Die Wächter von Magow Folge 7 - 12 - Regina Mars - E-Book

Die Wächter von Magow Folge 7 - 12 E-Book

Regina Mars

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Beschreibung

Folge 7 bis 12 der humorvollen Urban Fantasy-Serie! Nach dem katastrophalen Ende des Familienausflugs wissen Sofie und ihre Freunde nicht weiter. Schmerzerfüllt ziehen die einzelnen Mitglieder sich zurück. Die Putztruppe droht, zu zerbrechen. Können ein verschwundenes Teammitglied und eine Seeschlangenplage sie wieder zusammenführen? Welche Geheimnisse warten in Sofies altem Familiensitz? Und sind ihre Feinde näher, als sie denken? Dieser Sammelband enthält: * Danach * * OK Ghul * * Der Verräter * * Grün ist die Hölle * * Incubus-Intrigen * * Das brutale Finale *

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* DANACH *
Ricky Scholle
Die Nachbesprechung
Zeit, nachzudenken
Schuldig
Vivi
Hindernisse
Der Suchtrupp
Oma
Schlangengrube
Nachsorge
Im Fenster
Die Beerdigung
Ein Versteck
* OK GHUL *
Adina Caligari
Die Spezialeinheit
Zurück zur Arbeit
Nachhilfe
Wut im Wohnwagenpark
Angriff der Leichenfresser
Gefangen und allein
Ein harter Tag
Eingesperrt
Ein weiter Weg
Der letzte Kampf
Teambildendes Trinken
Eine Entscheidung
* DER VERRÄTER *
Aeron von Thrane
Unruhe in Ruhleben
Flucht vor den Fellnasen
Freier Fall
Sitz!
Verrat
Eindeutig
Rätselhaft
Tief unten
Das Verhör
Die wissenschaftliche Herangehensweise
Das Schwert und die Hexe
* GRÜN IST DIE HÖLLE *
Ricky Scholle
Ein teambildender Kuss
Das Geständnis
Alter Schmerz
Reise in die Vergangenheit
Teamwork!
Das Haus des grünen Friedens
Der geheime Raum
Eine Spur
Wie es weitergeht
Katzenjammer
Ein unerwartetes Gespräch
Alarm!
Eine Entscheidung
Die Beichte
Was die beiden besprechen
Aeron
* INCUBUS-INTRIGEN *
Ricky
Papa ruft an
Entführt
Familienzusammenführung
Aerons Armee
Endspiel
Abseits
Verlängerung
Adina
Nachspielzeit
Wartebank
Aeron
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
Die Besprechung der Lage
Richtungswechsel
Außen vor
Obsidian
Der Besuch
* DAS BRUTALE FINALE *
Mila
Versus
Magows liebster Sohn
Nach unten
Ränke und Ranken
Ein unfairer Kampf
Adina
Von der Metze zur Meisterin
Kein Plan
Ricky
Verfolgt
Der Parkplatz-Plan
Schiefgelaufen
Flucht
Eine Entwicklung zum Schlechten
Incubusblut
Das Ritual
Rickys Flucht
In der Küche
Zurück
Im Wartezimmer
Der epische Epilog

 

 

Die Wächter von Magow 7-12

 

Regina Mars

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

©Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

[email protected]

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Stockphotos von Adobe Stock

Magisches Symbol: © robin_ph/Adobe Stock

Stadtplan: © pbardocz/Adobe Stock

Stadtsilhouette: © FSEID/Adobe Stock

Schwert: © shaineast/Adobe Stock

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

 

 

 

* DANACH *

 

Ricky Scholle

 

Sie hieß Ricky und war hübsch. Er folgte ihr über Stahlbrücken, durch miefende Gassen und verdreckte Unterführungen. Kalter Wind strich über seinen verschwitzten Nacken. Eisiger Wind. Aber es lag bereits eine Ahnung von Frühling unter all dem Gestank. Es war erst seine dritte Nacht in Berlin und bisher gefiel die Stadt ihm ausgezeichnet.

Ihre Zähne blitzten, als sie sich zu ihm herumdrehte. Alles an ihr glänzte. Die vollen Lippen schimmerten blutrot und die silbernen Pailletten auf ihrer Kappe funkelten im Licht der Straßenlaternen. Auch wenn es nur sehr wenige Straßenlaternen waren. Die Hälfte war aus und noch mehr waren kaputtgetreten worden.

»Komm schon.« Sie nahm seine Hand und zog ihn an sich. Sie küssten sich an einer Litfaßsäule, gelehnt an Werbeplakate für Zigaretten, Camcorder und einen Film namens 'Alarmstufe: Rot'.

Er drückte die Lippen auf Rickys und spielte mit ihren Zöpfen. Trat einen Schritt zurück und bewunderte das Bauchnabelpiercing, das unter ihrem farbenfrohen Shirt hervorschaute. So sahen die Mädels in der Hauptstadt also aus. Nett.

Sie hatten sich vor einer Stunde auf einem Rave im Park kennengelernt. Als die Polizei ihn aufgelöst hatte, war er mit ihr geflohen. Beziehungsweise hatte sie ihm angeboten, mit zu ihr zu gehen. Es hatte ihn überrascht, wie direkt sie war. Aber hey, es war 1992 und die Frauen konnten ja auch mal den ersten Schritt machen.

»Hier geht's lang.« Sie löste sich und zwinkerte ihm zu. Rannte voraus über die Pflastersteine, bis er sie einholte, knapp neben einer zerkratzten Haustür.

»Ist das deine Bude?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Haus.

»Nee.« Sie grinste.

Ihre Pupillen waren riesig. Seine vermutlich auch. Er wusste nicht, was sie genommen hatten, aber es wirkte. Er fühlte sich unsterblich.

»Wir müssen noch ein bisschen weiter. Hör mal zu.« Er sah, dass Lippenstift auf ihrem Schneidezahn klebte. Egal. Ricky Scholle war hübsch. Nicht mal ihr komischer Name konnte etwas daran ändern. »Ich sing dir jetzt was vor und du singst das nach, ja? Nicht lachen.«

Sie brachen in einen Lachanfall aus. Alle beide, dabei hatte er das Lied noch nicht mal gehört.

Es war ein total dämliches Lied und er liebte es. Er hätte gerade ohnehin die ganze Welt umarmen können. Etwas passierte, das spürte er. Er würde die ganze Scheiße hinter sich lassen und neu anfangen. Er würde nicht daran denken, was möglicherweise auf ihn lauerte.

Hand in Hand gingen sie weiter, das dämliche Lied singend, das von Bier und noch mehr Bier handelte. Und vom Zaubern. Als sie ihm sagte, dass er aufhören könnte, sang er einfach weiter. Erst, als sie ihn durch eine Tür in einen Hausflur führte und stürmisch küsste, verstummte er.

Sein Daumen spielte mit ihrem Piercing, ihre Zunge mit seinem. Der Flur stank nach Schimmel und verschüttetem Bier, aber auch das war egal.

 

***

 

»Was war das für ein Lied?«, fragte er, Stunden später, als sie nebeneinander auf ihrer Matratze lagen.

Rickys Wohnung war winzig und schäbig. Bei der abblätternden Tapete und den abgewetzten Dielen wunderte er sich, dass sie nicht auch noch eine Etagentoilette hatte. Aber Ricky selbst war erstklassig. Seine Augen wanderten über ihren schlanken Körper. Wie alt sie wohl war? Jünger als er. Zwanzig vielleicht. Hoffentlich achtzehn, obwohl er größere Probleme hatte. An die er gerade nicht denken wollte.

»Das war ein«, sie sog an ihrer Zigarette und stieß einen perfekten Rauchkringel aus, »magisches Lied. Ohne das wärst du nicht hier reingekommen.«

»In das Haus?«

»In das Viertel.« Sie blickte an die Decke. »Keine Angst, du vergisst das alles. Nachdem ich dich wieder rausgebracht habe, weißt du nichts mehr.« Sie kicherte. »Ich rede zu viel.«

»Ich mag, wie du redest.« Grinsend sah er auf sie hinab. »Und wie viel.«

Sie lachte. »Pass auf, ja? Verlieb dich nicht. Wir sehen uns nicht wieder. Du vergisst mich bald.« Ihre Augen glänzten fast schwarz.

»Ich werde dich nie vergessen.«

Sie blies ihm Rauch ins Gesicht und seine Augen tränten. »Danke.«

»He. Erzähl mir was von dir.«

»Ha. Okay.« Sie drückte die Zigarette aus. Elegant wie eine Raubkatze. »Ich bin aus Hude, das ist bei Bremen. Bin erst vor ein paar Tagen hergekommen, weil mein Wächterdienst bald anfängt und ich keine Lust hatte, den daheim zu absolvieren. Mein magischer Wächterdienst.« Auch ihr Lächeln hatte etwas Raubtierhaftes. Ein winziger Schauer kroch seinen Rücken hinab. »Mein magischer Wächterdienst im magischen Bezirk Magow.«

»Wo ist das denn?«

»Hier.« Sie deutete auf das schäbige Zimmer. »Ganz schön ranzig, was?«

»Du verarschst mich, oder?« Er runzelte die Stirn. Natürlich verarschte sie ihn. Konnte gar nicht anders sein.

»Nee. Es ist überall um uns rum. Kannst du mir glauben.« Sie suchte nach der Packung und steckte sich eine neue Zigarette an. Großzügig bot sie ihm eine an, obwohl er sie gekauft hatte. Er nahm eine.

