Die Wahrheit über Derek Foster (mit Survivalhandbuch) - Martin Selle - E-Book

Die Wahrheit über Derek Foster (mit Survivalhandbuch) E-Book

Martin Selle

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein dunkles Geheimnis. Ein skrupelloser Feind. Ein Trip in die Hölle. Derek Foster erhält von Prof. Albert Mendess eine verschlüsselte Botschaft. Kurz darauf ist der Biochemiker tot und Derek mit seiner Freundin Saskia auf der Flucht. Warum schreckt jemand selbst vor dem Schlimmsten nicht zurück, um an die Ergebnisse der Biomat 79-Forschung zu kommen, an der Derek mitarbeitete? Als Derek und Saskia die wahren Zusammenhänge begreifen, haben ihre Jäger sie bereits aufgespürt … Zusätzlich zum Roman enthät dieses Ebook ein umfangreiches Survivalhandbuch für den jungen Agenten und Pfadfinder. 'Martin Selle weiß einfach, wie man packende Bücher schreibt, die selbst Lesemuffel in Leser verwandeln.' Frank Berman

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 440

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Selle

ist einer der meistgelesenen und beliebtesten Schriftsteller bei Kindern und Jugendlichen. Seine Werke basieren auf den zeitgemäßen Lesewünschen junger Leute von heute, verknüpfen innovativ und originell spannungsreiche Unterhaltungsliteratur mit bildungsorientiertem Sachwissen.

Mehr von Martin Selle im Buchanhang.

»Martin Selle weiß, wie man Hochspannung,

Nervenkitzel und Wissenswertes in klare, kraftvolle

Prosa für junge Leser verpackt.« Lesen heute

Deutsche Originalausgabe

Amrun Verlag

1. Auflage: Mai 2015

Copyright © by Martin Selle

Weitere empfehlenswerte Informationen zum Autor,

Lesungen buchen unter: www.martinselle.com

Survival-Handbuch ›Mich kriegt ihr nicht‹ in Zusammenarbeit mit Susanne Knauss, Autorin: www.susanneknauss.com

Umschlaggestaltung, Satz: Jens Weber

www.jensmariaweber.de

Lektorat: Susanne Pavlovic

www.textehexe.com

In der aktuell gültigen Rechtschreibung

ISBN 978-3-944729-63-3

Alle Rechte vorbehalten. Jede Art der Vervielfältigung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme, ist gesetzlich verboten.

1Zieh es durch, sonst müsst ihr beide sterben, hier oder sonst irgendwo auf diesem Planeten. So einfach ist das.

Die schrecklichen Bilder in seinem Kopf machten jeden Schritt, jede Sekunde des Tages zum Albtraum. Sie bereiteten Jan mehr Qual, als er jemals für möglich gehalten hätte. Nur die Angst vor dem Entdecktwerden trieb ihn vorwärts und zum Handeln.

Weiter, sagte er sich. Immer weiter. Nicht nachdenken. Es ist eben passiert. Zögern und Jammern bringt jetzt gar nichts mehr. Aber das hier vielleicht schon.

Ja, wenn das hier nur endlich ein Ende haben würde! Jan Kees dachte daran, was er alles dafür geben würde.

Sein ganzes Hab und Gut? Nur zu gerne. Einen Finger? Hm, brauchte er seinen linken kleinen Finger unbedingt? Oder sogar das Paket? Er zögerte in seiner Überlegung. Niemals. Dann wäre alles umsonst gewesen - alles.

Mein Gott, ist das wirklich alles geschehen oder träume ich das nur?

Jan unterschrieb den vorgetäuschten Vertrag mit einer perfekt gefälschten Unterschrift. Somit wurde seine ebenso vorgetäuschte und von Interpol eingerichtete Kreditkarte, eine American Express, noch beim Rechtsanwalt mit dem Kaufpreis des kleinen Hauses belastet. Der Bungalow lag unter Palmen in Bubali, einem südwestlichen Teil der Karibikinsel Aruba. Die Operationen waren bereits bezahlt worden – in bar.

Von Bubali aus nahm er mit Brenda gemeinsam ein Taxi quer durch Oranjestad zu Dr. Maduros Praxis, die gut versteckt abseits der Main Street lag.

»Ihr steigt an der Hinterseite des Gebäudes aus«, sagte Ramon, ein braun gebrannter Einheimischer. »Niemand muss die Verbände in euren Gesichtern sehen.«

»Sind wir die Ersten, für die Sie das machen?«, fragte Brenda.

Ramons Frau, Janette, eine zierliche Arubanerin, lachte kurz. »Die Ersten? Wir machen das seit über dreißig Jahren. Manche vor euch waren Wochen hier, andere Monate, sogar Jahre – je nachdem.«

Ramon hielt an der Hinterseite eines gelben Gebäudes. »Wir haben euren VW Amarok gegenüber am Parkplatz abgestellt. Der weiße dort, in der hinteren Reihe. Bei Fragen wendet ihr euch nur an uns. Wir sind in der nächsten Zeit so etwas wie eure Eltern, klar?«

»Klar«, bestätigte Brenda.

Ramon übergab Jan den Autoschlüssel.

Dr. Maduros Arztpraxis lag im ersten Stock.

»Nun, ich bin mehr als zufrieden.« Dr. Maduro klang stolz, während er die letzten Verbände abnahm. »Das ist eine der feinsten Arbeiten, die ich jemals durchgeführt habe, muss ich sagen. Kleine Änderungen nur, und dennoch braucht es einen zweiten Blick, um euch zu erkennen.« Nach zwölf Tagen nur waren kaum noch Rötungen oder blaue Flecken zu sehen.

»Bitte beeilen Sie sich, Dr. Maduro. Wir haben noch einen wichtigen Termin«, drängte Jan.

»Ihr müsst vorsichtig sein und euch schonen«, empfahl Dr. Maduro.

»Danke, dass Sie unser Aussehen verändert haben und auf Bilder verzichten«, erwiderte Brenda. »Aber wir sind in Eile, Zeit ist ein Luxus, den wir im Moment nicht haben.«

»Ich habe euch ja erklärt, dass man sich für eine solche Korrektur normalerweise einige Monate Zeit lässt. Nase, Kinn, Augenbrauen … Alle Eingriffe in so kurzer Zeit durchzuführen, war ein Wagnis. Wir hatten Glück, alles ist in Ordnung, aber zerstört jetzt nicht das Ergebnis, indem ihr euch zu früh zu viel zumutet.« Dr. Maduro nahm den ovalen Handspiegel und hob ihn hoch, damit sie sich darin betrachten konnten. Was sie sahen, war tatsächlich umwerfend. Jan spürte ein leichtes Ziehen an der Nasenwurzel, etwas verbreitert fühlte sie sich irgendwie ungewohnt an.

»Haare schneiden und färben, Kontaktlinsen mit einer neuen Augenfarbe, und niemand wird euch erkennen«, sagte Dr. Maduro nicht ohne Stolz.

Zufrieden verließen Jan und Brenda die Praxis.

Einer Gewohnheit folgend, die sie sich in den letzten Wochen angeeignet hatten, sondierten sie erst die Umgebung, ehe sie ins Freie traten. Die Luft schien rein zu sein.

Zum Teufel noch mal, wann hört dieser krankmachende Verfolgungswahn endlich auf.

Sie stiegen in den VW Amarok und machten sich auf den Weg Richtung Flughafen Reina Beatrix. Ihr Ziel war jedoch nicht der Flughafen.

Die Morgensonne stieg aus dem Karibischen Meer empor und der Wind blies ihnen salzige Luft entgegen, als sie die Treppe zur Aruba Bank hinaufstiegen, ständig dieses beklemmende Gefühl im Nacken, jeden Moment entdeckt zu werden.

Das Paket. Es kann die Welt retten oder verdammt noch mal die Hölle losbrechen lassen.

Brenda öffnete die verspiegelte Glastür, Jan trat hinter ihr ein. Sie mussten es selbst tun. Hilfe gab es für sie nicht mehr – möglicherweise sogar für längere Zeit.

»Bon dia«, begrüßte sie ein Banker im marineblauen Anzug, als sie das Foyer betraten. Geschäftig eilte er auf die beiden zu.

»Ist alles vorbereitet?«, fragte Brenda.

Der Banker nickte. »Schließfach 8364211, wie gewünscht. Gemietet von Jan Kees.«

Beide nickten zufrieden. Es gab kein besseres Versteck.

Unten im Tresorraum vergewisserte sich Jan, dass er alleine war. Auch keine Kamera, die Details festhalten würde. Er zog das Paket aus der unscheinbaren Einkaufstasche und deponierte es samt seinem brisanten Inhalt in der Kassette des Schließfaches. Ein letzter Blick auf das Unheil der letzten Tage, dann schob Jan die Kassette in das Schließfach zurück und schloss ab. Den Schlüssel würden sie gleich nach Verlassen der Bank wieder in die Stahlbox wegsperren und diese ganz hinten in der Fledermaus-Höhle im Arikok Nationalpark vergraben. Unauffindbar für die Ewigkeit.

