen die Tränen aus ihr heraus. »Ist schon gut«, sagt er, doch er kann nicht wissen, dass sie Mama geschlagen hat, anstatt sie zum Abschied zu küssen. Bei jedem Schluchzer füllen sich ihre Lungen schon jetzt mit Sehnsucht nach Mamas warmen Lippen und nach dem Samt ihrer Wange.

Der Bahnsteig ist voll von Leuten. Helene hat Mühe, dem Vater zu folgen, trotz seines schleppenden Gangs. Er trägt einen braunen Koffer und sie den Rucksack aus dem schönen bunten Stoff. Pestilenzia, ihre Puppe, ist das einzige Spielzeug, das sie mitnehmen darf. Sie hat zwischen Pestilenzia und Kurt, dem Esel, wählen müssen. Leider muss Kurt nun zuhause bleiben, aber Mama wird gut auf ihn aufpassen. Mama.

Schon wird sie von starken Armen gepackt und in den Waggon gehoben. Helene findet sich in einem einzigen Menschenteig wieder, der sie mit sich schiebt. Gerade will sie schreien, da zieht Papa sie heraus. Er nimmt sie auf den Arm und schlägt die andere Richtung ein. Dort sind sie fast allein.

»Wir fahren erste Klasse«, sagt Papa und Helene spürt, wie er aufatmet.

Auf der langen Reise nach Basel versucht sie, sich an das Bild zu erinnern, das beim Berühren des Küchenherds aufblitzte, aber wenn ein Traum erst einmal im Meer versunken ist, taucht er nicht mehr auf. Das hat Mama ihr erklärt.

»Wir sind an der Grenze angekommen. Bitte halten Sie Ihre Pässe und Papiere bereit«, krächzt es durch den Lautsprecher. Jetzt fährt der Zug langsamer und kommt laut quietschend zum Stehen. Der Vater hält seine Brieftasche so fest, dass seine Fingerspitzen weiß werden.

»Reisepass bitte.« Drei Männer in Uniform versperren die Tür des Abteils.

Papa gibt einem der Soldaten zwei Büchlein aus der Brieftasche. Nur Helene sieht, dass die weißen Fingerspitzen zittern.

»Wohin geht die Reise?«

»Nach Basel, zu Professor Fuchs. Wir haben ein gemeinsames Forschungsprojekt an der Universität.

»Und das Kind?«, fragt der Mann.

»Sie soll mal was anderes sehen, bevor der Ernst des Lebens beginnt. Im Herbst kommt sie in die Schule.«

»Die Frau ist zuhause geblieben?«

»Ja.«

»Gute Reise, Herr Professor.«

»Danke.«

Während der Zug ruckelt und wieder anfährt, atmet der Vater so lange aus, dass Helene meint, er würde schrumpfen. Er zieht sie an sich und lächelt. Papas Jacke riecht nach Pfeifentabak, nach Heimat und nach Güte.

Ein älterer Herr begrüßt Papa am Basler Bahnhof mit Handschlag und legt seine Hand noch einmal obendrauf. Die Männer sehen sich an und nicken.

»Da haben wir ja die kleine Helene!«, ruft der Mann und beugt sich zu ihr hinunter. »Das wird einmal eine Schönheit!«

Helene schüttelt den Kopf.

»Wie? Willst du keine Schönheit werden?«

Helene blickt zu Boden und murmelt: »Ich will Sängerin werden.«

»Prima«, sagt Herr Fuchs, »das passt hervorragend zusammen!«

Die zwei Männer lachen. Papa streicht mit seiner Hand über ihren Hinterkopf, legt seine Arme um ihre Schultern und drückt sie an sich. Wie das Sterntalermädchen fängt sie die Stimmungen ein, die seine Hand herbeizaubern, saugt Wärme, Sanftheit und den väterlichen Schutz mit jedem Atemzug in sich auf und bettet alles zusammen in eine Schatztruhe, als müsste sie Liebesvorräte anlegen. In der Nacht geht sie hinüber ins Zimmer ihres Papas und schläft in seinem großen Bett. Sein Gute-Nacht-Kuss ist rau an ihrer Wange. Auch dieses Raue, Starke kommt in die innere Vorratstruhe.

Papa und Herr Fuchs verbringen den nächsten Tag außer Haus. Die Zeit nimmt kein Ende, während sie auf ihn warten muss, und als sich am Abend die schwere Haustür öffnet, fließt zusammen mit Papa warmes Abendlicht wie flüssiges Gold durch die Tür und bis in ihr Herz hinein.

»Schau Helene«, sagt er später, »ich fahre morgen zurück nach Stuttgart und hole die Mama. In ein paar Tagen sind wir beide wieder hier.«

»Kann ich mit dir mitfahren und die Mama holen?«

»Nein, mein Mädchen, das haben wir doch schon besprochen. Es ist zu gefährlich.«

»Aber warum ist es gefährlich?«

»Weil es auffällt, wenn eine ganze Familie über die Grenze geht. Hast du nicht gehört, wie der Grenzbeamte nach Mama gefragt hat?«

»Und wie lange braucht ihr?«

»Eine Woche, höchstens. Die Fuchsens sind nette Leute, es wird dir gefallen.«

»Nett schon …«

»Versuch einfach mit deiner Pestilenzia zu spielen und dich gut zu benehmen.«

Mit dem Einschlafen zieht eine graue Wolke über Helenes Bett. Sie dehnt sich über ihren Schlaf aus und bleibt auch am nächsten Tag über ihr hängen. Nach Papas Weggang verdunkelt sie sich und von da an schwebt sie ständig über Helenes Leben. Mal ist sie durchlässig, mal undurchdringlich, manchmal sogar vollkommen schwarz. Ab und zu gibt sie ein Loch frei, durch das blauer Himmel und die Sonnenstrahlen durchscheinen können. Aber sie bleibt.

Die Fuchsens sind nett und die Woche ist lang. Frau Fuchs schreibt ihr die Wochentage auf einen Zettel und an jedem Tag, der vergangen ist, darf sie ein Kreuz machen. Sonntag. Montag. Dienstag. Mittwoch. Heute kommen die Eltern!

Herr Fuchs bestellt ein Taxi zum Bahnhof und Helene hüpft an seiner Hand. Sie ist ein wippender bunter Blumenstrauß aus Veilchen, Tulpen und Osterglocken. Die Hand von Herrn Fuchs fühlt sich knochiger an als die von Papa, aber sie erinnert sie trotzdem an zuhause. Viele Leute steigen aus. Manche werden erwartet, umarmen sich oder reichen sich die Hand. Die Sehnsucht nach Mamas weichen Händen, nach ihrem Duft, nach dem steifen Stoff ihres Mantels und nach ihrer Vergebung schlagen wie wiederkehrende Wellen über ihr zusammen. Rasch leert sich der Bahnsteig.

»Sind sie vielleicht auf die Toilette gegangen?«, fragt Helene Herrn Fuchs mit wackeliger Stimme.

»Vielleicht. Dann müssten sie an dieser Stelle vorbeikommen, sie können uns nicht übersehen. Bleiben wir hier sitzen«, spricht er.

Dann spricht er nichts mehr. Langsam zieht sich ein Ring um Helenes Hals. Es wird kalt. Es wird dunkel.

Dann steht Herr Fuchs auf. »Komm«, sagt er. »Wir gehen heim.«

»Vielleicht kommen sie morgen?« Helenes Stimme flackert.

»Vielleicht kommen sie morgen.«

Wieder sitzen sie auf der Bahnhofsbank, als am nächsten Tag der Zug aus Stuttgart eintrifft. Wieder bleiben sie sitzen, bis niemand mehr auf dem Bahnsteig steht. Dann gehen sie heim. Der bunte Blumenstrauß hat sich in ein Bündel Angst verwandelt.

»Sie sind aufgegriffen worden.« Frau Fuchs flüstert diesen Satz im Flur, doch Helene hört ihn. Sie weiß nicht, was aufgegriffen worden heißt, aber sie weiß, dass es ihre Eltern betrifft.

»Du wirst deine Eltern nie wieder sehen, das hast du nun davon!«, kreischt auf einmal eine hässliche Stimme in ihrem Kopf und sogleich sagt Helene laut: »Aber doch, sie kommen wieder!«

»Wir hoffen, dass sie wiederkommen«, antwortet Herr Fuchs. Seine Stimme klingt, als würde er Papier zerreißen. Frau Fuchs sagt nichts, dreht sich um und geht in die Küche.

Beim Abendessen spricht niemand etwas. Nach dem Essen bittet Herr Fuchs Helene in den Salon.