»Überall um uns rum.« Der Rauch füllte seine Lungen. »Und ich bin jetzt im magischen Viertel, oder was?«

»Genau.« Sie streckte sich. Einer ihrer Zöpfe hatte sich aufgelöst und ihr Make-up war endgültig verschmiert. »Keine Angst, du vergisst alles wieder. Ich bring dich gleich raus und dann wird dein Gedächtnis gelöscht.«

Er dachte nach. Schnell. »He, schmeiß mich noch nicht raus.« Er küsste sie. Nahm ihr die Zigarette aus der Hand, legte sie in den Aschenbecher und lenkte sie so gründlich ab, dass sie erst eine Stunde später wieder an die Zeit dachte.

 

***

 

»Wie spät ist es?«, fragte sie. »Ich muss dich vor Sonnenaufgang rausbringen.«

Er schaute auf seine Swatch. »Erst vier.«

»Um fünf bring ich dich raus.« Sie lächelte. »Schade um dich. Werd dich vermissen.«

»Ich dich auch.« Er strich durch ihre Haare, die nun endgültig frei von den bunten Zopfgummis waren. »Vielleicht sehen wir uns mal wieder, hm?«

»Vielleicht.«

Er sah es in ihren Augen: Das würden sie nicht. Sie war neu in der Stadt und wollte alles ausprobieren. Er kannte das Gefühl selbst.

»Was passiert bei Sonnenaufgang?«, fragte er. »Verwandele ich mich in einen Kürbis, wenn ich hierbleibe?«

Sie lachte, aber etwas müde. Der Rausch verklang. »Nö, mit dir passiert gar nichts. Ich verwandle mich. Glaub mir, dann willst du nicht mehr hier sein.«

»Was?« Kalte Luft strich über seinen Nacken.

»Guck nicht so ängstlich.« Sie sog an der nächsten Zigarette. »Ich bin doch kein Monster. Ich bin ein Wasserspeier.«

»Wasserwas?«

»Ein Wasserspeier.« Ein böser Glanz trat in ihre Augen. »Willst du's sehen?«

Er nickte, obwohl er nicht sicher war. Einen Augenblick später fiel er von der Matratze.

Ein geflügeltes Ding erhob sich vor ihm, steinern und grau, die Fratze gezackt, die Augen glühend. Das Ding lachte.

Ricky lachte immer noch, als sie sich zurückverwandelt hatte.

»Piss dich nicht ein, Mann!« Sie gluckste. »Na, freust du dich schon darauf, alles zu vergessen?«

»Was war das?« Er klaubte die brennende Zigarette von seinem Bauch und fluchte. Die verbrannte Stelle zwiebelte. Und er kam sich lächerlich vor. Das Gefühl mochte er ganz und gar nicht.

»Das war ich.« Ihre Haut schimmerte im Licht der Schreibtischlampe, die auf dem Boden stand. »Das ist nur meine zweite Form. Ich …« Sie runzelte die Stirn. Sah aus dem Fenster. »Wie spät ist es noch mal?«

»Ist doch egal.«

»Wie spät?«, fauchte sie.

»Halb acht«, gab er zu. »Okay, okay, ich hab gelogen. Ich wollte noch nicht rausgeschmissen werden. Erzähl mir noch mehr von diesem magischen Viertel.«

Sie fluchte. »Du Eiernacken! Wenn die Sonne aufgeht, verwandle ich mich in Stein. Komm, ich bring dich hier raus.« Sie erhob sich in ihrer ganzen, nackten Pracht. Schob die schmutzigen Gardinen zur Seite und schnalzte mit der Zunge. »Mist. Fast hell.« Sie fuhr sich durch die offenen Haare. »Fuck, ich will nicht gleich in der ersten Woche Ärger kriegen, weil ich einen Menschen in die Stadt geschleust habe. Okay, hör zu. Weißt du noch, wie wir hergekommen sind? Geh einfach die Straße runter und du bist draußen. Raus aus Magow. Sei lieb, ja?«

»Sehen wir uns wieder?«, fragte er. »Morgen ist …«

»Morgen muss ich lernen.« Sie deutete auf einen Stapel Ordner, der kurz vor dem Zusammenbrechen schien. »Gibt einen Test, wenn der Wächterdienst losgeht.«

»Ah. So.« Er räusperte sich. »Gut, dann bis … irgendwann.«

Langsam wandte er sich um. Er zog sich an und sah zu, wie der Raum sich langsam mit trübem Licht füllte. Hinter sich hörte er ein trockenes Knirschen. Als er sich umwandte, war Ricky Scholle versteinert. Das Ding von eben hockte auf der Matratze, mit angezogenen Beinen und gezackter Monsterfresse. Eine Statue.

Er zögerte. Sah sich um. Ja, sie war eindeutig gerade eingezogen. Neben dem Ordnerstapel sah er zwei Koffer und einen Müllsack voller Klamotten. Ihre winzige Handtasche, mit buntem Glas bestickt. Einen geschlossenen Eimer Wandfarbe, Roller, Bohrer und einen offenen Werkzeugkoffer, der einen Hammer, Spachtel und ein beeindruckendes Sortiment Schrauben enthielt. Sah aus, als wollte sie was aus dieser schrottigen Bude machen.

Langsam ging er zum Bett hinüber. Strich über den steinernen Schädel, forschte den Linien der Monsterfresse nach. Ein Monster. Er hätte es wissen müssen. Unter ihren Gesichtern lauerten immer …

Er wandte sich ab. Jessies Gesicht erschien in seiner Erinnerung. Jessies Lachen. Ihre Tränen. Ihr Hass. Die gefletschten Zähne, als sie ihm alles entgegengeschleudert hatte, was …

Nein, nicht daran denken. Nicht daran, dass sie Schluss gemacht hatte, aus dem Nichts. Ihm das Herz aus der Brust gerissen und nicht kapiert, was sie ihm antat. Dass es einen Neuen gab. Dass sie behauptet hatte, er wäre durchgedreht. War er nicht. Kein Stück.

Er fragte sich, wann sie ihre Leiche entdecken würden. Sie lag gut versteckt, aber er hatte Fehler gemacht. Früher oder später musste ein Hund sie finden, musste jemandem beim Spazierengehen der Geruch auffallen. Ja, er hatte Fehler gemacht. War in Panik geraten.

Denken. Atmen. Er schloss die Augen. Das hier, dieser seltsame magische Bezirk, stellte eine Chance dar. Und wenn er eins konnte, dann Chancen erkennen. Das hatte sein Trainer ihm gesagt. Egal, was für Fehler er sonst machte, er hatte zwei herausragende Fähigkeiten: einstecken und Chancen erkennen.

In ihrer Handtasche steckte ein Personalausweis und das besiegelte die Sache. Sie hieß wirklich Ricky. Nicht Ricarda oder Marika oder sonst wie. Ricky. Ein Unisexname.

Es war riskant. In den Ordnern würde er Informationen dazu finden, wie diese Welt funktionierte, da draußen auf der Straße vermutlich noch mehr. Aber es blieb eine gefährliche Angelegenheit. Er wusste nicht, wie gut sie vernetzt war. Wie wahrscheinlich es war, dass das falsche Geschlecht im Ausweis stand. Ob er rechtzeitig einen Fälscher auftreiben könnte, einen guten. Daheim hätte er es gekonnt, aber hier?

»Ricky«, sagte er und es klang nicht schlecht. »Ricky Scholle.«

Im halbblinden Spiegel im Bad betrachtete er sich und probierte den Namen aus. Doch, das konnte er sich vorstellen.

»Hi.« Er lächelte und wusste, dass er gut aussah. Kein Wunder, dass sie ihn mitgenommen hatte. »Hi, ich bin Ricky.«

Doch, das könnte funktionieren. Nachdenklich verließ er das Bad. Er packte den Hammer aus dem Werkzeugkoffer und ging zum Bett. Nach drei Schlägen zerbrach ihr Kopf.

Die Nachbesprechung

 

Es war kalt im Einsatzwagen. Und eng. Sofie roch die abgestandene Luft, die Plastiksitze und den Schlamm, den sie aus der Dunkelheit hereingetragen hatten. Sie bemerkte Nats Schulter an ihrer, den Schmerz ihrer gebrochenen Nase und fühlte … nichts. Sie konnte nichts fühlen. Durfte nicht. Sobald sie es zuließ, würde eine schwarze Lawine sie überrollen und das durfte sie nicht. Noch nicht. Nicht, bevor sie alles erzählt hatte.

Sofie ballte die Fäuste, spürte die Fingernägel in der feuchten Haut. Das Piksen, das den größeren Schmerz zurückhielt. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und sie konnte die beiden Männer kaum sehen, die ihr gegenübersaßen.

Onkel Lars und General Stein. Sie waren schnell hergekommen. Viel schneller, als sie und ihre Freunde gestern gewesen waren, auf dem Weg zum Wald. Die Generäle und ihre Teams mussten über die Autobahn gerast sein wie die Wilden, ganz anders als Isa, die gemütlich gezockelt war, Flachwitze erzählend und lachend …

Sofie versuchte zu schlucken, aber sie konnte es nicht. Draußen brüllten sie Befehle, knirschten Stiefel über das Geröll neben der Straße. Folien knisterten. Der erste Trupp war längst in das Harpyiengebiet eingedrungen. Es war fast Mitternacht.

»Wir sind aus den Zellen ausgebrochen«, sagte Nat und er klang anders. Älter und irgendwie, als befände er sich unter Wasser. Wie ein Ertrinkender. »Wir … Ich … Wir haben die Schlösser geknackt und … ich … ich dachte …« Er brach ab. Sofie spürte sein Zittern.

Onkel Lars machte es nicht besser. Stumm und ernst betrachtete er sie durch seine Goldrandbrille. Die massigen Arme vor der Brust verschränkt, hörte er zu und schwieg. Sie sehnte sich danach, ihn schreien zu hören, das übliche Gebrüll nach jedem verbockten Einsatz zu erleben. Das hier war der verbockteste Einsatz, den sie je gehabt hatten, richtig?

