Vielleicht im Himmel einmal - Lea Söhner - E-Book

Vielleicht im Himmel einmal E-Book

Lea Söhner

4,9

Beschreibung

Zwölf Frauen und ein Mann. Ihre Schicksale könnten unterschiedlicher nicht sein und doch entstammen alle derselben Familie. Jede der Frauen ist auf ihre Art geprägt vom Charisma des vom Pietismus durchdrungenen und von einem einschneidenden persönlichen Schicksal gebeutelten Ehemanns, Vaters und Großvaters Heinrich. Da ist etwa Elfriede, die nach dem achten Kind lieber abtreiben würde. Ihr Kind Christel wird trotzdem geboren, doch sie kann es nicht lieben. Christel ihrerseits kann später ihre Tochter Maren nicht annehmen. Gelingt es Maren, das Trauma des ungeliebten Kindes bei ihrer eigenen Tochter zu durchbrechen? Mit bildhaft-klarer Sprache erzählt die Autorin, wie die Frauen um ihren eigenen Weg ringen und unter dem grauen Teppich einer sinnenfeindlichen Religiosität nach und nach das pralle Leben voll Liebe, Schmerz und Schönheit entdecken.
Eindringlich verwebt Lea Söhner diese Lebensgeschichten zu einem farbenprächtigen Familienroman, der sich über achtzig Jahre zieht.

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LEA SÖHNER

Vielleichtim Himmeleinmal

ROMAN

Lea Söhner, geboren 1958 im Schwäbischen, studierte Diakonie und Religionspädagogik und arbeitete zehn Jahre als Diakonin in der kirchlichen Sozialarbeit. Ausbildung zur Psychotherapeutin. Mehrere Jahre hielt sie sich in England, Israel, Indien und Südamerika auf. Nach Aufbau und Führung von zwei Instituten für Tantramassagen (Dakini) zwischen 1996 und 2015 lebt sie heute als Unternehmerin in Zürich und in Ammerbuch. Viel beachtet wurde ihr Zeitungsbericht »Die letzte Reise« über den Freitod ihrer Schwiegermutter in der Schweiz.

1. Auflage 2017

© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Christoph Wöhler, Tübingen,unter Verwendung des Bildes»Der breite und der schmale Weg«nach Charlotte Reihlen.

Druck: CPI books, Leck.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1772-1E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1773-8Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2051-6

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfaltunseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Diese Geschichten sind wahr und erfunden.Die Figuren aber gehören mir,sie müssen sagen und machen, was ich will.

LEA SÖHNER

INHALT | Die Hauptpersonen

PROLOG

2015

KAPITEL 1

Wilhelmine

 

(1890–1928) Die große Liebe Heinrichs, seine erste Frau und Mutter seiner vier ältesten Kinder. Nach ihrem Tod wurde sie von Heinrich tabuisiert.

KAPITEL 2

Luise

 

(1922–2015) Älteste Tochter Wilhelmines. Sie leidet unter dem Verlust ihrer Mutter und noch mehr unter dem Fluch, der angeblich auf dieser lastet. Erst im Alter und in der Natur findet sie zu sich selbst.

KAPITEL 3

Heinrich

 

(1889–1977) Bildungshungriger Kleinbauer. Gottsucher. Zunächst zerrissen zwischen Armut, Frömmigkeit und Liebe, wird er später charismatischer Vater und Glaubenslehrer seiner Töchter.

KAPITEL 4

Elfriede

 

(1903–1999) Zweite Frau Heinrichs und Mutter seiner weiteren sieben Kinder. Von ihren Töchtern gerne übersehen, sorgt sie doch auf ihre Art für den Zusammenhalt und das wirtschaftliche Überleben der Familie.

KAPITEL 5

Hanna

 

(* 1930) Elfriedes erste Tochter. Sie fühlt sich als Hüterin des Glaubens und der neuen Familie. Nach überstandenen Gefahren weiht sie ihr Leben und das ihrer Nachkommen Gott.

KAPITEL 6

Magda

 

(* 1935) Viertes Kind Elfriedes. Diakonisse. Sie liebt Gott, ihr Leben, ihren Vater und das schnelle Fahren. Nur das Gehorsamsgelübde gegenüber ihrem Orden fällt ihr zuweilen schwer.

KAPITEL 7

Rosa

 

(1926–2014) Dritte Tochter Wilhelmines. Aus Trotz gegen den Vater heiratet sie einen Alkoholiker, den sie ihr Leben lang verachtet. Sie wird zur großen tragischen Figur des Klans.

KAPITEL 8

Karla

 

(1924–2010) Zweite Tochter Wilhelmines. Sie hält sich stets an den Vater, liebt und vergöttert ihn. Jetzt soll sie gehen und sich einen Mann suchen, nur: Wie macht man das?

KAPITEL 9

Christel

 

(1942–1998) Fünftes Kind Elfriedes, das diese nicht lieben kann. Christel setzt als einzige der Schwestern durch, dass sie einen Beruf lernen darf. Ihre Tochter Maren bleibt ihr fremd.

KAPITEL 10

Elisabeth

 

(* 1933) Drittes Kind Elfriedes. Die einzige der Töchter, die sich – wenn auch wohlüberlegt – mit dem Vater auseinandersetzt. Zum großen Vorteil für ihr eigenes Leben.

KAPITEL 11

Bettina

 

(* 1964) Hannas einzige Tochter. Ihr Leben als gute Christin ist vorgezeichnet, denn etwas anderes ist in ihrer Familie nicht denkbar. Doch als die Liebe in ihr Leben einbricht, droht sie daran zugrunde zu gehen.

KAPITEL 12

Maren

 

(* 1973) Christels ungeliebte Tochter, sie wird magersüchtig, geht durch schwere Krisen. Ob sie bei ihrer eigenen Tochter den Teufelskreis des nicht gewollten Kindes durchbrechen kann?

KAPITEL 13

Sonja

 

(* 1958) Elisabeths Tochter, sie interessiert sich für die Schicksale Wilhelmines und deren Töchter, dabei findet sie selbst zu ihren Wurzeln als Frau.

DANK

 

STAMMBAUM DER FAMILIE SCHNEIDER

PROLOG | 2015

Auf Tumult ist Sonja gefasst. Diese Familie mag fromm und gottesfürchtig sein, Sanftmut hingegen ist nicht ihr Ding.

Offizielle Ansprachen lassen darauf hoffen, dass eine kurze Zeitlang alle zuhören müssen, deshalb hat Sonja zur Beerdigung ihrer Tante Luise eine Rede vorbereitet. Die älteste von Wilhelmines Töchtern war mit 93 Jahren als Letzte gestorben.

Mitte fünfzig und endlich mutig genug, am Allerheiligsten zu kratzen, krempelt Sonja im Geiste die Ärmel hoch und holt aus zum Schlag.

Schluss müsse endlich sein mit der alten Geschichte von Sünde, Fluch und Tod. Die Legende, Opa Heinrichs erste Ehe sei gegen den Willen Gottes geschlossen worden, geistere noch immer in allen Schneider-Familien umher. Bis hinein in die Urenkelgeneration wirke die Tabuisierung von Luises Mutter, verkündete Sonja. Ihr Konzeptblatt noch in der Hand, fühlt sie bereits, wie sich die Luft im Dottinger Lamm eindickt und wie der Dunst von Frittierfett mit einer etwas benommenen Stimmung verschmiert. Schon sieht sie, wie die Tanten auf ihren Stühlen rutschen und die Onkel von den Rotweingläsern aufblicken.

»Wie muss sich ein Kind fühlen, dessen Mutter nicht nur gestorben ist, sondern als Fluch bezeichnet wird? Man hat euren vier ältesten Geschwistern den Boden unter den Füßen weggezogen und niemand hat es gemerkt. Bis heute kennt keine von euch auch nur den Namen der ersten Frau eures Vaters!«

Sonjas Rede ist nicht lang, eine Seite, 14er-Schrift Arial, und ihr letztes Wort verklingt gerade, da geht es schon los. Alle reden gleichzeitig und laut. Wie immer. Längst bekannte Geschichten werden ausgepackt, die das Gesagte widerlegen sollen und doch bestätigen, neue Storys kommen hinzu, wie eine Sammlerin verkannter Preziosen nimmt Sonja sie an sich – der Fundus an Geschichten scheint nie zu Ende zu gehen in dieser personalintensiven Familie –, es wird gesprochen, gequasselt, geschrien, gerufen, gelacht, geschimpft, manche stehen auf, um sich allgemeines Gehör zu verschaffen, andere reden auf ihren Nachbarn ein, der wiederum sich mit dem Gegenüber von der anderen Tischseite unterhält.