»Helene, ich werde mit dir sprechen wie mit einer erwachsenen Frau. Wir haben eine Nachricht.«

Das Wort Nachricht berührt Helene wie ein brennender Zauberstab. Eine Nachricht. Sie kann nicht mehr an sich halten und beginnt zu schluchzen, es will einfach nicht mehr aufhören. Zu allem Unglück ist Pestilenzia nicht bei ihr. Herr Fuchs tröstet sie nicht und Helene ist froh darüber. Sie versucht, aufzuhören, doch immer wieder schüttelt ein Schluchzer ihren Leib.

»Im Augenblick wissen wir nicht, wo deine Eltern sind. Wir müssen noch warten, bis wir Genaueres hören.« In der Tat spricht Herr Fuchs mit ihr wie mit einer Erwachsenen und das hilft Helene, endlich mit dem Weinen aufzuhören. »Du bist hier in Sicherheit.«

»Und Mama und Papa sind nicht in Sicherheit?«, fragt Helene. Warum wird es so dunkel in diesem Raum?

Herr Fuchs zündet seine Pfeife an und schweigt lange. »Wenn ich ehrlich zu dir sein soll, Helene: Wir wissen es nicht.«

Seltsam tröstlich wirkt dieser Satz, fast wie kühle Salbe auf einer Brandwunde. Herr Fuchs spricht die Wahrheit und das gibt ihr ein merkwürdiges Gefühl von Verbundenheit. Er macht sich Sorgen um die Eltern, dann wird er auch alles tun, um sie zu finden.

Am Abend beim Einschlafen erklingt diese kreischende Stimme wieder in ihr: »Du bist schuld, sie wollen dich nicht mehr! Du hast deine Mama geschlagen. Sie will dich nicht mehr sehen und vielleicht ist ihr was passiert. Dann wärst du schuld.«

»Gar nicht«, sagte Helene, aber sie spürt, wie schwach sie gegen diese mächtige Stimme ist.

»Das Kind muss unter Kinder. Sie kann hier nicht bleiben, da wird sie ja verrückt.« Gerade, als sie am nächsten Morgen in die Küche kommen will, hört sie die Fuchsens miteinander reden.

»Erst müssen wir abwarten, ob weitere Nachrichten kommen.«

»Alfred weiß nur, dass sie von unseren Grenzern aufgegriffen und zurückgeschickt wurden. Ob sie auf dem Rückweg unbehelligt geblieben sind, ist unklar.«

»Warten wir noch ein paar Tage, dann müssen wir eine Lösung für das Kind finden. Sonst werden auch die Nachbarn misstrauisch.«

Helene klopft leise an die angelehnte Tür. »Sind Mama und Papa zuhause? Holen sie mich dann wieder?«

»Wir wissen es nicht, mein Schatz«, sagt Frau Fuchs. »Komm, trink deine Milch und iss den Butterzopf.«

So langsam, wie dieser Tag dahinschwindet, ist in ihrem Leben noch nie einer vergangen. Sie versucht, die Zeit anzuschieben und zu drängeln, aber Tage haben ihre eigene Geschwindigkeit. Mal rasen sie, mal trödeln sie, mal trippeln sie vor sich hin, und manchmal bewegen sie sich gar nicht.

Nach dem Essen zieht sich Herr Fuchs zurück und Frau Fuchs geht in die Küche. Helene schleicht die Treppe nach oben in ihr Zimmer, um nach Pestilenzia zu schauen. Die sitzt noch immer auf dem Bett und ist sehr traurig.

»Du musst jetzt erwachsen sein, Pestilenzia, und nicht immer heulen. Wir müssen fest an Mama und Papa denken. Vielleicht können wir sie herbeidenken.« Sie nimmt die Puppe an sich und zusammen versuchen sie, ganz fest an Mama und Papa zu denken, aber alles, was Helene einfällt, ist dass sie die Mama zum Abschied geschlagen hat und nicht geküsst. Das ist der Grund, warum sie nicht mehr kommen.

Die Wolke senkt sich auf Helene herunter. Sie versucht den Atem anzuhalten, um den dunklen Staub nicht in die Nase zu bekommen, so lange, bis sich die Luft von selbst in ihre Lungen reißt. Angst belegt ihre Zunge und der Klumpen Sehnsucht in ihrem Magen wird immer dicker. Dann gleitet sie aus dem Zimmer, geht auf Strümpfen die Treppe hinunter, so leise, dass niemand sie hören kann. Sie durchstreift einen Raum nach dem anderen. Die Tür zum Musikzimmer ist angelehnt. Drinnen steht ein Flügel. Als sie sich ihm nähert, kreischt die Stimme in ihrem Kopf: »Was machst du! Das darfst du nicht! Hast du gefragt?«

»Das darf ich wohl«, spricht Helene, klappt den Deckel auf und spürt, wie der Flügel sich freut. Geübt dreht sie den Hocker nach oben und nach ein paar Tönen fällt ihr ein Lied ein. Sie spielt es langsam, denn wenn man traurig ist, kann man nicht schnell und fröhlich spielen, das weiß doch jeder. Als sie es fertig gespielt hat, fängt sie noch einmal von vorne an. Zuhause hat sie das Lied auch gespielt und mit Papa zusammen gesungen. Sie kann noch die Worte, auch die Musik dazu schläft in ihrem Bauch, doch als sie singen will, findet sie nur trockenes Laub in ihrem Mund und keinen einzigen Ton. Auch das nächste Lied spielt sie langsam. Dann merkt sie, dass ihr Gesicht ganz nass ist.

Jemand klatscht langsam in die Hände. Herr Fuchs steht der an der Tür. Helene schämt sich schrecklich.

»Du spielst sehr schön«, sagt Herr Fuchs.

Sie starrt auf eine Stelle direkt neben seinen Schuhen.

»Ich höre an deinem Spiel, dass du traurig bist. Du musst verstehen, Mädchen, in Deutschland ist Krieg.«

Helene nickt.

Herr Fuchs klopft ihr auf die Schulter. »Du darfst jederzeit spielen, wenn du willst.«

Der nächste Tag vergeht ebenso langsam wie der übernächste. Herr Fuchs ist viel unterwegs. Sie spielt mit Pestilenzia. Ab und zu ist da wieder diese kreischende Stimme. Sie nennt sie Grippe, das hört sich an wie Gerippe und erscheint Helene passend.

Unten öffnet sich die Haustür. Wie jeden Tag wird sie in diesem Moment von einer Welle aus Freude und Aufregung erfasst. Bringt Herr Fuchs die Abendsonne mit und ihre Eltern im goldenen Licht? Sie rennt sie die Treppe hinunter. Jeden Tag. Da sieht sie den erschöpften Herrn Fuchs und keinen Papa, der nach ihr ruft, auch keine Mama, die ihre Arme aufreißt, damit Helene darin verschwinden kann. Graue Luft und Traurigkeit blasen die Kerze ihrer Freude aus. Jeden Abend. Helene geht wieder nach oben, spielt mit Pestilenzia. Jeden Tag.

»Was rennst du immer runter?«, schrillt Grippe. »Du siehst doch, es bringt nichts.«

Plötzlich ertönt noch eine zweite Stimme in ihrem Kopf. Ganz anders, nicht so hoch und nicht so laut wie Grippe, sondern etwas vernünftiger und erwachsener klingt sie, und sie sagt: »Wenn man es recht bedenkt, hast du Rabeneltern.«

Das Wort Rabeneltern hat Helene gehört, als sie noch in den Kindergarten durfte, bevor sie als Halbjüdin zuhause bleiben musste. Das war vor langer Zeit. Sie hat die Kinderschwester gefragt, was Rabeneltern seien, und dann war Helene froh, normale Eltern zu haben.

»Wenn sie sich für dich interessieren würden, hätten sie dir wenigstens einen Brief geschrieben.« Die neue Stimme drückt sich gewählt aus.

»Nein«, widerspricht Helene. »Nein, meine Eltern sind keine Rabeneltern, das weiß ich. Nicht wahr, Pestilenzia? – Siehst du! Auch Pestilenzia weiß, dass meine Eltern keine Rabeneltern sind.«

»Und warum sind sie dann noch immer nicht hier, in diesem altehrwürdigen Haus?«, fragt die neue Stimme. »Wenigstens eine Nachricht hätten sie dir zukommen lassen können. Wenn sie keine Rabeneltern wären, hätten sie von sich hören lassen.«

Da weiß Helene nichts zu sagen und drückt Pestilenzia an sich.