Sie sah zu Vivi, die zwischen Onkel Lars und General Stein saß. Starr wie eine Statue. Die Meerjungfrau blinzelte nicht einmal mehr. Die Haare waren ihr aus der Stirn gerutscht und gaben ihr Feuermal frei. Normalerweise hätte sie sie sofort zurückgestrichen und es wieder verdeckt … Normalerweise.

»Lass dir Zeit, de Sangeville.« Warum klang Onkel Lars jetzt auch noch verständnisvoll? Sofie ertrug es nicht mehr. Alles war falsch. Alles. Der nach Schweiß und Plastik stinkende Innenraum des Wagens war vollgequetscht mit Leuten, mit den beiden Generälen, ihr, Vivi, Nat und Jean, und doch war er zu leer. Sie sehnte sich danach, ein wölfisches Lachen zu hören, einen schlechten Witz, ein Schulterzucken zu sehen, das Onkel Lars auf die Palme trieb. Wie konnte er es wagen, so ruhig zu bleiben?

Wütend sah sie ihn an. Er beachtete sie nicht und fixierte Nat. Als ihr Anführer hätte der alles erzählen sollen, und er gab sich Mühe, aber alle paar Sätze musste er Pausen einlegen. Er sah auf seine Hände. Sie zitterten wie die eines Alkoholikers. Als Sofie seine Linke umfasste, fühlte sie sich an wie die eines Toten. Eiskalt. Das Zittern wurde etwas schwächer, als er ihre Finger spürte, aber er schwieg.

»Amadi.« Onkel Lars nickte Jean zu. »Kannst du uns etwas darüber erzählen, was in dem Gefängnis passiert ist?«

Jeans Gesicht war starr. Er saß so aufrecht wie einer, der kurz davor war, sich zu übergeben.

»Wir haben trainiert«, brachte er hervor. »Nat und ich. Dann sind wir in die Küche gegangen, um was zu trinken, und dann … keine Ahnung. Als ich aufgewacht bin, war ich gefesselt. Schätze, sie haben mich betäubt. Ich … Wir waren in diesem Keller. Ein Riesenraum. Die Hexe war auch da.« Sein Blick streifte Sofie. »Sie war an einen Eisenstuhl gefesselt.«

»Wer war noch anwesend?« General Stein tippte auf seine Bluetooth-Tastatur ein. Das steinerne Gesicht war ausdruckslos und irgendwie beruhigend. Wenigstens er war wie immer.

»Die andere Hexe«, sagte Jean. »Adina Azalea Caligari. Ihre Gehilfen. Ein … ein Vampir, zwei Werwölfe und eine Dryade. Und …«, er holte tief Luft, »ein Incubus.« Sehnen traten auf seinen geballten Fäusten hervor. »Aeron von Thrane.«

Die Augenbrauen beider Generäle wanderten in die Höhe. Onkel Lars fluchte stumm. »Bist du sicher?«

»Ja.« Jeans Kiefermuskeln mahlten. »Ja, bin ich. Ich … Egal. Sie haben mir Blut abgezapft. Für das Ritual. Eigentlich wollten sie Aerons nehmen, das tun sie wohl sonst, aber … ich war da. Da haben sie mich genommen. Ich war die ganze Zeit gefesselt.« Er spuckte die Worte förmlich aus.

»Welches Ritual?« General Steins Finger tippten in Lichtgeschwindigkeit.

Sofie räusperte sich und sprach, undeutlich und näselnd. »Das Ritual der Unsterblichkeit.«

Die beiden erstarrten. Sie redete weiter.

»Das war nur ein Testlauf. Adina wollte es an ihrem Raben ausprobieren. Sie hat zehn Amulette dabei gehabt und ein Pentagramm aus Schlangen und Kerzen und einen Kessel. Den Kessel der Baba Jaga. Den Raben hat sie mit Jeans Blut übergossen und … keine Ahnung, was sie gemacht hat. Sie wollte mich und ihre Gehilfen opfern. Sie hat ihnen erzählt, dass sie unsterblich werden und die haben es geglaubt. Ich wollte ihnen erklären, dass sie sterben werden, aber … sie wollten es nicht glauben. Dann sind Nat und Isa aufgetaucht.« Der Name der Werwölfin schnitt in ihren Hals. »Sie haben den Raum gestürmt und Adina und Aeron angegriffen.«

»Wir wollten sie ablenken«, sagte Nat plötzlich. »Ich dachte, wenn wir … Ich dachte …« Er brach wieder ab.

»Sie haben mit den beiden gekämpft, während Vivi mich befreit hat«, flüsterte Sofie. »Aber es hat nicht gereicht. Adina hat sie überwältigt und kaum war ich frei, habe ich mich von Aeron hypnotisieren lassen und dann waren wir alle gefangen. Adina hatte freie Bahn.« Sie atmete tief ein. »Aber das Ritual ist schiefgegangen.«

Sie sah etwas in Onkel Lars' Augen. Erleichterung? Vermutlich. Das Ritual konnte Millionen Leben auslöschen. Vermutlich wusste er mehr darüber als sie.

Sofie sah zu Boden und versuchte, sich zu erinnern. »Der Rabe ist … innerlich verbrannt oder so. Er hat Feuer gespuckt und … und die Decke zum Einsturz gebracht.« Sie schaffte es nicht, Vivi anzuschauen. »Isa ist … Sie hat … Ein Stein ist auf sie gestürzt und wir konnten sie nicht herausziehen. Sie … ist noch da unten.«

Schweigen. Die Luft war so stickig, dass man sie kaum atmen konnte. Nur das Klackern von General Steins Fingern auf der Tastatur war vernehmbar.

»Was ist mit Caligari und von Thrane?«, fragte er. »Sind sie verschüttet worden?«

»Nein. Sie konnten fliehen.« Sofies Fingernägel gruben sich noch tiefer in die Handflächen. »Als sie gesehen haben, dass das Ritual nicht funktioniert, sind sie geflüchtet.« Wie die Ratten. Wie die feigen Verräter, die sie waren.

»Er muss sterben«, knurrte Jean und wenn sie sein hilfloses Gesicht nicht gesehen hätte, hätte sie gedacht, er wäre ganz der Alte. »Der Dreckskerl muss endlich verrecken.«

Niemand sagte etwas dazu. Es war ruhig. Viel zu ruhig.

»Nun.« General Stein klang müde. »Immerhin etwas. Wenn das Ritual nicht funktioniert hat, hat Caligari es nicht geschafft, die richtigen Zutaten zu finden.«

»Doch.« Nat starrte immer noch auf seine Hände. »Doch, das hat sie. Sie hatte alles, was sie brauchte. Sie weiß es nur nicht.«

»Bitte?« General Stein sah ihn an. Seine grauen Augen fixierten Nat, doch der sah Vivi an.

»Vivi?«, sagte er und seine Stimme war so sanft, als wolle er ein verschrecktes Fohlen beruhigen. »Willst du … es ihnen zeigen?«

Vivi rührte sich nicht. Nichts in ihrem Gesicht deutete darauf hin, dass sie ihn gehört hatte. Doch dann griffen ihre Finger unter ihren verdreckten Pullover und sie holte das Amulett hervor.

Was?

Es baumelte an einer Kette von ihren schlanken Fingern. Sie sah es nicht an, aber alle anderen konnten den Blick nicht davon abwenden.

Es war schwarz-silbrig wie die anderen, aber Sofie spürte, dass es anders war. Die anderen Amulette hatten stets wie übergroße geschmacklose Prunkstücke gewirkt, aber das hier, nun, da es freilag … Es veränderte die Luft. Wie ein Ton, der knapp außerhalb ihres Hörspektrums lag.

Sie verstand, was sie vorher nicht kapiert hatte.

All die Amulette da unten, die fast tausend, die sind nur zu Übungszwecken erschaffen worden, dachte sie. Oh, fuck. Sie hatten überhaupt nichts mit dem Ritual zu tun. Es ging immer nur um die zehn. Fünf auf dem Boden, fünf in der Luft.

Das Amulett hier war eins der zehn. Es summte vor Macht. Verschlungene Runen wanden sich darauf, die sie nicht kannte. Aber sie formten ein Pentagramm.

»I-ich dachte, wenn eins der Amulette aus dem Pentagramm fehlt, würde es das Ritual stören.« Nat klang, als würde er von einer längst vergangenen Zeit erzählen. »Also hat Vivi es ausgetauscht, während wir Adina abgelenkt haben. Durch eins aus dem anderen Zimmer, das fast genau so ausgesehen hat. I-ich schätze, das war es, was das Ritual gestört hat. Das hat …« Er brach ab. Sofie wurde klar, dass sie die ganze Zeit seine Hand gehalten hatte, denn nun zitterte sie wie die Haube eines startenden Motorrads. »Ich möchte meine Rolle als Anführer niederlegen. Ich bin nicht geeignet.«

»Nein«, sagte General Stein. Etwas ratterte hinter seiner Stirn. »Das war ein ausgezeichneter Einfall.«

Nat krampfte die Finger um Sofies. »Weil wir das Ritual gestört haben, ist die Decke eingestürzt. Nur deshalb ist Isa … ist …« Er erhob sich und torkelte zur Tür. Riss sie auf und taumelte nach draußen. Als Sofie ihn einholte, kniete er im Straßengraben und übergab sich. Blonde Locken klebten in seinem Nacken und leuchteten im Scheinwerferlicht. Die Nacht roch nach nasser Erde und Herbst und es war so friedlich, dass Sofie sich wie in einem Traum fühlte. Die Profiwächter, die hiergeblieben waren, hielten Wache, Waffen in den Händen. Die meisten sahen wie Menschen aus. Werwölfe und Vampire, schätzte sie. Die waren für Außeneinsätze wie diesen bestens geeignet.