Von ihrem Rednerplatz aus betrachtet Sonja die Szene und lässt zuweilen ihren Blick aus dem Fenster gleiten. Wie von Urzeiten her verströmen die Wacholderheiden der Schwäbischen Alb ihre sänftigende Kühle.

Drinnen derweil – ein aufgestörter Ameisenhaufen. Alles Gerede, alle Aufregung, alles Gestikulieren, Rufen, Schreien, Funkenschlagen scheint nur einem einzigen Zweck zu dienen: Kein Stäubchen möge auf Vater Heinrichs Glorienschein fallen.

Tante Anna spricht Sonja als Rednerin an: »Aber wie oft hat Vater das erzählt: Er habe gespürt, dass Gott etwas anderes mit ihm vorhatte und dass er diese Frau nicht heiraten sollte. Wir können das doch heute nicht mehr beurteilen oder gar bestreiten!«

»Na und – was ist denn stärker als Gottes Wille?«

Verdutzte Blicke.

»Warum hat der Opa es dann trotzdem getan, wenn er doch so genau Gottes Stimme gehört haben will? Warum nur?«

Oh Wunder – noch immer verwirrte Stille, welch seltene, köstliche Sekunden bei einem Familientreffen.

»Weil er sie begehrt hat, natürlich!«, ruft Sonja.

Verlegene Gesichter bei den Tanten, verhohlenes Grinsen bei den Onkeln, große Augen über Brillenrändern, schockierte Basen, feixende Vettern, die Fensterscheiben beschlagen sich von unten her. Schon sieht sie ihr Publikum Luft holen. Reaktionsschnell kommt sie dem nächsten Sturm zuvor.

»Stärker als Gottes Wille auf dieser Welt ist doch nur der Eros!«

Heraus ist es, das Wort. Ein Wort, das in dieser frommen Welt nicht existiert, schon gar nicht im Zusammenhang mit Vater Heinrich. Ein Wort, das die Kommunikationsregeln der Großfamilie massiv durchbricht.

»Nicht die Strafe Gottes hat doch das Verhängnis herbeigeführt, sondern Opas Angst vor dem eigenen Begehren, er hat seine große Liebe verleugnet und damit Wilhelmine und ihre Kinder verraten.«

Mit diesem, wie sie findet, gelungenen Schlusswort setzt Sonja sich zurück an ihren Platz und überlässt das Terrain der tobenden Trauergemeinde.

Sie betrachtet manche der Onkel, wie sie mitten im Trubel fein lächelnd ihr Weinglas festhalten, gewohnheitsmäßig den Kopf einziehen und ihr von der Seite her zunicken, als hätten sie ihr Leben lang darauf gewartet, dass ihr mächtiger Schwiegervater endlich Mensch würde und dass ihm jemand herabhelfe von seinem Thron zur Rechten Gottes.

Zufrieden mit sich nippt Sonja an ihrem Kaffee (scheußlich, mit Kondensmilch und Würfelzucker), atmet tief durch, streckt die Beine von sich und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

Später singt man Choräle, alle auswendig und mit vielen Strophen, so können sich die ins Wanken geratenen Strukturen wieder stabilisieren. Mit besonderer Inbrunst wird heute Luthers Ein feste Burg ist unser Gott gesungen. Immer ist es das Singen, das die Sippe verbindet. Man streitet sich, schreit sich an, widerspricht sich, rauft sich fast, aber niemals bleibt Groll zurück, selbst heute nicht, wo am gottgleichen Patriarchen gerüttelt worden ist. Denn heißt es nicht schon von alters her: Was schert es die Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr reibt.

KAPITEL 1 | Wilhelmine

Zerlumpt, verlaust und halb verhungert wankte ihr Vater aus dem Zug voll todmüder Soldaten. Knochig fühlte er sich an, als Wilhelmine ihn umarmte, er starrte ihr in die Augen ohne Lebensfunken, und als sie nebeneinander zum Hof gingen, fanden sie keine Worte.

Schwermut legte sich wie Blei auf ihr Herz. Während sie ihm die Zinkwanne für ein warmes Bad bereitete und seine dreckigen Uniformfetzen in das Feuerloch warf, während sie eine Fleischsuppe kochte und den Tisch deckte in der Küche – immer sprach sie sich Mut zu. Aufpäppeln und pflegen würde sie ihn, und sie malte sich aus, wie sie ihm den florierenden Hof zeigen würde, wie seine Lebensgeister wieder aufwachen würden, wenn er sich erst einmal in der schönen Natur erholen könnte. Hauptsache, er lebte.

Vier Teller auf dem Tisch, endlich wieder zu viert! Mehr als drei Jahre lang hatte sie den großen Hof zusammen mit ihrem Großvater und dem alten Knecht bewirtschaftet. Wie ein Mann hatte sie gearbeitet, aber es war ihr recht gewesen, denn sie war jung und die Arbeit hatte sie gestärkt. Sich als Hofherrin zu erleben, Entscheidungen zu fällen und den Betrieb trotz aller Schwierigkeiten blühen zu sehen, machte sie stolz. Doch waren es Jahre voll Angst und Trauer. Ihr Verlobter war schon zwei Jahre zuvor in Verdun gefallen und ihr Bruder in französische Gefangenschaft geraten.

In der wilden Hoffnung, unter den Aussteigenden ihren Vater zu finden, war sie in den letzten zwei Wochen jeden Tag zum Bahnhof gegangen, und als sie ihn dann tatsächlich entdeckt hatte, musste sie gleichzeitig lachen und weinen.

Das Zittern bemerkte sie erst beim Essen. Er schaffte es kaum, seinen Löffel zum Mund zu führen, konnte kein Glas halten, ohne es zu verschütten, das Messer rutschte ihm aus der Hand, als er das Fleisch schneiden wollte, das Brot wackelte zwischen seinen Fingern und alles, was er anfasste, schien sich ihm entwinden zu wollen. Und er schwieg. Sein ausgemergelter Körper war zurückgekehrt, aber es schien, als habe er sein Leben im Schützengraben gelassen bei seinen toten Kameraden. Das würde sich schon geben, wenn er erst zur Ruhe gekommen wäre. Beharrlich machte sie sich Mut, auch wenn die Sorge sich schon in ihr festgefressen hatte.

Zuerst kam das Fieber. Dann Schüttelfrost und Nasenbluten. Wilhelmine brauchte keinen Arzt, um zu wissen, dass dies die Spanische Grippe war. Es verengte ihr das Herz, und als sie ihn anschaute, sah sie Erleichterung in seinen Augen.

»Lass nur, ist schon recht.«

Das war das erste Wort, das er sprach, seit seiner Rückkehr.

Und dann: »Du musst leben.« Und noch zwei Worte: »Meine Stall-Prinzessin.«

So, als ob jetzt, wo er dem sicheren und schnellen Tod gegenüberstand, das Leben noch einmal angeklopft hätte und er sich ein letztes Mal an die Liebe zu seiner Tochter und an die gemeinsame Vergangenheit erinnerte.

Husten krachte aus seiner Lunge, Gliederschmerzen folterten ihn bei der kleinsten Bewegung, er wollte der Krankheit nichts mehr entgegensetzen, für ihn geschah endlich das, worauf er in den Kriegsjahren täglich, stündlich gefasst war, ja sogar gewartet hatte: zu sterben, wie die vielen anderen, die neben ihm zu jung verreckt waren. Schließlich verfärbte sich seine Haut bläulichschwarz, und bevor der Tod ihn erlöste, hustete er Unmengen von Blut.

Sein Sarg war eine rohe Kiste aus Tannenholz, Kriegsmassenware, schnell zusammengezimmert. Sofort wurde er von den Totengräbern abgeholt und in ein weit ausgehobenes Grab zu vielen anderen gelegt, alle in den gleichen Särgen.

Nur vier Tage waren es gewesen von der Rückkehr des Vaters bis zu dessen Tod. Unwirkliche und hektische Stunden für Wilhelmine, wie mechanisch hatte sie ihn gepflegt, hatte die Laken gewechselt, wenn sie verschwitzt und blutig waren, ihm die Arme und Beine gewaschen, damit er sich frischer fühlte, seine zerschundenen Füße massiert, ihm die Hand gehalten, wenn er sich vor Schmerzen wand, seine nasse Stirn mit einem kühlen Tuch abgewischt, die Bettschüssel untergeschoben, Suppe eingeflößt, ihm heißen Tee gegeben. Nicht nachdenken, taub bleiben, dann hält man besser durch.