Am nächsten Abend, als Herr Fuchs die Haustür öffnet, versucht sie langsam hinunter zu gehen, wie eine Erwachsene. Es gelingt ihr nicht. Atemlos ruft sie schon von der Treppe: »Herr Fuchs, haben Sie von meinen Eltern etwas gehört?«

»Nein, leider nicht, Helene«, sagt er. »Wir haben jede Spur zu deinen Eltern verloren. Sie können es nicht riskieren, uns zu schreiben, das wäre zu gefährlich. Wir wissen nicht, wie lange das noch geht, deshalb brauchen wir eine Lösung für dich.«

Lösung? Sie wartet. Großbrand im Inneren.

»Du sollst unter andere Kinder. Hier zu sitzen und zu warten, das ist zermürbend.«

Wieder ein neues Wort: zermürbend. Das hört sich an, wie die Tage, die nicht vergehen und wie die Angst um ihre Eltern, es hört sich auch an wie die Traurigkeit, die ihr Löcher ins Herz reibt. Zermürbend. Dieses Wort wird sie sich merken müssen.

»Dein Vater hat gut vorgesorgt. Von Anfang an hatte er die schlimmsten Befürchtungen.« Dann, etwas leiser, wie zu sich selbst, fügt Herr Fuchs hinzu: »Leider hat er recht behalten.« Dann atmet er durch. »Nun, es gibt also Geld. Wir sind dabei, eine Familie für dich zu suchen, wo du wohnen kannst und wo es auch andere Kinder gibt.«

Das sind keine Worte, das sind Messerstiche: Eine Familie. Andere Kinder. Schlimmste Befürchtungen.

»Und wenn dann meine Eltern hierherkommen und mich nicht finden?« Helene hört sich fast so schlimm kreischen wie Grippe.

»Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, dass deine Eltern dich sofort finden, wenn sie hier auftauchen. Ich werde regelmäßig nach dir schauen. Du bist mein Mündel, bis deine Eltern kommen.«

Helene steht starr wie einer der Zinnsoldaten im Wohnzimmer ihrer Großmutter, hart und spitzig und mit der Angst im Gesicht, dass er demnächst im Krieg fallen wird.

»Warte noch ein paar Tage, ich muss noch einiges organisieren. Dann werden wir dich gut unterbringen. So, jetzt lass uns zum Abendessen gehen. Es riecht schon gut aus der Küche.«

Helene ist eine leere Bonbontüte: schmutzig, unnütz, zum Wegwerfen.

»Wie war es an der Universität?«, fragt Frau Fuchs beim Abendessen ihren Mann.

»Anstrengend.«

Dann legt sich das dicke Tuch der Stille wieder über den Tisch.

»Iss doch, Kind«, sagt Frau Fuchs. »Schmeckt es dir nicht?«

»Iss wenigstens aus Höflichkeit«, spricht die vernünftige Stimme zu ihr.

Giselle kommt Helene in den Sinn. So heißt diese neue Stimme. Giselle und Grippe. Sie gehorcht Giselle und isst ihr Abendbrot.

Dann wieder ein Abend, an dem unten die Haustür geht. Ihr Herz klopft, aber Giselle hält sie auf dem Zimmer.

»Es bringt nichts, dein albernes Gerenne.«

Doch gerade an diesem Abend ruft Herr Fuchs von unten. »Helene, willst du mich heute nicht begrüßen?« Seine Stimme klingt fröhlich und Helene stürmt die Treppe hinunter.

»Gibt es Nachricht von meinen Eltern?«, fragt sie in der gestelzten, erwachsenen Art, die Giselle sie gelehrt hat.

»Nein, leider nicht von den Eltern, aber ich habe eine Familie gefunden, bei der du leben kannst, bis deine Eltern kommen!«

Helene schrumpft zu einem benutzten Taschentuch zusammen.

»Keine Angst, das sind nette Leute. Sie haben drei Kinder. Jetzt wohnst du schon mehrere Wochen hier und wirst immer stiller.«

Helene nickt. Alles ist leer und die graue Wolke hängt so dicht über ihr, dass sie fast von ihr verschluckt wird.

»Du bist schon sehr erwachsen«, beginnt Herr Fuchs später in seiner Bibliothek. »Deshalb kann ich jetzt offen mit dir sprechen.« Dabei zündet er sich seine Pfeife an. »Du bist Deutsche und Behörden wollen nicht, dass deutsche Kinder hierherkommen und in Pflegefamilien untergebracht werden.« Herr Fuchs macht eine Pause. »Du bist Halbjüdin.« Nach einem Zug aus seiner Pfeife fährt er fort: »Für Juden ist es zurzeit extrem schwierig, in Deutschland zu leben. Ich denke, deine Eltern werden sich durchschlagen. Aber wir wissen es nicht, und vielleicht müssen wir abwarten, bis dieser Albtraum vorbei ist.«

Juden. Halbjüdin. Albtraum. Durchschlagen. Grenze. Die dunkle Wolke über ihr ist aus solchen Worten geformt. Helene nickt stumm. Auch Grippe und Giselle bleiben seltsam ruhig.

»Ich konnte dir einen schweizerischen Pass besorgen, auf den Namen Helene Suter.« Als Helene nicht antwortet, spricht Herr Fuchs: »Das bedeutet, dass du ab jetzt Helene Suter heißt.«

»Aber ich heiße doch Helene Hinrichsen!«

»Genau. Und ab heute darf das niemand mehr wissen. Die Gestapo hat lange Arme bis in die Schweiz hinein. Auch die Kinder, mit denen du jetzt wohnen wirst, dürfen das nicht wissen. Du heißt ab jetzt Helene Suter.«

Sie schaut auf seine makellos glänzenden Schuhe. Das Wort Gestapo hat sie schon gehört, das muss ein grausamer Drache sein, mit Armen, länger als die Eisenbahn.

»Ich dachte mir schon, dass du groß und vernünftig bist. Sollen wir deinen neuen Namen üben?«

Helene zögert und nickt dann.

»Wie heißt du?«

»Helene Suter.« Das Wort schwebt so leise aus ihrem Mund wie ein Löwenzahnschirmchen.

Herr Fuchs bittet sie, es zu wiederholen. »Schaffst du es, in der neuen Familie, nicht viel über dich zu erzählen? Sag den Kindern, deine Eltern seien in den Bergen verschollen. Mehr sagst du nicht.«

Helene nickt, obwohl sie nicht weiß, was verschollen heißt, und Berge kennt sie nur aus ihrem Bilderbuch. Grippe und Giselle schweigen.

»Ich war heute in Bern und habe mir das Haus angeschaut, wo du wohnen wirst.« Herr Fuchs macht eine kurze Pause und zieht den Rauch seiner Pfeife ein. »Es sind einfache Leute, aber das Wichtigste ist, dass wir eine intakte Familie mit aufgeweckten Kindern haben.«

Helene steht vor Herrn Fuchs wie ein Karton, hohl, stumm, taub.

»Übermorgen machen wir uns auf den Weg nach Bern. Und denk immer daran: Du bist jetzt mein Mündel und ich schaue nach dir. Wenn du irgendetwas brauchst, kannst du mir jederzeit einen Brief schreiben.«

Helene nickt. Dass sie noch gar nicht schreiben kann, fällt ihr erst später ein.

»Dann lass ich dich jetzt. Wenn du willst, kannst du Klavier spielen oder auf dein Zimmer gehen.«

Helene versteht nicht, was sie jetzt tun soll.

Herr Fuchs nickt ihr freundlich zu. »Du darfst jetzt gehen«, sagt er.

Da zischt Giselle in ihrem Kopf: »Merkst du nicht, dass du das Zimmer jetzt verlassen musst?«

Helene dreht sich um und öffnet die schwere Tür. Aber nicht weit genug, und als sie den nächsten Schritt nach draußen tun will, schlägt sie mit dem Kopf an die Türkante. Das tut sehr weh. Trotzdem fühlt es sich seltsam erleichternd an, als würde sich der Schmerz von innen nach außen Bahn brechen.

Giselle schreit: »Entschuldige dich gefälligst!«

»Oh, Entschuldigung bitte. Gute Nacht, Herr Fuchs«, sagt Helene.

»Hoffentlich hast du dir keine Beule geholt.« Herr Fuchs schmunzelt.

Auf der Eisenbahnfahrt am Sonntag spricht er nur wenig. Als niemand mehr im Abteil sitzt, gibt Herr Fuchs ihr ein kleines rotes Büchlein mit einem großen weißen Kreuz darauf. »Am besten, du steckst das in deinen Rucksack. Das ist dein Schweizer Pass. Verliere ihn nicht, pass immer gut darauf auf«, sagt er leise. »Weißt du noch deinen neuen Nachnamen?«

Helene erschrickt.