Sie setzte sich neben Nat und strich über seinen Rücken. Spürte, wie seine Muskeln sich verkrampften, als er würgte. Erinnerte sich an damals, als Cassa beim Geburtstag ihres Onkels in der Grillhütte eine halbe Flasche Pfeffi getrunken hatte, vor hundert Jahren oder so. Oder fünf.

Sie durchforstete ihr Gehirn nach etwas, das sie sagen konnte, aber sie fand nichts.

Ich kann das nicht, dachte sie. Nat zu trösten wäre normalerweise Isas Aufgabe, aber … ja.

Nat setzte sich in den Schlamm und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Er starrte ins Leere. Sofie nahm seine Hand, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sie hörte leise Stimmen aus der offenen Tür des Einsatzwagens. Der Wald um sie herum war schwarz.

»Ob sie noch da draußen ist?«, fragte sie leise. »Adina? Meinst du, sie ist in der Nähe?«

»Nein. Sie wird geflüchtet sein.« Er rieb sich mit dem Daumen über die Augen. Holte tief Luft. »Sie wird es wieder versuchen.«

Sofie blinzelte. »Das Ritual?« Sie grübelte. Die Kälte des Waldes zog sich um sie zusammen. »Ja, wahrscheinlich. Sie versucht es seit zwanzig Jahren. Oder dreißig. Natürlich wird sie nicht aufhören.«

»Nein. Wird sie nicht.« Nat richtete seine Brille. Seine Haut hatte einen grauen Unterton. »Und beim nächsten Mal wird es funktionieren. Sie weiß es nur noch nicht. Wenn sie das Ritual das nächste Mal durchführt, wird es funktionieren.«

Sofie schluckte hart. »Aber dafür müsste sie erst mal … Sie müsste die Amulette neu schmieden, die kaputtgegangen sind. Das dauert bestimmt … Jahre? Monate?«

»Ich weiß nicht.«

»Und der Rest? Incubusblut hat sie, wenn Aeron bei ihr ist. Den Kessel und den Dolch auch. Neue Opfer findet sie vermutlich schnell.« Sie schluckte.

»Das ist nicht alles, oder?« Endlich sah er sie an. »Sie braucht dich. Du bist Teil des Rituals. Das war der Grund, aus dem sie dich hergelockt hat. Damit sie dich für das Ritual verwenden kann.« Es musste ihm wirklich schlecht gehen. Sonst hätte er das viel höflicher ausgedrückt.

Sofie würgte ihre Enttäuschung hinunter. »Ja, das war es wohl. Deshalb wollte sie, dass ich sie finde.« Nur deshalb war Isa … »Die wichtigste Zutat bei dem Ritual ist das eigene Kind. Waldemar hat damals seinen Sohn getötet, als er …«

Er wollte es nicht, krächzte eine leise Stimme in ihrem Kopf.

»Gurke?«

Hinnerk näherte sich, einen mit weißen Bandagen umhüllten Taubenleib in den Pranken.

»Tachchen«, sagte der Zwerg und übergab Gurke an Sofie. »Der kleene Patient ist verbunden. Drei gebrochene Rippen, und ein Flügel ist hin. Weeß nich, ob der wieder wird, aber auf jeden Fall lebt er noch, also, joa. Glückwunsch.« Er zuckte mit den Schultern.

Sofie barg Gurke an ihrer Brust, so vorsichtig sie konnte. »Danke, Hinnerk.«

Der kratzte sich den Bart und betrachtete Gurke mitleidig. »Ich hätt ihm ja den Gnadenschuss gegeben, aber wenn du meinst, der kann auch ohne Flügel klarkommen, dann glaub ick dir.«

»Der Flügel verheilt. Oder, Gurke?« Sie sah den Täuberich an.

Ja. Er klang müde. Alles verheilt. Vor hundert Jahren bin ich von einem Autobus überrollt worden und konnte nach wenigen Tagen wieder fliegen.

Echt?

Vielleicht waren es auch Monate. Die Zeit fliegt, wenn man unsterblich ist.

Schön, dass du noch da bist, Gurke. Sofie drückte einen Kuss auf seinen Taubenschädel und vernahm schockiertes Schweigen.

Geht es dir gut, Metz… Sofie?

Nein.

Hinnerk entfernte sich.

»Sofie.« Nats Wangenknochen traten deutlich hervor. Das Scheinwerferlicht verwandelte seine Brillengläser in eine gleißende Fläche. »Du bist nicht sicher. Verstehst du?«

Das tat sie. Aber sie weigerte sich, weiterzudenken. Wollte nicht wissen, was sich alles verändern würde … Sie seufzte. »Ja. Sie braucht mich für das Ritual. Also wird sie versuchen, wieder an mich heranzukommen, sobald sie die Zutaten erneut zusammen hat.« Sie wollte nicht darüber nachdenken. Es war alles so frisch und sie war so müde. Alles, was sie wollte, war, zu schlafen. Und zu vergessen.

»Du musst geschützt werden.« Nat erhob sich. »Und wir müssen den Generälen erklären, was wir wissen. Bestimmt können die etwas tun. Sie sollen dich in eine Zelle sperren wie Orion, damit Adina nicht an dich herankommt.«

»Nat?« Sofie stand ebenfalls auf. »Geht's dir gut?« Was für eine belämmerte Frage.

Er sah aus, als wäre er durch die Hölle geschleift worden. Das waren sie alle, aber Nat und Vivi … Sofie spürte Gurkes Herzschlag auf ihren Handflächen, schwach und regelmäßig.

»Wir müssen ihnen alles erzählen«, wiederholte er, wie ein Gebet. »Alles. Und dann müssen wir dafür sorgen, dass du sicher bist. Wir müssen einen Plan entwickeln.«

Alles klar. Gemeinsam gingen sie zurück in den Einsatzwagen und setzten sich wieder. Erzählten, unterstützt von Jean, die ganze Geschichte, dreimal. General Stein tippte und nahm ihre Aussage auf. Onkel Lars hörte zu. Es dauerte ewig. Hinnerk versorgte sie mit Wasserflaschen und knurrte die Generäle an, dass sie die armen Kleinen jetzt echt in Ruhe lassen könnten. Sofie, Nat und Jean weigerten sich, arme Kleine zu sein, und erzählten die Geschichte ein weiteres Mal.

Vivi schwieg. Sie nippte an der Wasserflasche, wenn man sie darum bat, aber sie blieb stumm. Nur einmal gab sie einen Laut von sich. Als das erste Wächterteam von der Gefängnisruine zurückkehrte. Sie hatten zwei Oger dabei, die in den Trümmern nach Überlebenden gesucht hatten.

Es gab keine.

Und sie hatten etwas gefunden.

Vivi schrie, als sie ihr die staubige Glitzerhaarspange überreichten.

Zeit, nachzudenken

 

Sofie erwachte in einer Zelle. Eine weit luxuriösere als die, in der sie das letzte Mal gesessen hatte. Damals, vor einem halben Leben, als sie gerade festgestellt hatte, dass es einen verborgenen Bezirk gab, und dass sie ein Teil der magischen Welt war.

Stöhnend erhob sie sich. Ihre Nackenmuskeln schmerzten und die Schultern fühlten sich an wie Stein. Ihre Nase war immer noch geschwollen, die Pflaster darauf juckten. Sie versuchte, einzuatmen, aber es ging nur durch den Mund. Egal.

Die zweite Nacht war vorbei. Der Tag auch, fast. Abendsonnenstrahlen drangen durch das vergitterte Fenster über ihrem Kopf. Die Matratze war weich. Ihre Zelle enthielt sowohl einen Schreibtisch als auch ein schickes Paravent vor der Toilette, auf dessen Wachspapier Kraniche über Zedern flogen. Diese Zelle sah fast aus wie ein Hotelzimmer, nur eben mit vergitterten Fenstern und einer sehr dicken Metalltür.

Sofie fröstelte und zog die Decke enger um ihre Schultern. Sie sah zu der kleinen Öffnung in der Metalltür, die ebenfalls vergittert war. Niemand.

Gurke lag auf dem Schreibtisch, in einem Nest, das sie ihm aus ihrem Handtuch gebaut hatte, und schlief. Sofie betrachtete ihre Finger. Sah die Kratzer, die die Eisenfesseln hinterlassen hatten.

Wartete.

Es dauerte über eine Stunde, bis Frau Murik auftauchte. Ihre Trainerin öffnete die Tür, sehr bedächtig. Ihr freundliches Omi-Gesicht war ernst. Die Katze, die um ihre Beine strich, verlieh ihr eine unheimliche Aura. Sofie fragte sich, ob Frau Murik ebenfalls in der Lage gewesen wäre, das Ritual der Unsterblichkeit durchzuführen.

Ihre Trainerin setzte sich. Sofort sprang die Katze in ihren Schoß.

»Hallo, Liebes.«

»Hallo«, sagte Sofie und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Ihre Stimme war immer noch nasal und lächerlich. Frau Murik lachte nicht.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Sie haben mich davon unterrichtet, was vorgefallen ist. Wie fühlst du dich?«

»Beschissen.« Sofie wartete. Es war bestimmt unhöflich zu schweigen, aber sie konnte nicht anders. Stumm betrachtete sie die Alte.

