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Wer hat Angst vor der "Evalution"? So klug und engagiert heute über Diskriminierung debattiert wird, fällt auf, dass eine der wichtigsten Fragen ausgeklammert wird: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Frauen um Gleichberechtigung kämpfen müssen? Zweitausend Jahre lang lieferte die Bibel die Antwort: Weil Eva eher der Schlange als Gott vertraute, müssen all ihre Nachfahrinnen den Männern untertan sein. Auch die Biologie schob lange den Frauen die Schuld zu: Sie seien nun mal das schwache Geschlecht. Kein Wunder, dass sich ein Eva-Tabu etablierte und die Evolution gemieden wird. Es könnte ja sein, dass etwas an der herrschenden Ungerechtigkeit «natürlich» wäre. Von wegen! Die Wahrheit über Eva, über die biblische wie die biologische, zeigt: Ohne die Frauen ist der Erfolg unserer Spezies nicht zu verstehen. Und ihre Unterdrückung war alles andere als Normalität. Die solidarische, wenn auch immer delikate Beziehung der Geschlechter ist unser evolutionäres Erfolgsgeheimnis. Carel van Schaik und Kai Michel nehmen in ihrem neuen Buch zwei Millionen Jahre Menschheitsgeschichte in den Blick. Sie zeigen, wie sich die Beziehung von Frauen und Männern entwickelte und was sie massiv ins Ungleichgewicht brachte. Neue Einsichten aus Evolutionsbiologie und Genetik, Archäologie, Ethnologie und Religionswissenschaft erhellen den komplexen Prozess, der die Frauen ins Leid stürzte, aber auch den Männern alles andere als gut tat. Die Erfolgsautoren studieren das Verhalten unserer Primaten-Verwandtschaft, inspizieren phantastische Steinzeitheiligtümer und durchforsten die Bibel. Sie zeigen, warum Treue eine männliche Erfindung ist und wieso Sexualität verteufelt wurde. Sie enthüllen, was bis heute Ehe, Familie und die Sphären der Macht kontaminiert. Die Wahrheit über Eva kann helfen, die Misere der Geschlechter endlich zu beenden.
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Seitenzahl: 1012
Veröffentlichungsjahr: 2020
Carel van Schaik • Kai Michel
Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern
«Eine wahrlich männliche Meisterleistung, die Schuld an der Unterdrückung der Frauen einer Frau zuzuschreiben.»
Wer hat Angst vor der «Evalution»? So klug und engagiert heute über Diskriminierung debattiert wird, fällt auf, dass eine der wichtigsten Fragen ausgeklammert wird: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Frauen um Gleichberechtigung kämpfen müssen? Zweitausend Jahre lang lieferte die Bibel die Antwort: Weil Eva eher der Schlange als Gott vertraute, müssen all ihre Nachfahrinnen den Männern untertan sein. Auch die Biologie schob lange den Frauen die Schuld zu: Sie seien nun mal das schwache Geschlecht. Kein Wunder, dass sich ein Eva-Tabu etablierte und seither die Evolution gemieden wird. Es könnte ja sein, dass etwas an der herrschenden Ungerechtigkeit «natürlich» wäre. Von wegen! Die Wahrheit über Eva, über die biblische wie die biologische, zeigt: Ohne die Frauen ist der Erfolg unserer Spezies nicht zu verstehen. Und ihre Unterdrückung war alles andere als Normalität. Die solidarische, wenn auch immer delikate Beziehung der Geschlechter ist unser evolutionäres Erfolgsgeheimnis.
Carel van Schaik und Kai Michel nehmen in ihrem Buch zwei Millionen Jahre Menschheitsgeschichte in den Blick. Sie zeigen, wie sich die Beziehung von Frauen und Männern entwickelte und was sie massiv ins Ungleichgewicht brachte.
Neue Einsichten aus Evolutionsbiologie und Genetik, Archäologie, Ethnologie und Religionswissenschaft erhellen den komplexen Prozess, der die Frauen ins Leid stürzte, aber auch den Männern alles andere als gut tat.
Die Erfolgsautoren studieren das Verhalten unserer Primaten-Verwandtschaft, inspizieren phantastische Steinzeitheiligtümer und durchforsten die Bibel. Sie zeigen, warum Treue eine männliche Erfindung ist und wieso Sexualität verteufelt wurde. Sie enthüllen, was bis heute Ehe, Familie und die Sphären der Macht kontaminiert – und welche zentrale Rolle Religion dabei spielt. Die Wahrheit über Eva kann helfen, die Misere der Geschlechter endlich zu beenden.
Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und von 2004 bis 2018 Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Carel van Schaik ist Autor des Standardwerks «The Primate Origines of Human Nature» und ein korrespondierendes Mitglied der Royal Netherlands Academy of Sciences. Er lebt in Zürich.
Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er hat von GEO über Die Zeit bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die großen deutsch- sprachigen Medien geschrieben. Gemeinsam mit Carel van Schaik las er die Bibel aus einer evolutionären Perspektive als «Tagebuch der Menschheit», mit dem Archäologen Harald Meller legte Kai Michel den Bestseller «Die Himmelsscheibe von Nebra» vor. Er lebt als Buchautor in Zürich und im Schwarzwald.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Eva, 1896 von Lucien Levy-Dhurmer. DEA/G. DAGLI ORTI/ Getty Images
ISBN 978-3-644-00327-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Arme Eva! Seit biblischen Zeiten wird ihr die Schuld an der menschlichen Misere in die Schuhe geschoben. Weil sie auf die Schlange hörte und zur verbotenen Frucht griff, vertrieb Gott die Menschen aus dem Paradies. Seither müssen wir im Schweiße unseres Angesichts schuften, und die Frauen sind den Männern untertan. Was für eine obskure Geschichte!
Jahrhunderte, ja, Jahrtausende musste sie herhalten, um die Herrschaft der Männer über die Frauen zu legitimieren: Durch Eva seien Sünde und Tod in die Welt getreten, die Frauen damit der Ursprung allen Übels, und weil Eva nun einmal beweise, welch leichtes Spiel der Teufel mit dem weiblichen Geschlecht habe, brauche es die starke Hand der Männer. Eine wahrlich männliche Meisterleistung, die Schuld an der Unterdrückung der Frauen einer Frau zuzuschreiben.
Aber die Geschichte von Adam und Eva ist nicht nur der verhängnisvollste Mythos für die Frauen, er ist auch der aufschlussreichste. Ausgerechnet die aller feministischer Parteinahme unverdächtige Bibel belegt, dass Frauen den Männern nicht schon immer untertan waren: Gott hatte nicht von Anfang an geplant, die Frauen zum dienenden Geschlecht zu machen. Das war eine Strafe. Die Botschaft der Bibel lautet: Die weibliche Unterordnung ist ein historisches Produkt; sie ist weder göttliche Wesensbestimmung noch biologisches Schicksal. Und selbst aus agnostischer Perspektive ist festzustellen: Die Bibel hat recht.
Die Autoren der Genesis waren sich damit einer Sache sicher, die heute zum Mysterium geworden ist. Obwohl kaum mehr jemand an die Geschichte mit Gott und der Schlange glaubt, existiert auf die Frage, was die Frauen zum angeblich schwachen Geschlecht machte, keine allgemein anerkannte Erklärung. Wie kam es überhaupt dazu, dass Frauen um Gleichberechtigung kämpfen müssen? Oder waren sie schon immer das zweite Geschlecht?
Das war einmal anders. Vor dreißig, vierzig Jahren trugen Frauen T-Shirts, auf denen sie stolz verkündeten, 5000 Jahre männlicher Unterdrückung überlebt zu haben.[1] Heute dagegen wird das Thema gemieden. Selten wird in der aktuellen Literatur wenigstens einmal eine Jahresangabe gemacht, seit wann Frauen systematisch benachteiligt werden, stets ohne weitere Erklärung. Mal werden 2000 Jahre genannt, mal 40000 Jahre, mal 200000 Jahre.[2] Bedeutet das etwas anderes als: Wir wissen es nicht?
Ebenso unklar ist, was die männliche Dominanz verschuldete: Sind es kulturelle Gründe? Ist es die Biologie? Beides? Selbst wenn die Geschlechter nur kulturelle Konstruktionen ohne biologische Verankerung sein sollten, wie heute vielfach angenommen, drängt sich die Frage auf: Wie kam es zur strikten Einteilung in Frauen und Männer? Und wieso dominieren nicht Frauen? Oder ist die Biologie doch entscheidend? Gehört die Welt schon immer den Männern, wie Simone de Beauvoir mutmaßte? Besteht die «männliche Herrschaft» tatsächlich bereits, «seit es Männer und Frauen gibt», so Pierre Bourdieu?[3] Doch gerade die Biologie wird von weiten Teilen des heutigen Feminismus gemieden, um nicht zu sagen: tabuisiert.
Mit alldem hängt zusammen, dass wir aktuell nicht einmal wissen, wie das zu nennen ist, was Frauen die Freiheit nimmt. Ein Begriff erlebt sein Revival, den der Feminismus schon lange als eher untaugliche Analysekategorie in der Mottenkiste entsorgt hatte: das «Patriarchat».[4] Sein Comeback verdankt er dem tiefen Bedürfnis, das, was das Leben vieler Frauen massiv erschwert, beim Namen nennen zu können.[5] Was aber das Patriarchat nun genau ist, wie es sich zur Macht aufschwang und diese über Jahrtausende und unzählige Kulturen hinweg behaupten konnte – auch darauf fehlen Antworten.