»Suter heißt du jetzt. Helene Suter.«

»Helene Suter«, wiederholt sie, und ihre Stimme liegt im Sterben.

Da ertönt, förmlich wie immer, Giselle in ihrem Kopf: »Am besten, du sprichst gar nicht mehr, damit du nichts Falsches sagst.«

Grippe kreischt: »Jawohl! Du kannst mit uns sprechen, das sollte dir reichen. Dann machst du nicht ständig irgendwelche Fehler.«

Das erscheint Helene vernünftig. So kommt es, dass ihr neuer Name für viele Jahre das Letzte ist, was Helene sagt.

»Grüessäch, Herr Profässor!« Eine breite Frau mit Kopftuch und einer großen Schürze füllt den Eingang zum Haus vollständig aus. Dann beugt sie sich zu Helene, streckt ihr die Hand hin und sagt: »Daas is es Meitschi. Zu mir chasch itz Muodr säge.« Ihre Hand ist ein Holzscheit, rau und rissig, und Helene fragt sich, welche Sprache diese Leute sprechen.

In der Küche stehen drei Kinder im Halbkreis um sie herum und glotzen sie an. Herr Fuchs stellt Helene vor. Er sagt Helene Suter. Dann bittet er die Kinder, ebenfalls ihre Namen zu nennen. Da ist Beat, er ist schon elf Jahre alt, dann das Anneli, sie ist neun, und zuletzt – viel jünger als Helene – das Vreneli. Frau Henggerter schickt ihre Kinder in den Garten, damit sie in Ruhe mit dem Herrn Professor und dem neuen Mädchen sprechen kann.

»Das isch as Judemeitschi uus Dütschland, gäou?«

»Frau Henggerter, es wäre gut, wenn Sie dies nie wieder sagen würden, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Nein, es ist kein Judenmädchen aus Deutschland! Helene besitzt einen Schweizer Pass und es hat alles seine Ordnung.« Herr Fuchs spricht freundlich, aber Helene fühlt das Schwert in seinen Worten. »Das Mädchen ist auch kein Verdingkind. Wir bezahlen Sie gut dafür, dass das Kind hier Heimat und Geschwister findet.«

»Gwüess doch, Herr Profässor«, sagt Frau Henggerter. »Mir häbet Sorg zu däm Meitschi.«

Förmlich verabschiedet sich Herr Fuchs zuerst von Frau Henggerter, dann von Helene. Als er das Haus verlässt, nimmt er in seiner braunen Aktentasche ihr bisheriges Leben mit. Helene klebt am Fußboden der fremden Küche und starrt auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hat. Als der Lärm der hereinkommenden Kinder in ihre Welt einbricht, steht sie noch immer reglos an derselben Stelle.

Zum Abendessen kommt auch Herr Henggerter. Er hat staubige, struppige Haare und rote Wangen. Zwischen der Nase und den Mundwinkeln sind tiefe Furchen. Mit ernstem Gesicht nickt er Helene zur Begrüßung zu. Streng und erschöpft sieht er aus, und die Kinder sind viel ruhiger, wenn er im Haus ist. Dann zeigt man ihr, wo sie schlafen kann. Es ist ein kleines Zimmer, in dem auch Anneli und Vreneli ihre Betten haben. Noch nie hat sie in einem Zimmer mit anderen Kindern geschlafen. Zum Glück ist Pestilenzia mit dabei.

In den nächsten Tagen lösen sich einzelne Worte aus dem Klangteppich der fremden Sprache und fallen wie Perlen in ihre Hände. Sie fängt sie auf und hält sie gegen das Licht, schüttelt sie, lauscht in sie hinein, und schon nach einer Woche versteht sie alles, was gesprochen wird. Sie hat sich selbst hineingeflochten in dieses bunte Tuch aus krachigen, rollenden, singenden Tönen.

Das Haus der Familie ist viel kleiner als ihre Wohnung in Stuttgart mit ihren hohen Decken. Es ist auch kleiner als das Haus von Herrn und Frau Fuchs, trotzdem wohnen viel mehr Leute darin. Da gibt es die große Küche, die gleichzeitig Esszimmer und Salon ist. Im Nähzimmer von Frau Henggerter stapeln sich Stoffe, Kleider, Hosen, Jacken, die geändert oder repariert werden. In einer Ecke des Nähzimmers hat Beat sein Bett stehen. Ein Musikzimmer gibt es nicht, auch keine Bibliothek und keinen Flügel. Draußen fällt ein Garten bis hinunter zum Fluss mit Beeten von Gemüse und einer kleinen Hütte auf einem eingezäunten Platz. Dort weiden vier Schafe. Die Werkstatt von Herrn Henggerter ist an das Haus angebaut. Er ist Schreiner und macht Tische und Schränke aus Holz. Oft ist er auf einer Baustelle, wie man ihr sagt. Sie weiß nicht, was eine Baustelle ist, das Wort hört sich aber gut an. Ungefähr wie Bauklötze. Ganz unten, wo der Garten aufhört, rauscht ein riesiger Fluss, der so schnell fließt, dass man ihm kaum mit den Augen folgen kann.

Eines Morgens wird sie von Geschrei aus dem Schlaf gerissen. Ein Schaf hat Junge bekommen. Sie rennt den anderen hinterher und sieht drei kleine Lämmer, die noch wackelig auf den Beinen stehen, aber schon versuchen, an ihrer Mutter zu nuckeln. Eines der Schäfchen ist ein wenig verletzt, es kann nicht allein aufstehen.

»Mir müesset haut waarte«, sagt Herr Henggerter. Er macht ein schleifendes Geräusch, indem er mit der Hand an seinem unrasierten Kinn reibt. Aber Helene muss nicht warten, sie wird zu einem Ozean aus Liebe für dieses Schäfchen. Seine Mutter stößt es weg, als es trinken will. Vorsichtig nähert sich Helene und sieht, dass eines seiner Beinchen kürzer ist. Sie denkt viele liebe Worte und das Schäfchen versteht alles, auch ohne dass sie spricht.

»Man muss ihm Milch mit der Flasche geben, sonst überlebt es nicht«, sagt jemand hinter ihr. So beschäftigt war sie, dass sie die Anwesenheit von Herrn Henggerter vergessen hat. Er melkt das Mutterschaf, dann füllt er die Schafsmilch in eine Saugflasche und reicht sie Helene. Als sie das Lämmchen an der Flasche saugen lässt, durchflutet sie ein goldenes Glück, wie die Abendsonne, die damals mit Papa durch die Tür geflossen ist.

Papa. Mit der Erinnerung an Papa trinkt sie einen Schluck Schmerz, der ihr die Kehle verbrennt, doch das Schäflein schnappt nach der Saugflasche und Helene ist nur noch Liebe. Kurt, schießt es ihr durch den Kopf. Da sticht ihr das Heimweh in die Flanke. Kurt, den Esel, hat sie zuhause im Kinderzimmer liegen lassen müssen. Kurt heißt das Schäfchen für Helene, aber das können die anderen nicht wissen, sie nennen es s’chlinni Schääfli. Auch sie wollen ihm die Flasche geben, verlieren aber nach kurzer Zeit das Interesse.

Als Helene an diesem Abend zu Bett geht, ist die graue Wolke verschwunden. Sie kann die Zimmerdecke über ihrem Bett sehen, und wenn sie zum Fenster hinausschaut, sieht sie das dunkelblaue Himmelstuch über und über mit leuchtenden Goldsternen bestickt. Vielleicht hat Herr Fuchs recht und das Warten auf die Eltern ist an diesem Ort besser als bei Fuchsens.

Der Postbote bringt einen Brief für Frau Henggerter. Er ist von Herrn Fuchs. Im Umschlag liegt ein weiterer kleiner Brief für Helene.

Liebe Helene,

in zwei Wochen sind die Ferien vorbei und du kommst zur Schule. Von Frau Henggerter habe ich erfahren, dass du dich gut eingelebt hast in der Familie und ich hoffe, es geht dir gut.

Frau Henggerter macht sich Sorgen darüber, dass du noch kein Wort gesprochen hast. Sie überlegt, dich in die Hilfsschule zu schicken. Aber ich nehme an, du bist gescheit genug, um in die normale Schule zu gehen. Vielleicht wirst du bald wieder anfangen zu reden.

Wie versprochen, melde ich mich sofort, wenn wir weitere Nachrichten von deinen Eltern haben.