»Ich habe nicht gewusst, was aus ihr geworden ist.« Frau Murik hatte sich verändert. Sie sah noch älter aus als sonst. »Nein, ich habe nicht gewusst, was sie damals schon war. Adina muss …« Sie atmete ein. »Sie muss damals schon in diese Sache verstrickt gewesen sein. Anders als wir dachten.«

Sofie überlegte. »Meinen Sie, dass sie sich absichtlich für die Mission gemeldet hat, um mehr über das Ritual der Unsterblichkeit zu erfahren?«

Frau Muriks Hände strichen über den Rücken der Katze. »Möglich. Vielleicht ist sie erst damals auf die Idee gekommen. Vielleicht wurde ihr Interesse daran geweckt, als der Zirkel so nah daran kam, es durchzuführen.«

»So nah sind sie nicht herangekommen, hat sie gesagt. Sie … Na, offensichtlich hat es nicht funktioniert.« Sofie räusperte sich. »Wie geht es den anderen?«

»Deinen Teamkameraden?« Frau Muriks Augenbraue hob sich. »Sie sind beurlaubt. Amadi ist heute trotzdem zum Training gekommen, aber was mit den anderen ist, weiß ich nicht. Leider. Du bist frei, sie anzurufen. Du bist keine Gefangene, Sofie. Wir behalten dich nur zu deiner eigenen Sicherheit hier. Die Tür ist offen. Du kannst jederzeit rausgehen und ein wenig im Flur auf- und ablaufen.«

Sofie überlegte. »Onkel Lars hat gesagt, wenn ich rausgehe, reißt er mir den Arsch auf.«

»Das meint der liebe Junge doch nicht so.«

»Sicher?«

»Er macht sich Sorgen um dich.«

Sofie lachte bitter. »Ja. Bestimmt.« Vorsichtig legte sie einen Finger auf ihre Nase. Tat weh. Natürlich tat es weh, was hatte sie erwartet?

»Du siehst immer noch sehr hübsch aus, Liebes.« Frau Murik lächelte.

»Mir ist scheißegal, wie ich aussehe. Meine verdammte Mutter hat mir die Nase gebrochen. Meine verdammte Mutter wollte mich bei einem Scheiß-Ritual opfern, um …« Sie stockte. Erinnerte sich. »Oh, richtig.« Sie krallte die Fingerspitzen in die Decke. »Sie hat ihren Tod vorgetäuscht, wie auch immer, als das erste Ritual schiefgegangen ist … und dann hat sie meinen Vater kennengelernt und …« Sie lachte trocken. »Sie wusste, welche Zutaten sie braucht. Ein eigenes Kind. Deshalb hat sie mich bekommen. Das ist … alles.« Sie schaute Frau Murik an. »Richtig?«

Frau Murik war schwer aus der Ruhe zu bringen. Aber gerade schaute selbst sie, als wäre sie lieber woanders. »Ich bin sicher, sie hat dich lieb gehabt. Als Mutter kann man gar nicht anders als …«

»Sie wollte mich umbringen.« Sofies Mund schmeckte nach Blut und Metall.

»Trotzdem hat sie vielleicht …« Ihre Trainerin schloss die Augen. Seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Wie es aussieht, habe ich meine eigene Schülerin nicht gekannt. Überhaupt nicht.«

»Ja, so sieht das aus.«

»Es ist sicher schwer zu verstehen, aber …« Frau Murik starrte ins Leere. »Nein, reden wir nicht von mir. Wie fühlst du dich?«

»Hab ich doch schon gesagt. Beschissen.« Sofie knetete ihre Finger, um die Schwärze, die in ihr wirbelte, fernzuhalten. »Ist auch egal, wie's mir geht. Ich bin wieder fit. Ich … ich bin doch nicht die, die jetzt wichtig ist. Vivi und Nat …« Sie schluckte. »Ich muss zu ihnen.«

Sie sollte zu ihnen. Jetzt, wo sie eine Nacht geschlafen hatte, war alles klar. Sie musste zu ihnen. Musste sich entschuldigen, auch wenn es nichts brachte. Auch, wenn sie nie wiedergutmachen konnte, was sie ihnen angetan hatte.

»Was ist, Liebes?«

Normalerweise hätte sie geschwiegen. Noch vor ein paar Monaten, vielleicht noch vor zwei Tagen, hätte sie die Klappe gehalten. Aber nun …

»Isa ist tot.« Sie erstickte fast an den Worten. »Wegen mir. Wegen mir sind wir in den verdammten Wald gefahren. Weil ich meine Mutter finden wollte. Weil ich dachte … Ich weiß nicht einmal, was ich dachte.« Ungute Gefühle krochen hoch. Krochen über das, was sie sein wollte, und ruinierten es. »War doch klar, dass das schief geht. Wegen mir haben wir …« Sie holte tief Luft. »Ich hab sie nicht gebraucht. Ich hab Adina nicht gebraucht. Seit fünfzehn Jahren nicht. Warum wollte ich …« Ihre Hand erinnerte sich. An die Berührung weicher Finger. An Adinas raue Stimme, voll falscher Sorge, die ihr anbot, mit ihr zu kommen. Wäre es anders gelaufen, wenn sie gleich Ja gesagt hätte? Denn das hätte sie, so sehr sie sich jetzt dafür schämte.

Nein.

»Ich muss hier raus«, sagte sie. Langsam erhob sie sich und zog sich an. Sie hatte einen Teil ihrer Wächteruniform hier, weil sie keine anderen Wechselsachen dabeigehabt hatte. Die feuerfeste schwarze Hose und das ebenfalls schwarze Shirt. Ein Sweatshirt. All ihre Muskeln schmerzten, als sie die schwere Jacke überstreifte.

Sie brauchte Waffen. Messer, Dolche, ihr Schwert. Etwas aus Eisen wäre gut.

»Wo willst du hin, Liebes?« Frau Murik wirkte beunruhigt.

»Raus«, knurrte sie. Ihre Beine fühlten sich an wie Betonpfeiler, als sie zur Tür schritt. Immerhin war ein Teil ihrer Magie zurückgekehrt. Das schiefgelaufene Ritual hatte sie nicht zerstören können. Und Sofie hasste sich dafür, dass sie sie nun so deutlich spürte. Weil es sie an Adina erinnerte, und daran, dass die ihr gezeigt hatte, wie sie das Ausmaß erspüren konnte.

Isas Grinsen kam ihr in den Sinn. Ihr sommersprossiges Gesicht im Rückspiegel, als sie über die Landstraße gefahren waren, ihre Stimme, als sie den x-ten Flachwitz erzählt hatte, um Jean zu ärgern.

Nein.

Sie musste die Sache beenden.

Bevor sie die Tür aufreißen konnte, wurde sie geöffnet. So präzise und langweilig, wie man eine Tür nur öffnen konnte.

General Stein trat ein.

»Aus dem Weg«, befahl Sofie. Als sie an ihm vorbeimarschieren wollte, packte er ihren Arm. Sein Griff war präzise, langweilig und leider so fest, dass sie sich nicht herauswinden konnte.

»Was soll das?« Sie startete einen letzten Versuch und gab auf.

»Ritter.« Graue Augen sahen auf sie hinab. »Wir müssen etwas besprechen.«

»Ach ja?« Sie sah etwas Grünes hinter seinem Rücken. Liliflora St. Clair. Smaragdhaarige Dryade, Musterwächterin und Miststück. Auch das noch. »Was denn?«

»Bitte setzen Sie sich.« Seine Stimme war hart wie Granit. Oder wie der verdammte Griff, mit dem er ihren Oberarm umklammerte. »Ich bin in offizieller Sache hier.«

»Hätte mich auch gewundert, wenn Sie gekommen wären, weil Sie mich so gern haben.« Sofie seufzte. »Können wir uns beeilen? Ich habe etwas vor.«

Er fragte nicht, was. »Es dauert nicht lange.«

»Na dann.« Endlich ließ er sie los. »Setzen Sie sich doch.« Sie deutete auf den einzigen freien Platz: ihr Bett. Er blieb stehen, also setzte sie sich. Und schenkte Liliflora keinen Blick.

Die Dryade lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und schaute so böse, als hätte man sie mit Schädlingsbekämpfungsmittel übergossen. Ihr grüner Zopf baumelte über die Schulter und erinnerte unangenehm an Adinas Frisur. Nun, viele Wächterinnen und ein paar Wächter trugen Zöpfe. Mit offenen, langen Haaren zu kämpfen war unpraktisch. Isa hatte auch … Nein.

»Ritter, ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ein Verfahren gegen Sie eingeleitet wurde.«

Oh. Ja, das war eigentlich klar gewesen. Sie nickte. »Weil wir einfach losgefahren sind, um Adina zu finden, ohne zu melden, dass wir sie gefunden haben. Das war meine Idee. Die anderen sind nur aus Mitleid mitgekommen. Ich bin für alles verantwortlich.« Sie sah ihm fest in die Augen, was Nullkommanichts an seinem Gesichtsausdruck änderte. »Ich übernehme die Verantwortung. Die gesamte.«

»Nicht deshalb. In Anbetracht der Umstände ist es sogar gut, dass Sie niemandem Bescheid gesagt haben. Unsere Sicherheitslücken sind allgemein bekannt.« Seine Stimme war einen Hauch kälter geworden. »In Kürze tagt ein Ausschuss, der darüber entscheidet, ob Sie zur Sicherheit Magows eliminiert werden.«

»Bitte was?« Das hätte ihr Angst machen sollen, oder? Aber sie war nur milde erstaunt. »Die wollen mich umbringen? Warum das denn?«

Er räusperte sich. »Aus den Aussagen Ihres Teams ging hervor, dass Sie nun …« Er räusperte sich erneut. Was kam jetzt, das sogar diesem Steinklotz unangenehm war? »Wie es scheint, sind Sie, beziehungsweise ist Ihre Magie ein elementarer Bestandteil des Rituals der Unsterblichkeit.«

»Ah!« Jetzt kapierte sie. »Stimmt, ich bin die wichtigste Zutat. Wenn ich tot bin, kann Adina das Ritual nicht mehr durchführen.«

Er sah eine Stelle knapp neben ihrem Ohr an. Dass über ihr Leben oder ihren Tod beschlossen werden würde, ging wohl selbst an ihm nicht spurlos vorbei. Niemand überbrachte so eine Nachricht gern.