Wie kann das sein? Steht die Frage nach dem wahren Sündenfall in Sachen Geschlechtergerechtigkeit auf dem Index? Gibt es ein Eva-Tabu, das verhindert, herauszufinden, was wirklich geschah? Das beredte Schweigen über die möglichen Ursachen erstaunt. Schließlich wird ansonsten außerordentlich klug und engagiert über Gleichstellung debattiert, ebenso werden die Missstände sorgfältig und kritisch analysiert, um herauszufinden, wie endlich die systematische Benachteiligung von Frauen zu beseitigen ist. Müsste da nicht der Frage, was die Frauen überhaupt erst ins Elend stürzte, besondere Aufmerksamkeit zukommen? Wenn das, dessen Namen wir nicht kennen, aus der Welt geschafft werden soll, dann sollten wir doch wissen, wie es überhaupt in die Welt kam. Die Lösung eines Problems beginnt gewöhnlich mit einer Diagnose der Ursachen. Ansonsten besteht die Gefahr, an Symptomen herumzudoktern. Warum geschieht das nicht? Verschlusssache Eva?
Nun lässt sich einwenden: Seht euch doch an, wie quicklebendig der vor einigen Jahren schon zu Grabe getragene Feminismus heute ist! So divers, laut, kreativ, mutig und erfolgreich – kann es sein, dass diese Frage nicht entscheidend ist? Zumal viele feministische Denkerinnen und Denker völlig zu Recht darauf verweisen, dass man sich heute nicht mehr allein auf die alte Frauen-Männer-Problematik kaprizieren dürfe. Es gilt, die Vielzahl der Diskriminierungen in den Blick zu nehmen, die sich überschneiden, verstärken, potenzieren: Es wird nach Gender, Sex, Ethnizität, sozialer Herkunft, Besitz, Bildung, Gesundheit, Körper, Alter und mehr diskriminiert. Intersektionalität ist das Gebot der Stunde.
Versuchen wir uns also an einem Buch, an dem gar kein Bedarf besteht? In Zeiten von «Mansplaining» wäre das ja keine Überraschung: Dinge erklären, welche Frauen längst schon besser wissen.[6] Nein, wir glauben nicht (welch erstaunliche Antwort!). Dieses Buch ist weder ein Buch über Frauen noch für Frauen. Dieses Buch ist eine andere Geschichte der Menschheit. Schließlich gilt Eva als die erste Frau der Menschheitsgeschichte. Wir möchten nachvollziehen, wie die Welt so schrecklich ungerecht werden konnte, und wollen verstehen, wie es zur evolutionär betrachtet recht jungen Erfindung der sozialen Ungleichheit von Frauen und Männern kommen konnte. Dafür nehmen wir das Abenteuer auf uns, zwei Millionen Jahre menschlicher Evolution zu durchstreifen und Phänomene zu begutachten, von denen wir hoffen, dass ihre Kenntnis die aktuellen Geschlechterdebatten bereichern werden. So gerät auch die Frage, welch elementare Rolle Religion in diesem Kontext spielte, in den Fokus.
Aufgrund unserer eigenen Vorarbeiten sind wir der Ansicht, dass es höchste Zeit ist, Eva nach zweitausend Jahren endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; insbesondere da es spektakuläre Neuigkeiten in Sachen Paradies gibt. Ebenso glauben wir, dass es eine Überraschung sein dürfte, dass ausgerechnet die Biologie einen entscheidenden Beitrag zur Emanzipation leisten kann, zumal es um Prozesse geht, die uns alle betreffen, egal welchem Geschlecht wir uns zugehörig fühlen. Vor allem befürchten wir, dass die Unwissenheit, was die Ungleichheit von Frauen und Männern bewirkte, sich zur Bedrohung für die Emanzipation auswachsen könnte – wenn nicht zu Schlimmerem.
Nun ist bereits von feministischer Seite kritisiert worden, dass bisher versäumt wurde, eine zeitgemäße Erklärung vorzulegen, warum die Männer durch die Zeiten hinweg die privilegierte Position einnahmen und wie es ihnen gelang, diese stets aufs Neue zu behaupten.[7] Gerade forderte Mary Beard, Cambridge-Professorin für Alte Geschichte, in ihrem Manifest Frauen und Macht, es sei an der Zeit, «über die schlichte Diagnose ‹Frauenfeindlichkeit› hinauszukommen», denn die sei «ein wenig bequem». Möchte man «den Frauen – und nicht nur einigen zielstrebigen Einzelpersonen – zu ihrem Platz innerhalb der Machtstrukturen verhelfen …, müssen wir intensiver darüber nachdenken, wie und warum wir so denken, wie wir es tun. Wenn es ein kulturelles Muster gibt, das Frauen von der Macht fernhält, wie genau sieht es aus, und woher haben wir es?»[8]
Das Fehlen einer Erklärung ist durchaus heikel. Denn wenn es an Wissen fehlt, blüht die Spekulation – vielleicht nicht so sehr in feministischen Kreisen, wohl aber in der Gesellschaft. Zugegeben, wir haben eine Weile überlegt, welches Beispiel wir wählen sollen. Dieses hier illustriert die Problematik in einem ebenso prominenten wie relevanten Fall, auch haben wir es mit einem Autor zu tun, der über jedem Verdacht steht, antifeministische Positionen zu vertreten. Im Gegenteil, Yuval Noah Harari bezeichnete unlängst Journalisten gegenüber den Feminismus als «die größte Revolution des 21. Jahrhunderts».[9] Was ihm in unserem Kontext aber Relevanz verleiht: Sein Bestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit ist mit über zehn Millionen verkauften Exemplaren das weltweit erfolgreichste und damit einflussreichste Geschichtsbuch unserer Tage. Gerade deshalb sollten wir uns ansehen, was er zum Thema zu sagen hat.
Harari stellt sich der ansonsten eher weitgehend gemiedenen Frage, wie es zur schier universellen Schlechterstellung der Frauen kommen konnte. Doch auch er kann da nur mit den Achseln zucken, ohne es aber dabei zu belassen. Er schreibt: «Obwohl jede Kultur Männer und Frauen anders definiert, ist daher anzunehmen, dass es auch biologische Gründe gibt, warum fast alle Kulturen der Männlichkeit gegenüber der Weiblichkeit den Vorzug geben. Was diese Gründe sein könnten, wissen wir nicht; es gibt zwar viele Theorien, doch keine ist völlig schlüssig.»[10]
Hier wird es spannend: biologische Gründe, warum fast alle Kulturen der Männlichkeit gegenüber der Weiblichkeit den Vorzug geben? Ist das anders zu verstehen, als dass die Männer den Frauen irgendwie überlegen sind, und zwar von Natur aus? Im Weiteren referiert Harari ausführlich mögliche Ursachen für die weibliche Zurücksetzung – physische Überlegenheit der Männer, männliche Aggressivität, patriarchale Gene –, um jedes Mal abzuwinken. Schließlich präsentiert er seine eigene Spekulation zum Ursprung männlicher Dominanz. Zunächst fragt er: «Wie kam es, dass es in einer Art, deren Erfolg vor allem von der Kooperation abhängt, eine vermeintlich kooperativere Gruppe, nämlich die Frauen, von einer vermeintlich weniger kooperativen Gruppe, nämlich den Männern, beherrscht wird?» Dann insinuiert er: «Vielleicht ist ja schon die Grundannahme falsch. Könnte es sein, dass sich die männlichen Angehörigen der Homo sapiens gerade nicht durch überlegene Körperkraft, Aggressivität und Konkurrenzfähigkeit auszeichnen, sondern durch überlegene Sozialkompetenz und größere Kooperationsbereitschaft?»
Zwar fügt Harari sofort an: «Auf diese Fragen haben wir keine Antwort»[11] und wechselt das Thema – doch da ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Längst rumort es in den Köpfen der Leserinnen und Leser: «Sind Frauen also von Natur aus weniger kooperativ als Männer? Sozial inkompetent?» Gleich drängen sich die nächsten Gedanken auf: «Ja, Stutenbissigkeit, davon habe ich auch schon gehört! Sollte man nicht lieber nur Männern verantwortungsvolle Positionen anvertrauen? Wohin soll das führen, wenn kooperationsunfähige Frauen Unternehmen leiten oder gar Staaten lenken?»
Wir möchten Harari nicht das Geringste unterstellen; auch bei anderen Themen stellt er Vermutungen an, nicht zuletzt um Spannung zu erzeugen. Das Beispiel zeigt nur sehr schön, wie Nichtwissen Spekulationen ins Kraut schießen lässt. Menschen können nicht anders, diesem Phänomen werden wir öfter begegnen. Jede und jeder hat seine eigene Vermutung darüber im Kopf, was für das ungleiche Schicksal von Frauen und Männern verantwortlich ist. Ausgesprochen werden sie selten.