Mit freundlichem Gruß

Prof. Dr. E. Fuchs

Als Frau Henggerter mit dem Vorlesen geendet hat, rennt Helene aus der Küche und wirft sich auf das Bett, die Beine angezogen, Pestilenzia fest an sich gepresst. Mama und Papa kommen vielleicht! Ihr Herz hüpft ihr aus der Brust, sie hält mit beiden Händen ihre Bluse fest. Sie kommen vielleicht! Kurt und ihr neuer Alltag mit den Kindern und Nachbarskindern zerfließt zu einer bunten Masse und die Eltern erheben sich aus diesem farbigen Brei, steigen auf in lichtsilbernen Farben und schließen Helene in ihre weichen duftigen Arme. Jetzt sind sie wieder da, in ihrem Herzen, und mit ihnen der reißende Schmerz.

Später schleicht sie in den Garten. Kurt kommt ihr schon entgegengehumpelt. Sie nimmt ihn in die Arme und wiegt ihn vor und zurück, vor und zurück. Da kommt Beat angetrabt, hinter ihm das Anneli und das Vreneli sowie ein paar Nachbarskinder.

»Chunnsch mit? I’ d’Aare.« Beat muss während der Ferien in der Werkstatt des Vaters arbeiten, aber am Nachmittag hat er frei. Er ist ein ruhiger, langsamer Junge und es kommt Helene manchmal so vor, als sorge er sich um sie. Immer lädt er sie ein, wenn die Kinder etwas zusammen aushecken.

Schwatzend und lachend rennen alle flussaufwärts, Helene und Vreneli als Schlusslicht. Sie machen an einer Stelle halt, an der man gut in die Aare steigen kann. Der Nachbarsjunge Teddu und Beat halten das Vreneli rechts und links an den Händen, springen mit ihr ins Wasser, Anneli und die großen Mädchen hinterher. Der Fluss reißt sie sofort mit und binnen einer Sekunde sind alle meterweit abgetrieben. Starr vor Schreck bleibt Helene stehen. Immerhin kann sie noch die Köpfe sehen und das Schreien und Jauchzen hören, sie scheinen keine Angst zu haben. Helene rennt den gleichen Weg zurück, schnauft und schwitzt, aber sie kann die anderen Kinder nicht mehr einholen, so schnell hat der Fluss sie von ihr weggerissen.

Tropfnass kommen sie ihr entgegen, und alle nehmen wieder denselben Weg flussaufwärts. Schwimmen sei ganz einfach, erklären Beat und Teddu, man müsse gar nichts tun, nur eben nicht sinken, und wenn sie wolle, könne man sie in die Mitte nehmen, genau wie das Vreneli. Helene strahlt vor Glück.

Das Wasser ist schockartig kalt und reißt die drei gewalttätig vom Ufer weg. Wie Eisenringe greifen die beiden Jungs ihr Handgelenk, das tut weh und gut. Schwierig wird das Aussteigen. Beat schwimmt auf die großen Steine am Ufer zu, mit einer Hand hält er sich fest, Helene und Teddu werden vom Wasser weitergezerrt. Bevor bei Helene die Panik ausbricht, ist Teddu auch schon mit einer Hand am Ufer. Sie lässt sich ins Gras fallen, über ihr dreht sich der Himmel und in ihr das Glück.

Als der Sommer zu Ende ist, kann Helene schwimmen wie der Teufel. Sie ist braungebrannt, hat Muskeln bekommen, ihre Kleider passen nicht mehr und immer häufiger blitzt die Sonne durch die graue Wolkendecke. Sie kommt nicht in die Hilfsschule, sondern in die normale Schule. Noch immer bleibt sie stumm, doch mit dem Lesenlernen eröffnet sich für sie eine neue Welt.

Die Henggerters sind nett, auch die Kinder, aber sie bleiben ihr fremd. Der ruhige Beat mit dem breiten Gesicht und seinen wachsamen Augen ist ihr am nächsten. Anneli will nur mit den älteren Mädchen spielen und das Vreneli ist zu klein. Doch tagsüber hat sie Kurt und in der Nacht hat sie Pestilenzia, die einzige Zeugin ihres alten Lebens, und wenn sie von Fräulein Seematter, der Lehrerin, ein Buch bekommt, sitzt oder liegt sie tagelang irgendwo, bis sie es zu Ende gelesen hat. Dann spürt sie die leise Ungeduld Frau Henggerters wie ein feines Kribbeln im Rücken. Der Frau ist es fremd, nichts zu tun als zu lesen.

Im Garten werden Kartoffeln, Chabis und Tomaten angebaut, Erdbeeren, Himbeeren, Cassis müssen gepflückt und eingekocht werden. Zwei Apfelbäume und ein Zwetschgenbaum stehen unten am Flussufer. Beat geht jeden Tag nach der Schule in die Werkstatt des Vaters, Anneli hilft beim Nähen und im Garten. Mit der Kartoffelernte beginnt auch Helenes Mitarbeit im Garten und im Haus.

So geht das erste Schuljahr in den Winter, wo sie auf dem Schlitten den Hang hinunter rasen und mit einem scharfen Schwenk kurz vor dem Fluss zum Stehen kommen. Das Frühjahr und der nächste Sommer sind ausgefüllt mit Gartenarbeit, Lesen, Schwimmen in der Aare und vor allem mit Kurt.

Die beiden gesunden Lämmer sind verschwunden. »Verchouft«, sagt Beat. »S’isch Chrieg, da gits wenig Fleisch.« Zum Glück ist Kurt dageblieben, und bald kommen wieder neue Schäflein zur Welt. Auch die sind niedlich, doch für Helene zählt nur Kurt.

S’isch Chrieg. Die schneidende Windböe einer Erinnerung zischt ihr um die Ohren. Es ist Krieg und für Juden ist es extrem schwierig, in Deutschland zu leben. Wie braune Blätter im Herbststurm tosen Herrn Fuchsens Worte um Helene herum, klatschen ihr ins Gesicht, stechen ihr in die Augen und kleben an ihrem Mantel. Hier ist kein Krieg, auch wenn die Leute oft davon sprechen. Man hat Lebensmittelmarken, tauscht Gartenfrüchte aus, Frau Henggerter reibt Kartoffeln in den Brotteig. Alles ist knapp, vor allem Fleisch und Kaffee.

Ist sie ein Judemeitschi? Was ist eigentlich ein Jude? An Weihnachten kann sie sich gut erinnern, denn sie hatten immer einen Weihnachtsbaum und der Vater las aus der Bibel vor. Wenn man an Jesus glaubt, ist man schließlich kein Jude. Was noch? Ihre Mutter hat manchmal mit ihr gesungen.

Die Bilder verschwimmen in ihrer Erinnerung, sie wischt sie weg, aber der Schmerz hat sich mit seinem bitteren Widerhaken bereits in ihre Seele verbissen. Sie will sich im Mantel ihrer Mutter verstecken, in den Falten ihres Kleides verschwinden, ihren warmen Bauch spüren und ihre Hände, die sie umschlungen halten. Sie will ihren Duft einsaugen, auf Papas Schultern sitzen, mit dem Kopf in den Wolken und an den Füßen von seinen Händen sicher umgriffen.

An einem wunderschönen Morgen im Mai reißt ein großer Junge die Tür des Klassenzimmers auf und schreit: »Dr Chrieg isch uus!«

Alle jubeln. Der Krieg ist aus. Können jetzt Helenes Eltern herkommen? Wo sind sie? Warum haben sie sich nicht gemeldet? Zuerst langsam, wie eine zarte Einfärbung der Luft, zieht die dunkle Wolke wieder herbei. Mit ihr kommt das Wissen, dass sie niemals weg gewesen ist. Im selben Maße, wie die anderen jubeln, wird es Helene schwer ums Herz.

»Hab dich nicht so. Du weißt doch, dass deine Eltern Rabeneltern sind!« Da ist sie wieder, Giselle. Rabeneltern. Krieg. Juden. Der Flügel zuhause, den sie gestoßen hat. Dann – das Gefühl kommt zuerst, dann folgt das Bild – der Abschied von der Mutter, die sie geschlagen hat, anstatt sie zu küssen.

Von allen umliegenden Dörfern hört sie Kirchenglocken, es gibt Salutschüsse von den Hügeln und von irgendwoher breiten die Alphörner ihren Zauberklang über das Aaretal aus. Der Krieg ist vorbei und alle Menschen freuen sich.

»Du bist halt nicht normal, bei dir stimmt was nicht!«, kreischt die altbekannte Grippe. Warum freut sie sich nicht?

Auf dem Heimweg streift Helene an einem Gebüsch vorbei, das von langen Brombeerzweigen überwachsen ist. Sie nimmt einen Zweig und sticht sich mit einem Dorn tief in den Arm. Das Blut schwemmt den inneren Schmerz nach außen, sie leckt ihn ab, zerkaut ihn in ihrem Mund, und sofort strömt der Atem wieder leichter in sie ein.