»Selbstverständlich werde ich dagegen stimmen«, sagte er. »Meiner Meinung nach ist es unverzeihlich, dass Ihre Eliminierung überhaupt zur Debatte steht. Jemanden zu töten, der kein Verbrechen begangen hat, sollte nicht einmal in Erwägung gezogen werden. General Mrazek ist der gleichen Ansicht und garantiert wird auch Frau Murik …«

Die sprang auf. »Selbstverständlich werde ich dagegen stimmen! Dass die überhaupt auf so etwas kommen, ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Das hat sich doch bestimmt wieder die Wächterpräsidentin ausgedacht, das kalte Stück. Oder Denholm.«

Sofie fuhr sich durch die Haare. Und blieb sofort hängen, denn die hatten seit Tagen keinen Kamm mehr gesehen. Natürlich, das machte Sinn. »Danke, es ist lieb, dass Sie dagegen stimmen, aber …« Sterben. Der Gedanke erfüllte alle ihre Glieder mit Kälte. Sie wollte nicht sterben. Andererseits … »Aber ich verstehe es. Das wäre die Lösung, richtig? Das würde sie aufhalten. Ich meine, es wäre ein Leben gegen drei Millionen. Im Grunde müssen sie so handeln.«

»Liebes!« Frau Murik sah sie streng an. »Denk nicht einmal daran, das gut zu heißen. Ich weiß, dass du verwirrt und in Trauer bist, aber denk nicht mal daran, dein Leben so wegzuwerfen.«

»Aber es stimmt.« Sofie spielte es in Gedanken durch. »Das würde sie aufhalten. Adina könnte das Ritual nicht durchführen, wenn ich tot bin. Ich schätze, inzwischen ist sie zu alt, um ein weiteres Kind zu bekommen, also gibt es nur mich.« Die Kälte kribbelte durch ihre Blutbahnen, aber ihr Kopf war klar. Ja, das war die Lösung. Sie mussten so handeln. Und wenn sie es nicht tun würden …

Dennoch, eine kleine Stimme rief ihr zu, dass das nicht die Lösung sein könne. Dass es Adina vielleicht aufhalten würde, aber dass Sofie das nicht wollte. Nicht so.

Sie wollte sie selbst abstechen. Wollte sehen, wie ihre Augen sich weiteten, wenn die Klinge auf sie zuraste, wollte auf Adina einprügeln, wollte Rache, wollte sie dafür zahlen lassen, was sie ihnen angetan hatte. Was sie Isa angetan hatte.

Und es war leichter, viel leichter zu hassen, als sich ihren Freunden zu stellen, als Vivi und Nat in die Augen zu blicken. Sie atmete tief ein. Sie hatte etwas zu erledigen. »War das alles? Kann ich jetzt gehen?«

Die Drei sahen sie an. Stille senkte sich über den Raum, so absolut, dass sie gedämpftes Vogelzwitschern hörte, von irgendwoher abseits der vergitterten Fenster. General Stein hob eine dunkelgraue Augenbraue und selbst Liliflora wirkte einen Hauch beeindruckt. Sie kaschierte es sogleich, indem sie ihren lieblichen Mund verzog.

»Nein, kannst du nicht«, sagte die Dryade. »Nicht allein.«

»Ritter, Sie sind in Gefahr.« General Stein nickte ihr zu. »Wie gesagt sind Sie ein entscheidender Bestandteil des Rituals und wir wissen nicht, wo Frau Caligari und Herr von Thrane sich gerade aufhalten. Oder wer für sie arbeitet. Wenn Sie draußen herumlaufen, sind Sie in Gefahr. Man könnte Sie jederzeit entführen.« Er deutete auf Liliflora. »Sie brauchen Schutz. Frau St. Clair ist die junge Wächterin mit dem höchsten Punktestand seit über zehn Jahren. Sie wird sich darum kümmern, dass Ihnen nichts passiert.«

Sofie blinzelte. »Du bist mein Bodyguard?«, fragte sie Liliflora.

Die verdrehte die Augen und schaute so genervt, als müsste sie sich um eine Horde Kleinkinder kümmern. »Eher dein Babysitter.«

Schuldig

 

Niemand sprach ihn an. Drei andere junge Wächter trainierten hinter Jeans Rücken, aber sie schwiegen. Er spürte ihre Blicke. Vernahm ihr Flüstern in den kurzen Pausen, in denen er nicht mit seinem Schwert auf die Holzfigur einprügelte. Seine Schläge waren so hart, dass das trockene Krachen alle anderen Geräusche verdrängte.

Jeder Aufprall brachte seine Arme zum Vibrieren und setzte sich bis in seine Fußspitzen fort. Sein Rücken war schweißnass und er fühlte sich schwach, so erbärmlich schwach. Es war der Blutverlust. Schon wieder hatte er sich melken lassen wie eine Kuh. Schon wieder hatten sie ihn gefesselt, angezapft, ihn zu einem Opfer gemacht, und er hatte sich nicht wehren können …

Er hatte gedacht, der letzte Einsatz sei der schlimmste gewesen. Als er gezwungen gewesen war, seine Kräfte einzusetzen, um Nat zu retten. Als Jean das Monster geworden war, das er nie wieder hatte sein wollen. Aber er hatte sich geirrt. Es gab etwas Schlimmeres: erbärmlich und gefesselt von einer Wand zu hängen, während sein Erzeuger durch den Raum stolzierte und ihn keines Blickes würdigte. Ihn noch nicht einmal erkannte.

Er hatte es sich ausgemalt, so oft. Ihre erste und letzte Begegnung. Er, mit einem Schwert in der Hand, vom Training gestählt, stark und entschlossen. So hätte er Aeron von Thrane gestellt, egal wo. Wie ein Held. Wie ein Rächer. Es waren verdammt kindische Fantasien gewesen.

Er hatte sich vorgestellt, wie Aeron und er sich in einem leeren Parkhaus duellierten, in einer Burgruine, sogar auf einem ausbrechenden Vulkan. Immer war Jean gut genug gewesen, seinen Erzeuger zu fordern, ihn zu besiegen und endlich die Frau zu rächen, deren Leben der Dreckskerl zerstört hatte. Seine Maman.

Er war gestern Morgen aufgewacht und sie hatte neben seinem Bett gesessen. Natürlich hatte sie behauptet, dass sie nur die frische Wäsche hereingebracht hätte, aber er hatte die Sorge in ihrem Blick gesehen. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht an seinem Bett gewacht. Zusammengesunken und ausgemergelt in ihrem Rollstuhl, nur aufrecht gehalten von dem Feuer, das immer in ihr brannte wie in einem Hochofen. Er hatte gedacht, dieses Feuer ebenfalls zu besitzen.

Er hatte sich geirrt.

Nichts hatte er tun können. Er hatte zusehen müssen, wie sein Erzeuger umhergeschritten war, wie er und die alte Hexe seine Freunde fertig gemacht hatten, wie Nat von Ranken gefesselt zu Boden gegangen war, wie Vivi über die Steine geschleudert worden war, wie der Dreckskerl Sofie dazu gebracht hatte, sich fesseln zu lassen und wie Isa …

Isa.

Sie hatte gesagt, sie würde ihm helfen.

Wenn du Hilfe brauchst, hast du sie. Ein ganzes Rudel.

Er hatte nicht kapiert, was in diesem Moment in ihm vorgegangen war. Es war ein unbekanntes Gefühl. Ein gutes Gefühl. Stets waren sie allein gewesen, Maman und er, mit ihrem Racheplan, auf ihrer Jagd. Ein ganzes Rudel dabei zu haben, war nicht geplant gewesen. Es hatte sich wie Schummeln angefühlt, sich das vorzustellen, aber irgendwie … gut. So verdammt gut.

Der Vampir, den er nicht länger für einen Versager hielt, hatte Recht gehabt. Es war besser, Mitglied eines Teams zu sein. Jean hatte es gespürt, einen Wimpernschlag lang. Und dann …

Wie es Vivi und Nat wohl ging? Zuletzt hatte er sie im Einsatzwagen gesehen, vor zwei Tagen. Sie hatten beschissen ausgesehen, alle beide. Leer und hohl, als sei mit der Werwölfin der größte Teil ihrer selbst gestorben. So war es wohl, wenn jemand starb, den man liebte. Aber was verstand er davon? Sein größter Verlust stand noch bevor, auch wenn es jederzeit soweit sein konnte.

Maman gab es nicht zu, aber selbst sie wurde schwächer. Das Feuer loderte hoch wie stets, aber es wurde zu einem verzweifelten Flackern, einem Sträuben gegen das Unvermeidliche. Er wollte nicht daran denken. Nicht daran, dass er es noch nicht geschafft hatte, sie zu rächen. Dass sie vielleicht nicht mehr leben würde, wenn der Mann, der ihr alles genommen hatte, zur Strecke gebracht wurde.

Er wollte auch nicht an Vivi denken, an ihren Schrei, als sie ihr die Haarspange und die schreckliche Nachricht gebracht hatten.

Er wollte nicht an Nat denken.