Das führt dazu, dass sich ein Elefant im Raum befindet, über den keiner recht zu sprechen wagt, wie man im Englischen sagen würde, also ein Bedenken, eine unangenehme Angelegenheit, über die alle schweigen, die aber alle belastet. So spukt die Furcht herum, dass es doch wie auch immer geartete biologische Gründe waren, die Männer in die gesellschaftliche Pole-Position brachten. Wären dann nicht alle Emanzipationsversuche «unnatürlich»? Chancenlos? Sind die Frauen also selbst schuld? Weil sie schlicht unfähig sind, sich ihren Platz zu sichern, weil sie sich stets zerstreiten, eben doch «von Natur aus» nicht untereinander harmonieren?
Oder liegt die Schuld bei den Männern? Deutet die grassierende Misogynie nicht darauf hin? Handelt es sich bei der Abwertung und Erniedrigung von Frauen um die «Male Malady», um die «männliche Krankheit», wie der Anthropologieprofessor David D. Gilmore schon vor Jahren behauptete?[12] Dann steckte der Frauenhass den Männern in den Genen! Zumindest würde das erklären, warum es auch nach so vielen Jahren Emanzipation noch immer zu all den Ungerechtigkeiten, zu Sexismen ohne Ende und zu massiver Gewalt gegen Frauen kommt. Befinden wir uns also im ewigen Geschlechterkrieg? Ist es an der Zeit, zur Schaufel zu greifen, den Traum von der Gleichberechtigung zu begraben, und anschließend die Reihen fest zu schließen und aufzurüsten?
Die Gegenseite hat längst damit begonnen – und den blinden Fleck in Sachen Biologie als weiche Flanke des Feminismus ausgemacht. Die Zahl der Männer nimmt zu, die sich von «den Frauen» in die Defensive gedrängt fühlen. Sie scheuen nicht vor pseudowissenschaftlichen Verteidigungsstrategien zurück: «Es ist die Natur in Gestalt der Frau, die bei der Hälfte der Männer von vornherein nein sagt. Für Männer ist dies die ultimative Begegnung mit dem alles vernichtenden Chaos – und zwar jedes Mal, wenn sie einen Korb bekommen.» Wer das sagt? Jener Psychologieprofessor, der längst nicht mehr nur via YouTube ein Millionenpublikum beglückt und eine Generation junger Männer prägt: Jordan B. Peterson. Es sei «weibliches Anspruchsdenken», das «die menschliche Spezies zu dem gemacht hat, was sie heute ist, ein aggressives, dominantes, höchst aktives kreatives Wesen mit aufrechtem Gang und großem Hirn.» Wie das? Weil die Frauen immer gnadenlos nur die stärksten Exemplare ausgewählt haben: «Frauen verunsichern Männer seit Anbeginn der Zeit. Sie tun dies mit Abweisung … Das ist kein Wunder, denn sie tragen die Hauptlast der Reproduktion, daher kann es gar nicht anders sein. Die Fähigkeit, Männer zu beschämen, ist nach wie vor eine äußerst scharfe Waffe der Natur.» Was bleibt den Männern anderes übrig, um nicht auf der Strecke zu bleiben, als sich wahre Helden aus der guten alten Zeit zum Rollenmodell zu wählen: Clark Gable? John Wayne? James Bond? Nein, Peterson setzt auf die Champions der Evolution: «Nehmen Sie sie sich ein Beispiel an dem siegreichen Hummer mit seinen dreihundertfünfzig Millionen Jahren Erfahrung. Stehen Sie aufrecht und machen Sie die Schultern breit!»[13]
Höchste Zeit, die Furcht vor der Biologie aufzugeben. Denn nicht zuletzt deren weitverbreitete Unkenntnis führt dazu, dass kuriose Behauptungen wie die gerade eben zitierten überhaupt aufgestellt werden können. Und in populistischen Zeiten wie den unseren fallen sie leicht auf fruchtbaren Boden. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Längst ist der Antifeminismus zum selbstverständlichen Teil verschwörungstheoretischer Wahngebilde rechtsextremer und rassistischer Kreise geworden: Die Emanzipation solle die Frauen ihrer «natürlichen Bestimmung», dem Gebären, entfremden, um die «Auslöschung der weißen Rasse» voranzutreiben.[14]
Deshalb ist dieses Buch ein Versuch, den eben vorgestellten Elefanten zurück in die Wildnis zu scheuchen. Wir möchten die Furcht, irgendetwas an der Ungleichheit könnte «natürlich» sein, aus der Welt räumen. Nicht, weil einer von uns beiden als Primatologe lange Zeit im Dschungel Indonesiens Orang-Utans erforschte und deshalb zumindest über ein wenig Erfahrung mit Elefanten verfügt. Nein, wir, ein Evolutionsbiologe und ein Kulturwissenschaftler, glauben, rekonstruieren zu können, was tatsächlich schiefgelaufen ist zwischen Frauen und Männern. Wir kennen uns mit der biblischen Eva ebenso aus wie mit der biologischen Eva und möchten in diesem Buch zeigen: An der Diskriminierung der Frauen ist weder etwas gott- noch naturgewollt.
In unserem letzten Buch haben wir die Bibel einer evolutionären Lektüre unterzogen. Als Agnostiker lasen wir sie nicht als Heilige Schrift oder Wort Gottes, sondern als ein Tagebuch der Menschheit, das die Versuche der Menschen dokumentierte, sich in einer Welt einzurichten, für die sie nicht gemacht zu sein scheinen. Tatsächlich konnten wir zeigen, dass das Buch der Bücher eine phantastische Quelle für die kulturelle Evolution des Homo sapiens ist, die nach dessen Übergang zum sesshaften Leben rasant an Fahrt aufnahm. Die Bibel lässt uns in einer evolutionären Perspektive viele Probleme besser verstehen, mit denen wir uns heute noch herumschlagen, und geht uns deshalb selbst dann an, wenn wir gar nicht an Gott glauben.
Damals beschäftigten uns eine Reihe von Fragen, die uns seither nicht mehr losgelassen haben: Warum muss die Bibel gleich auf den ersten Seiten ausdrücklich feststellen, dass Gott die Frauen den Männern unterworfen hatte, und zwar als Strafe? Wie konnte ausgerechnet aus der Frauen so offen gegenüberstehenden Jesus-Bewegung eine Institution werden, der man nicht allzu unrecht tut, wenn man sie als das Fort Knox des Patriarchats bezeichnet: die katholische Kirche? Und warum verteufelte das Christentum die Sexualität mit größter Obsession, insbesondere in seiner weiblichen Gestalt?
Auch auf vielen Veranstaltungen konfrontierte uns das Publikum mit solchen Fragen. Vor allem mit jener, wie sich die Rolle der Frauen in der menschlichen Evolution darstellte – und es waren so gut wie immer Frauen, die diese Frage stellten. Tatsächlich beginnt die Geschlechterthematik erst dann so richtig zu schillern, wenn man die Perspektive weitet und erkennt, dass ein relativ egalitäres Geschlechterverhältnis und die starke und aktive Position der Frauen das Erfolgsgeheimnis der Gattung Homo waren. Und dass die Sexualität in der menschlichen Evolution zwar immer ein durchaus heikles, aber alles andere als sündhaftes Terrain war.
Um ein Beispiel zu geben: Wie steht es um die lebenslange Monogamie, wie sie den Menschen in biblischer Tradition vorgeschrieben wird? Die !Kung-Frau Nisa, über die uns die Ethnologin Marjorie Shostak detailliert berichtete, hatte in ihrem Leben vier Ehemänner und acht Liebhaber. Das deckt sich mit den Beobachtungen bei den Aché, die bis vor nicht allzu langer Zeit im Bergland Paraguays noch als Jäger und Sammler lebten: Dort waren Frauen durchschnittlich mit zwölf Männern im Laufe ihres Lebens zusammen.[15] Auch wenn das nicht immer diese Ausmaße hatte, lässt sich konstatieren: Serielle Monogamie ist ein alter Hut. Was uns daran brennend interessierte: Warum verloren die Frauen diese Freiheit? Woher kommt das Ideal lebenslanger Treue? Und wieso ist das patriarchale System so hartnäckig und robust, dass es sich heute – allen Fortschritten zum Trotz – immer noch halten kann? Wir beschlossen, uns auf die Suche nach der Wahrheit über Eva zu begeben.
Um nicht missverstanden zu werden: Damit ist keinesfalls die Wahrheit über die Frauen gemeint – die es natürlich nicht gibt! –, sondern die Aufklärung dessen, was zur Erfindung der sozialen Ungleichheit von Frauen und Männern führte. Wir werden uns dabei um die biblische Eva ebenso wie um die biologischen Evas kümmern, aber die Männer nicht links liegenlassen. Dafür werden wir uns in die Tiefen der Menschheitsgeschichte begeben und es nicht versäumen, uns bei unserer Primatenverwandtschaft umzuschauen.
Das ist das Herausfordernde unseres interdisziplinären Ansatzes: Wir verbinden Biologie und Geschichte! Wir interessieren uns für Bonobo-Sex genauso wie für Venusfigurinen, rätselhafte Steinzeitheiligtümer, mesopotamische Götterkönige, die Apostelin Maria Magdalena und die Erbsündenlehre des Augustinus von Hippo. Das mag überraschend klingen, doch brauchen wir all das (und noch viel mehr), um zu rekonstruieren, was da bei unseren Vorfahren ins Arge geraten ist und warum.