Die Angst vor einer Ansteckung sickerte erst in sie ein, als alles vorüber war. Gerade kochte sie im großen Waschkessel die blutigen Laken des Verstorbenen aus, als Panik sich wie ätzende Säure in ihr breitmachte. Ihre Knie zitterten und immer wieder rang sie nach Luft. Die Trauer um den Vater war süß, verglichen mit dieser Todesangst, die drohte, sie zu ersticken. Aufgewühlt wälzte sie sich nachts im Bett und wenn sie doch in leichten Schlaf verfiel, träumte sie von blutspuckenden, gequälten Menschen oder von sich, wie sie im selbst ausgeworfenen Blut fast ertrank. Nach Luft ringend erwachte sie.

Erst als die Zeitungen meldeten, dass die Epidemie vorüber sei, wurde sie ruhiger und konnte nach und nach wieder frei atmen, doch unmerklich heftete sich ein Schatten an sie, und auch als sie längst nicht mehr daran dachte in ihrem randvollen Alltag, wucherte das Myzel der erlittenen Todesangst in ihrem Inneren weiter.

Die Rhythmen des bäuerlichen Daseins begleiten tröstlich durchs Leben. Egal, was sich zwischen zwei Melkzeiten zuträgt, die Tiere wollen versorgt, gefüttert und gemolken werden. Egal, welche welterschütternden Ereignisse die Menschen heimsuchen, das Korn muss geschnitten und gedroschen werden. Egal, ob ein Kaiser abdankt oder Millionen für ihn krepieren, der Stall muss ausgemistet und der Mist auf die Felder gebracht werden. Im Frühjahr werden die Kartoffeln gesteckt und im Spätsommer werden sie geklaubt. Egal, wem die Stunde schlägt, und egal, wer geboren wird, die Weinberge werden geschnitten, gebunden und im Herbst werden die süßen Trauben gelesen, die Sau wirft ihre Ferkel, sie werden gesäugt, gemästet, geschlachtet, in Gläser gepökelt und im Ofen gebraten, die Saat wird ausgebracht und das Unkraut herausgerissen.

Zu einem Geländer war dieses Gleichmaß auch für Wilhelmine geworden, das ihr nach dem Tod des Vaters Halt gab. Sie verrichtete ihre Arbeit, schuftete vom Morgen bis zum Abend, fiel wie ein Stein ins Bett, um frühmorgens wieder aufzustehen.

Jeder Tag wiederholte sich, aber das war gut, denn sie musste nicht denken und nicht fühlen. Sie merkte nicht einmal, dass sie keine Freude mehr hatte und auch keine Freunde. Alles war stumpf geworden und die Resignation hüllte sie langsam ein.

Bis ein Tautropfen sie ins Leben zurückholte.

Gerade als sie die Kannen aus der Milchküche schleppte, um sie auf den Leiterwagen zu hieven, hing er an einem Blatt der alten Linde im Hof und glitzerte in der Sonne, als ob er eben vom Himmel gekommen wäre, allein, um ihr zu gefallen. Nur für sie allein schien dieser Tropfen zu leuchten.

Zum ersten Mal seit seinem Ende konnte sie an ihren Vater denken, und auch wenn es wehtat, fühlte sie sich lebendig. Etwas in ihrem Inneren erhob sich, alles wurde leicht, wie ein goldener Fluss strömte ungekanntes Glück durch sie hindurch und spülte den Trauerschleier aus ihren Augen.

Atmen. Fühlen. Leben. Tränen bahnten sich ihren Weg.

Heilsame Tränen. Auch wenn sie zwei ihrer liebsten Menschen verloren hatte, so wusste sie jetzt, dass sie selbst Wärme und Liebe in sich trug, und dass dies immer so bleiben würde.

Wie ein einziges Wunder empfand sie die Natur um sich herum, als hätte dieser eine Tautropfen ihr die Größe und Schönheit des Lebens gezeigt. Die Sonnenstrahlen, die durch die Baumkrone leuchteten, das Grün das sie umgab, die Frische des Morgens, der Duft nach Heu und Wiesenblumen, der Gesang der Vögel. Dies war Gottes Schöpfung und sie war ein Teil davon. Sie saß auf dem Bänkchen im Hof, die Morgensonne beschien sie mit Liebe und Güte und Geborgenheit, und als sie aufstand, um ihre Arbeit fortzusetzen, fühlte sie sich reingewaschen, wie neugeboren. Freude senkte sich in ihr Gemüt. Sie war wieder bereit für das Leben.

Heinrich wirkte seltsam unversehrt, naiv fast, als ob die Verheerungen des Krieges an ihm vorbeigegangen wären. Unter all den seelischen und körperlichen Krüppeln, die dieses Schlachten aus den überlebenden Männern gemacht hatte, war er eine ungewöhnliche Erscheinung. Lang und dünn ragte er hinter dem Rednerpult auf.

Der junge Laienprediger war eingeladen worden, um die monatliche Bibelstunde in der Gemeinde zu halten. Sein schwarzer Haarschopf erlaubte sich an der rechten Stirnseite einen Wirbel, sodass eine Strähne wie eine winzige Kirchturmspitze zum Himmel wies. Ein markanter Schnurrbart ließ sein Gesicht ernster und älter erscheinen, als es vermutlich war, denn seine Augen leuchteten jungenhaft – nein, bei genauem Hinsehen schillerte sein Ausdruck zwischen Schüchternheit und Hochmut, doch der Witz, den sein Blick versprühte, schien diese Gegensätze zu überbrücken. Schwarze Jacke, schwarze Hose, schwarze Schuhe, weißes Hemd – was hätte man anderes anzuziehen gehabt als den Sonntagsanzug. Feingliedrige Hände fingerten die Predigtunterlagen zusammen.

Das sind doch keine Bauernhände, sinnierte Wilhelmine im Stillen. Jetzt erst fiel ihr auf, wie genau sie diesen Mann studiert hatte. Sie saß in der ersten Reihe und als sich ihre Blicke trafen, war es ihr, als ob der sonnenbeschienene Tautropfen am Lindenblatt erneut für sie aufleuchtete.

Zwei Tage später saß er auf dem Bänkchen im Hof, während sie sich in der Küche den Stallgeruch abwusch. Hastig, denn sie wollte ihn nicht so lange warten lassen. Ihr Herz pochte und im kleinen, halbblinden Spiegel erspähte sie die roten Flecken der Aufregung an ihrem Hals. Ihre Augen glänzten und wie heiß war ihr geworden. Dies alles gefiel ihr. Flirrendes Leben.

Sie war entschlossen, es zu genießen. Die Existenz ist so brüchig, man darf sich ihr nicht entgegenstellen, dachte sie. Jetzt im Augenblick empfand sie sich als lebendig und sehr weiblich. Sie schluckte einmal kräftig, fuhr sich mit der Zunge über ihre vollen Lippen, strich ihre welligen Haare aus dem Gesicht, lächelte sich aufmunternd zu und eilte Heinrich entgegen, der seine Aufwartung machte.

Mit einer gewissen Befriedigung stellte sie fest, dass er zuerst etwas stotterte und bald gar nichts mehr zu sagen wusste. Allein seine Augen sprachen zu ihr, und die konnten seine Aufregung nicht verbergen. Wilhelmine stand ihm gegenüber und zwischen ihnen entstand ein Sog, der sie alles um sie herum vergessen ließ. Mit diesem Mann wollte sie ihr Leben teilen, es gab in ihr keinen Widerstand, kein Grübeln und kein Abwägen. Sie wusste es sofort und sie ließ es zu.

Bald jedoch spürte sie die Zerrissenheit Heinrichs. Sie fühlte seine Leidenschaft und sie bemerkte sein Zaudern. Wenn sie zusammen waren, genoss sie sein Herzblut und seine Zärtlichkeit, doch oft von einem Moment zum andern wurde er starr und versank in Gedanken, an denen er sie nicht teilhaben ließ. Heute trug er sie auf Händen, morgen schottete er sich ab, unerreichbar für sie, er kam sie besuchen und es schien ihr, als wisse er nicht, wohin mit seiner Zuneigung und seinem Verlangen, dann blieb er wieder für Tage fern, ohne ihr eine Botschaft zu hinterlassen.