»Ich hoffe, dass niemand die Box je findet«, sagte Brenda.

»Das hoffe ich auch«, antwortete Jan.

1. TeilBiomat 79

1 Mittwoch, 20:07 Uhr. Die Frau würde nur noch weniger als eine halbe Stunde leben. Sie hieß Dr. Karen Kinsky, war Notarin und saß an einem der nobel gedeckten Tische im Münchner Restaurant Tantris, gleich hinter einer der Panoramascheiben, die bis zum flauschigen Teppichboden reichten.

Wie jeden Mittwoch reichte ihr Mark, der Oberkellner, die ledergebundene Speisekarte, und Karen wählte ein Menü aus acht Gängen. In diesem Paradies der Genüsse war jedem seine kulinarische Überraschung garantiert.

Mit Sicherheit jedenfalls, wenn man Karen Kinsky hieß.

Sie war die Frau, deren Schicksal das Tantris in den kommenden Tagen und Wochen für etwas ganz anderes in die Schlagzeilen bringen sollte. Für etwas Unfassbares.

Jetzt betrat auch Nina Leoni das Tantris. Ihren Tisch hatte Leoni natürlich unter einem falschen Namen gebucht. Und wie erwartet nahm kaum ein Gast sie wahr. Und so würde es auch bleiben, bis es zu spät, die Tat verübt war und es keine Hilfe mehr gab.

Von Anfang an war das der Plan gewesen. In ihrem dunkelgrauen Prada-Hosenanzug, der korrekten weißen Bluse und mit den hochgesteckten, extra für diesen besonderen Auftrag umgefärbten Haaren, fügte sich Leoni nahtlos in das Erscheinungsbild der üblichen Gäste ein.

Außerdem war es Abend. Die indirekte Beleuchtung durch die rötlichen und gelben Kugelleuchten neben den Tischen sorgte für eine gemütliche, eher abgeschirmte Atmosphäre.

Ihren Silberring, den Leoni normalerweise an ihrem linken Mittelfinger trug, hatte sie natürlich abgenommen – ein Totenkopf passte nicht zu ihrer speziellen Rolle im Tantris. Natürlich hatte sie ihn griffbereit in ihrer Gucci-Handtasche platziert.

»Guten Abend, Ihr Name bitte?«, fragte Katja, die junge Dame mit dem Reservierungsbuch und dem runden österreichischen Akzent.

»Rita Owen«, sagte Leoni.

Katja blätterte durch ihre Tischliste und sagte dann: »Nummer elf, Frau Owen. Wenn Sie mir bitte folgen möchten.«

Nur ihr Ziel, Karen Kinsky, im Visier, folgte Leoni Katja zu Tisch Nummer elf und setzte sich. Sie verschwendete keinen unnötigen Blick oder gar Gedanken an die Gäste oder das Restaurant.

»Herr Wolter ist gleich mit der Speisekarte bei Ihnen«, sagte Katja freundlich. »Genießen Sie unsere Küche.«

Sie bekam keine Antwort.

Dämliche Zicke, dachte Katja. Sie ließ Rita Owen einfach sitzen.

Leonis Gedanken kreisten um diesen Auftrag, den sie zu erfüllen hatte, und sonst nichts. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Zielperson, auf Karen Kinsky, die nicht wusste, dass sie soeben bei ihrem achtgängigen Gourmetmenü ihre letzten Lebensminuten verbrachte.

Leoni bestellte ein Glas Champagner – Forget Brimont – an dem sie natürlich bestenfalls nur einmal nippen würde. Nicht das Geringste durfte schief laufen, Nummer eins musste wie geplant von der Bildfläche verschwinden.

Der schreckliche Schock über ihr sicheres Ende würde Karen Kinsky in der Sekunde lähmen, in der sie verstand, was gerade mit ihr geschah.

2 Leoni blickte auf die Uhr. Fünf nach neun, und Karen bestellte wie jeden Mittwoch nach dem Gourmetmenü ihren Espresso. Leoni hatte die Gewohnheiten Karen Kinskys genau studiert. So ein Abend im Restaurant lief bei ihr praktisch immer nach dem gleichen Ritual ab.

Eine ihrer Gewohnheiten würde Karen Kinsky heute das Leben kosten. Die Gewohnheit zwischen Menügang acht und dem darauf folgenden Kaffee. Leoni würde durchschnittlich vier Minuten Zeit haben. Anschließend würde es noch einmal etwa drei Minuten dauern.

Karen Kinsky bestellte den Espresso.

Gut so!

Dann stand sie auf und ging zur Toilette.

Alles lief nach Plan – um nicht zu sagen, perfekt.

Ab jetzt noch vier Minuten …

Leoni beglich die Rechnung, indem sie Bargeld neben den Champagner legte. Dann tat sie so, als würde sie ihre Handtasche ordnen. In Wahrheit aber griff sie hinein und ließ den Silberring in ihre rechte Hand gleiten – so, dass sie den Totenkopf mit dem Mittelfinger ungesehen aufklappen konnte.

Drei Minuten …

Nina richtete ihren Blick auf den Kellner, der soeben die Tasse mit dem Espresso auf Tisch Nummer sieben abstellte.

Jetzt.

Zwei Minuten …

Leoni erhob sich unauffällig. Mit ruhigen Schritten verließ sie das Lokal, wählte ihren Weg so, dass sie direkt an Tisch Sieben vorbeikam. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie diesen Handgriff mehr als dreihundert Mal trainiert hatte. Im Vorbeigehen, ohne den geringsten Anschein von Zögern oder Auffälligkeit, huschte ihre Hand, in der sie den Ring versteckt hielt, über die Kaffeetasse. Das weiße Pulver – nicht mehr als eine Messerspitze voll – rieselte punktgenau in den Espresso.

Volltreffer!

»Einen schönen Gruß von Kowalski«, murmelte Leoni. Dann trat sie durch den Eingang hinaus ins Freie und lenkte ihre Schritte in Richtung Parkplatz, auf dem ihr unter falschem Namen gemieteter Peugeot stand.

Die Zeit ist um …

Sie startete, parkte aus und fuhr langsam los. Zu gerne hätte sie die Aufregung erlebt, für die ihr Plan in diesen Sekunden im Tantris sorgen würde.

Doch dazu bekam sie nur kurz Gelegenheit, einen Blick lang, als sie draußen vor den Panoramascheiben vorbeifuhr.

Alle Gäste wandten sich Karen Kinsky zu, die wieder an ihrem Tisch saß. Die Espressotasse fiel ihr gerade aus der rechten Hand, mit der linken fasste sie sich an den Hals. Ein Hustenanfall schüttelte sie – jedenfalls sah es danach aus.

Leoni wusste, dass es kein Hustenanfall war. Sie griff nach ihrem Handy, das vorausbezahlt und somit nicht registriert war, und tippte eine SMS: Nummer 1 - erledigt.

3 Am Donnerstag um 22:17 Uhr standen sie auf dem Flachdach der Garage von Zielperson Nummer 2, deren schickes Einfamilienhaus in der Seitzstraße des Münchner Stadtteils Planegg lag, verborgen hinter hohen Tannen und immergrünen Sträuchern. Eine ruhige, fast ländliche Wohngegend. Ein Umstand, der das Ausführen ihres geheimen Auftrages enorm erleichterte. Nicht das Geringste durfte schief laufen.

Das Fenster war gekippt – ein Glück, sonst hätten sie ein Loch in das Glas schneiden müssen. Er schob die Hand, die er mit einem schwarzen Lederhandschuh schützte, durch den schmalen Spalt. Mit einem kurzen, kräftigen Ruck hebelte er das alte Fenster aus der Verriegelung. Er drückte den Fensterflügel nach innen, und beide ließen sich leise in das dunkle Zimmer gleiten. Innen angekommen schlichen sie zur Tür, öffneten sie einen Spaltbreit und lauschten.

Aus dem unteren Bereich des einstöckigen Wohnhauses drang leise klassische Musik zu ihnen nach oben - Beethoven.

»Guter Zeitpunkt«, flüsterte Leoni.

»Um nicht zu sagen, perfekt«, erwiderte Kai Lennox leise. »Los.«

Mit geschmeidigen Schritten traten die beiden auf den Gang hinaus, zogen hinter sich die Tür ins Schloss und schlichen auf die Treppe zu, die nach unten zum Wohnbereich und zum Arbeitszimmer führte.

Die ganze Sache musste überraschend passieren.

4 Professor Albert Mendess las die Worte seiner SMS-Nachricht bereits zum dritten oder vierten Mal:

Derek, sie haben Karen Kinsky umgelegt. Jetzt jagen sie mich.