Nat musste ihn hassen. Jean hatte ihn geschlagen, ihn ausgeknockt und aus dem Gefängnis geschleift. Weg von Isa, die eingeklemmt gewesen war, aber noch am Leben.

Und Jean wusste nicht, ob sie Isa hätten retten können.

Seine Schläge wurden ungenauer. Der letzte verfehlte die Holzfigur beinahe. Er musste aufhören. Innehalten, mit brennenden Lungen und Muskeln, die sich anfühlten wie mit Watte gefüllt. Er war das, was er nie hatte sein wollen: ein Schwächling. Zu schwach, um jemanden zu retten, zu schwach, um jemanden zu rächen. Erbärmlich.

Er schloss die Augen, sah rote Punkte. Hört das leise Tuscheln der anderen hinter seinem Keuchen. Er roch den Gummiboden der Turnhalle und die verbrauchte Luft. Schweiß floss ihm warm über den Rücken. Das Amulett, das er unter einem weiten Shirt verborgen auf der Brust trug, klebte auf der Haut. Nat hatte es für ihn geklaut und ihn vor dem Monster geschützt, das unter Jeans Haut lauerte. Und Jean hat ihn geschlagen und seine beste Freundin dem Tod überlassen.

Er hätte heulen können. Aber er heulte nicht. Nie.

Das Tuscheln hinter ihm wurde lauter. Irgendetwas musste geschehen sein. Es interessierte ihn nicht. Erst, als er Nats Stimme hörte, fuhr er zusammen. Vampire. Die bewegten sich leise wie Katzen, wenn sie wollten. Nicht, dass es so schwer war, sich an Jean heranzuschleichen. Er keuchte wie eine Großmutter beim Treppensteigen.

»Jean.« Die Stimme des Vampirs war weich und schwarz vor Trauer. »Ich brauche deine Hilfe.«

Was? Jean starrte die Holzfigur vor sich an. Er krallte die Finger um das Schwert und traute sich nicht, sich umzusehen. Unter Aufbietung all seiner Kräfte schaffte er es trotzdem.

Nat sah zum Kotzen aus. Seine Locken waren verklebt und plattgedrückt, die Klamotten zerknittert und die Schatten unter seinen Augen dunkellila. Die Lippen waren gesprungen und allgemein hatte er die bemitleidenswerte Ausstrahlung eines Hundewelpen im Regen. Jeans Bauch krampfte sich zusammen.

»Hä?«, krächzte er, äußerst intelligent.

Die blassen Lippen öffneten sich und Jean bemerkte das Zittern. »Vivi. Sie ist verschwunden. Sie hat bei mir geschlafen, weil sie meinte, sie kann nicht in Isas …« Schmerz flammte in seinen Zügen auf. »Also in ihrem Zimmer schlafen. Wir sind nicht mehr da reingegangen, seit … Und jetzt ist sie …« Seine Augen wurden feucht. »Ich habe Onkel Lars Bescheid gesagt, und er hat es an alle Teams weitergegeben, die gerade unterwegs sind. Sie halten die Augen offen. Aber ich glaube, dass nur wir sie finden können. Also wir und Sofie, aber die ist unterwegs und sie können mir nicht sagen wo, also …«

Angst rann durch Jeans Magen. Panik erfasste ihn. Er wollte weglaufen, flüchten vor diesem blonden Bündel Elend. Aber das ging nicht, natürlich.

»Ja, gut«, brachte er hervor. »Ich dusche noch schnell, dann können wir loslegen.« Er ignorierte, dass sein Körper sich anfühlte wie ein ausgewrungener Waschlappen. »Hast du schon eine Ahnung, wo du suchen willst?«

»Es ist nur eine Vermutung«, murmelte Nat. »Sie wollen niemanden losschicken, weil sie noch nicht seit vierundzwanzig Stunden verschwunden ist, weil … Es gibt gerade sehr viel zu tun. Eine Krakenplage, weiß nicht, ob du schon davon gehört hast. Aber ja, ich denke, vielleicht weiß ich, wo sie ist. Eventuell.«

Eine typische Nat-Aussage. Jean wusste nicht ob er ihn schütteln oder umarmen sollte, also tat er nichts davon. Stattdessen wischte er sich über das Gesicht und marschierte an ihm vorbei. »Alles klar. Gehen wir.«

Vivi

 

Die Blätter der Lindwurmeiche waren blutrot. Sie hatte sie schöner in Erinnerung, hellgrün und halb durchsichtig, aber natürlich war sie zuletzt im Sommer hier gewesen. Mit Isa.

Das Licht der Nachmittagssonne war grell und warm und brachte alles zum Leuchten. All die feuerfarbenen Blätter über ihr raschelten, als Wind aufkam. Ihre Sneakers schlurften über das Kopfsteinpflaster, immer langsamer, bis sie schließlich anhielten. Jemand ging an ihr vorbei, ein Mann, dann eine Frau. Ihre Finger verschränkten sich miteinander, als sie weiter gingen, leise redend, tuschelnd. Vielleicht stritten sie. Vielleicht flüsterten sie. Vielleicht fragten sie sich, was mit dem Mädchen los war, das mitten auf dem Weg stand und vor sich hin starrte.

Goldblonde Strähnen wehten in Vivis Gesicht. Einen Moment lang sah sie nichts. Sie schloss die Augen. Nahm einen schmerzhaften Atemzug. Und ging weiter. Durch die achteckige Öffnung in der Mauer des chinesischen Gartens. An blutroten Blättern vorbei, über einen geschwungenen Weg.

Das gefällt mir, hatte Isa gesagt, als sie das erste Mal hergekommen waren. Sehr romantisch, Babe. Also, falls du mich damit rumkriegen willst: Es funktioniert.

Vivi war knallrot geworden, und hatte nur noch stammeln können. Später hatte sie sich daran gewöhnt, dass Isa sie mochte. Wirklich, wirklich mochte. Aber am Anfang war sie vollkommen überwältigt gewesen von der Wärme, von ihrer Liebe, die sie einhüllte wie eine warme Decke und mitriss wie eine Flutwelle.

Die Gärten waren immer noch schön, auch im Herbst. Vor dreißig Jahren hatten die Gärten der Welt in Marzahn eröffnet, ein Ensemble, das Parks aus allen Kontinenten nachempfunden war. Ein damaliger Bürgermeister von Magow war so begeistert gewesen, dass er seine eigene Version eröffnet hatte, mitten im magischen Bezirk. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese Gärten von magischen Pflanzen bevölkert waren und dass in den Seen nicht nur Goldfische schwammen, sondern Kappas und Selkies. Und manchmal auch Meerjungfrauen.

Sie kämpfte sich durch Vampirwacholder und Koboldkiefern und erreichte die Böschung. Verborgen vor den Blicken der anderen Gäste zog sie sich die Schuhe aus. Ihre Hände zitterten. Sie wusste nicht, warum.

Es war alles gut. Der kalte Wind machte ihr nichts aus, und Isa würde gleich da sein. Sicher würde sie gleich nachkommen, ein breites Grinsen im Gesicht die wunderbaren Augen leuchtend, zwei Eiswaffeln in der Hand.

Genug geschwommen, Babe?, würde sie fragen. Dann komm her und probier mal. Deins ist Melone-Hexenkraut mit Zimtstreuseln.

Ja. Vivi atmete tief ein. Das würde sie sagen. Gleich würde sie hier sein.

Sie verstand nicht, warum ihre Beine zitterten, warum ihre Füße taub waren, als sie langsam ins Wasser glitt. Meerjungfrauen waren nicht so kälteempfindlich wie andere magische Wesen oder Menschen. Auch, wenn sie manchmal so getan hatte, als würde sie frieren, nur damit Isa die Arme um sie schlang und sie wärmte.

Ihre Beine verwandelten sich in einen Fischschwanz und sie sank in das dunkle Wasser des Sees neben dem japanischen Pavillon. Algen strichen über ihre Haut als sie langsam über den Grund schwamm, immer tiefer, als das Wasser immer ruhiger wurde und die Dunkelheit sie sanft umfing. Sie drehte sich auf den Rücken, faltete die Arme über der Brust und sank in den weichen Schlamm. Laichkraut und Wasserpest neigten sich ihr zu und legten sich auf ihre Haut wie eine Decke. Sie starrte nach oben, wo das Abendlicht kaum durch das trübe Wasser drang. Schmeckte Erde und Algen durch ihre Kiemen, atmete ein und aus. Ihr Herzschlag beruhigte sich.

Isa, dachte sie. Isi, gleich bist du da.

Sie würde zur Böschung kommen und auf die Wasseroberfläche klopfen, dreimal, das vereinbarte Zeichen. Sie würde Eis dabei haben.

Hindernisse

 

Liliflora störte. Mit dem Schmollmund einer Porzellanpuppe stolzierte sie neben Sofie durch die Stadt und vermittelte mit jedem Wort und jeder Bewegung, dass sie Besseres zu tun hatte.

Ein Fiat rauschte an ihnen vorbei und die vier Oger, die sich irgendwie hineingequetscht hatten, gafften die Dryade so heftig an, dass sie den Wagen beinahe in den überfüllten Fahrradständer neben dem Spielplatz gelenkt hätten. Gerade noch rechtzeitig riss der Fahrer sich zusammen und verhinderte die Kollision.

Kalter Wind riss braune Blätter herunter und jagte sie über den Spielplatz, auf dem Kinder im Licht der Laternen kreischten. Vor allem Vampirkinder, der blassen Haut und den Eckzähnen zufolge. Die beiden Erzieher, einer männlich, einer weiblich, saßen elegant rauchend auf einer Bank und sahen dem Treiben zu. Der Qualm zog zu Sofie herüber und erinnerte sie daran, dass sie vor noch nicht allzu langer Zeit aufgehört hatte zu rauchen. Gierig sog sie ihn auf.