Wenn er wieder einmal nach getaner Arbeit angeradelt kam, verschwitzt und strahlend, das Fahrrad gegen die Hauswand schmiss, wenn er im Hof auf sie zurannte, als wollte er sie wild umarmen, dann direkt vor ihr anhielt und mit einer alles durchdringenden Zartheit ihre Haarsträhnen langsam, fast unerträglich liebevoll nach hinten strich, wie er sie dabei ansah, als würde er ihr Innerstes erschauen, wenn er sie dann an der Hüfte packte und um die Ecke in die Scheune riss und sie dort mit einer solch ungezähmten Inbrunst küsste, wie sehr fühlte sie sich dann als Frau. Nicht, dass er etwa gierte oder die schnelle Erfüllung forderte, davon war er weit entfernt. Es war Wilhelmine, als wolle er sein Feuer spüren und ihr seine ganze männliche Kraft schenken, nicht sich verpuffen, er wollte sich ganz an sie hingeben.

Umso schmerzvoller war sein unerklärtes Fernbleiben. »Bis morgen«, flüsterte er etwa, indem er ihr Gesicht in beiden Händen hielt. Aber er kam nicht am nächsten Tag. Manchmal blieb er auch einen weiteren Tag aus, ohne sie zu benachrichtigen.

Irritierend war dieses Hin und Her zu Beginn, dann schmerzhaft, später wurde sie wütend. Sie fühlte sich mit hinabgerissen in das düstere Wirrwarr seiner Zweifel, die sie nicht einmal kannte, die sie nicht verstand und von denen er auch nicht sprach.

Der Großvater half ihr, zur gewohnten Gelassenheit zurückzufinden, als sie ihm eines Abends seinen Teller mit Bratkartoffeln und Siedfleisch so auf den Tisch knallte, dass das Porzellan zerbrach und das Essen zwischen zwei Scherbenstücken auf den Tisch lief.

»Da musst du jetzt nicht den Kopf verlieren, dein junger Kavalier hat bloß Angst vor seiner eigenen Courage.«

Beiläufig sagte der Großvater dies. Offenbar hatte er sie beobachtet und Wilhelmine schämte sich ein wenig.

»Einfach die Nerven behalten, Mädle, der braucht jetzt eine starke Frau. Und kann ich jetzt einen anderen Teller haben?«

Wilhelmine nahm das Essen vom Holztisch und versuchte, so viel wie möglich davon auf einen anderen Teller hinüberzuretten, den Rest wischte sie mit der Hand in den Schweineeimer und fuhr dann mit dem Lappen über den Tisch. Dankbar war sie dem Großvater. Und froh, dass er keine Antwort von ihr erwartete.

Wilhelmines Liebe war jung und stark und ein knappes Jahr später heirateten sie. Für eine Weile siegte das Leben.

In jenem Frühjahr war dann auch alles so, wie es sein sollte. Die Märzsonne ließ den letzten Schnee von den Dächern tröpfeln und trocknete die Gassen vom ewigen Schlamm. Die nackte Erde der Felder atmete auf und verströmte einen erwartungsvollen Duft, brünstig fast, als ob sie die Getreidekörner und Saatkartoffeln anlocken wollte, um sie in ihrem Schoß reifen zu lassen. In den Wäldern streckten die ersten Anemonen ihre weißen Köpfchen in die Luft und ließen sich vom lauen Wind umwehen. Die Hühner wagten sich aus ihren Holzhäuschen und scharrten aufgeregt in den zart keimenden Gärten oder suchten auf den Misthaufen ihre Leckereien. Gemessenen Schrittes stolzierte der Ziegenbock über die eigens für ihn abgetrennte Wiese, derweil konnten es die neugeborenen Zicklein nicht fassen, wie schön die Welt war, in die sie hineingeboren waren. Sie rauften und überschlugen sich vor Freude, während ihre Mütter sie gleichmütig aus den Augenwinkeln beobachteten, jederzeit bereit, ihnen ihre Euter zu überlassen. Die Kinder reihten ihre Spiele aneinander, ihr Lachen, Schreien und Jauchzen war bis in den Abend hinein im Dorf zu hören. Unterdessen bestellten die Bäuerinnen und die wenigen heimgekehrten Bauern ihre Felder, Gärten und Weinberge. Alles Saatgut, jede Kartoffel, jeder Setzling konnte in Ruhe und rechtzeitig ausgebracht werden, bevor man vom unsteten April die nassen Stürme erwartete. Alles, was lebte, atmete und freute sich.

Und Wilhelmine trug ein Kind.

Am liebsten hätte sie vor Freude Luftsprünge gemacht.

Tagelang sang und summte sie vor sich hin und konnte vor Glück nicht schlafen. Auch Heinrich war über der Schwangerschaft ruhig geworden und es schien, als sei er endgültig mit sich ins Reine gekommen.

Eines Abends lag er auf dem Rücken und starrte ins Dunkel.

»Gott hat nun doch seinen Segen gegeben zu unserer Verbindung. Immer schien es mir, dass er genau das nicht wollte.« Er tappte hinüber zu Wilhelmine, suchte mit seiner Hand die ihre und hielt sie schweigend fest.

Luise wurde ein gesundes, stilles Mädchen und Wilhelmine erlebte mit ihrem ersten Kind eine nie gekannte Zärtlichkeit, ein ganz neues Maß an Liebe. Auch musste sie jetzt nicht mehr »ihren Mann stehen« wie während der Kriegsjahre auf dem väterlichen Hof. Endlich durfte sie Frau sein, Mutter und Ehefrau. Sie mochte die Arbeit in Haus und Hof, freute sich über ihre jugendliche Körperkraft und war stolz auf ihre Erfahrung als Bäuerin. So manche vorteilhafte betriebliche Entscheidung war ihrem geschulten Blick zu verdanken. Es waren erfüllte Lebensjahre, auch die eheliche Liebe mit Heinrich war von einer Intensität und Schönheit, die sie zutiefst dankbar machte.

Das sind geschenkte Jahre, sagte sie sich immer wieder.

So, wie ein Geschenk nur im Augenblick genossen werden kann, raunte tief in ihrem Inneren eine Stimme, dass dies nicht von Dauer sein werde. Doch noch blieb das Glück ihnen treu und Karla wurde geboren, ein Mädchen von völlig anderer Statur und Temperament.

»Falls wir keinen Jungen mehr bekommen, kann sie einmal der Hoferbe werden«, sagte Heinrich. Er lachte und hob seine Tochter in die Luft. »So ein kräftiges Mädchen wie das hier würde auch einen guten Bauern abgeben.«

Die unsichtbaren Fäden, die sich zwischen dem Vater und seiner zweiten Tochter spannen, bereiteten Wilhelmine stille Freude.

Die Arbeit hörte jedoch nie auf. Abends, nach Feldarbeit und Stall besorgte sie den Haushalt: Essen vorbereiten, die Windeln auskochen, die Gartenfrüchte versorgen, Wäsche flicken oder Brotteig vorbereiten, wenn das Gemeinde-Backhäusle am nächsten Tag befeuert wurde. Was noch vor einigen Wochen leicht und schnell von der Hand ging, wurde in letzter Zeit beschwerlicher. Erst neulich hatte sie wieder dieses Stechen in der Brust gespürt. Vielleicht war doch alles etwas zu viel für sie geworden, schließlich war die zweite Geburt noch nicht lange her. Dieses Stechen kehrte immer wieder und manchmal bereitete es ihr sogar Atemnot. Sie sollte sich ein wenig ausruhen. Jetzt im Herbst ging das natürlich nicht, doch bald käme der Winter, da würde alles gemächlicher werden.

Der November machte es den Bauern in diesem Jahr schwer. Es wurde schnell kalt, Nebel und Nieselregen gingen ineinander über, und die Feuchtigkeit blieb in der Luft stehen. Man schlüpfte morgens in die nasskalten Arbeitsschuhe, fasste den klammen Stiel der Mistgabel an, war den Tag über feucht und ausgekühlt bis ins Mark und am Abend dauerte es lange, bis man sich im Bett warm und trocken fühlte. Die Futterrüben mussten geerntet werden. Matschig und zäh war die Erde, aus der die Rüben herausgestochen wurden, so als wolle sie jede einzelne mit ihrer klebrigen Masse festhalten. Da lagen sie dann in langen Reihen bereit, dass man ihnen Köpfe und Blätter abschlug. Das aufgeweichte Feld war rutschig, bei jedem Schritt blieb man im pappigen Dreck stecken, was die Stiefel schwer und schwerer werden ließ und die Finger eisig und steif. Zum Glück kam man ins Schwitzen und vergaß für kurze Zeit die feuchte Kälte, die umso unbarmherziger unter die Kleider kroch, sobald man sich eine Verschnaufpause gönnte. Es war eine harte Arbeit, die Wilhelmine in diesem Jahr an die Grenze ihrer Kräfte brachte und neben all dem zermürbte sie ein Husten, der nicht aufhören wollte.