Er zog seine Hände von der Display-Tastatur zurück. Sie zitterten. Er zitterte. Am ganzen Körper. In seinem Kopf tanzten düstere Bilder und wirre Gedanken. Diese SMS konnte gefährlich werden, dann, wenn der Inhalt in falsche Hände geriet. Das konnte immer passieren, selbst modernste Technik produzierte ab und zu Irrläufer. Er musste höllisch aufpassen, was er schrieb. Jedes einzelne Wort musste sorgfältig durchdacht und gewählt sein.

Professor Mendess griff nach seinem Firmen-iPhone. Noch einmal versuchte er, Derek zu erreichen. Der Junge war in den letzten Wochen ihrer Zusammenarbeit zu einer unverzichtbaren Hilfe in seinem Projekt geworden, auch wenn er im Moment wegen Dereks Fahrlässigkeit bei der Arbeit etwas sauer auf ihn war. Der Professor sah ein, dass Derek sich auf die Schule konzentrierte. Und auf der St. Georges wurde einem nichts geschenkt, da wurde man für das Leben vorbereitet. Dennoch mussten auch die übrigen Verpflichtungen ordnungsgemäß erledigt werden.

Zwecklos. Derek hob nicht ab. Ständig schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Eine Nachricht auf Band zu sprechen kam auf keinen Fall infrage. Verdammt, wozu hatte Derek überhaupt ein Telefon, wenn man ihn nicht darauf erreichen konnte? Ein persönliches Treffen wäre am sichersten, um Derek einzuweihen.

Mendess stand auf. Er schwankte. Die jüngsten Ereignisse warfen ihn völlig aus dem Gleichgewicht. Kaffee und ein kaltes Sodawasser würden ihn beruhigen, ein wenig zumindest. Der Kühlschrank war leer bis auf einen restlichen Schluck Römerquelle mit Himbeergeschmack. Er liebte Himbeergeschmack. Auf der Fahrt weg aus München würde er sich an einer Autobahntankstelle einen Vorrat davon kaufen.

Langsam goss er den kostbaren Schluck die Kehle hinunter. Er verteilte sich in seinem Magen und kühlte seinen Körper angenehm. Dann schob er eine Nespressokapsel in die Kaffeemaschine, füllte eine Tasse und genoss das kräftige Aroma. Seine Hände hörten auf zu zittern, seine Gedanken wurden klarer.

Er nahm den Kaffee, setzte sich an den Schreibtisch zurück und blickte wieder auf den Text der Nachricht. Der Satz, den er gerade vorhin getippt hatte, kam ihm plötzlich sinnlos und albern vor. Aber das war er nicht. Schon kroch die Angst wieder in ihm hoch. Die Schrift vor seinen Augen verschwamm für einen Augenblick. Er befürchtete, die Kontrolle über seine Sinne zu verlieren, wenn er sich nicht konzentrierte.

Albert Mendess dachte an die Meldung in den ZDF-Nachrichten. Sein Magen verkrampfte sich, der bittere Geschmack von Galle stieg ihm in den Mund. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sie Karen Kinsky beseitigt hatten: Das Gift, vielleicht Blausäure, wirkt unausweichlich tödlich. Karen spürt, wie sich ihr Atem beschleunigt. Sie schnappt nach Luft, die Bilder vor ihren Augen verschwimmen und …

Verdränge die düsteren Gedanken!

Professor Mendess blickte unruhig auf seine Rolex. Karen Kinsky war tot. Dabei hatte er doch allen Grund, positiv in die Zukunft zu blicken. Noch einundfünfzig Minuten, dann würde er mit fünf Millionen Euro Europa für immer verlassen. Er schloss kurz die Augen und stellte sich das türkisblaue Meer Brasiliens vor, die zuckerweißen Strände und den ewigen Sommer.

Bis es so weit war, hatte er aber noch etwas zu erledigen. Etwas Wichtiges. Er tippte weiter auf seinem Firmenhandy. Die vollständige Nachricht musste raus, unbedingt. Diese verdammt kleinen Buchstabenfelder.

Derek, sie haben Karen Kinsky umgelegt. Jetzt jagen sie mich.

Ich verlasse München. Aber du musst mir helfen, sonst bin ich an meinem Ziel nicht wirklich außer Gefahr. BIOMAT 79 hat funktioniert. Nur wir beide kennen das Geheimnis. Du weißt, was dazu nötig ist. Der Schlüssel zu allem, was sonst noch gebraucht wird, befindet sich im Keller der vorigen Woche. Mein Handel mit Ken

»Wir stören Sie doch hoffentlich nicht, Professor Mendess?«

Der Professor zuckte zusammen. Er kannte diese eiskalte, raue Stimme. In Hollywoodfilmen gehörte eine solche Stimme immer einem Killer. Augenblicklich stieg ihm der Angstschweiß auf die Stirn.

5 Professor Mendess drehte sich um. Ein Mann und eine Frau betraten gerade sein Arbeitszimmer. Leoni stand nur wenige Schritte hinter Lennox, Kowalskis Leute, mit denen er das Geschäft besiegeln sollte. Wieso waren die beiden eine Stunde zu früh hier?

Professor Mendess fluchte leise. Wäre er doch sofort zum Flughafen gefahren, hätte eingecheckt und wäre durch den Zoll verschwunden. Nun war es zu spät.

Dabei hatte er sich noch selbst ermahnt: Pack das Notwendigste in einen Koffer, lass dein bisheriges Leben hinter dir und hau schleunigst ab. Verdammt, jetzt waren sie da. Jede Sekunde war kostbar.

Verzweifelt schaute er sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, fand jedoch keine. Seine Gedanken begannen, panisch zu rasen.

Für den Bruchteil einer Sekunde blickte er auf das Display. Der Cursor blinkte. Wenn sie näher kamen, würden sie die SMS-Botschaft lesen können. Er drehte sich auf dem Bürostuhl seinen Besuchern zu. Ganz beiläufig drückte er dabei auf ein Tastenfeld, und die Nachricht verschwand.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe noch nicht mit Ihnen gerechnet. Habe wohl die Klingel überhört.« Professor Mendess erhob sich. Seine Mundwinkel zitterten, er spürte es, konnte es aber nicht verhindern.

Leoni grinste. Sie trat auf Mendess zu und drückte ihn auf den Stuhl zurück. »So können wir uns besser mit Ihnen unterhalten.«

Lennox setzte sich auf die Couch, schlug die Beine übereinander und zündete sich eine Zigarette an. Leoni trat hinter Professor Mendess.

»Sie können sich ruhig entspannen«, sagte Lennox. Er blies eine Rauchwolke in die Luft.

»Unser Treffen sollte erst in einer Stunde stattfinden«, sagte Professor Mendess und atmete tief durch. »Um fünf.«

Die Rolex an seinem Handgelenk zeigte Viertel nach vier.

»Gewiss«, bestätigte Lennox. »Zu diesem Zeitpunkt wollten Sie längst am Flughafen sein. Es freut uns, dass wir Sie vorher noch antreffen, nicht wahr, Leoni?«

Leoni nickte stumm.

Kai Lennox’ krumme Boxernase pfiff leise bei jedem Atemzug, seine Augen lagen in tiefen Höhlen und wirkten wie die einer Ratte. Er passte in jeden Mafiafilm.

Lennox’ Komplizin, Nina Leoni, strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, ein silberner Totenkopf-Ring glänzte an ihrem rechten Mittelfinger. Sie musterte Mendess aus kalten blauen Augen.

Der Professor versuchte, gelassen zu wirken. Er wusste, dass ihm beide seiner Besucher überlegen waren. Kowalskis Leute waren darauf trainiert, ihren Körper als Waffe einzusetzen. Albert Mendess hingegen war ein kugelrunder Glatzkopf. Sein Doppelkinn verriet, dass Sport ein Fremdwort für ihn war. Nicht verwunderlich, dass Lennox und Leoni ihn in keiner Weise als gefährlich einstuften.

»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden«, begann Professor Mendess wieder. »Ich war gerade dabei …«

»Sie wissen genau, wovon wir reden.« Lennox klang leicht verärgert, schien die Verwirrung des Professors aber auch zu genießen. »Sie haben heute nicht Ihren üblichen Weg nach Hause genommen. Hat das vielleicht einen Grund? Wenn ja, werden Sie ihn uns bestimmt gerne verraten.«

Also doch. Wie vermutet, sie haben mich die ganze Zeit beschattet.

Wahrscheinlich waren sie ihm von dem Moment an auf den Fersen gewesen, als er das Firmengebäude des Pharmakonzerns InGenetics verlassen hatte. Dabei war er vorsichtig gewesen, nachdem er gehört hatte, dass Karen Kinsky vergiftet aufgefunden worden war. Er hatte den Lift in die unternehmenseigene Tiefgarage genommen, war in ein gemietetes Leihauto gestiegen und erst gegen Einbruch der Dunkelheit weggefahren.