Die Kleinen brüllten äußerst unvampirisch herum. Aber Sofie hatte keinen Zweifel, dass sie spätestens zu Beginn der Pubertät zu den grazilen, katzenhaften Wesen wurden, die sie kannte. Sie warf Liliflora einen Seitenblick zu. Die bewegte sich ebenfalls wie eine Vampirin. Ob sie das abgeschaut hatte? Irgendwie schaffte die Dryade es, selbst in ihrer Wächteruniform wie eine Prinzessin auszusehen. Eine missgelaunte Prinzessin, die man gezwungen hatte, sich mit einem Bauerntrampel abzugeben.

Sofie versuchte, die positiven Seiten zu sehen. Immerhin war ihre Nase soweit abgeschwollen, dass sie den Zigarettenrauch riechen konnte. Bald würde Hinnerk sie richten können. Und … Das war alles.

In ihrer Brust war ein Loch, das nicht einmal Hass und Rachegedanken füllen konnten. Sie hatte Cassa Bescheid gesagt, dass etwas geschehen war, und dass sie noch eine Weile brauchte, bis sie zurückkam. Falls sie zurückkam. Was den Tod anging, hatte sie gerade mehrere Optionen und konnte sich die netteste raussuchen.

Die Unliebste war ihr, bei Adinas nächstem Ritualversuch zu sterben. Die Liebste war ihr ein Heldentod, und damit daraus etwas werden konnte, hatte sie sich in der Waffenkammer ein absolut abscheuliches, unpraktisches und viel zu schweres Schwert besorgt. Ein Schwert aus Eisen, das in dem Halfter auf ihrem Rücken hing und dessen Träger sich in ihre Schultern grub.

»Was willst du mit dem Ding?« Liliflora musterte es abschätzig. »Damit bist du viel zu langsam. Es ist zu schwer. Und es rostet.«

»Es ist immun gegen Hexenmagie«, sagte Sofie. »Gegen Eisen können wir uns nicht schützen.«

»Und du willst eine Hexe damit …« Die Augen der Dryade weiteten sich. »Adina Caligari?«

Liliflora war über die Ereignisse unterrichtet, hatte General Stein gesagt. Soweit sie sie kennen musste, was immer das bedeutete. Es war Sofie egal. Anscheinend hatte man ihr gesagt, dass Sofies Mutter sich gegen Magow gewandt und versucht hatte, ihre Tochter in einem Ritual zu opfern. Und, dass sie sie schützen sollte, falls irgendjemand versuchte, Sofie zu entführen.

Sofie schätzte nicht, dass Adina es so schnell wieder versuchen würde. Das Ritual war erst vor zwei Tagen schiefgelaufen. Das Miststück würde sich irgendwohin zurückziehen und seine Wunden lecken, richtig? Sich fragen, warum es nicht funktioniert hatte.

Ob sie kapiert hatte, woran es lag? War Magie eine so präzise Wissenschaft, dass sie zurückverfolgen konnte, dass es an einem falschen Amulett lag?

Vermutlich nicht. Magie WAR keine präzise Wissenschaft, das hatte man Sofie immer wieder gesagt. Niemand, nicht einmal Waldemar der Wüste, hatte all ihre Regeln verstehen können. Und Sofie schon gar nicht. Der einzige Trick, den sie beherrschte, war immer noch, Grünzeug wuchern zu lassen.

Eine Erinnerung blitzte in ihr auf. Pflanzen, die Vivi nach hinten rissen. Ihre eigenen Hände, die in die Ranken griffen und ihnen befahlen, aufzuhören. Sie konnte das Wachstum auch stoppen. Und die Pflanzen lenken.

Lebensenergie. Das war es, was Hexen beeinflussten. Sie konnten Pflanzen dazu bringen, all ihr gespeichertes Leben auf einmal abzugeben, es vervielfachen. Frau Murik hatte ihr eingeschärft, das nie bei Menschen oder magischen Wesen zu versuchen. Überhaupt bei Säugetieren.

Die Energie ist zu ähnlich, hatte sie gesagt. Es führt zu einer … explosiven Reaktion. Wie eine Abstoßung. Wie Magneten, die gleich gepolt sind, aber weit stärker.

Was genau passiert denn bei dieser Abstoßung?, hatte Sofie gefragt.

Man verbrennt. Frau Murik hatte gelächelt.

Unschön. Sofie dachte an die verschmorten Leichen, die vom Zirkel übrig geblieben waren. An Adinas Raben, der von innen gelodert hatte, dessen Feuerstöße die Decke …

Sie unterdrückte ein Würgen.

»Du willst Adina Caligari besiegen?« Liliflora sah sie ungläubig an. »Du?«

»Warum denn nicht?« Inzwischen gingen sie über die Neue Avalonstraße. Links und rechts fielen Blätter von den Pappeln und bunt verzierte Fassaden erhoben sich. Der Himmel war ein dunkler Streifen über ihnen, durchzogen von grauen Wolken. Vereinzelte Autos zockelten über das Kopfsteinpflaster. Es war eine ruhige Straße voller Wohnhäuser und Stadtvillen hinter schmiedeeisernen Gittern.

Bis auf eine Ausnahme.

Das Museum der Hexerei stand zwischen zwei Mehrfamilienhäusern und war geschützt durch eine Mauer, auf der weiß gestrichene Gitter in den Himmel ragten. Sofies Magen verkrampfte sich, als sie die kunstvoll eingearbeiteten Pentagramme sah.

Die Villa war ebenfalls weiß und der kurzgeschnittene Rasen vermutlich dunkelgrün. Im warmen Schein der Laternen, die darauf standen, wirkte seine Farbe schlammig und trüb.

Sofie marschierte durch das offene Tor. Kies knirschte unter ihren schweren Stiefeln und sie hielt den Blick starr auf das Gebäude vor ihr gerichtet. Das Museum der Hexerei. Die ehemalige Villa Caligari. Das Haus, in dem Adina aufgewachsen war, der ehemalige Familiensitz einer der ältesten Hexenfamilien von Magow. Die prunkvolle Fassade war mit Pentagrammen und Stuck-Lebkuchen verziert.

»Ziemlich kitschig.« Liliflora schnalzte mit der Zunge. »Wer baut denn so was?«

»Hexen«, knurrte Sofie.

»Ihr habt ja gar keinen Geschmack.«

»Anscheinend.« Sofie dachte an das abscheuliche Ritual. Schlangen, Kerzen und Amulette. Wäre es nicht so verdammt ernst gewesen, hätte sie sich darüber lustig gemacht. Doch es war nichts Lustiges an der Situation. Sie bezweifelte, dass sie je wieder etwas lustig finden würde.

Die Holztür des dreistöckigen Gebäudes war fast so schwer wie die ihrer Gefängniszelle. Sofie stieß sie auf und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an.

Frau Murik hatte das Museum mit ihr besucht, kurz nachdem Sofie ihre Schülerin geworden war. Sie hatte Sofie die Geschichte der Hexerei näherbringen wollen, und ihr außerdem zeigen wollen, wo ihre Familie aufgewachsen war.

Damals hatte Sofie noch kein Interesse daran gehabt, Adina aufzuspüren. Besser gesagt, hatte ihr Interesse täglich geschwankt. Sie hatte selbst nicht gewusst, was sie gewollt hatte, und so hatte sie sich vor allem im allgemeinen Teil des Museums aufgehalten und die laufende Dauerausstellung zur Geschichte der Caligari-Familie ignoriert. Sie hatte wiederkommen wollen, später. Aber bisher hatte sie sich nicht aufraffen können.

Es war an der Zeit. Die Eingangshalle tat sich vor ihr auf, ein Kronleuchter erhellte das aufwändige Holzmosaik des Bodens in das (natürlich) ein Pentagramm eingearbeitet war.

Die ältere Hexe hinter dem Tresen sah auf. Graue Fäden durchzogen ihr rotes Haar und sie wirkte so streng und erhaben, dass Sofie einen Moment zögerte, bevor sie an ihr vorbeimarschierte. Aber sie tat es.

»Das Museum ist noch geschlossen«, rief die Frau hinter ihr. Schnelle Schritte erklangen.

Sofie wollte weitergehen, überlegte es sich aber anders und wirbelte auf dem Absatz herum. Sie starrte die Frau an, deren Augen plötzlich rund wurden.

»Sie sind das!«

»Ich schau mich ein wenig um«, sagte Sofie.

Sie kannte die Frau von ihrem letzten Besuch. Frau Murik hatte ihr Sofie als letzte Erbin der Caligaris vorgestellt. Sie war geflüchtet, bevor die Frau sie irgendetwas zu ihrer Familie fragen konnte.

Du könntest klagen, hatte Frau Murik gesagt. Als Adinas Mutter starb, nahmen wir an, dass die letzte Caligari damit tot sei. Das Anwesen ging in den Besitz der Stadt über. Das hier könnte dir gehören, wenn du vor Gericht gehst.

Sofie hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Später vielleicht, wenn sie wusste, was sie wollte. Nun wusste sie es. Sie hatte kein Interesse an diesem Kasten, in dem ein Ungeheuer aufgewachsen war. Am liebsten hätte sie ihn niedergebrannt, aber das wäre albern und kindisch gewesen. Sie musste endlich handeln wie eine Erwachsene. Das Schwert wog schwer auf ihrem Rücken.

Grüne Haare blitzten neben ihr. Liliflora sah sich um und schien widerwillig beeindruckt.

»Das ist sie also«, sagte sie. »Die Villa Caligari. Warum wohnst du noch in Kreuzberg, wenn du hier leben könntest?«