Besonders wichtig ist uns, die in diesem Kontext vernachlässigten biologischen und evolutionären Grundlagen des Homo sapiens vorzustellen. Wir werden erklären, wie die biologische Evolution funktioniert, um klarzustellen, dass Menschen eben nur zu verstehen sind, wenn man auch die kulturelle Evolution einbezieht. Beide haben uns, wie wir zeigen werden, zu Menschen mit mindestens drei Naturen werden lassen. Auf dieser Basis können wir Mythen entlarven wie den der natürlichen Überlegenheit des Mannes. Dann auch werden jene menschheitsgeschichtlichen Entwicklungen nachvollziehbar, welche die Frauen in die Defensive drängten.
Dass das einen einzigen Grund gehabt haben könnte, wie zuweilen angenommen (Eva! Männliche Kraft! Erfindung der Landwirtschaft! Der Pflug! Paulus! Die Kirche!), ist eine zu simple Annahme. Wäre die Angelegenheit so eindeutig, wären wir das Problem längst los. Wir haben es hier mit einem vielgestaltigen, den negativen Konsequenzen zum Trotz durchaus faszinierenden Prozess zu tun. Wir werden einiges neues oder wenigstens weitgehend unbekanntes Material präsentieren. Dadurch geraten Ungerechtigkeitsproduzenten in den Fokus, die bisher zu wenig Aufmerksamkeit erfahren haben.
Uns ist es wichtig, dieses reichhaltige Wissen zur Diskussion zu stellen; es ist ebenso aufschlussreich wie spannend. Wir möchten damit andere Positionen nicht in Frage stellen, sondern zeigen, dass es keinen Grund gibt, die evolutionäre Perspektive zu fürchten. Unsere Parole lautet deshalb: Fort mit dem Elefanten! Willkommen zur Evalution!
Doch zunächst einmal zu dem, was wir plakativ das Eva-Tabu nennen. Wie konnte es dazu kommen? Die Fragen, wie das mit Frauen und Männern seinen Anfang nahm und welchen Ursprung die Geschlechter-Querelen haben, sind doch viel zu wichtig. Nun klingt Tabu nach Ignoranz und Aberglauben – das ist nicht der Fall. Das Eva-Tabu ist eine vernünftige Angelegenheit gewesen. Es hat lange Zeit die Emanzipation geschützt. Ohne das Eva-Tabu stünde es in Sachen Gleichberechtigung heute bedeutend schlechter.
Es ist ja nicht so, als hätte der Feminismus sich die Frage nie gestellt, wie es zur Unterdrückung der Frauen kommen konnte. Im Gegenteil! Das war eines der dominierenden Themen der zweiten Welle der Frauenbewegung. Von Simone de Beauvoir über Kate Millett bis zu Bestseller-Autorinnen wie Rosalind Miles oder Riane Eisler – sie alle versuchten im letzten Jahrhundert zu ergründen, was die Frauen in Schwierigkeiten gestürzt hatte. Sie hatten bloß das Pech, zu früh zu kommen.
Sie standen vor einer Mammutaufgabe. Die Wissenschaft war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine Männerwelt, die sich vor allem auf Männerthemen konzentrierte. Zudem stammte die Masse der historischen Quellen aus Männerhand. Die Vergangenheit hatte in Sachen Frauen kaum etwas anderes zu bieten als weiße Flecken und Fragezeichen. Was das Unterfangen weiter erschwerte: Als geschichtswürdig galten nach dem klassischen Verständnis männlicher Historiker des 19. Jahrhunderts nur jene «Zivilisationen», welche die Schrift besaßen. Das aber sind so gut wie ausschließlich Kulturen, die über staatliche Herrschaftsstrukturen verfügten und patriarchal organisiert waren.
Um also die Anfänge der Männerdominanz zu ergründen, mussten die schriftlose Vorgeschichte, die «Steinzeit», aber auch nichtstaatliche außereuropäische Kulturen in den Blick genommen werden. Das jedoch war aus den gerade genannten Gründen schwieriges Terrain: Angesichts beschränkter Möglichkeiten, nichtschriftliche Quellen zum Sprechen zu bringen, war die wissenschaftlich gesicherte Basis hier noch dünner als andernorts. Kurz, die feministischen Pionierinnen hatten mit dem Problem zu kämpfen, dass es an Forschung, Methoden und universitärer Unterstützung fehlte. Doch das Interesse war ebenso groß wie die Sehnsucht, bisher unentdeckte weibliche Erfahrungswelten und verschüttete Traditionen verlorener Frauenmacht freizulegen. Auch hier wurde fehlendes Wissen nicht selten mit Spekulationen gefüllt: Von männlicher Kastrationsangst über die neidvolle Urfurcht des Mannes vor dem gebärenden Weib bis hin zum Menstruationshorror und ja selbst der Wasseraffenhypothese gab es kaum eine Theorie, die von Autoren jederlei Geschlechts nicht bemüht wurde, um zu erklären, was da in grauer Vorzeit zwischen Männern und Frauen aus dem Ruder gelaufen sein könnte.
Theorien des 19. Jahrhunderts wie die einer ursprünglichen Frauenherrschaft, des Matriarchats im Zeichen der Großen Göttin, erlebten ein Revival. Frauenbewegte New-Age-Strömungen gaben sich dem fröhlich hin, selbst wenn wenig dafür sprach, es könne sich um mehr als Wunschgebilde handeln. Die Folge: Das Thema wurde esoterisch. Der feministische Mainstream wandte sich ab, just zu einem Zeitpunkt, als Historikerinnen wie Gerda Lerner oder Archäologinnen wie Margaret Ehrenberg wissenschaftlich fundierte Beiträge zu einer Genealogie der Männerherrschaft vorlegten, denen aber deshalb die volle Wirkung verwehrt blieb.[16] Immerhin hatte die Frauenforschung auch so mehr als genug zu tun.
Die größte Schuld am Eva-Tabu tragen jedoch Biologie und Evolutionstheorie. Die Evolutionsbiologin Sarah Blaffer Hrdy verortet das Unheil schon bei Charles Darwin (1809–1882): «In einer Passage, an die sich nur wenige Evolutionsbiologen gern erinnern und die nur wenige Feministinnen vergessen können», so Hrdy, ließ sich der Begründer der Evolutionswissenschaft zu folgender Behauptung hinreißen: «Der Hauptunterschied der geistigen Fähigkeiten der Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und Hände erfordern.» Darwins Kollegen wie Herbert Spencer (1820–1903) gingen noch weiter und warnten vor der Gefahr, die dem Überleben der menschlichen Art durch intellektuelle Frauen drohte. Denn die Ausbildung von Intelligenz ginge auf Kosten ihres Reproduktionsapparats. «Kein Wunder», kommentiert Sarah Hrdy lakonisch, «dass Frauen der Biologie den Rücken kehrten.»[17]
Doch das taten sie nicht sofort. Sie versuchten zunächst, den Anspruch, nicht das zweite Geschlecht zu sein, wissenschaftlich zu untermauern. Man greife nur zur Bibel des Feminismus, Simone de Beauvoirs 1949 veröffentlichtes Das andere Geschlecht. Ins allgemeine Gedächtnis hat sich die Sentenz eingebrannt: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.» Vergessen wird dabei oft, dass de Beauvoir sich ausführlich mit den «biologischen Gegebenheiten» bis in die Feinheiten der weiblichen Physiognomie hinein beschäftigte. Sie begriff sie als «Schlüssel zum Verständnis der Frau», lehnte aber die Vorstellung ab, dass sie für Frauen ein festgelegtes Schicksal bedeuteten. Die biologischen Gegebenheiten «reichen nicht aus, eine Hierarchie der Geschlechter zu bestimmen; sie erklären nicht, weshalb die Frau das Andere ist, und sie verurteilen sie nicht dazu, diese untergeordnete Rolle für immer beizubehalten».[18]
Doch es finden sich eine Reihe von Passagen, die für Verunsicherung sorgten: Die Frau sei – «so weit die Geschichte zurückreicht» – dem «Mann immer untergeordnet gewesen», weil «der weibliche Mensch … unmittelbarer der Art ausgeliefert» sei als der männliche, und «durch die Erfindung des Werkzeugs ist der Lebensunterhalt für den Mann Tätigkeit und Entwurf geworden, während die Frau durch Mutterschaft an ihren Körper gefesselt blieb wie das Tier».[19] Tatsächlich gab de Beauvoir den Kenntnisstand einer männlich geprägten Biologie und Anthropologie wieder, der heute obsolet ist. Sie mochte noch so klar postulieren: «Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt»[20] – vieles, was sie referierte, klang nach den alten Konnotationen des «weiblichen Wesens» mit Natur, Passivität, Mutterschicksal. Das passte nicht recht zum großen Aufbruch des Feminismus.