»Woher wollen Sie wissen, welche Route ich normalerweise nehme?« Professor Mendess versuchte, Zeit zu gewinnen. Er brauchte schnell eine verdammt gute Idee, sonst ging das hier schief – verdammt schief!

6 »Wir wissen mehr über Sie, als Ihnen lieb ist«, sagte Lennox. »Eine Rolex, einen BMW 760Li, einige Goldbarren im Schließfach der Deutschen Bank, ein dickes Aktiendepot.« Lennox zog an seiner Zigarette und grinste Mendess dabei listig an.

»Nur in den letzten Tagen ist es nicht so wirklich gut gelaufen«, sagte Leoni. Auch sie schien sich über das Unbehagen des Professors zu amüsieren. »Kowalski ließ uns wissen, dass Sie eine ziemlich glückliche Hand haben, wenn es um Aktienkauf geht. Nur bei der Emgen AG haben Sie Ihre Kohle ordentlich in den Sand gesetzt.«

Professor Mendess schluckte trocken. Wussten sie von dem Insidertipp, den er erhalten hatte? Emgen hatte einen Impfstoff gegen Ebola entwickelt. Überwältigende Testergebnisse. Sofort hatte er Aktien gekauft - auf Pump. Schon nach der ersten Pressekonferenz schoss der Aktienkurs von 3,47 Euro auf 24,16 Euro hoch. Dann über Nacht der Hammer: Nierenversagen bei einer Testperson. Marktzulassung zurückgezogen. Absturz der Aktie. Innerhalb von zehn Minuten war er pleite gewesen. Nur mehr der Handel mit Kowalski konnte ihn vom privaten Untergang retten.

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, mit wem Sie es zu tun haben«, sagte Lennox. »Wir kommen an jede Information, die wir wollen. Falls Sie daran denken, aus Europa zu verschwinden, wir finden Sie selbst im verstecktesten Loch auf diesem Planeten.« Lennox warf seine Zigarette auf den handgeknüpften Perserteppich und trat sie in der sündteuren Wolle aus.

Professor Mendess spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.

Die kennen meinen ganzen Plan.

7 Mendess sprang auf. Er funkelte Lennox wütend an, wollte ihm an den Kragen.

Blitzschnell sprang Leoni neben ihn, die Hand in der Innentasche ihres Jacketts.

»Machen Sie keine Dummheiten, Professor«, mahnte Lennox.

Professor Mendess atmete durch. »Sie können Ihre Hand ruhig aus dem Jackett nehmen«, sagte er zu Leoni. »Das ist ein hellhöriges Haus. Jeder Nachbar würde den Schuss sofort hören.«

»Professor, ich bitte Sie«, sagte Lennox kalt. Er warf Leoni einen Schalldämpfer zu. »Wir sind doch keine Anfänger. Und nun setzen Sie sich bitte wieder. Oder muss Leoni Ihnen dabei helfen?«

Notgedrungen gehorchte Professor Mendess. »Was will Ken?«, fragte er, so ruhig es ging.

»Fünf Millionen«, antwortete Lennox ebenso ruhig. »Und zwar die fünf Millionen, die Sie ihm gestohlen haben.«

»Gestohlen! Was für ein Schwachsinn. Er selbst hat mich bezahlt. Und sobald er Biomat 79 erhält, sind noch mal drei Millionen fällig.«

»Moment«, unterbrach Lennox ihn. »Der Reihe nach. Sie geben uns die Namen all jener Personen, die von Biomat 79 wissen, dann …«

Professor Mendess witterte eine kleine Chance. »Wir unterhalten uns ein paar Straßen weiter im Gasthaus Zur Eiche, unter Leuten. Wenn nicht, können Sie Biomat 79 vergessen. Dann ist Ken für ein Nichts um fünf Millionen ärmer.«

»Pokern und bluffen Sie nicht, Professor. Wir wissen längst, wie die Biomat 79-Methode funktioniert.«

Mendess fiel in seinen Stuhl zurück, als hätte ihm jemand mit einem Vorschlaghammer gegen die Brust geprügelt. Was Lennox da sagte, konnte nicht sein. Von seinem Versuchsprotokoll gab es nur das handschriftliche Original. Und das war an einem sicheren Ort verwahrt. Laut Abmachung hätten sie sich heute um siebzehn Uhr getroffen und die letzten Punkte des Geschäftes geklärt. Morgen hätte er das Protokoll abgeholt, bei seiner Anwältin Karen Kinsky zuerst eine Kopie als Lebensversicherung hinterlegt und das Original dann Kowalski übergeben. Im Gegenzug hätte er weitere drei Millionen kassiert. Wäre Mendess etwas zugestoßen, hätte seine Anwältin die Kopie der Polizei übergeben.

Professor Mendess schien und klang sichtlich verwirrt. »Aber wie konnten Sie denn …«

»Seit drei Wochen verfolgen wir jeden Ihrer Schritte, Professor. Wir hatten genügend Zeit, Ihr Büro genau unter die Lupe zu nehmen. Wir haben alles gefunden, was wir wollten.«

»Auch den USB-Stick?«, fragte Mendess.

Jetzt erstarrte Lennox für den Bruchteil einer Sekunde, fing sich jedoch gleich wieder. »Sie bluffen erneut, Professor. Es gibt keinen Datenträger.«

Mendess atmete unmerklich auf. Sie hatten die gefälschten Laborunterlagen gefunden. In weiser Vorahnung hatte er sie zur Sicherheit als falsche Beute in die Schublade seines Schreibtisches gelegt. Und bis jetzt hatten sie den Schwindel noch nicht bemerkt.

8 »Ken hat nicht die geringste Ahnung davon, wie Biomat 79 funktioniert«, sagte Mendess fast triumphierend. »Dumm gelaufen für ihn. Ich habe Freunde. Wenn die das Versuchsprotokoll und den USB-Stick finden, geht ihm eine knappe Milliarde Euro flöten – paff und weg. Ken ist mir auf den Leim gegangen. Es sei denn, Sie lassen mich jetzt in Ruhe.«

Nun musste er hoffen, dass sein Bluff funktionierte. Kein Mensch wusste, wie man Biomat 79 in Gang brachte. Und den Ort, an dem er den Versuchsbericht deponiert hatte, der das zeigte, kannte auch niemand außer ihm.

Lennox seufzte verächtlich. »Sie haben sicherlich die Nachrichten gehört. Sie wissen also, dass Karen Kinsky einen bedauerlichen Unfall hatte. Warum hätten Sie sonst einen so umständlichen Weg nach Hause genommen? Doch wohl nur, um uns abzuschütteln. Korrekt, wie Kinsky war, hat sie sich anfangs natürlich gewehrt, uns Informationen über Ihren Plan zu geben. Sie berief sich auf ihre Schweigepflicht als Notar. Aber das änderte sich schnell, als sie den kalten Stahl von Leonis Waffe im Nacken spürte. Gutgläubig, wie unsere Frau Notarin war, dachte sie, damit sei die Sache für sie ausgestanden. Tja, manchmal irrt man sich im Leben. Ich denke, es wird uns auch gelingen, Ihre Freunde zum Reden zu bringen.«

Professor Mendess war geschockt. Er befand sich mit zwei gefühllosen Handlangern in einem Raum, die kein Pardon kannten. Trotzdem versuchte er, selbstbewusst zu wirken. »Sie mögen einiges über mich wissen. Meine Freunde jedoch kennen Sie nicht.«

»Zweifellos richtig«, gab Lennox zu. »Ich könnte mir aber vorstellen, dass Sie uns die gerne verraten, bevor Sie einen Finger verlieren, nicht wahr, Leoni?« Lennox blickte Leoni kurz an und nickte in Richtung Mendess.

Dem Professor gefror das Blut in den Adern. Hatten Kowalskis Leute die falschen Unterlagen doch als unvollständig erkannt? Wenn ja, würde er diesen Raum nicht mehr verlassen. Nicht bevor er ihnen das Versteck des originalen Versuchsprotokolls verraten hatte. Falls nötig, würden sie ihm sogar höllische Schmerzen zufügen, um an die gewünschten Informationen zu kommen. Und wenn sie erst wussten, was sie wissen wollten, war er für sie nutzloser Ballast. Dann gab es keinen Grund mehr, ihn am Leben zu lassen. Noch schlimmer, dann konnte Kowalski unwidersprochen behaupten, Biomat 79 selbst entdeckt zu haben. Jetzt stand alles auf dem Spiel.