»Pass auf, dass das niemand sieht«, sagt die vernünftige Giselle. Wenn du einmal voller Narben bist, bekommst du später keinen Mann.«

Jauchzende, singende Kinder hüpfen an ihr vorbei und die Nachbarn beglückwünschen sich mit Handschlag, versichern sich gegenseitig, dass der Krieg endlich vorbei ist und die Schweiz zu guter Letzt verschont geblieben ist. Auch zuhause wird gefeiert. Schon lange gab es keinen so guten Braten mehr. Spätzli dazu und Chabis, alle sind ausgelassen. Man stößt mit Gläsern voll Most an und sagt Salut zueinander.

Helene freut sich nur auf Kurt, um ihm alles zu erzählen, denn längst kann er ihre Gedanken lesen. Er stupst sein Schafsköpflein an ihre Nase, wenn sie traurig ist, schmiegt sich in ihre Armbeuge und tröstet sie. Wie oft haben die beiden mutterlosen Kinder miteinander geweint!

Er ist nicht da. Kurt fehlt. Leichte Panik beschleicht sie, denn sie befürchtet, er sei hinunter an den Fluss gehoppelt und vielleicht ertrunken. Aber der Zaun ist unversehrt und die Tür zum Pferch bleibt immer geschlossen. Da kommt Beat aus dem Haus und Helene hebt die Schultern und breitet die Arme aus.

Beat blickt direkt an ihrem Kopf vorbei in Richtung Fluss, dumpf und sorgenvoll sind seine Augen. »Hüüt Zmittag gässe.«

Es dauert, bis Helene versteht. Dann rennt sie hinunter zum Fluss, rennt den Weg flussaufwärts, will hineinspringen ins eisige Wasser, dreht sich um, rennt ein Stück zurück, doch da steht Beat. Sie wendet wieder, rast flussaufwärts, rennt weiter, weiter, weiter, läuft hinauf in den Wald, den sie inzwischen so gut kennt, rennt, rennt, rennt, stolpert, steht auf, rennt weiter, bis sie nicht mehr weiß, wo sie ist. Die dunkle Wolke ist über ihr, unter ihr, vor ihr und hinter ihr, sie sieht nichts mehr und hört nichts mehr. Nur noch rennen kann sie.

Irgendwann fällt sie über eine Wurzel und bleibt liegen, das Gesicht in den trockenen Blättern. Sie hört ihren schnellen Atem, sonst nichts, nur den Atem, der heiß und feucht ihr Gesicht wärmt. Keine Tränen. Augen und Nase sind in den Waldboden gedrückt, er duftet nach Schwärze und nach Vergehen. Hier will sie bleiben, will sich begraben. Sie bedeckt ihren Rücken mit Blättern, atmet Krümel der feuchten Erde ein, steckt sie sich in den Mund, gräbt hektisch mit den Händen ein tieferes Loch für ihr Gesicht. Ihre Augen brennen, alles tut weh und doch spürt sie nichts, nichts, nichts.

Nie wieder aufstehen. Liegen bleiben. Sich eingraben ins Schwarze. Nicht mehr leben. Tot sein, dunkel wie die Erde. Sie schreit stumm ihren Schmerz hinein in den Waldboden und obwohl sie nichts sehen kann, steht plötzlich ihre Mutter vor ihr. Sie trägt den Mantel mit dem hässlichen Stern. Helene rührt sich nicht. Geh zurück Mädchen, sagt die Mama mit ihrer sanften Stimme. Geh zurück ins Leben, mein Kind. Dann, wie ein Traum, der, wenn er einmal im Meer versunken ist, nicht mehr auftaucht, ist die Mutter verschwunden.

Helene bleibt liegen, atmet den Waldboden, spürt das Kribbeln einer Ameise, das Kitzeln der Blätter. Einen halben Meter weiter raschelt etwas, vielleicht eine Maus. So klein wie eine Maus ist auch Helene. Mama, sagt sie wortlos. Mama. Das Rascheln wird lauter. Das ist keine Maus. Es sind langsame, schwere Schritte. Jetzt bleiben sie stehen. Helene rührt sich nicht, sie weiß, dass es Beat ist und dass sie noch eine Weile liegen bleiben darf. Auf einmal fühlt sie sich beschützt und geborgen von diesem seltsamen Jungen. Er wird sie lassen, er wird sie nicht drängen, aufzustehen.

Lange bleibt sie so liegen, bis endlich die Tränen kommen, und sie schluchzt in die Blätter hinein, kann nicht mehr aufhören. Ihr Körper schüttelt sich, sie will zwischen den Blättern verschwinden, und die Erde nimmt ihre Tränen auf, umarmt sie endlich. Ja, du bist zuhause, Mädchen, sagt die kühle Erde, du bist umwoben mit Liebe, gehe in dein Leben. Und schließlich hebt Helene den Kopf. Beat hockt ein paar Meter weiter auf einem Baumstamm. Sie setzt sich auf, sieht ihn kurz an, ihr Gesicht voller Erde und getrockneter Blätter. Er senkt den Kopf. Lange Zeit sitzen sie so, jeder für sich, ohne Worte, ohne Blicke und ohne Gesten.

»Gehen wir heim«, sagt er nach langer Zeit. Helene steht auf und sie gehen zusammen heim.

Beim Spülen nach dem Abendessen verletzt sie sich an der scharfen Schneide des großen Fleischmessers. Eine namenlose Erleichterung überkommt sie, als sie den Schmerz fühlt und beobachtet, wie das Blut aus ihrem Handballen fließt.

Frau Henggerter nimmt ein großes weißes Tuch und verbindet die Wunde. »Pass besser auf, Mädchen! Du bist oft so schusselig«, sagt sie.

Einige Tage später, als Helene – wie so oft – nicht einschlafen kann, schleicht sie hinunter in die Küche und schneidet sich in den Arm. Das Blut leckt sie ab. Dann legt sie sich wieder ins Bett und schläft ein.

In der Familie wird nie über Kurt gesprochen. Allerdings kommen ihre alten Bekannten Grippe und Giselle wieder.

»Du hast nicht auf ihn aufgepasst«, schimpft Giselle, streng wie immer.

»Du bist schuld«, schreit auch Grippe.

»Hättest du Kurt mit in die Schule genommen, wäre ihm nichts passiert.«

Dann wieder Giselle: »Nicht einmal auf ein so kleines Schäfchen kannst du aufpassen!«

Helene kann nichts dazu beitragen. Zu allem, was sie tut, geben sie ihren Kommentar ab. Meistens haben sie recht. Doch eine Kostbarkeit bewahrt sie in ihrem Herzen: Sie hat ihre Mutter gesehen. Vielleicht war es ein Traum, der im Meer versunken ist, aber es war ihre Mutter, die sie gesehen hat, und sie ist da gewesen.

Alle paar Tage geht sie hinauf zu der Stelle im Wald. Sie setzt sich auf den Baumstumpf, auf dem Beat saß, und betrachtet die Stelle, an der sie gelegen hat. Vielleicht kommt die Mama noch einmal. Dann wird sie sie fragen, ob sie schon tot sei und warum sie nie gekommen sei, um sie abzuholen. Im Grund weiß sie, dass die Mutter nicht nochmal erscheinen wird, aber die Bäume und die Walderde strahlen eine Ruhe aus, die ihrer Seele so wohltut, als hätte die Mama heimlich Düfte hinterlassen, die ihr Kraft geben.

In der dritten Klasse bekommen sie einen neuen Lehrer, Herrn Camenzind. Er kommt aus Zürich und will, wie er sagt, den Berner Bauernkindern »ein wenig Kultur beibringen«. Als er fragt, wer von den Schülern in einem Kinderchor mitsingen wolle, schießt Helenes Hand nach oben, ohne dass sie etwas dagegen machen kann. Für eine Sekunde ist Stille in der Klasse, dann sagt Herr Camenzind: »Vielleicht solltest du erst einmal sprechen lernen, bevor du singen lernst.«

Wie eine einzige Explosion bricht Gelächter um sie herum aus. Helene blickt auf ihre Schuhe.