Nun versuchten vor allem Anthropologinnen und Ethnologinnen die vielfältigen und aktiven Rollen der Frauen in nichtschriftlichen Kulturen herauszuarbeiten – insbesondere, um die damals dominante «Man the Hunter»-Theorie, die den jagenden Mann als Lichtbringer des Menschengeschlechts feierte, zu dekonstruieren. Ab Mitte der 1970er Jahre trat dann jedoch die Soziobiologie mit dem Anspruch an, nun auch die menschliche Kultur erklären zu können und damit die Sozialwissenschaften überflüssig zu machen. Vieles klang deterministisch, so als würden ausschließlich die Gene das Verhalten, die Geschlechterrollen und damit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Auch der bald folgende mediale Erfolg der in ihren Anfängen mitunter etwas simpel gestrickten Evolutionären Psychologie war vielen ein Graus. Sie wollte so ziemlich alles biologisch erklären und damit noch jedes bestehende Geschlechterklischee «naturalisieren». Bücher wie Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken erreichten trotzdem ein Millionenpublikum.[21]
Da blieb eigentlich nur eine Konsequenz: Wollte die Frauenbewegung das große Projekt der Emanzipation nicht gefährden, musste man sich einer Biologie verweigern, die den biblischen Straffluch über die Frauen mit wissenschaftlicher Autorität zu verewigen schien. «Biologismus» und «Evolutionismus» avancierten zu veritablen Schimpfwörtern. Extrempositionen verfluchten die Biologie sogar als «Ideologie», «erfunden zu dem Zweck, einen Teil der Menschheit als ‹Frauen› auszugrenzen und dann ungestraft ausbeuten zu können».[22] Die Biologie-Aversion verfestigte sich immer mehr zu dem, was wir das Eva-Tabu nennen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen,[23] mied man es fortan von feministischer Seite, nach evolutionären Wurzeln der Unterdrückung zu suchen. Es gab ja mehr als genug anderes zu tun. Wir haben es entsprechend mit einem Schutz-Tabu zu tun, das die Sache der Emanzipation gegen Wissenschaften verteidigte, die noch chauvinistisch kontaminiert waren.
Mittlerweile jedoch bereitet das Eva-Tabu eine Reihe von Schwierigkeiten, die der Emanzipation nicht zuträglich sind. Wir sehen vor allem drei Mankos.
Einst als Reaktion auf patriarchale Biologie entstanden, hat das Eva-Tabu dazu geführt, dass nicht registriert wurde: Die Biologie und die benachbarten Wissenschaften haben sich emanzipiert! Niemand glaubt mehr an genetischen Determinismus menschlichen Verhaltens oder eine kontinuierliche Höherentwicklung in der Evolution, geschweige denn an «passive Weibchen». Massive Fortschritte wurden gemacht – und das ist eine feministische Erfolgsgeschichte. Sie verdankt sich in wesentlichen Teilen Frauen, welche die Wissenschaften von innen verändert haben. Schon in den 1970ern und 1980ern waren es Ethnologinnen wie Peggy Reeves Sanday, Kathleen Gough, Patricia Draper und Eleanor Leacock, die zeigten, dass das Patriarchat keinesfalls eine unvermeidliche Universalie sein konnte. Und dann waren da so wichtige wie engagierte Primatologinnen wie Barbara Smuts und Sarah Hrdy am Werk.[24]
Um zu zeigen, was sie zu bieten haben, hier ein Zitat von Hrdy, aus ihrem zwar bekannten, aber eben doch viel zu wenig rezipiertem Buch: Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution:
Arbeitende Mütter sind nichts Neues. Die meiste Zeit, seit es Menschen gibt, und schon Millionen Jahre zuvor haben Primatenmütter in ihrem Leben Produktion und Reproduktion miteinander verbunden. Diese Kombination aus Arbeit und Mutterschaft hat immer Kompromisse erfordert. Entweder nahmen Mütter energetische Kosten und einen Verlust an Effizienz in Kauf, wenn sie ihre Babys überallhin mitschleppten (wie es Pavian- und !Kung-Mütter tun), oder sie fanden eine Allomutter, die sich solange um das Kind kümmerte. Neu für moderne Mütter ist allerdings die deutliche Trennung von produktivem und reproduktivem Leben. Die Fabriken, Labors und Büros, in die sich die Frauen des postindustriellen Zeitalters begeben, um «Nahrung zu suchen», sind mit der Versorgung von Kindern noch weitaus weniger vereinbar als Wälder voller Jaguare und weit entfernte Gehölze mit Mongongonussbäumen, zu denen man nur nach Durchquerung einer Wüste gelangt.[25]
Auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen wie Genetik, Archäologie und Geschichte haben Frauen – aber nicht nur – dafür gesorgt, dass der Männerfokus überwunden werden konnte. Zugleich hat der wissenschaftliche Fortschritt in den für diese Fragestellung wichtigen Bereichen Berge neuen, faszinierenden Wissens produziert. Sich dem zu verschließen, würde jede Menge Frauen vor den Kopf stoßen. Vor allem birgt es die Gefahr, sich dem Vorwurf der Ignoranz und Wissenschaftsskepsis auszusetzen.[26] Was auffällt und auch schon von feministischer Seite kritisiert wurde: Das Wissen über Biologie und Evolution ist in nicht wenigen Kreisen auf dem Stand des letzten, manchmal sogar des vorletzten Jahrhunderts stehengeblieben. Tatsächlich arbeitet man sich häufig an längst überholten Klischees ab – und kämpft damit gegen Windmühlen, die man für Riesen hält.[27] So macht man es Gegnern leicht, zu unterstellen, hinter der «feministischen Biophobie»[28] verberge sich nur die Angst vor der Wahrheit.
Weil man im Dunkeln tappt, was nun hinter der real zu beobachtenden sozialen Ungleichheit steckt und man mit einem biologischen Wissen vorliebnehmen muss, das alles andere als up to date ist, kommt es zu einer unnötigen, teils vehement geführten Stellvertreter-Debatte: zum Streit um die Natur und Kultur der Geschlechtsunterschiede. Denn da noch immer unklar ist, was nun ursprünglich zur traditionellen Rollenverteilung führte, und deshalb der unausgesprochene Verdacht im Raum steht, die menschliche Biologie könnte doch irgendwie Schuld tragen, wird versucht, jeden angeblich biologischen Geschlechtsunterschied als kulturell zu entlarven. Weil ansonsten die Gefahr bestünde, so wird befürchtet, die Geschlechterhierarchie sei eben doch unveränderlich und jeder Änderungsversuch «gegen die Natur».
Gerda Lerner bringt diesen Gedanken in ihrer Entstehung des Patriarchats auf den Punkt: «Meine Arbeit gründet sich auf die Überzeugung, die von der Mehrzahl der feministisch Denkenden geteilt wird, nämlich, dass das Patriarchat als ein System sozialer Beziehungen ein Produkt der historischen Entwicklung ist und also auch durch historische Prozesse beendet werden kann. Wäre das Patriarchat ‹natürlich›, d.h. biologisch determiniert, dann käme eine Änderung dieses Herrschaftssystems einem Eingriff in die Natur gleich.»[29]
Viele Feministinnen assoziieren die Idee biologischer Geschlechtsunterschiede automatisch mit der Hoffnungslosigkeit sozialen Wandels, befand schon Griet Vandermassen vom Zentrum für Gender Studies der Universität Gent.[30] Und Doris Bischof-Köhler, Professorin für Psychologie und Autorin des Standardwerks Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, berichtet, dass es in gewissen intellektuellen Kreisen nicht einmal möglich sei, die Frage zu stellen, ob zu beobachtende Unterschiede zwischen den Geschlechtern eine natürliche Basis haben könnten. Die Frage «wird – günstigstenfalls – für hoffnungslos obsolet oder ihre Proponenten als ‹biologistisch› abgestempelt. ‹Biologie› ist eben ein Reizthema; wenn es anklingt, dann schlagen die Emotionen hoch, die Diskussion wird unsachlich bis hin zur moralischen Diffamierung und dem Vorwurf, die Sache der Frauen zu verraten.»[31]
Wir haben es hier gleich mit zwei populären Fehlschlüssen zu tun. Der erste ist der moralistische Fehlschluss: Wenn etwas moralisch nicht wünschenswert ist, besteht die Tendenz, dessen «Existenz überhaupt zu leugnen, ‹weil nicht sein kann, was nicht sein darf›». Biologische Geschlechtsunterschiede darf es nicht geben, weil man sie zur Legitimation von Diskriminierung heranziehen könnte.[32] Das aber ist schon der zweite Fehlschluss, der naturalistische Fehlschluss, den bereits der schottische Aufklärungsphilosoph David Hume beklagte. Es ist unzulässig, vom Sein auf ein Sollen zu schließen. «Natürlich» wie auch «ursprünglich» sind in keiner Weise normativ. Ohnehin haben wir es bei der Evolution mit einem Prozess ständiger Veränderungen zu tun, bei dem es willkürlich wäre, einen temporären Zustand absolut zu setzen. Auch ist die Evolution keine «Schöpferin», welche die Dinge aus bestimmten Gründen erschaffen und mit bestimmten Intentionen ausgestattet hätte. Ihr ist es völlig egal, was wir hier so treiben.