»Lassen Sie Ihre Frau eine Weile in Ruhe. Schon wieder schwanger, das ist einfach zu viel.«

Voll Scham und Ärger starrte Heinrich auf den Boden, der junge Arzt sprach mit ihm wie mit einem Schuljungen.

Vom Kanapee her kam Lachen und Husten gleichzeitig. »Schwanger! Das ist es! Warum bin ich nicht selbst draufgekommen!« Wilhelmine ließ ihren Kopf auf das Kissen fallen und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

Warum hatte sie daran nicht gedacht. Die schon vergessen geglaubte Angst hatte sich in letzter Zeit wieder in ihrem Herzen ausgebreitet. Doch jetzt hätte sie heulen können vor Freude. Schwanger. Zwar war es ihr zu viel, ein drittes Kind, das wusste sie genau, aber wenn das der Grund für ihre Schwäche war, dann nahm sie eine Schwangerschaft gerne in Kauf.

»Ihre Frau braucht jetzt absolute Ruhe, sie darf die nächsten Wochen nicht arbeiten«, sagte der Doktor zum Schluss.

Heinrich begleitete ihn zur Tür und Wilhelmine wunderte sich, wie lange er brauchte, um den Arzt zu verabschieden. Wieder in der Stube, setzte er sich zu ihr auf den Rand des Kanapees und starrte zum Fenster hinaus.

Sie nahm seine Hand und hielt sie an ihre Wange.

»Das werden wir auch noch schaffen. Ein drittes Kind, das können wir doch willkommen heißen, freu dich, dass es nur die Schwangerschaft ist, die mich so geschwächt hat.«

Heinrich entzog ihr seine Hand und ging in die Schlafstube. Ihr kam es vor, als stünde er unter Schock.

Schmerzen drücken ihre Rippen nach unten, im Inneren ihres Brustkorbs sitzt ein Tier, das ihr alle Luft zum Atmen stiehlt und das bei jeder falschen Bewegung umso kraftvoller zuschnappt. Keuchend wacht sie auf, versucht dem Monster einige Atemzüge zu entreißen, beim Husten sticht ihr jemand mit einem Schwert in die Brust, es bleibt stecken, ein Stich im Rücken, sie kann sich nicht bewegen, jeder Versuch zu atmen ist eine Qual, so, als ob ein glühendes Kohlestück in ihrer Lunge läge. Ruhig bleiben, sagt sie sich, es ist nur die Angst, ich muss sie bezwingen. Ganz still wird sie, beansprucht die Atemluft nur in kleinen Zügen, langsam lässt die Enge in der Brust nach, der Schmerz beruhigt sich ein wenig und sie kann wieder vorsichtig und etwas freier atmen.

Sie weiß es jetzt. Die Schwangerschaft allein ist es nicht.

»Was hat der Arzt gesagt gestern vor der Tür?«, fragte sie Heinrich am Morgen im Bett.

Sie lagen beide auf dem Rücken und starrten an die Decke. Er schwieg.

»Was?«, rief sie.

»Du hast Tuberkulose und musst in eine Heilanstalt.«

Kalt war es im Schlafzimmer und obwohl die Fenster geschlossen waren, bewegte ein kleiner Lufthauch die Vorhänge. Man müsste diese Rahmen einmal abdichten, dachte sie. Aber nein, daran sollte sie ja gerade nicht denken.

»Wer soll das bezahlen?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ich weiß nicht, vielleicht verkaufen wir eine Kuh?«

»Kommt nicht in Frage.«

Sie setzte sich im Bett auf und zog die Decke bis unter das Kinn. Seltsam. Jetzt, da sie die volle Wahrheit kannte, wuchsen ihr von irgendwoher Kräfte zu. Sie würde wieder gesund werden. Tuberkulose. Das ist nicht unbedingt tödlich, das ist heilbar. Schonen müsste sie sich, aber sie würde es schon schaffen, schließlich hatte sie bald drei Kinder. Oder sollte sie doch in ein Sanatorium gehen? Jetzt, bevor ihr Drittes geboren würde?

»Es ist nicht die Frage, wer es bezahlt oder ob du es willst. Du musst in ein Sanatorium, Schwindsucht ist ansteckend. Der Doktor meint, du hättest gar keine Wahl.« Heinrichs Worte klangen hart und abweisend.

Ansteckend. Sie durfte also ihren Kindern nicht mehr nahe kommen und auch ihrem Mann nicht.

Luft, atmen, nichts tun müssen. Nur atmen, liegen, in den Himmel schauen, dem Regen lauschen, die Morgensonne aufgehen sehen und ihren Lauf beobachten. Nicht gerade still war es in der eng belegten Frauenliegehalle der staatlichen Lungenheilanstalt, doch welch ein Luxus, einfach im Bett liegen zu dürfen und nicht arbeiten zu müssen. Wie sie es genoss, für sich zu sein und das Essen serviert zu bekommen, vor allem aber, an nichts denken zu müssen. Und immer im Freien durfte sie liegen, Tag und Nacht an der frischen Luft in der überdachten Halle. Warm eingepackt in kalten Nächten, geborgen und mollig unter der dicken Decke, die heilsame kühle Nachtluft in die kranken Lungen einsaugen, die erste fahle, noch kalte Frühlingssonne im weißen Krankenbett genießen, da konnte sie wieder Kräfte sammeln. Und frei atmen, atmen, atmen. Wenn sie nur wieder gesund würde, dann wäre der Preis nicht zu hoch gewesen, den sie für diese Wochen zu bezahlen hatten. Wenn sie nur wieder nach Hause käme und erholt ihre Arbeit wieder aufnehmen könnte. Dann wird es sich gelohnt haben, zwei Kühe und den Schmuck aus ihrer Mitgift verkauft zu haben. Dann wird sie mit neuen Kräften ihre Aufgaben anpacken können.

Und wirklich, schon bald verlor sich ihre Müdigkeit und sie bekam wieder Appetit. Nach ein paar Wochen war sie viel kräftiger geworden und die Schwangerschaft hatte sie neu erblühen lassen.

Im März war sie wieder zuhause und im Mai wurde Rosa geboren. Zwar war es eine leichte Geburt, doch Wilhelmine war sehr schmal geworden und hatte länger gebraucht, um danach wieder zu Kräften zu kommen. Nun war es Mitte Juni und die Erdbeerzeit war doch immer die schönste Zeit. Die milde Frühsommersonne schien all ihren glänzenden Ehrgeiz dareinzulegen, Wilhelmine mit neuem Lebensmut zu erfüllen.

Im satten Grün standen die Bäume, das Gemüse und die Beeren im Garten präsentierten sich verführerisch und schienen miteinander zu wetteifern, wer zuerst geerntet würde.

Mit kindlicher Wichtigkeit spielten die beiden größeren Mädchen »Mutterles-und-Vaterles« in den Furchen der Gemüsebeete, wofür Steine, Holzstücke und alte Wurzeln zu Familienmitgliedern erklärt wurden. Die kleine Rosa schlief im Weidenkorb, der mit einer Windel bedeckt war, um sie vor der Sonne zu schützen. Wilhelmine genoss die leichte Gartenarbeit und ließ ihre Gedanken schweifen.

Heinrich. Manchmal fragte sie sich, ob sie ihn überhaupt kannte. Seine grüblerische Frömmigkeit war ihr fremd. Seit ihrer ärztlichen Diagnose vom letzten Spätherbst schien wieder seine einstige Zerrissenheit von ihm Besitz ergriffen zu haben.