Leoni drehte den Stuhl mit Mendess herum. Sie beugte sich vor und packte den Professor am Kragen seines nass geschwitzten Hemdes. Die einhundertneunzehn Kilo des Professors brachten sie kurz aus dem Gleichgewicht. Diesen Moment nutzte Mendess. Er griff sich den Brieföffner vom Schreibtisch, umklammerte ihn und …

Leoni sprang geistesgegenwärtig einen Schritt zurück. So schnell, wie eine Schlange zubeißt, griff sie nach Mendess’ Handgelenk und drehte die Waffe energisch von sich weg.

Der Professor schrie auf. Seitlich hinter Leoni sah er Lennox. Er zog seine Pistole, eine Walther PPK. Schießen konnte er nicht, war dem Professor klar. Sie benötigten erst die Informationen.

Leoni verdrehte sein Handgelenk noch weiter. Der Professor stöhnte und verzog das Gesicht vor Schmerz. Leoni versuchte, ihm den Brieföffner abzunehmen, aber der Professor hielt ihn verzweifelt umklammert.

Professor Mendess griff mit der zweiten Hand um das Briefmesser und versuchte, Leonis Gesicht zu erwischen. Leoni schlug jedoch ihren Unterarm abwehrend gegen Mendess’ Hand und der Angriff ging ins Leere. Sofort schickte sie einen Ellbogenstoß hinterher, der den Professor am Kinn traf. Mendess ließ den Brieföffner fallen. Leoni stieß ihn mit dem Fuß von sich weg.

»Ich bitte Sie, Professor«, sagte Lennox beherrscht. »Lassen Sie uns doch wie vernünftige Geschäftspartner miteinander reden.«

Professor Mendess ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in den Bürostuhl zurücksinken. Blut rann aus seinem linken Mundwinkel, ein Zahn wackelte. Aber es war sein rechter Arm, der wild pochte und wirklich wehtat. Und dann spürte er plötzlich einen brennenden Schmerz, den er sich überhaupt nicht erklären konnte, er saß unter seinem Brustbein und breitete sich rasch über seinen gesamten Brustkorb aus. Hatte Lennox doch geschossen?

9 Professor Mendess’ Blick wanderte nach unten, suchte nach dem Einschuss. Aber da war nichts. Keine Wunde, die … In diesem Augenblick verstand er. Geschockt riss er die Augen auf. Soeben traf ihn der Herzschlag, den ihm sein Hausarzt schon lange vorausgesagt hatte. Kaffee, kein Sport, Pommes, Cola und fettes Fleisch. Es musste eines Tages so kommen. Seltsam. Statt in Todesangst aufzugehen, dachte der Professor etwas ganz anders: Jetzt konnte Kowalski nicht mehr an sein Geheimnis kommen, an Biomat 79, das Verfahren, dessen Produkt, wenn geschickt eingesetzt, die Menschen in ihr bislang schlimmstes Verderben stürzen konnte.

Der Herzinfarkt würde verhindern, dass Ken seinen teuflischen Plan mithilfe von Biomat 79 verwirklichen konnte. Der Professor erhob sich unter stechendem Schmerz aus seinem Stuhl. Er wollte Lennox und Leoni verächtliche Worte ins Gesicht schleudern, brachte aber nur ein sterbendes Gurgeln zustande. Er streckte seinen linken Arm zittrig nach Leoni aus, als wollte er sie an der Kehle packen. Er stolperte, fiel auf die Knie und dann mit dem Gesicht voran auf den Parkettboden.

Leoni trat zur Seite. Sie wollte keine Schweißflecke auf ihren teuren Hosenanzug bringen.

Professor Mendess drehte sich stöhnend auf den Rücken. Mit getrübtem Blick suchte er Leoni. Da spürte er, dass ihn jemand am Kragen packte und hochriss. Verschwommen, als treibe er unter Wasser, sah er Lennox’ Gesicht vor sich. Lennox sagte etwas. Aber die Worte hörten sich an, als kämen sie aus weiter Ferne. Seine Stimme gehorchte Professor Mendess nicht mehr. Dennoch spürte er, dass sich seine Lippen bewegten und Worte formten. Ob sie bei Lennox ankamen, nahm er nicht mehr wahr. Lennox ließ ihn einfach fallen. Leoni drehte suchend den Kopf. Ihr Blick blieb auf dem Handy-Display haften. Professor Mendess wandte sich nach Luft ringend Leoni zu. Das Letzte, was er in seinem Leben sah, waren die Worte am Display: Nachricht versendet: J. Derek Foster.

10 »Verdammt!«, fluchte Derek in der Umkleidekabine. Ausgerechnet heute hatte das Training in Selbstverteidigung länger gedauert als geplant.

»Warum so gereizt, Kumpel?«, fragte Jens Parker.

Derek warf einen Blick auf seine Uhr. »Wenn ich ihm nicht in spätestens einer Stunde die Reinschrift über unsere letzte Versuchsreihe gemailt habe, flippt er völlig aus.«

»So streng ist er zu dir?«

»Albert sagt, ich hätte Talent, sei der geborene Biochemiker. Er behandelt mich seit dem Tod meiner Eltern wie seinen eigenen Sohn, den er nie hatte. Das sei er Dad schuldig wegen ihrer Freundschaft, sagt er. Geht es aber um seine Forschung bei InGenetics, versteht er keinen Spaß. Albert ist Wissenschaftler, penibel genau, pünktlich, immer korrekt. Das erwartet er auch von mir.«

»Wie schrecklich«, sagte Jens.

»Ohne pünktliche Reinschrift ist es vorbei mit einem Chemiestudium nach dem Gymnasium. Dann kann ich bei einer Tankstelle jobben oder Taxi fahren und meinen Lebensunterhalt selber berappen.«

»Vielleicht solltest du doch in die Fußstapfen deines Vaters treten und als Agent arbeiten«, meinte Jens.

»Guter Gedanke.« Derek dachte über seinen Vater nach, der für die CIA gearbeitet hatte. Die Familie Foster war nach 9/11 von New York nach München gezogen. Jake Foster sollte das Büro leiten, das die transatlantischen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung koordiniert. Jetzt war Jake Foster tot. Bei einem Einsatz gegen Terroristen war er angeschossen worden; er verstarb noch am Einsatzort. Als seine Mutter nur zwei Jahre später bei einem Autounfall ums Leben kam, schien seine Zukunft total unsicher und Albert Mendess hat sich seiner angenommen.

»Sag’s mir, wenn ich dir bei der Reinschrift helfen kann«, sagte Jens.

»Ich komme klar.« Münchens dichter Abendverkehr kam Derek in den Sinn. Er musste durch die halbe Stadt. An eine erfrischende Dusche nach den schweißtreibenden Übungen war sowieso nicht mehr zu denken. Er sprang in seine verknitterte Jeans, streifte sich das Bayern-München-T-Shirt über und schlüpfte in seine ausgetretenen Turnschuhe. Die dunkelblonden Haare standen ihm wirr zu Berge. Derek war kräftig und athletisch gebaut. Seine aufmerksamen, braunen Augen unterstrichen seine wachen Sinne.

»Schätze, dann muss ich unser diesjähriges Schulschluss-Treffen alleine organisieren«, sagte Jens.

»Nur diesmal, Jens. Versprochen.«

»Aber du bist dabei?«

»Klar doch. Dieses Protokoll ist für Albert wirklich wichtig. Es dokumentiert seine Forschungsarbeit und die damit verbundenen Fortschritte. Er muss Ergebnisse vorweisen, ansonsten teilt ihm der Vorstand von InGenetics keine weiteren Gelder zu. Und das wäre auch das Ende meiner Karriere. Keine Forschungsmittel, kein Nebenjob, keine Kohle.«

»Alles klar, Mann. Dann bis zum Treffen.«

Sie klatschten die Hände ab.

»Bis Pullman City.«

Jens nickte.

Auf dem Weg zu seinem Motorrad, einer KTM 300 EXC, schwang sich Derek seinen Rucksack auf den Rücken und checkte seine Mails und Nachrichten, vom privaten wie vom firmeninternen Smartphone. Gleich die erste Nachricht versetzte ihm einen Schock. Er las die Zeilen noch einmal, um sicherzugehen, dass er sich nicht geirrt hatte. Hatte er nicht. Sofort rief er zurück. Nur der Anrufbeantworter meldete sich. Mist!

Derek startete die Enduro. Noch eine Viertelstunde Zeit. Unmöglich, es bis siebzehn Uhr zu InGenetics zu schaffen. Ich Idiot, ärgerte er sich über sich selbst. Der Motor stotterte, sprang dann an und verstummte nach ein paar Sekunden wieder. »Scheißkarre!«, rief Derek und schlug mit den Händen auf den Lenker. Er startete das Motorrad erneut. Wieder stotterte der Motor, lief diesmal aber weiter. Derek schoss vom Parkplatz und tauchte in den Berufsverkehr ein.

Er stand an einer roten Ampel und blickte auf seine Uhr. Noch zwölf Minuten. Das würde mehr als knapp werden.