Um es deutlich zu sagen: Es gibt weder eine natürliche Bestimmung des Menschen noch der Geschlechter. Biologische Gegebenheiten legen weder menschliches Verhalten fest, noch wohnt ihnen die geringste normative, moralische Verbindlichkeit inne. Sie legitimieren nichts! Um ein Beispiel zu geben: Infantizid, die Tötung kleiner Kinder, gehört zum Primatenerbe unserer Spezies und ist deshalb mitunter auch bei Menschen zu finden, ist also eine «natürliche» Option – aber natürlich müssen wir alles daransetzen, sie auszumerzen. Das gelingt uns am besten, wenn wir um die Situationen wissen, in denen es zu Infantizid kommen kann, um diesen zu verhindern. Denn auch dabei handelt es sich um keinen Determinismus, sondern – horribile dictu – um relativ rationale Entscheidungen.[33]
Deshalb ist es wichtig, unser biologisches Erbe zu kennen, um bestimmte Reaktionsmuster und Verhaltenswahrscheinlichkeiten zu identifizieren. Das heißt aber keinesfalls, sie zu rechtfertigen, zumal menschliches Verhalten immer kulturell überformt ist, es also schier unmöglich ist, die jeweiligen Anteile zu trennen. Und hier hat es Harari – wir müssen etwas gutmachen! – prägnant formuliert: «Die Biologie erlaubt, die Kultur verbietet.»[34] Für Menschen bedeutet das: Die Biologie stellt die Bandbreite möglicher Verhaltensformen zur Verfügung – und die ist riesig. Welche wir wählen, ist ihr aber egal. Ob wir uns nun vermehren oder nicht, wen wir lieben, wie wir leben – die Evolution ist kein Wesen, das darum ein Aufheben machen würde. Es ist aber die Kultur, die auswählt und bestimmte Dinge verbietet. Die Evolution hat mit Homosexualität keine Probleme, anders als leider viele Kulturen. Die Evolution hat Frauen auch nicht dazu bestimmt, Mütter zu werden. Sie hat ihnen die Möglichkeit gegeben, und für die Vererbung der Gene ist es sinnvoll, aber im Prinzip ist das der «Natur» völlig egal. Biologisch haben wir die Freiheit zu beschließen: «Los, komm, wir sterben endlich aus» (um Die Ärzte zu zitieren), es ist die Kultur, die mit Muttermythen und ähnlichen Ungeheuerlichkeiten um die Ecke kommt.
Das Eva-Tabu hat zu einem Riesenmissverständnis geführt. Wenn Michaela Karl in ihrer Geschichte der Frauenbewegung schreibt: «Im Feminismus des 21. Jahrhunderts gibt es keinen Kausalnexus zwischen dem biologischen Geschlecht und der Rolle, die das Individuum einnimmt»,[35] dann kann wirklich jede Biologin welchen Geschlechts auch immer nur heftig nicken. Um es auf den Punkt zu bringen: Keine Frage, Menschen schleppen eine Menge biologischen Ballast mit sich herum – aber mindestens ebenso viele kulturelle Altlasten. Wir sind nicht gefangen in unserer Biologie (zumindest nicht allzu sehr). Es sind unsere kulturellen Prägungen, die uns das Leben schwermachen. Doch das ist kein Grund zur Resignation, zeigt der Blick zurück in die Evolution: Kulturelle Flexibilität ist die wohl größte Stärke des Homo sapiens.
Das Eva-Tabu verfälscht den Blick auf die Menschheitsgeschichte völlig. Wer sich der evolutionären Tiefe verschließt, reduziert die menschliche Geschichte allein auf die männerdominierte Zeit. Kein Wunder, erscheint das ominöse Patriarchat als ewig und unveränderlich. Aber damit geht man diesem auf den Leim. So engt man den Blick auf das ein, was als geschichtswürdig gilt, nämlich jene «Hochkulturen» und «Zivilisationen», die über Schrift verfügten – und die waren nun mal patriarchal verfasst. Diese Beschränkung ist eine zutiefst chauvinistische Einteilung des 19. Jahrhunderts – patriarchale Ideologie par excellence. Das war das Werk – und hier macht das Klischee einmal Sinn – von alten, weißen Männern, die damit den meist rassistischen Kolonialismus europäischer Staaten ideologisch absicherten und nichtstaatliche Alternativen als «primitive» Kulturstufen abtaten. Evolutionismus eben.
In dieser Perspektive erscheint es bedenklich, mit welcher Selbstverständlichkeit auch heute noch Kulturgeschichten zu Themen wie Geschlecht, Gewalt, Krieg, Demokratie, Familie, Moral oder Religion völlig selbstverständlich erst in der Antike beginnen. Als hätte es vorher keine Menschen gegeben. Dieser Scheuklappenblick blendet 99 Prozent Menschheitsgeschichte aus.[36] Das ist besonders im Fall der Frauen fatal. Die letzten 5000 Jahre sind nämlich jene Zeit, in der die Macht fast ausschließlich in den Händen von Männern lag. Erst die beschränkte Perspektive lässt das Patriarchat als Normalfall und die Misogynie als Teil der männlichen Condition humaine erscheinen. Nichts könnte verkehrter sein.
Aus diesem Grund sind viele Werke über die Geschichte der Frauen, so hervorragend sie auch geschrieben sein mögen, eine eher deprimierende Lektüre. Selbst Georges Dubys und Michelle Perrots fünfbändiges Großwerk Geschichte der Frauen beginnt erst mit den Griechen, andere sogar noch später mit dem Christentum.[37] Sie zementieren den Eindruck, es habe keine Zeiten ohne Männerdominanz gegeben – und liefern keine Ansätze, zu verstehen, wie es überhaupt zu dieser kommen konnte.
Die Vorstellung ewiger Männermacht ist also ein Artefakt. Warum legen wir nicht die Scheuklappen ab und genießen die freie Sicht auf das gewaltige Panorama menschlicher Evolution? Sobald wir den Blick weiten, zeigt sich: Die männliche Dominanz ist nicht der Normalzustand des Homo sapiens, sondern eine kurze Anomalie, ein Irrweg. Und weiten heißt den Blick über 300000 Jahre schweifen lassen, wenn man lediglich unsere Spezies, den Homo sapiens, in den Blick nimmt. Eher sollte man jene zwei Millionen Jahre betrachten, in denen die Gattung Homo ihre typischen Charakteristika entwickelte – eine starke Position der Frauen inklusive.
Stellen wir uns diesen gewaltigen Zeitraum als einen Tag von 24 Stunden vor, dominierten Männer und Schrift nicht einmal vier Minuten lang. Wir haben die Wahl: Behalten wir das Eva-Tabu bei, stellt die Unterdrückung der Frauen mit 100 Prozent den Normalfall dar. Geben wir das Eva-Tabu auf, schrumpft sie auf mickrige 0,25 Prozent der Menschheitsgeschichte zusammen. Wer also sollte ein Interesse haben, die Evolution zu meiden?
Zeit, das Eva-Tabu aufs wohlverdiente Altenteil zu schicken. Es hat seine Schuldigkeit getan und erweist sich immer mehr als Hindernis, das die Frauen in der Defensive hält. Wir besitzen heute genügend Einblicke in die biologische und die kulturelle Evolution des Menschen sowie die zentrale Rolle, die Frauen dabei spielten, um rekonstruieren zu können, wie es zur Unterdrückung der Frauen kommen konnte, und zu zeigen, warum das in der Geschichte unserer Spezies ein historischer Irrweg war.
Damit stehen wir vor jenem Problem, das wir eingangs benannten: Wovon reden wir eigentlich? Was ist es, das den Frauen zusetzt? Männer? Ja. Und nein, es gibt viele Männer, wie wir sehen werden, die ebenfalls unter diesen Mechanismen zu leiden hatten und sie oft sogar mit dem Leben bezahlen mussten. Charlotte Higgins hat unlängst in einem Essay noch einmal darauf hingewiesen, dass der Begriff «Patriarchat» zwar ein hervorragender Slogan ist, aber eine Menge analytische Schwächen aufweist.[38] Denn wie und wann und aus welchen Gründen sich die patriarchale Männerherrschaft etablieren konnte, bleibt unklar. Ebenso die Fragen, wie die Herrschaft des Patriarchats ganz konkret funktioniert, wie es sich über Jahrhunderte, Jahrtausende über alle Reiche und Kulturen, Kriege und Revolutionen hinweg an der Macht halten konnte. Und wie kann das Patriarchat noch moderne demokratische Gesellschaften im Griff haben, obwohl dort zumindest offiziell die Gleichberechtigung fast völlig realisiert wurde? Der Universalbegriff des Patriarchats wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, und birgt manche Gefahren in sich.[39] Zudem haftet ihm immer etwas Verschwörungstheoretisches an – als existiere irgendwo doch eine kleine Clique alter weißer Männer, die seit Jahrtausenden im Geheimen die Weltgeschicke lenkt und Frauen ausbeutet.