An diesem Nachmittag steigt sie wieder hinauf in den Wald. Sie erinnert sich daran, dass sie einmal singen konnte. Wie aus dunkler Vorzeit tauchen Bilder vom Gesangsunterricht auf und vom Singen mit ihrer Mutter. Auch Mama hat eine wunderschöne Stimme. Das Lied liegt in ihrem Bauch, irgendwo unterhalb ihres Bauchnabels. Es ist die Erinnerung, die nach oben steigt wie der feine Rauch einer weißen Kerze. Sie steigt in ihren Brustraum, in ihre Kehle, und bald beginnt etwas aus ihr heraus zu summen. Bilder mit der Farbe von warmem Gold tauchen auf: dieser Keller, in den die Mama sie freitagabends mitgenommen hat, die Lichter der Menora, die feierliche Stimmung, der Rabbi mit dem schwarz-weißen Tuch um die Schulter, Männer mit Kippa, auch viele Frauen und Kinder und vor allem der Gesang ohne jedes Musikinstrument. Die Kellersynagoge, hat die Mama gesagt, die andere haben sie uns abgebrannt. Während diese vergessen geglaubten Szenen wie zarte Düfte durch ihr Gemüt ziehen, unscharf und wie hinter einem Schleier, wird die Stimme in ihr stärker und drängt von selbst nach außen.

Shma Israel, fließt aus ihr, brüchig zuerst, ganz leise, und sie weiß, dass dieses Lied schon vor ihrer Geburt in ihr geschlafen hat. Es ist das Lied des Rabbiners, das sie in jenem Keller in ihrem Herzen mitgesungen hat, noch bevor sie laufen konnte, und das ihr Mama zuhause zum Einschlafen vorgesungen hat, so leise und so schön, dass die Nachbarn es nicht hören konnten.

Shma Israel. Die hebräischen Worte versteht sie nicht, aber sie kann sie auswendig, und sie weiß mit jeder Zelle ihres Leibes, was sie singt.

Shma Israel

Adonai Eohenu Adonai Echad –

Höre Israel, du bist mein Gott, der Allmächtige!

Immer stärker wird ihr Gesang, immer klarer und freier kommen die Worte und Töne aus ihrer Seele. Das uralte Lied breitet sich aus, die Aare hinunter und über das Tal, bis hinüber zum Jungfraujoch, zum Eiger und zum Mönch. Es scheint ihr, als ob diese ewigen weißen Riesen die Töne sanft zurückschickten, um ihr zu sagen, dass sie nicht allein ist.

Shma Israel – höre Israel –, singt sie und weiß in diesem Moment, dass ihre Mutter sie hört, egal, wo sie gerade ist. Reiner und frischer wird ihre Stimme, die sie schon so lange nicht mehr gebraucht hat.

Höre Israel, du bist mein Gott, der Allmächtige,

und wenn das Herz schweigt,

schreit die Seele.

Ihr Herz schweigt, weil ihre Seele schreit. Aber jetzt hat sie ihre Stimme wiedergefunden. Sie singt und spürt bei jedem Ton eine vieltausendjährige Kraft in sich, die sie mit all den Generationen vor ihr verbindet. Als das Lied zu Ende ist, beginnt Helene von Neuem, diesmal gleich von Anfang an stark und schön, und sie lässt sich von den Tönen und der hebräischen Sprache tragen, die sie niemals gelernt hat und die doch ihre Muttersprache ist. Erst dann hört sie auf zu singen, als das Lied selbst in ihr leiser wird, als es sich langsam wieder zurückzieht in ihren Bauch. Sie bleibt still stehen und hat das Gefühl, für eine kurze Zeit kein Kind gewesen zu sein, sondern ein Mensch ohne Alter. Ein Mensch, wie Gott ihn sieht.

Zuhause hat man sie zum Glück noch nicht vermisst und sie reiht sich in die Kartoffelernte ein, dann füttert sie die Schafe und hilft nach dem Abendessen beim Abwaschen. Abends liegt sie im Bett, mit Pestilenzia im Arm, und fühlt sich wie nach einem langen reinigenden Bad.

Immer mehr Zeitungsberichte gibt es jetzt, und die Menschen sprechen darüber, welch schreckliche Dinge den Juden in Deutschland widerfahren sind. Die dunkle Wolke über Helene verdichtet sich bei jedem Bild, das sie sieht, und bei jedem Zeitungsartikel, den sie liest.

Giselle schreit hysterisch in ihrem Kopf: »Rabeneltern, Rabeneltern, das geschieht ihnen recht!«

Freitagabends wird im Gemeindesäli ein Film mit Szenen von verhungerten Menschen gezeigt, manche in gestreiften Anzügen, andere nackt und dürr wie Skelette. Bilder von Hoffnungslosigkeit, von tausendfachem Tod, von Zerstörung und namenloser Erschöpfung zittern und flimmern auf der Leinwand. Helene weiß nicht, ob sie die Mama unter den vielen erkennen würde, und sie hofft es nicht. Tag und Nacht schwirren jetzt Schwärme von dunklen Fledermäusen in Helenes Kopf. Grauenvolle Träume zerschneiden ihren Schlaf. Schon am Abend hat sie Angst davor und weiß nicht, ob es besser wäre, gar nicht mehr zu schlafen. Tagsüber stößt sie sich ständig irgendwo an, stolpert, verstaucht sich den Arm, schneidet sich, reisst sich die Haut auf, – zurzeit immer aus Versehen. Bis Frau Henggerter sie einmal grob am Arm fasst.

»Was ist los, Mädchen?«, fragt sie. »Pass auf, sonst wirst du einmal schlimm verunglücken!« Sie schüttelt sie und schreit fast: »Mach die Augen auf, hörst du!« Helene bemüht sich.

Aber das große Unglück geschieht jemand anderem: Teddu, der Nachbarsjunge, stürzt im Gantrischgebiet ab und ist sofort tot. Ein stiller, feiner Junge ist er gewesen, der, ähnlich wie Beat, nur wenig gesprochen hat. Seine ältere Schwester Regula kommt am Abend ins Haus der Henggerters, weint und beschreibt, wie man ihn gefunden hat. Alle sitzen um den Tisch, auch Herr Henggerter, und sind froh, dass man ihnen Genaueres erzählt und dass man mit der Familie trauern kann.

Regula spricht ohne Punkt und Komma, redet sich ihren Schock und ihren Schmerz von der Seele. Sie hat in den Sachen ihres Bruders ein Tagebuch gefunden und gibt zu, ein wenig darin geblättert zu haben, was man ja eigentlich nicht tun dürfe, was aber in diesem Fall vielleicht doch ganz gut gewesen sei, denn da ist ein Eintrag von vor einigen Wochen, kurz nach den Sommerferien, von einer Wiese drüben, weit über dem linken Aare-Ufer. Dort hat Teddu jemanden singen hören und diesen Gesang so beschrieben, als ob ein Engel am Waldrand stünde und seinen Klang über das ganze Aaretal hätte schweben lassen. Nachdem Regula den Eintrag vorgelesen hat, sagt sie unter vielen Schluchzern, sie sei nun auf der Suche nach diesem Engel, der damals gesungen hat. Schlussendlich müsse ja doch ein regelrechter Mensch dahinterstecken, weil Teddu damals ja noch nicht tot war und somit auch keinen echten Engel gehört haben konnte. Sie will diesen Sänger finden und ihn bitten, bei der Beerdigung zu singen. Beats Blick streift den Helenes.

Am Abend kann sie wieder nicht einschlafen. Spät in der Nacht schleicht sie in die Küche und ritzt sich den Arm auf.

»Ii haa di g’höret«, sagt Beat am nächsten Nachmittag beim Ausmisten des Schafstalls.

Helene tut, als wäre er nicht da.

»Du chasch für ihn singe. Er isch miin Fründ gsii.«

Nach einer langen Pause sagt er: »Die Gräbt isch übermor’n.« Dann hängt Beat die Mistgabel an den Haken und geht in die Werkstatt.

Am nächsten Morgen schreibt Helene auf die Lebensmittelmarke, mit der Beat Butter und Käse einkaufen soll: »Ich singe.«

Weder ihre Pflegefamilie noch die Familie des verunglückten Jungen können glauben, dass das stumme Mädchen, welches ein unbekanntes Schicksal irgendwann ins Bernische gespült hat, singen kann. Frau Müller, Teddus Mutter, kommt ins Haus der Henggerters. Fast ist sie wütend und schaut sich zum ersten Mal dieses Kind genauer an. Da erkennen sich zwei trauernde Seelen und Frau Müller weiß, dass es richtig sein wird.

Die Kirche ist voll. Nicht nur auf den Sitzplätzen und auf der Empore, auch an den Wänden stehen Menschen, und die Kirchentür muss offenbleiben, weil nicht alle Platz finden. Jeder will dem Unglück der Familie Müller beistehen, aber es ist auch durchgesickert, dass das seltsame stumme Pflägmeitschi der Martha Henggerter singen wird. Diese hat es sich nicht nehmen lassen, über Nacht aus einem zerschlissenen Bettlaken ein hübsches Kleidchen für Helene zu nähen.