Sie selbst war gläubig in der Weise, dass sie die natürlichen Lebensrhythmen mit ihren Freuden und Dramen aus den Händen des Schöpfers nahm. Selbstverständlich ging sie, wie alle Frauen des Dorfes, in die Kirche und empfing oft Trost und Zuversicht aus den biblischen Predigten, doch noch nie hatte sie sich gefragt, ob Gott etwas anderes von ihr wollte als das, was sie sowieso tat. Sie war hineingeboren worden in das bäuerliche Leben und hatte noch nie woanders ihre Bestimmung gesucht. Heinrich hingegen schien ständig gebeutelt zu sein von der quälerischen Frage, ob Gott nicht etwas ganz anderes von ihm wollte als dieses Leben, das er führte. Der Wechsel konnte von jetzt auf nachher eintreten. Erst neulich, kurz vor der Geburt Rosas, hatte er sie so liebevoll angeschaut und war mit seinem Finger zärtlich die Konturen ihres Gesichts nachgefahren, als könne er nicht an das Glück glauben, sie wieder bei sich zu haben. Lange hatte er im Bett seinen Kopf an ihre Schulter gelegt, sie festgehalten und sie hatten sich erzählt, was sie während ihrer Trennung im Frühjahr alles erlebt hatten.

Er war so glücklich, dass es ihr wieder besser ging, und irgendwann hatte sie festgestellt, dass er Tränen in den Augen hatte.

»Es wird alles gut«, hatte sie gesagt.

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es eben, es ist mein Gefühl.«

»Dein Gefühl! Denkst du, du bist Gott? Woher willst du wissen, was er mit uns vorhat? Und welches Zeichen, denkst du, hat er uns mit deiner Krankheit geschickt?«

Wenn sich das Gespräch in diese Richtung entwickelte, war er innerhalb von Sekunden wie erloschen. Sein Gesicht wurde hart und unzugänglich. Meist zog er sich zurück. Wilhelmine blieb es abzuwarten, bis er sich ihr wieder zuwandte, das tat er zumeist innerhalb eines Tages und in diesen Momenten der Öffnung war dann wirklich alles wieder gut.

Vor einigen Jahren, als sie sich noch jung, gesund und unbesiegbar fühlte, konnte sie Heinrich seine Zweifel lassen als Teil seiner Wesensart und seines Glaubens, und es fiel ihr leichter, sich nicht selbst zu belasten mit diesen Wechseln von einem Extrem ins andere. Ihre Liebe, meinte sie, würde für zwei reichen. Doch nach und nach spürte sie, wie ihr die Kraft dafür weniger wurde.

Der Sommer wurde reifer, die Kinder größer und Wilhelmine befand sich in der warmen Jahreszeit deutlich auf dem Weg der Besserung. Sie hatten eine gute Getreideernte und die Trauben standen bereits üppig am Stock. Endlich konnte sie sich wieder auf die Zukunft freuen. Die Arbeit nahm nicht ab und sie spürte, dass ihre früheren Kräfte wohl in der alten Form nicht wiederkamen, sie musste damit haushalten.

Kritisch wurde erst der Winter in dem zugigen Haus. Der Husten kehrte zurück und sie wurde wieder dünner. Sobald aber die Frühjahrssonne ihr Licht durch die Fenster fluten ließ, und sie auf den Stufen vor der Haustür sitzend, die laue Wärme in sich aufnehmen konnte und die ersten grünen Sprösslinge erblickte, atmete sie auf und spürte, wie das Leben sie durchströmte. In ihrem Inneren aber verharrte die dunkle Gewissheit, dass die Krankheit noch nicht ausgestanden war.

Als die nächste herrliche Erdbeerzeit vorüber war, wusste Wilhelmine, dass sie ihr viertes Kind im Leib trug. Zum ersten Mal erschrak sie. Wie sollte sie das schaffen? Schon jetzt blieb viel Arbeit liegen, die sie nicht mehr leisten konnte. Wie würde sie die Geburt überstehen? Was, wenn sich die Krankheit wieder verschlimmerte?

Es war immer der November, der ihr die Freude am Leben vermieste. Seine Kälte, seine Feuchte und seine düsteren Tage nahmen ihr den Lebensmut und damit auch ihre brüchige Gesundheit. Wieder begann dieser harzige, aufreibende Husten, und als sie an diesem grauen Morgen, an dem es nicht richtig Tag werden wollte, in ihr weißes Taschentuch hustete, war es rot, rot, rot. Alles wurde schwarz um sie, sie taumelte an den Küchenstuhl und versuchte, ihre Verzweiflung vor den Kindern zu verstecken. Luise, die Sensible, spürte es und stellte sich wortlos dicht neben sie, als wollte sie ihre Mutter vor einer unsichtbaren Gefahr behüten. Nochmal ein Aufenthalt im Krankenhaus oder in der Lungenheilanstalt würde die Familie wirtschaftlich ruinieren.

Noch verbarg sie es vor Heinrich, aber schon bald musste sie sich tagsüber wieder auf das Sofa legen und der Doktor wurde geholt. Noch einmal schickte der sie nach Kalmbach, diesmal unverzüglich und an Weihnachten war sie ohne Besserung wieder nach Hause zurückgekehrt. Die letzte Kuh hatte verkauft werden müssen und Heinrich nahm einen Kredit bei zwei Verwandten auf. Schließlich besaßen sie ein paar Äcker als Sicherheit. Zum Glück war da noch eine trächtige Sau im Stall, die sie mit ihren Ferkeln über die Krise und den Winter bringen würde. An diesem Weihnachten war das Festtagsessen knapp bemessen.

Ein weiterer Aufenthalt im Krankenhaus kam nicht mehr in Frage, auch wenn der Doktor drohte, sie wegen der Ansteckungsgefahr zwangseinzuweisen. Wohl, weil er wusste, dass es nicht zu bezahlen war, ließ er sie zuhause. Die Kinder durften nicht mehr zu ihr.

»Die Sau ist verreckt!« Blass vor Sorge und Wut stand Heinrich vor ihr am Bett. Er roch nach Stall. »Rotlauf. Es kommt mir vor, als stünde unser Leben unter einem Fluch. Wir haben so viel Pech. Wieso versagt uns Gott seinen Segen? Wollte er von Anfang an nicht, dass wir heiraten? Ich habe nicht auf diese Stimme in mir gehört – das war doch Gottes Stimme!«

Etwas in Wilhelmine stürzte ins Bodenlose. Jetzt nahte der Abschied. Von Heinrich. Von ihren Kindern. Von ihrem Leben. Und doch war sie schwanger.

Der Zwiespalt, den Heinrich seit ihrer ersten Begegnung mit sich herumtrug, wurde mehr und mehr zu einem Graben zwischen ihnen. Warum tat er sich so schwer, die Krankheit und den drohenden Tod seiner Frau als gemeinsames Schicksal anzunehmen? Immer wieder schwankte er zwischen Schuld, Vorwürfen und zärtlicher Sorge. Nach wie vor liebte und begehrte er sie, und immer wieder wandte er sich fast angeekelt von ihr ab. Die ganzen Jahre waren es ihre Bodenständigkeit und Klarheit gewesen, die die Brücke zu ihm geschlagen hatten. Nun gab es nichts mehr in ihr. Leer war sie und ausgebrannt.

Als er dann nach ihrer letzten innigen Umarmung seine Bettdecke nahm und sich auf das Sofa in der Wohnstube legte, wusste Wilhelmine, dass ihre bitterste Wegstrecke begonnen hatte, und die war voller Einsamkeit, Verrat und Todesangst.

Zwei Tage später wurde sie nach einem weiteren Blutsturz von den Sanitätsmännern des kleinen Krankenhauses unter den großen Augen ihrer Kinder abgeholt und in die Quarantänestation gebracht.

Die Schmerzen schienen sie zu zerreißen. Jedes Luftholen fühlte sich an, als ob Glasscherben in ihrer Lunge ständig neue Löcher rissen. Oder zerfetzte gerade ihr Unterleib? Zwischen den Wehen schenkte ihr die Ohnmacht ein paar barmherzige Minuten der Ruhe. Mama, wo bist du, bist du hier? Du bist gestorben, damit ich leben kann, jetzt sterbe ich auch, dann kann mein Kind leben, du bist schon so lange fort, hol mich ab, wenn ich zu dir komme. Eine Welle von Trauer um ihre Mutter, die sie nie gekannt hatte, holte sie ein, oder weinte sie um ihre Kinder? Um sich selbst? Sie solle pressen, schrie der Arzt, aber sie konnte nicht mehr, allein schon das Atmen fiel ihr schwer, wie soll sie da pressen, woher soll sie die Kraft dafür nehmen? Der Geruch von Äther für die Narkose drehte ihr den Magen um, dann wurde alles dunkel und still um sie.