Sicher gab es meist einen eher kleinen Kreis Männer, der davon massiv profitierte, und einen bedeutend größeren, der das auszunutzen wusste, und jede Menge Opportunisten. Aber das, was für die Kontinuität sorgt, für die notorische Penetranz und Robustheit, die strukturelle Gewalt, das ist ein kulturelles Gebilde, das sich selbst reproduziert, weiter anreichert und die Wahrnehmung der Welt lenkt. Es kanalisiert Handlungen und gibt den Rahmen vor, in dem misogyne Handlungen möglich werden. Virginia Woolf sprach vom «patriarchalen System».[40]
Entscheidend ist aber auch die Art der Wirkung auf die Individuen, wie sich dieses System immer wieder in den Menschen aktualisiert, wie es Teil des Habitus wird, also jenes Sets verinnerlichter sozialer Normen, um Pierre Bourdieu aufzunehmen. Sein Gedanke der «strukturierenden Strukturen», die «Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrizen» prägen, trifft es gut, ist aber eher unpraktisch für den Alltagsgebrauch. Das gilt auch für seinen Begriff der «Doxa», jener Meinungen und Überzeugungen, die eine Gesellschaft als «wahr» annimmt, ohne sie je in Frage zu stellen.[41] Begrifflich weiter fassen ließe es sich, wenn man mit Michel Foucault von einem patriarchalen «Dispositiv» ausgehen würde, das die entsprechenden Diskurse generiert, also Rede- und damit Wahrnehmungsweisen, die festlegen, was überhaupt sprech- und denkbar ist und was generell ausgegrenzt wird.[42] Aber auch das trifft es noch nicht ganz.
Uns interessiert besonders, wie sich dieses Gebilde, das Frauen das Leben schwermacht, aus vielen Quellen speist, wie es ein Produkt dessen wurde, was wir später als kumulative kulturelle Evolution vorstellen möchten, also etwas, das sich anreichert, durchaus gewissen Regeln folgt, in dem sich viele Fäden zu einer Art Gewebe verbinden, um Clifford Geertz’ Kultur-Metapher zu bemühen.[43] Wie es sich zum «Schleier der Maya» verdichtete, der laut indischer Philosophie die Sinne vernebelt und die Wahrheit verhüllt – und da machte es dann bei uns: «knock, knock».
«Wake up, Neo», so beginnt der Filmklassiker The Matrix. Trinity, gespielt von Carrie-Anne Moss, klärt Neo, gespielt von Keanu Reeves, auf, dass die Welt, in der er zu leben glaubt, nichts als eine Simulation ist, eine computergenerierte Scheinwelt; tatsächlich liegt sein Körper in einem Brutkasten zur Energiegewinnung. Die Künstliche Intelligenz der Maschinen hat die Menschheit versklavt. Die Sinne werden mit einer virtuellen Traumwelt abgespeist: der Matrix.
Ist es nicht das? Leben wir nicht in einer Wirklichkeit, die behauptet, eine objektive zu sein, dabei ist es nur eine sexistisch verzerrte Simulation? Frauen kennen das Gefühl der «gläsernen Decke» nur zu gut, das Gefühl, durch unsichtbare Kräfte eingeschränkt zu sein in ihrer körperlichen wie geistigen Bewegungsfreiheit, überall an Grenzen zu stoßen. Frauen ist nicht alles möglich, was Männern möglich ist. Für das Spiel des Lebens gelten verschiedene Spielregeln. Schlimmer noch: Die Karten sind gezinkt.
Schon Simone de Beauvoir konstatierte: «Die Vorstellung von der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit der absoluten Wahrheit gleichsetzen.»[44] Wir haben es mit einer männlich deformierten Realität zu tun, die so tut, als sei sie die tatsächliche Wirklichkeit, dabei ist sie nur ein kulturelles Produkt, eine Simulation. Geschichten wie die von Eva, immerhin der Anfang des mächtigsten Buchs der Weltgeschichte, dienten dazu, den Frauen (und Männern) zu suggerieren, dass diese Verzerrung die Normalität sei, gottgegeben. Wir leben in einer patriarchalen Matrix – der Patrix.
Damit haben wir den zumindest für unser Buch tauglichen Begriff gefunden: Wir möchten nachvollziehen, wie sich die patriarchale Matrix entwickelte, wie sie Macht über die Menschen gewann und sich über so viele Jahrhunderte und Kulturen hinweg am Leben erhielt. Sie ist extrem vielgestaltig, kann leicht andere Ideologien aufnehmen und wächst sich zu einem vielköpfigen Monstrum aus.
Die Recherche zeigt, der Begriff der «Patrix» ist bisher im Umfeld der Gaia University benutzt worden, einer Online-Universität, die sich der ökosozialen Erneuerung verschrieben hat.[45] Sie beziehen sich dort auf die «Matrix of Domination», ein Konzept zur Analyse von Herrschaft, das von der Soziologin Patricia Hill Collins in Black Feminist Thought entwickelt wurde.[46] Judith Butler sprach ihrerseits von der «heterosexuellen Matrix».[47] Die patriarchale Matrix in unserem Sinn reduziert die Diversität der Welt auf eine binäre Grundstruktur, die den Frauen nur ein begrenztes Set an Rollenmodellen erlaubt, ihnen eng umrissene Handlungsfelder eröffnet und den Zugang zu vielen Bereichen verwehrt. Sie ist es, die den Frauen das Gefühl gibt, in einer verkehrten Welt zu leben, denn die Patrix ist die verkehrte Welt. Sie liefert den ideologischen Rahmen, die Legitimation für Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Somit führt die verzerrte Wirklichkeit zu verzerrtem menschlichem Verhalten. Das spricht die Individuen keinesfalls von der persönlichen Verantwortung ihres Verhaltens frei. Die patriarchale Matrix stützt sich auf eine Vielzahl von Institutionen, sie alle indoktrinieren Frauen (aber auch Männer) von klein auf – und impfen Männern die längste Zeit die Annahme ein, die Krone der Schöpfung zu sein.
Oberste Priorität der Patrix: sich als die tatsächliche, die einzig wirkliche und die einzig mögliche Realität darzustellen. Lange tat sie das, weil sie die männliche Ordnung als gottgegeben behauptete. Dann tat sie es, indem sie diese als naturgegeben ausgab. Und deshalb ist es wichtig, zu zeigen, dass die Patrix ein durch und durch kulturelles Gebilde ist, dass diese Verzerrung historisch ist und in einer evolutionären Perspektive eben noch nicht einmal besonders alt. Es gab (und gibt) andere, egalitärere menschliche Wirklichkeiten. Sie entlarven die Patrix als das, was sie letzten Endes ist: eine tendenziöse Simulation, ein ideologisches Hirngespinst, wenn auch ein extrem effektives.
Unser allgemeines Interesse gilt der Frage, wie menschliche Kultur funktioniert. Auch aus diesem Grund erscheint die patriarchale Matrix als bemerkenswertes Untersuchungsobjekt. Sie ist ein kulturelles Gebilde, das außerhalb der Individuen existiert und über Generationen hinweg sich immer wieder reproduziert. Im Film ist die Matrix ein Werk der Künstlichen Intelligenz, die sich von den Menschen emanzipierte. Auch das passt zu unserem Konzept: Denn wie wir zeigen werden, ist die Fähigkeit der Menschen zur kumulativen kulturellen Evolution die Urform der Künstlichen Intelligenz, also von Intelligenz, die außerhalb der Köpfe einzelner Menschen existiert.
Wir befinden uns heute in einem historischen Augenblick, in dem das Thema enorm an Brisanz gewinnt. Die bisher vor allem analog operierende Patrix hat längst begonnen, ihren frauenfeindlichen Code in die digitalen Datenwelten einzuschreiben.[48] Von immer und überall verfügbar erscheinenden Frauen bis zu massiven Beleidigungen, Bedrohungen und psychologischem Terror, dem jede Frau ausgesetzt ist, die in und außerhalb der sozialen Netzwerke Position bezieht. Die Patrix droht sich im Netz zu verselbständigen und die Macht zu übernehmen: Es wimmelt dort von chauvinistischen Trollen schlimmster Natur.
Wir wollen hier nicht behaupten, mit der patriarchalen Matrix etwas Neues erfunden zu haben. Uns geht es nur darum, zu zeigen, dass der Begriff der Patrix für unser Buch sehr nützlich ist. Er vermeidet umständliche Umschreibungen, ist auf vielfältige Weise anschlussfähig, und ein bisschen sloganhaft darf es schon sein: #niedermitderpatrix. Vor allem hilft er uns, einen Punkt deutlich zu machen. Wir können zeigen, dass die Patrix nie vollends der Menschen Herr werden kann. Ginge man davon aus, dass letztlich alles kulturelle Konstrukte sind, es eben nichts wie eine menschliche Natur gibt, dann müssten wir alle Hoffnung auf Emanzipation fahrenlassen. Denn dann wäre es nur eine Frage der Zeit, eine Frage der Perfektion, bis die patriarchale Matrix die totale Macht erringt – und zwar sobald es ihr gelingt, die entsprechende kulturelle Indoktrinierung perfekt zu machen. Dann werden sich alle fügen.