Barfuß und mit weißem Kleid ausstaffiert, steht die Neunjährige vor dem Altar neben dem offenen Sarg, wo Teddus bleiches Gesicht auf einem glänzenden Kissen ruht. Asternblüten zieren seine letzte Decke. Sekundenlang steht Helene und blickt auf den Boden, als ob die Töne von unten her aufsteigen würden. Das tun sie: Leise zuerst, summend, bis sich ihre Stimmbänder wieder daran gewöhnt haben, die Schwingungen aufzugreifen. Dann werden sie immer freier, reiner, kräftiger.

So kommt es, dass im Herbst 1945 in der reformierten Kirche einer kleinen Gemeinde bei Bern das jüdischste aller jüdischen Lieder gesungen wird. Es erklingt in der fremden hebräischen Sprache, die vom Klang her der deutschen so ähnlich ist, und Helene weiß, dass Teddus Mutter trotzdem jedes Wort verstehen wird:

Shma Israel,

wenn das Herz weint, dann hört nur Gott zu,

der Schmerz steigt aus der Seele auf.

Helene lässt sich von diesem Lied tragen, hoch über das Dach der einfachen Kirche hinaus. Sie lässt sich tragen über die Schweiz bis hinüber in ihr Heimatland Deutschland. All die Bilder, welche sie in den letzten Wochen in den Zeitungen und im Gemeindefilm gesehen hat, steigen jetzt zusammen mit ihren Tönen auf.

Höre Israel,

in meinen Augen stehen Tränen,

das Herz weint in der Stille

und wenn das Herz schweigt,

schreit die Seele.

Sie singt für dieses verdorrte Gesicht, dem das Licht der Freiheit wehtut, sie singt für die dürre Hand, die ein Stück Brot nimmt und doch nicht mehr die Kraft besitzt, es zum Mund zu führen.

Shma Israel,

du bist mein Gott, der Allmächtige

ich bin nun ganz allein.

Der Schmerz ist groß und es gibt nirgendwo,

wohin man gehen kann.

Sie singt für die lange Reihe von Männern, die schnurgerade nebeneinander an einem Balken aufgehängt sind, denn vielleicht ist ihr Vater darunter. Sie singt für die toten Menschen in den Lagern und für die toten Menschen in den Straßen.

Höre Israel,

du bist mein Gott, der Allmächtige.

Der Mensch fällt, bevor er untergeht,

mit einem Gebet zerschneidet er die Stille.

Sie singt für Teddus Mutter und für ihre eigene Mutter, die irgendwo dort sein muss, wo die schwarze Verzweiflung wohnt. Sie singt auch für die Mutter mit dem toten Kind über ihren Knien, kaum älter als Helene, und das Kind trägt eine Uniform. Sie singt für die, die mit leeren Augen einen Leiterwagen ziehen und nicht wissen, wohin, und sie singt für die Kinder, die zwischen Trümmern, Leichen und Handgranaten spielen.

Höre Israel,

du bist mein Gott, der Allmächtige,

zu dir schreit der Mensch,

wenn er am Abgrund steht.

Helenes Töne werden immer freier, ihre Stimme ist nicht niedlich wie die eines kleinen Mädchens. Sie ist ungeschliffen, aber stark wie die einer großen Sängerin, und sie fühlt, dass ihr Gesang getragen ist von einer anderen Kraft, die durch sie wirkt.

Shma Israel

adonai elohenu adonai echad

Als das Lied zu Ende ist, beginnt sie von neuem und singt so lange, bis die Töne von selbst leiser werden und sich zurückziehen in ihren Bauch.

Als der letzte Ton verklungen ist, herrscht eine solche Stille im Kirchenraum und auf dem Vorplatz, dass man – würde man darauf lauschen – Gottes Gegenwart spüren könnte. Helene wird wieder zum stummen schüchternen Meitschi, das vor dem steinernen Dorfaltar steht und nicht weiß, was jetzt geschehen soll. Da rennt sie in ihre Kirchenbank zurück und drängt sich zwischen Anneli und Vreneli. Man hört das leise Klatschen ihrer nackten Füße auf dem Steinboden. Endlich steht der Pfarrer auf und heißt auch die Gemeinde, sich zum Vater Unser zu erheben. Zuletzt wird Teddus Sarg verschlossen und vier seiner Freunde, darunter Beat, tragen ihn hinaus auf den Kirchhof.

Der jüdische Engelsgesang in einem christlichen Gotteshaus löst ein kleines Erdbeben in der Gemeinde sowie den umliegenden Dörfern aus. Sogar bis nach oben ins Bundeshaus gelangt die Erschütterung. Jedem, der dabei war, hat Helenes Lied die Seele weit aufgeschlossen, doch so manche machen ihre Herzenstür rasch wieder zu. Nicht wenige waren Mitglieder der inzwischen aufgelösten nationalsozialistischen Partei, die es auch in der Schweiz gegeben hat. Andere wollen es schon immer gewusst haben, dass das Pflegemädchen der Martha Henggerter ein Judemeitschi aus Dütschland ist. Schließlich war es verboten, Juden aufzunehmen, und das hätte man der Martha nicht zugetraut, dass sie etwas Ungesetzliches tut. Andere wiederum – zu ihnen gehört die Trauerfamilie – sind sich sicher, Helene sei von Gott hierhergeschickt worden, einzig, um für den Teddu zu singen. Und haben nicht schlussendlich die Juden und die Christen denselben Gott?

An den Stammtischen der Nationalräte und unter den Bundesräten wird hinter vorgehaltener Hand überlegt, ob man die Familie Henggerter nachträglich büßen müsste, denn schließlich hat sie widerrechtlich ein Judenmädchen aufgenommen, was ausdrücklich verboten gewesen ist. Manche andere sitzen für ähnliche Vergehen sogar im Gefängnis und würden auch noch eine Weile drinbleiben. Dann liest man täglich in der Zeitung die schrecklichen Berichte und sieht die verstörenden Bilder der geöffneten Konzentrationslager, und da wäre es vielleicht besser, man würde von einer Buße absehen. Man weiß nie, ob diese Angelegenheit bis ins Ausland dringen würde, und das wäre dann nicht gut für das Ansehen der Schweiz, denn man ist ja stolz, dass die freie Schweiz bereit gewesen ist, in den Zeiten der Not so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Nach und nach wird das Thema fallen gelassen.

Auch Frau Henggerter begegnet Helene anders als vorher. Unsicherer. Sie ist stolz, dass »ihr« Mädchen so fabelhaft gesungen hat, und gleichzeitig ist es ihr peinlich, dass nun alle von dem Judemeitschi sprechen. Offenbar hat sie auch Herrn Fuchs geschrieben, denn ein paar Tage später liegt ein Brief von ihm da, wie immer mit einer eingelegten, etwas kleiner gefalteten Nachricht an Helene.

Liebe Helene,

mit deiner Pflegemutter habe ich vereinbart, dass du noch weiter in der Familie bleiben kannst. Ich werde ihr etwas mehr Geld bezahlen, da du ja immer schneller wächst und mehr brauchst.

Auch seit der Krieg vorbei ist, habe ich noch keinerlei Nachricht von deinen Eltern erhalten. Leider wissen wir gar nichts über sie.

Ich wünsche dir eine gute Zeit, bis wir uns einmal wiedersehen.

Prof. Dr. E. Fuchs

In Helene bleibt es seltsam kühl, während sie den Abschnitt über ihre Eltern liest. Sie faltet den Brief wieder zusammen und gibt ihn Frau Henggerter zurück. Später geht sie in den Schafstall hinunter, nimmt das Messer, mit dem man die Schnüre für die Heuballen schneidet und ritzt sich einen langen Schnitt ins Bein.

In dieser Zeit wächst Helene sehr schnell. Am Ende des vierten Schuljahres ist sie die Längste, aber vielleicht auch die Dünnste unter den Mädchen ihrer Klasse. Stumm bleibt sie weiterhin. Auch wenn die anderen Schüler sie seit ihrem Gesang bei Teddus Beerdigung mit größerer Neugier, aber auch größerer Distanz betrachten: Sie ist und bleibt eine Fremde.

Eines Tages kommt sie nachhause und findet ein riesiges Loch an der Stelle, wo der Holzherd gestanden hat. Stolz erklärt Frau Henggerter, dass sie sich nun modernen Zeiten anpassen werden, denn sie hätten einen Gasherd gekauft. Er sei zwar gebraucht, nämlich aus dem Erblass eines verstorbenen Burgerfräuleins, doch gerade deshalb sei es ein Herd von bester Qualität. Morgen schon soll er eintreffen.