Grauenvoll war das Aufwachen. War sie noch immer am Leben? Ihr Kopf zerplatzte vor Schmerzen, ihr war übel, aber sie konnte sich nicht übergeben. Wo war ihr Kind? Die Verzweiflung kam von der Brust her, als ob ihre Muttermilch schwarz wäre und ihren ganzen Körper ausfüllte mit Gift, wird Milch, die nicht gebraucht wird, schwarz und giftig? Warum durfte sie es nicht einmal sehen? Wenigstens von Weitem? Durch das Fensterchen ihrer Krankenzelle? Nicht ein einziges Mal in den Armen halten? Jetzt erkannte sie wie durch einen Nebelschleier die Umrisse der Schwester.

»Was … ist es?«, versuchte sie zu fragen.

»Es ist ein Junge. Er ist wohlauf und bei Ihrem Mann.« Die Schwester klang mitleidsvoll unter ihrem Mundschutz.

Wilhelmine wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und es war, als zerreiße es dabei ihren Unterleib. Wieder rann Blut aus ihrem Mund. Sterben, einfach sterben dürfen. Dann zog die Schwester die Decke zurück und hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Die Naht des Kaiserschnitts war schlampig durchgeführt worden, man hatte sich bei der hochansteckenden Todespatientin nicht mehr besonders viel Mühe gegeben.

Durch den Hustenanfall war sie wieder aufgerissen. So gut es ging, versorgte die Krankenschwester die Wunde. Wilhelmine war wieder in einen Halbschlaf gefallen, ihre kleine Luise versuchte verzweifelt, die Mama zurückzuhalten von ihrem Weg in den Tod, sie spürte, dass sie weiterziehen wollte, sie musste weg, sich von ihrem Kind verabschieden, Luise hielt ihre Hand fest, bleib hier, bleib hier, meine Mama.

Das Traumbild zerfloss und sie versuchte, ihre Gedanken wach zu halten. Wie wird ihre verträumte Älteste wohl durchs Leben finden? Sie waren sich immer nahe gewesen. Luise war so gescheit, doch oft woanders in ihren Gedanken und Träumen. So, als ob sie nicht in dieses Leben, in diese Familie gehörte. Hoffentlich würde Heinrich nicht zu hart mit ihr umgehen. Karla, die Fleißige, Robuste würde es leichter haben. Sie würde sich fest an ihren Papa halten. Um sie musste sie sich keine Sorgen machen. Und die kleine Rosa? Ihre Hübscheste? Sie hätte ihre Mutter besonders gebraucht. Heinrich hatte nicht viel Geduld mit ihr.

Das ihr zustehende Maß an Tränen schien Wilhelmine verbraucht zu haben, so oft hatte sie sich in den letzten Wochen innerlich von ihren Kindern verabschiedet. Nun klebte die Traurigkeit trocken wie Sägemehl in ihrem Mund. Und der kleine Junge? Wie sieht er aus? Was wird aus ihm? Wer gibt ihm einen Namen? Wer gibt ihm die Brust? Wer wird ihn begleiten in seinen ersten Jahren? Gott stehe ihnen bei, meinen Kindern.

Die Schmerzen im Unterleib und im Kopf überwältigten sie, dann hüllte ein gnädiger Dämmerschlaf sie ein. Ihr Vater erscheint ihr vor Augen, ist sie schon in der anderen Welt? Will er sie abholen? Nein, sie hält ihn an der Hand, sie ist ein kleines Mädchen, ihr Vater geht mit ihr durch den Stall und begrüßt jede Kuh mit Namen, jede Kuh wird der kleinen Wilhelmine vorgestellt, als wären sie auf einem großen Fest, bei dem sie der Ehrengast sei, eine Prinzessin, eine Stall-Prinzessin, und die Kühe müssten ihr huldigen, immer sonntags hat der Vater mit ihr das Spiel mit den Kühen gespielt, sie sei sein Augapfel, hatte er gesagt, und Wilhelmine wusste nicht genau, was das war, ein Apfel mit Augen, das musste etwas ganz Besonderes sein, so etwas hatte sie noch nie gesehen, und sie spürte die Liebe des Vaters, für ihn war sie etwas ganz Besonderes, das war ihr genug.

Die zarten Fäden des Traumgewebes zerstoben zu nichts, als stählerne Schmerzen Wilhelmine wieder wachhämmerten und sie in eine noch schwärzere Einsamkeit hinabstießen. Heinrich, wo war Heinrich? Wie hatte sie ihn geliebt, diesen feinen, sensiblen Mann, der so gar nicht in das bäuerliche Leben passen wollte. Ein Gottsucher. Wie tief war seine Leidenschaft gewesen, wie hatte er sich in sie vergraben in den langen Nächten ihrer ersten Jahre, nie hatte er sie einfach genommen wie ein Bauer sein Weib, immer hatte er sie fast überschwemmt mit einem Meer von Liebe und Zärtlichkeit, und wie sehr hatte es sie verwundet, wenn er sich, wie so oft, danach hastig von ihr abgewandt hatte, so, als ob er etwas Verbotenes getan hätte. Daran konnte sie sich nie gewöhnen. Immer wieder hatte sie sich geöffnet für ihn mit allen Fasern ihres Leibes, ihrer Seele und ihrer Lust, und sich verletzlich gemacht für seine Liebe, die so grenzenlos erschien und deren Fluss er oft brutal abbrach, als ob er sich misstraute und der Tiefe seiner Leidenschaft Herr werden wollte, als ob er das Meer einzäunen wollte. Müde war sie geworden, so unendlich müde, vielleicht auch ein wenig bitter. Alles verschwamm vor ihren Augen.

Hat er ihr eine Nachricht hinterlassen? Ein Abschiedswort? Jemand war im Zimmer, war es Heinrich? Durfte er noch einmal kommen, hatte sie ihn gerufen mit ihrer Liebe? »Heinrich …?«, wollte Wilhelmine fragen.

»Er ist heute Nachmittag schon gegangen«, sagte die Nachtschwester, und als sie Wilhelmines flehenden Blick sah, verstand sie und schüttelte den Kopf. »Nein, er hat keine Nachricht hinterlassen.«

Wilhelmine schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, sah sie die helle Sonne durch das Fenster scheinen.

»Ist schon Morgen? Die Sonne scheint so schön.«

»Nein, es ist halb vier mitten in der Nacht, es ist finster«, flüsterte die Schwester.

Fasziniert vom gleißenden Licht, das nur sie sah, atmete Wilhelmine zum letzten Mal aus.

KAPITEL 2 | Luise

»Vater, segne diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise, Amen«, sprachen die drei Mädchen im Chor, wie sie es gelernt hatten.

Sie teilten die große gekochte Kartoffel vom Vortag untereinander auf. Um es sich ein wenig wärmer zu machen, hatten sie eine Wolldecke um ihre Beine gewickelt, ganz eng rutschten sie auf der Küchenbank aneinander. Neben dem Herd lagen ein paar Holzscheite. Der Vater hatte sie angewiesen, damit zu sparen, aber das war unnötig, denn keine von ihnen konnte Feuer machen.

Warum kam Vater so lange nicht zurück aus dem Krankenhaus?

»Er holt das neue Geschwisterchen ab«, flüsterte Luise, die Älteste.

»Seit wann holt man die Kindlein aus dem Krankenhaus?« Karla machte große Augen.