Die Ampel sprang auf Grün und Derek gab Gas. So oft es ging, wechselte er die Spur, um rascher voranzukommen. Zeit gewann er dadurch kaum, die sechsspurige 2R war um diese Zeit regelrecht verstopft.

Der Parkplatz auf dem Firmengelände von InGenetics war bereits leer, als er dort ankam, die Schranken geschlossen. Auch das Tor zur Tiefgarage war schon versperrt. Derek parkte die KTM am Rand der Gärtnerstraße auf der Hinterseite des Firmengebäudes, das gleich neben dem hoch in den Himmel ragenden O2-Turm lag. Ohne auf möglichen Verkehr zu achten, rannte er über die Straße. Er hastete zur gläsernen Eingangstür und zog daran.

Verschlossen.

Derek atmete kurz durch und wühlte in seinen Hosentaschen. Nichts. Seine ID-Karte, die ihn als Angestellten von InGenetics auswies und ihm Zutritt zum Gebäude verschaffte, lag irgendwo in seiner Wohnung. Er versuchte, durch die dreifache Verglasung hindurch jemanden auszumachen – niemand zu sehen.

Er hämmerte mit der Faust gegen die massive Glastür. Mit etwas Glück hatte Sam Dillinger heute Dienst und würde ihn hören. Sam arbeitete als Securitywächter bei InGenetics und war nicht viel älter als Derek. Sie hatten sich im Laufe der Wochen angefreundet. Sam würde seine fatale Lage verstehen und ihn einlassen.

Nach Sekunden und keiner Reaktion klopfte er noch einmal. Wieder nichts.

»Sam, aufmachen!«, brüllte er gegen die Glasscheibe und starrte hindurch.

Jetzt bewegte sich im Inneren des Gebäudes etwas. Eine dunkle Silhouette. Sie kam auf ihn zu. Sam. Na endlich.

Ein uniformierter Wächter öffnete die Tür. Es war nicht Sam. Der bullige Uniformierte starrte ihn über seinen Brillenrand hinweg abfällig an.

11 »Was willst du?«, fragte der Mann, auf dessen Namensschild Ben Becker zu lesen war.

Derek kannte Ben nicht näher, wusste aber vom Hörensagen, dass er seinen Job penibel genau nahm.

Ohne Derek auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, machte Ben ihm mit einem Handzeichen klar, zu verschwinden.

»Ben, ich muss ins Labor von Professor Mendess.«

Ben verzog keine Miene. »Kein Einlass ohne ID-Karte. Vorschrift ist Vorschrift.« Er klang wie ein Oberbefehlshaber, freute sich offenbar darüber, seine dienstlich überlegene Stellung einmal ausleben zu können.

»Ich weiß, aber ich muss Unterlagen holen – dringend.«

Ben wehrte mit einem energischen Handzeichen ab. »Ich habe meine Vorschriften. Und ohne ausdrückliche Genehmigung verlassen keine Unterlagen dieses Gebäude. Tut mir leid.«

Derek rief eine Nachricht auf den Bildschirm seines iPhones. »Hier steht, ich muss die Reinschrift heute noch bei Professor Mendess abliefern. Die Vorstandssitzung wurde vorverlegt. Seine Forschungsgelder hängen davon ab.«

»Ohne ID ist dieses Gebäude geschlossen.«

»Ist es nicht. Du hast mir gerade geöffnet.«

»Dass ich aufgeschlossen habe, heißt nicht, dass es für dich geöffnet ist.« Ben drängte Derek einen Schritt zurück.

»Es dauert nur eine Minute, dann bin ich weg. Bitte, Ben. Meine Zukunft hängt von diesem Bericht ab.«

Ben musterte ihn nachdenklich. Vermutlich würde er ihm jetzt heimzahlen, dass sich Professor Mendess vor drei Monaten für Sam Dillinger als Neuzugang im Sicherheitsbereich eingesetzt hatte. Zum Nachteil von Ben Beckers Neffen, der daraufhin nicht eingestellt worden war. Eine herbe Enttäuschung in Zeiten wie diesen, wo qualifizierte Arbeitsstellen rar waren.

Derek fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Vermutlich war die Sache für Ben in diesem Moment ohnehin schon erledigt.

»Ich arbeite hier, Ben«, setzte Derek nach.

»Ich weiß, Derek. Du arbeitest hier, mein Neffe Peter leider nicht. Und deshalb gelten auch für dich die gleichen Regeln wie für alle Angestellten von InGenetics.«

»Das hier ist ein Notfall, ich …«

»Keine Ausrede. Du arbeitest seit einem halben Jahr bei uns. Du kennst die Vorschriften.«

»Ich arbeite fast nur am Samstag im biochemischen Labor.«

»Es gibt nun mal Regeln.«

»Ohne diesen Bericht verliere ich meine Anstellung bei InGenetics, Ben. Ich brauche den Job und das Geld. Ich bin erledigt, wenn du mich nicht reinlässt.«

Ben Becker winkte ab. »Wie Peter.«

»Dafür kann ich nichts.«

»Industriespionage in drei Fällen in nur einem Jahr, Derek. Ohne ID-Karte kann ich deinen Besuch nicht im System registrieren. Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften ist fristlose Entlassung, klar. Verschwinde, sonst sind wir beide ohne Job!« Er schlug Derek die Tür vor der Nase zu. Derek hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte.

»Verdammter Idiot!«, fluchte Derek und schlug die Faust wütend gegen die Glasscheibe. Er lief zurück zum Motorrad, startete und brauste davon.

12 Kai Lennox und Nina Leoni zogen Arzthandschuhe an. Sie durften keine Fingerabdrücke, Haare oder sonstige Spuren hinterlassen. Lennox sah vorsichtshalber nach, ob draußen in den Straßen der Siedlung die Luft rein war.

Sie war es.

Er gab Leoni ein Zeichen. Sie schob Mendess’ Autoschlüssel in ihre Jackentasche. Gemeinsam hoben sie den Professor hoch, legten seine Arme über ihre Schultern und schleppten ihn zur Garage. Es musste rasch gehen, niemand durfte sie sehen. Lennox hatte ihr Auto auf der anderen Seite des Hauses in der Heimstättenallee geparkt, es war von der Seitzstraße aus nicht zu sehen.

Lennox zog am Türknauf. Die Haustür schloss, und sie setzten sich Richtung Garage in Bewegung. Sie stützten Mendess, als sei er ein betrunkener Freund. Nichts verriet, dass sie dabei waren, ihn verschwinden zu lassen.

»Er hat den Kopf gehoben und irgendetwas gekrächzt, kurz bevor er den Löffel abgegeben hat«, sagte Leoni. »Hast du seine letzten Worte verstanden?«

Lennox sah sie gleichgültig an. Ein Knopfdruck auf die Fernbedienung, das Garagentor öffnete sich. »War lauter wirres Zeug«, ließ er Leoni abblitzen. Er führte in Gedanken bereits ihren Plan aus. »Du hältst dich wie besprochen rund einen Kilometer hinter mir. Wir bleiben telefonisch in Verbindung. Falls es auf der Fahrt Schwierigkeiten mit den Bullen gibt, melde ich mich sofort und du nimmst eine andere Route als die besprochene.«

»Warum fährst nicht du mit ihm in seinem Wagen?«, sagte Leoni ärgerlich.

»Wir hätten ihn nur ausquetschen sollen. Du hast ihm aber dämlicherweise die Nase gebrochen, nicht ich. Oder willst du Kowalski erklären, warum Mendess’ Tod deshalb vielleicht nicht als einfacher Herzinfarkt eingestuft werden könnte?«

Leoni schüttelte den Kopf. Kenneth Kowalski, global tätiger Geschäftsmann, bediente sich, wenn nötig, ohne Skrupel rücksichtsloser Methoden. Jeder, der für ihn arbeitete, schwitzte Blut, falls ein Auftrag nicht voll und ganz ordnungsgemäß erledigt war. Nur Lennox nicht. Er hatte seine eigenen Gründe, Kowalski zufriedenzustellen.

Lennox blickte sich kurz in der Seitzstraße um. Noch immer freie Bahn. Gut. Mendess’ BMW stand fast vollgetankt in der Garage. Glücklicherweise im toten Winkel der Überwachungskamera, die über der Ausfahrt montiert war. Ein Durchtrennen des Kamerakabels wäre zu auffällig gewesen.

Sie zerrten den Professor zum Wagen. Leoni schloss auf. Mit vereinten Kräften hievten sie Mendess auf die Rückbank. Lennox schloss die Seitentür, nahm ein Dreieckstuch aus dem Verbandskasten und warf es Leoni zu. Sie sah ihn fragend an.

»Mach es feucht, nimm ein Reinigungsmittel und wisch alles ab, was wir in seiner Wohnung berührt haben könnten. Ich durchsuche die Räume einstweilen auf Hinweise über Biomat 79 und die verschwundenen fünf Millionen. In zehn Minuten machen wir uns auf den Weg zum vereinbarten Ziel. Du mit dieser Ladung hier.«

Sein umsichtiger Plan erfüllte Lennox mit Zufriedenheit. Professor Mendess würde nur ein weiterer Autofahrer sein, der zu schnell unterwegs gewesen war. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten und war in einer scharfen Linkskurve von der Fahrbahn abgekommen. Über eine Böschung war er in die Donau gestürzt, mitsamt seinem Wagen auf den Grund gesunken und ertrunken. Albert Mendess würde in Zukunft bei Fahrschulkursen als weiteres abschreckendes Beispiel für dumme Raserei dienen. Ein Herzinfarkt und eine durch einen Aufprall am Lenkrad gebrochene Nase würden keinen Verdacht auf Fremdeinwirkung aufkommen lassen.

Lennox sah Leoni an, dass sie derselbe Gedanke beschäftigte wie ihn.

»Wer ist dieser J. Derek Foster?«, fragte sie. »Und was bedeutet der Schlüssel im Keller der vorigen Woche in seiner Nachricht?«

»Keine Ahnung«, sagte Lennox. »Der Hinweis hängt vermutlich mit dem Biomat 79-Geheimnis zusammen, das nur die beiden kennen.«

»Wir müssen diesen J. Derek Foster finden«, sagte Leoni. »Und zwar schnell.«

Lennox nickte zustimmend. »Auf jeden Fall, bevor Mendess’ SMS bei der Polizei landet.«

»Zum Teufel!«, fluchte Leoni. »Wenn die sich einmischen, flippt Kowalski aus und wir sind die Nächsten, die zu den Engeln abschwirren. Dann schon lieber dieser Derek!«

Lennox nickte. »Er darf keinen Verdacht schöpfen, bis wir das Verfahren in der Tasche haben. Dann wird ihm ein tragischer Unfall zustoßen.«

Leoni tippte eine Nachricht in ihr Smartphone und sendete sie: Nummer 2 – beseitigt. Dann murrte sie: »Nummer 3, Derek Foster, wir kommen.«

13 Derek drängte sich durch die Menschenmenge in der Music and Dance Hall der Westernstadt Pullman City. Der Tanzsaloon war aus zähem Lärchenholz gebaut. Johnny Cash dröhnte von der mit bunten Scheinwerfern beleuchteten Bühne – die Arizona Angels hatten das Publikum für sich gewonnen: The Ring of Fire. Alle sangen mit. Pullman City lag gerade mal eine knappe Stunde südöstlich von München – und war der ideale Ort für die geplante Schulschluss-Party.

Und für Dereks andere Sache.

Es war erst acht Uhr abends, aber die Abschlussparty lief bereits auf vollen Touren. Auch einige Freunde der Black Ravens, dem Country Club, dem Derek angehörte, waren gekommen. Jens Parker versuchte eine kleine Tischrede. Auf Menschen einzuwirken war er als langjähriger Schulsprecher gewohnt. Aber er gab auf, kaum jemand hörte ihm im Lärm zu, alle wollten nur feiern. Auch Derek.

Nachdem Derek bei Ben Becker abgeblitzt war, war er nach Hause in seine Wohnung gefahren, hatte schnell geduscht, sich umgezogen und war dann mit Freunden direkt nach Pullman City gefahren. Seine ID-Karte hatte er mitgenommen. Morgen Früh würde er gleich zu InGenetics gehen und seinen Bericht tippen. Derek suchte den Saloon nach Saskia ab. Saskia hatte ihm eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen – sie sei schon unterwegs zur Abschlussfeier. Derek konnte Saskia unter den vielen als Cowboys, Indianer und Trapper angezogenen Gästen nicht ausmachen.

Jens versuchte es noch einmal mit einer kleinen Begrüßungsrede. Diesmal sprang er auf die Bühne und lieh sich von den Arizona Angels ein Mikro. »Liebe Freunde«, fing er an. »Nach einem weiteren Jahr harter Lernzeit auf der St. George’s, The English International School, gratuliere ich uns allen zum erfolgreichen Jahresabschluss. Stellvertretend für alle Anwesenden und zu Ehren unserer geliebten St. George’s gelobe ich feierlich, dass jeder von uns eine Traumkarriere starten wird.«

»Mit deinen Mathenoten ist der Zug schon abgefahren!«, rief Derek. Er erntete dafür einen Lacher.

»Womit ich ja bestens in eure Runde passe.« Jens gab auf und stieg von der Bühne. Anschließend bemühten sich alle nach Kräften, dass die Western-Party richtig in Schwung kam.

»Gratuliere zum Job bei InGenetics«, sagte Jens. Mit einem Teller Spareribs in der Hand gesellte er sich zu Derek an den Tresen im Saloon. Der Barkeeper schob ihm auf ein Nicken hin eine Flasche Coke zu.

»Danke. Super Idee, den Abschluss hier zu feiern – und eine großartige Rede.« Derek lachte, sein Blick schweifte dabei wieder durch die Dancing Hall.

»Saskia ist draußen bei der Wildwestvorführung.«

»Was?«

»Ich bin nicht blöd, Mann. Du hast sie eingeladen, weil sie Oliver im Kino mit Laura erwischt hat.«

»Du bist gut informiert.«

»Ich bin Schulsprecher, Alter. Ich muss informiert sein. Geschieht dem Großmaul recht, dass sie ihn abserviert hat.«

Jens war für Derek in all den Schuljahren zu mehr als einem Freund geworden, fast zu dem Bruder, den er sich immer gewünscht hatte.

Jens drückte Ketchup auf den Teller und machte sich über die Spareribs her. »Samstags hilft sie neuerdings im Buchladen ihrer Mutter aus. Sofern sie nicht mit den Skydivern unterwegs ist und aus 4000 Metern Höhe aus einem Flugzeug springt.«

»Skydiver?«

»Der Fallschirm-Sportklub.«

Derek bestellte noch eine Flasche Coke, die gleich darauf über den Tresen zu ihm herüber rutschte.

Jens prostete Derek zu und schob den Teller mit den Spareribs von sich.

»Die Reitershow beginnt in drei Minuten«, verlautbarte das Johnny- Cash-Double auf der Bühne.

Jens und Derek schlenderten auf die Mainstreet hinaus. Derek erblickte Saskia etwas weiter vorne in der Menschenmenge. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Saskia ging wie er auf die St. George’s. Allerdings in eine der parallelen Klassen. Er hatte sie nur ab und zu in der Pause oder beim Mittagessen in der Mensa gesehen. Zusammen mit ihren Freundinnen. Derek hatte Saskia bewusst nach Pullman City eingeladen. Irgendwie wollte er mit ihr ins Gespräch kommen – mit ihr allein. Er spürte, wie er nervös wurde, als Saskia kurz zu ihnen herüberblickte.

14 Die Menschenmenge auf der Mainstreet wurde immer dichter. »Gehst du irgendwann mal nach New York zurück?«, fragte Jens Derek.

Die Arizona Angels dröhnten so laut aus der Dancing Hall und die Westernfans feuerten die Reiter so leidenschaftlich an, dass Derek kaum hörte, was Jens zu ihm sagte. »Ich brauchte den Job bei InGenetics unbedingt«, antwortete Derek und zog Jens mit sich fort. »Du kennst meine Lage.«

»Hi!«, sagte eine Stimme hinter Derek.

Derek drehte sich um. Saskia stand plötzlich direkt hinter ihm. Sie lächelte ihn an. Derek spürte, dass seine Knie weich wurden.

Saskia trug eine enge Jeans, die ihre sportliche Figur betonte. Das blonde lockige Haar fiel ihr bis über die Schultern, ihre braunen Augen strahlten wie immer vor Lebensfreude. »Danke für die Einladung.«

»Keine Fallschirmsprünge dieses Wochenende?«, sagte Derek etwas überrumpelt. Schließlich fing er sich und brachte doch ein Lächeln zustande.

»Auch keinen Buchladen. Schön, mal Zeit für Party zu haben.«

Derek wusste nicht so richtig, was er sagen sollte. Auf keinen Fall wollte er dummes Zeug reden.

Schnell fischte er zwei Flaschen Coke aus dem Bauchladen eines Straßenverkäufers. »Wie läuft’s mit deinem Job im Buchladen?« Er bezahlte und reichte Saskia eine Coke.