»Seltsam … Der Ilse ihr Brüderchen wurde nicht aus dem Krankenhaus geholt, das war irgendwo zuhause, es … hmm.«

Luise schwieg. Dass Säuglinge im Bauch der Mutter wuchsen, wusste sie schon, immerhin war sie schon in der Schule. Unklar war aber, wie die Kindlein von dort herauskamen. Luise hielt also besser den Mund, denn schließlich war sie die Älteste und die kleinen Schwestern sollten nicht merken, dass sie etwas nicht wusste. Neulich hatte sie sich schon mit ihrer Freundin Pauline darüber ausgetauscht, wie ein kleines Kindlein wohl aus dem Bauch der Mutter herauskäme, und sie waren zu dem Schluss gekommen, dass es letztlich nur der Bauchnabel sein konnte, denn wenn es woanders rauskäme, würde es womöglich in den Abort fallen und von so einem Fall hatten sie noch nie gehört. Das wäre außerdem eklig. Nicht umsonst war der Bauchnabel so verschrumpelt. Er konnte sich bei einer erwachsenen Frau wie ein Gummi dehnen und heraus kam das Kleine geschlüpft. Aber erstens war sich Luise da nicht so sicher, und zweitens war noch immer die Frage offen geblieben, wie es im Bauch einer Frau anfangen konnte zu wachsen. Luise war von allen die Beste in der Schule, es wurmte sie, dass sie etwas so Wichtiges noch nicht wusste, und sie hatte schon seit Wochen überlegt, wen sie danach fragen könnte. Papa und der Lehrer kamen nicht in Frage, das hätte sie sich nie getraut, denn sie ahnte schon, dass um das Thema etwas Geheimnisvolles lag. Im Übrigen waren das Männer und hatten womöglich selbst nicht viel Ahnung. Denn Kinder auf die Welt bringen, das wusste jeder, konnten nur die Frauen. Sie nahm sich vor, Tante Gertrud zu fragen, obwohl – die war nicht verheiratet und das Ganze hatte auch damit zu tun, dass man verheiratet war. Denn sonst hätte Tante Gertrud bestimmt selbst Kinder.

»Wann kommt Mama wieder?« Die piepsige Stimme der kleinen Rosa unterbrach sie beim Nachdenken.

»Mama ist krank«, sagte Luise.

Dass Rosa immer so blöd fragen musste. Doch da fiel ihr ein, dass die Sache noch komplizierter lag. Die Mama bekam ein Kindlein und sie war krank. Viele Mütter sind krank, wenn sie ein Kindlein bekommen, aber normalerweise erst nachher und nur für ein paar Tage. So viel hatte sie schon erfahren von Freundinnen und anderen Familien. Die Mama war schon viel länger krank und konnte immer seltener aufstehen.

Kurz bevor sie von den Männern neulich abgeholt wurde, hatte die Mama Luise zu sich an ihr Bett gerufen. Die Mädchen durften sonst nicht mehr so nahe an sie herankommen. Luise konnte die Mama kaum ansehen, weil sie so fremd aussah. Sie war bleich, hatte aber rote Backen und schwitzte und schnaufte, manchmal hustete sie und unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Sie würde bald ins Krankenhaus gehen, hatte sie erklärt, und vielleicht nie wiederkommen. Doch wenn sie Glück hätten, käme dafür ein Geschwisterchen.

»Du brauchst keine Angst haben. Wenn ich gestorben bin, bin ich beim Lieben Heiland und schaue auf euch. Du bist die Älteste, passt du gut auf die Kleinen auf? Karla ist schon groß und kann viel, aber Rosa und das neue Kindlein, die brauchen jemanden, der auf sie aufpasst.«

Luise nickte, es fiel ihr aber nichts ein, was sie hätte sagen können. Dass anstatt der Mama ein Schwesterchen vom Krankenhaus zurückkehren sollte, war unausdenkbar. Sie nickte trotzdem und starrte auf die Wand gleich über Mamas Kopf.

»Mach’s gut, meine Große«, flüsterte die Mutter.

Im Licht der Nachttischlampe glitzerten Tränen, die über ihre Wangen liefen. Luise hatte nicht gewollt, dass Mama weinte. Auf einmal waren diese schweren Klumpen in ihrem Hals gewesen und sie war ganz stumm stehen geblieben, so lange, bis die Mutter sie hinausgeschickt hatte.

»Ich muss ein Rolle machen!«

Die kleine Rosa zerrte sie schon wieder aus ihrer Gedankenwelt. Luise seufzte und blickte mit den Augen an die Zimmerdecke. Dann holte sie das Häfele aus der Stube und setzte ihre kleine Schwester drauf.

Während ihr Wässerchen in den Blechhafen gluckerte, fragte Rosa: »Warum ist die Mama krank?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Aber wann kommt sie wieder?«

»Vielleicht gar nicht, vielleicht kommt ein ganz kleines Kindle.«

»Wie klein? So?« Rosa zeigte mit Daumen und Zeigefinger ungefähr einen Zentimeter.

»Schon ein bisschen größer«, antwortete Luise mit herablassender Miene.

»Aber die Mama soll jetzt kommen und das Kindle dort lassen!« Rosa greinte und fing an zu schluchzen.

Das war es, was sich Luise auch gewünscht hätte, aber das wollte sie der Rosa natürlich nicht sagen.

Als die Kleine fertig war, trug Luise das Häfele hinaus und leerte es auf dem Abort, im zugigen Durchgang zwischen Haus und Stall. Ein eiskalter, stinkender Lufthauch blies ihr ins Gesicht, als sie den speckigen Holzdeckel hochklappte. Beim Ausleeren des Hafens ging natürlich was daneben und mit einem Stück Zeitungspapier machte sie den Rand wieder notdürftig sauber. Sie ekelte sich, musste sich jetzt aber auch setzen und pinkeln. Rosa sollte bald lernen, selbst auf den Abort zu hocken, diesen Hafen wollte sie nicht immer wieder leeren. Das muss Mama ihr beibringen, sobald sie wieder da ist, dachte sie. »Mama kommt nie wieder«, sagte eine Stimme in ihr. »Vielleicht doch«, erwiderte Luise, die auf dem frostigen Abort saß. Sie zitterte vor Kälte und vielleicht auch vor Angst, dass die Mama nie wiederkommen würde.

Als sie ihre Mutter das letzte Mal sahen, durften die drei Mädchen ihr nur von der Küche aus zuwinken und adieu sagen. Die Mama machte den Mund auf, vielleicht wollte sie auch adieu sagen, aber es kam nur Husten aus ihrem Mund und da lief das Blut auf das weiße Leintuch der Trage-Pritsche.

»Mama, Mama!«

Die kleine Rosa wollte zu ihr rennen, aber der Vater packte sie und nahm sie auf den Arm. Luise starrte den roten Fleck an auf dem Laken. Rot auf weiß. Blutrot. Der Kloß saß wieder in ihrem Hals. Sie hätte adieu sagen und sich verabschieden sollen, doch ihre Lippen gingen nicht auf, und die Zunge blieb im Mund kleben. Wie von weit her hörte sie Rosa auf den Armen des Vaters strampeln und schreien. Neben Karla stand sie und schaute auf die Tür. Die hatte sich hinter den Männern geschlossen. Mama war weg.

Das war vor zwei Wochen. Seither erschien ihr immer wieder dieses Bild: die Tür, die sich schließt hinter der Mama. Es blieb in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Manchmal tauchte es nachts im Traum auf, manchmal auch untertags, aber immer sah sie es als Erstes morgens beim Aufwachen – die Tür. Mama wird hinausgetragen. Die Tür schließt sich. Und sie, Luise, steht stumm.

Von außen schob sie den eisigen Metallriegel der Aborttüre vor, und – pf… pf… pf… – betrachtete die kleinen Atemwölkchen, die sie aus ihrem Mund stieß, auf dem Weg über den Hof zurück in die Küche.

Natürlich! Mit Anni mussten Karla und Rosa spielen. Ausgerechnet. Das war ihre Puppe, Mama hatte sie für Luise gemacht vor vielen Jahren, als sie noch klein war. Einen alten Lumpen hatten sie mit Spelzen gestopft, die vom Weizendreschen im Sommer überall herumlagen. Mit einer Schnur wurde der Kopf abgebunden und der Bauch. Dann hatte die Mama die ausgestopften Beine und Arme angenäht, ein Gesicht daraufgestickt und mit Wolle die Haare angebracht, darüber trug Anni – so hieß die Puppe schon, bevor sie fertig war – ein schneeweißes Kopftuch. So eines, wie Mama immer bei der Arbeit trug.

»Du, du, du, mein kleines Kindelein, trink nur schön …«, singsangte Karla und hielt einen Holzspan, der ein Säugling sein sollte, an Annis Brust.

Rosa piepste dazu: »Trink du, Kleines …«

Luise wollte ihnen die Puppe wegnehmen, da fiel ihr ein, dass sie allmählich zu groß war für ein solches Kleinmädchen-Spielzeug, immerhin war sie die Älteste.

So schlenderte sie in die Stube und wusste nicht recht, was mit sich anzufangen. Noch immer war der Vater nicht zurück aus dem Krankenhaus. Wie es dort wohl aussah? Kinder durften nicht hinein, weil sie die Kranken störten. Ob auch sie die Mama stören würde, wenn sie mal hineinschauen könnte, überlegte sie sich.