Saskia zuckte mit den Schultern. »Das Übliche. Immer lächeln und freundlich sein. Da bist du mit deinem Traumjob bei InGenetics besser dran.«

Derek lachte. »Hab heute den Abgabetermin für die Versuchs-Reinschrift verpasst. Überhaupt hinken wir mit verwertbaren Ergebnissen hinter dem Zeitplan her. Vermutlich werden unserem Projekt die Gelder empfindlich gekürzt.«

»Oh, oh … Nicht gut bei InGenetics. Zumindest dann nicht, wenn stimmt, was über deren penible Arbeitsweise in den Medien berichtet wird. Gar nicht gut.«

»Vielleicht sollte ich doch lieber Dad nacheifern.«

»Und für Geheimdienste arbeiten?«

»So was in der Art.«

»Ich denke, dein Dad hat dich ohnehin systematisch darauf vorbereitet.«

»Weil er mir Autofahren und den Umgang mit Motorrädern beibrachte, mit mir Fahrsicherheitstraining und Schleuderkurse absolvierte?«

»In deiner Schulakte steht mehr. Er hat dich zum Sport angehalten: Fitness, Selbstverteidigung, Mentaltraining.«

»Dinge, für die er sich selbst interessiert hat«, antwortete Derek. »Immer vorbereitet sein – auf alles.«

Im selben Moment tauchte Oliver neben ihnen auf. Derek spürte, wie sich augenblicklich dicke Luft zusammenbraute.

Oliver blickte Derek abfällig an, dann wandte er sich Saskia zu. »Schon das nächste Opfer an der Leine, Sas?«, sagte er mit fiesem Unterton. »Gratuliere.«

»Oliver, bitte lass das …«

Oliver drehte sich wieder Derek zu. »Lass die Finger von ihr, Kumpel. Die benutzt dich, und dann wirft sie dich weg wie eine faule Bananenschale.«

Saskia stöhnte und drückte Oliver ihre Coke in die Hand. »Tut mir leid, Derek. Ich wollte ohnehin nicht herkommen.«

»Wie wär’s, wenn du einfach Leine ziehst, Oliver«, sagte Derek scharf.

»Schon dabei, Derek«, sagte Oliver. »Du sollst nur wissen, worauf du dich einlässt.«

Oliver prostete Saskia zu, grinste und verschwand in der Menschenmenge.

»Tut mir leid, Saskia«, sagte Derek.

»Nicht deine Schuld. Aber ich fahre trotzdem zurück. Ich will nicht noch so einen Auftritt. Vielleicht können wir morgen ins Kino.«

»Okay. Soll ich dich zum Parkplatz bringen?«

Saskia schüttelte den Kopf. »Nett von dir, aber nicht nötig. Danke, dass du mich von ihm abgeschirmt hast.«

»Wozu hat man Freunde.«

15 »Dieser verdammte Mistkerl!« Kenneth Kowalski schnippte mit den Fingern. »Verbinde mich mit Baxter, sofort«, befahl er mit dröhnender Stimme. Andy Weill, sein Privatsekretär, rutschte nervös auf der ledernen Sitzgruppe am Sky-Deck hin und her. Die Deep Ocean, Kowalskis Luxusjacht, eine siebenunddreißig Meter lange und über acht Meter breite Serena PR 3750, pflügte gerade vor Sydney durch das Meer.

»Sir, Baxter ist noch beim Mountainbiken in den österreichischen Alpen. Bis jetzt war er nicht zu erreichen, ständig die Mobilbox.«

Kowalski stöhnte, ging zu der eleganten, aus edlem Nussholz gefertigten Bar und nahm sich einen 25 Jahre alten Macallan. Mit einem einzigen Schluck spülte er den sündhaft teuren Whisky die Kehle hinunter.

»Himmel Herrgott, bin ich nur von Vollidioten umgeben!«, fluchte er und knallte das Whiskyglas gegen den Eisspender. »Erst dieser dämliche Zwischenfall mit Karen Kinsky, und jetzt ist der Trottel nicht erreichbar.«

Andy wurde immer kleiner auf seinem Ledersessel.

»Wann öffnet die Deutsche Bank?«, fragte Kowalski.

»Neun Uhr. Deutsche Zeit.«

»Gut. Dann will ich, dass der Strohkopf folgende Nachricht auf seiner Mobilbox hat: Baxter, morgen neun Uhr, erste Sekunde, stehst du bei der Deutschen Bank stramm. Wenn nicht, bestell dir deinen Sarg.«

»Wird veranlasst, Sir«, nickte Andy demütig. »Soll ich Ihren Privatjet nach Europa schon für morgen bereitstellen lassen?«

»Ja. Wir starten Punkt acht Uhr nach Brüssel. Ich nehme an allen Treffen beim internationalen Wirtschaftsgipfel teil. Vereinbare Gesprächstermine mit den Betreibern der Goldminen und arrangiere einen Termin für die Pressekonferenz.«

Kenneth Kowalski war Eigentümer des weltweit tätigen Konzerns Kowalski Global Economics, KGE. Er verbrachte viel Zeit mit den führenden Politikern und Mächtigen dieser Welt. Er war reich geworden, weil er seine Verbindungen in die höchsten Kreise geschickt zu nutzen verstand. Pleitestaaten, die von ihren Regierenden, allesamt unfähige Stümper, in die Schulden getrieben worden waren, zählte er zu seinen besten Kunden. Er kaufte ihnen kaputtregierte Staatsbetriebe, die zu überschuldeten Ladenhütern verkommen waren, für einen Spottpreis ab. Anschließend sanierte er die Pleitefirmen durch wirtschaftlich vernünftige und längst überfällige Kostensenkungen. Einige dieser dadurch gesundeten Unternehmen verkaufte er mit Millionengewinnen an die Staaten zurück, andere betrieb er selbst weiter. Manche Konzerne hatte er für inkompetente Politiker bereits mehrmals gerettet und dabei mächtig abkassiert. Letzten Endes bezahlte der Steuerzahler die Zeche, der kleine Mann, auf den die korrupten Kerle die Verluste in Form von höheren Steuern abwälzten, während sie selbst bei Kaviar, Austern und Champagner nur darüber lachten.

Der Kreislauf funktionierte perfekt. Deshalb musste Kowalski seine Kontakte hegen und pflegen, in Brüssel, Washington, Peking anwesend sein - überall dort, wo Entscheidungen getroffen wurden. Normalerweise reiste Lennox ständig an seiner Seite mit. Es gab Geschäfte, die erforderten, dass er selbst nicht in Erscheinung trat. Dann agierte Lennox als Strohmann. Im Moment aber hatte Lennox einen wichtigen Job in München zu erledigen. Er musste die Sache mit Albert Mendess aus der Welt schaffen, und mit Nummer 3.

Professor Albert Mendess hatte sich als ein besonders spezieller Fall entpuppt. Nicht nur wegen seiner bahnbrechenden Entdeckung.

Kowalski kam zur Sitzgruppe zurück, setzte sich und griff um das Bordtelefon. Lennox. Natürlich auf einer abhörsicheren Geheimleitung. »Und?«, bellte Kowalski in den Hörer.

Lennox berichtete seinem Boss.

»Das war alles?«, fragte Kowalski nach einer Weile. »Nichts über das Geld?«

»Kein Wort«, sagte Lennox am anderen Ende der Leitung. »Der verdammte Scheißkerl ist uns mit einem Herzinfarkt aus den Latschen gekippt, ehe wir ihn auspressen konnten.«

»Und in der ganzen Wohnung keine Spur von der Kontonummer?«

»Jeden noch so kleinen Winkel haben wir durchsucht. Nichts. Keine handschriftlichen Notizen, keine Daten am PC. Die Dateien habe ich kopiert und Chris Morgan geschickt.«

»Wenigstens etwas, Kai«, blaffte Kowalski. Chris Morgan war sein Hacker, ein Spezialist, der es meisterhaft beherrschte, in fremde Computersysteme einzudringen und Informationen abzusaugen. Morgan würde die kleinste Spur in Mendess’ Daten finden, wenn es eine gab. »Was ist mit seinem Labor und Büro bei InGenetics?«

»Haben wir uns vorgenommen, nachdem wir mit seiner Wohnung fertig waren. Auch das Labor und den Computer dort. Fehlanzeige. Keine Information, weder über Biomat 79 noch über das Konto in Liechtenstein. Chris hat auch diese Dateien. Ich glaube, Mendess hatte die Informationen alle im Kopf. Und da ist noch etwas, ein Junge …«

Am anderen Ende der Leitung hörte Lennox, wie Kowalski mit der Faust auf einen harten Gegenstand schlug. Vermutlich eine Tischplatte.

16 »Mist, verdammter!«, fluchte Kowalski. »Genau das habe ich vermutet. Ich habe Baxter noch gewarnt. Dieser unfähige Idiot wird sieben Tage die Woche rund um die Uhr für mich rennen, bis ich meine fünf Millionen zurückhabe.«

»Wieso konnte das Geld überhaupt überwiesen werden, ohne dass du zustimmtest?«, fragte Lennox. »Ich dachte, da wäre eine Sicherheit eingebaut.«

»Genau so war es auch angeordnet. So eine Hohlbirne!«