Wir aber gehen davon aus – und werden das später begründen –, dass zur menschlichen Grundausstattung ein Gerechtigkeitsgefühl gehört und dass dieses dafür verantwortlich ist, dass Menschen in ungerechten Situationen immer ein Gefühl der Empörung erleben (zumindest solange man selbst oder die eigene Gruppe betroffen ist). Frauen haben auch in Zeiten der schlimmsten Unterdrückung ihr Schicksal nie demütig ertragen, sondern immer gespürt: «Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!» Auch wenn sie lange kaum die Chance hatten, das laut zu äußern. Wir glauben, dass dieses Gefühl des Protestes der Motor von Emanzipation und Demokratisierung ist. Ohne das Gerechtigkeitsgefühl als genuin menschliches Gefühl hätten sich die Frauen längst in ihr Elend gefügt. Ein Grund mehr, die Evolution nicht zu verteufeln. Wäre alles nur Kultur, wäre der Kampf womöglich längst verloren. Es ist ausgerechnet die Biologie, die das verhinderte. Sie stattete Frauen mit dem Impuls zum Widerstand aus.
Was wir nicht vergessen dürfen: Auch wir Autoren sind Kinder der Patrix. Bourdieu betont in Die männliche Herrschaft, dass die eigenen Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster patriarchal geprägt sind. Denn man hat es mit einer Institution zu tun, «die sich seit Jahrtausenden in die Objektivität der sozialen Strukturen und in die Subjektivität der kognitiven Strukturen eingeprägt hat», sodass wir nicht völlig frei sind, von den Vorurteilen und Mechanismen, die wir untersuchen möchten.[49] Um es einfach zu sagen: Auch wir werden in diesem Buch der patriarchalen Matrix vermutlich das eine oder andere Mal auf den Leim gehen und in dieses oder jenes Fettnäpfchen tappen. Wir bitten dafür um Entschuldigung. Ebenso dafür, dass wir uns auf die Genese der westlichen Kultur, auf das berühmt-berüchtigte «christliche Abendland» beschränken. Aber selbst das ist eigentlich schon mehr, als unsere Möglichkeiten erlauben.
Problematisch ist auch dies: Wenn wir eine Archäologie, eine Genealogie der patriarchalen Matrix betreiben, müssen wir uns mehr mit männlichen Unterdrückern auseinandersetzen, als uns lieb ist. Wir fokussieren auf die Herrschaftsmechanismen, nicht auf das Leid der Unterdrückten. Ebenso haben wir uns an der binären Struktur der Patrix abzuarbeiten, der typischen Frau-Mann-Dichotomie. Das heißt aber nicht, dass wir sie damit reproduzieren wollten. Wir betonten es schon: Nicht nur Frauen werden diskriminiert und Gewalt ausgesetzt – und auch diese erleben sie je nach sozialer Herkunft, Bildung, Ethnizität, sexueller Prägung, Lebensbedingungen etc. auf sehr unterschiedliche Weise. Es ist das große Verdienst von Aktivistinnen und Aktivisten, das in den letzten Jahren herausgearbeitet zu haben. Wenn wir uns hier vor allem auf einen Aspekt konzentrieren, möchten wir die anderen damit nicht im Geringsten verharmlosen. Für uns ist es eine unhintergehbare kulturelle Errungenschaft des Homo sapiens, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist, dass alle frei geboren sind und niemand über die körperliche und persönliche Autonomie anderer Menschen bestimmen darf, ihnen also, solange sie nicht die Integrität anderer einschränken, alle Optionen gleich offenstehen. Aber das ist ja eine Selbstverständlichkeit.
Wir predigen die Evolution und kommen dann mit Eva? Wie im Film ein weißes Kaninchen Neo den Weg wies, um die Matrix zu erkennen (auch wenn es anders als bei Alice im Wunderland bloß ein tätowiertes war), hat uns Eva auf die Fährte der patriarchalen Matrix gebracht. Mehr noch: Für viele Menschen heute mag die erste Geschichte der Genesis keine große Relevanz mehr besitzen. Das aber ist ein Irrtum, und zwar kein kleiner. Es war Eva, die über 2000 Jahre lang als Begründung männlicher Hegemonie herhalten musste. Das Phantasma der Bestrafung aller Frauen in der Gestalt ihrer angeblichen Urmutter besaß gut zwei Jahrtausende lang den Rang einer historischen Tatsache. Der Literaturwissenschaftler und Pulitzer-Preisträger Stephen Greenblatt spricht der Genesisepisode für die längste Zeit «das Gewicht eines wissenschaftlichen Beweises» zu. In seinem Buch über den «mächtigsten Mythos der Menschheit», die Geschichte von Adam und Eva, schreibt er, dass den Menschen Generation für Generation der Sündenfall neu präsentiert wurde – und zwar «als historisches Faktum, als anthropologische Wahrheit, biologische Natur. Jedes Mal konnte das Elend der menschlichen Existenz zu Eva zurückverfolgt werden, und ihre Töchter trugen das Schicksal.»[50] Und Elaine Pagels, Professorin für Religionswissenschaft in Princeton, war immer schon davon überzeugt, dass «diese uralte Geschichte in außergewöhnlichem Umfang die abendländische Kultur mitgeprägt» habe; je mehr sie sich aber mit ihren Konsequenzen auseinandersetzte, «mit desto größerem Erstaunen wurde ich gewahr, wie weitreichend und vielschichtig ihr Einfluss tatsächlich gewesen ist».[51]
Greenblatt spricht davon, dass Evas Geschichte eine «schier unerschöpfliche Energie» besitzt, ganz so, «als sei ihr Kern radioaktiv».[52] Die Metapher passt gut, um die misogyne Macht des Mythos zu beschreiben. Denn die Geschichte von Adam und Eva ist tatsächlich radioaktiv. Sie hat das Christentum verstrahlt und damit die westliche Kultur bis ins Mark kontaminiert. Keine Geschichte ist toxischer für Frauen gewesen. Das Unheimliche: Sie wirkt selbst in Zeiten fort, in denen kaum mehr jemand an sie glaubt!
Und mit Weiterwirken meinen wir nicht, dass die Geschichte noch allgegenwärtig ist in Kunst und Werbung, auch nicht, dass sie selbst von agnostischen, aber bildungsbeflissenen Eltern dem Nachwuchs aus Kinderbibeln vorgelesen und so die Idee von Evas Schuld weiter- und weitergetragen wird. Nein, die Sache ist perfider. Als zentraler Mythos der patriarchalen Matrix hat sie über Jahrhunderte hinweg die Gestalt unserer Kultur und deren Menschen- und Frauenbild so sehr beschädigt, dass diese Deformation selbst die Implosion des biblischen Mythos überdauerte und weiterhin entsprechend deformierte Kultur produzierte.
Doch die Unterdrückung der Frauen ist keine Erfindung der Bibel. Sie ist älter. Wohl aber markiert die Geschichte von Adam und Eva jenen Wendepunkt, ab dem die Patrix eine Dimension erhält, die sie permanent werden lässt: Sie transportiert die Vorstellung, dass es die «Frau an sich» gäbe, einen Urtypus, geschaffen mit einem unveränderlichen Wesen und einer unveränderlichen Aufgabe. Dieses Phantasma wird selbst das Christentum überleben und die Vorstellungen von der biologischen Eva prägen (und deshalb das Eva-Tabu zum Schutz der Emanzipation erzwingen).
Unser Buch ist der Versuch, die patriarchale Matrix in ihrer Entstehung und Wirkung zu verstehen. In sieben Schritten hoffen wir zur Erkenntnis der Patrix zu gelangen. Wir starten tatsächlich bei Eva und Adam, besser gesagt bei der Lüge über Eva. Der erste Schritt muss sein, die radioaktive Quelle ihrer Macht zu berauben, damit wir uns möglichst vollständig dekontaminieren können. Wir haben großes Glück: Es gibt Neuigkeiten aus dem Garten Eden! Und zwar solche, die ordentlich Zündstoff zu bieten haben: Die Geschichte von Adam und Eva ist ein Plagiat, ein heidnisches sogar, und Eva kommt darin nicht die geringste Schuld zu.
Anschließend werden wir in Schritt zwei und drei versuchen, jene Lücken, welche die Geschichte von Adam und Eva hinterlassen hat, auf der Basis aktueller biologischer, evolutionärer und ethnographischer Forschungen zu schließen. Wir werden die biologische wie die kulturelle Evolution vorstellen und zeigen, wie das mit der Menschwerdung wirklich seinen Lauf nahm. Wir ergründen, wie sich das immer delikate Geschlechterverhältnis von Frauen und Männern herausbildete und warum es sich dabei um das Geheimnis unseres evolutionären Erfolgs handelte, werden aber dessen Konfliktpotenzial nicht verschweigen.
In den Schritten vier bis sieben werden wir auf der Grundlage archäologischer, genetischer, historischer und religionswissenschaftlicher Erkenntnisse nachzeichnen, wie das Geschlechterverhältnis aus der Balance geriet, die Ungleichheit erfunden und zementiert wurde und welche zentrale Rolle Religion dabei spielte. Wir beobachten, wie sich die patriarchale Matrix formierte, immer mehr anreicherte, bis sie dann mit enormer Macht ausgestattet wurde und vollends zum Leben erwachte. Nicht zuletzt interessiert uns, wie es zur Dämonisierung der Sexualität kam. Zumindest andeuten können wir am Ende unseres Buchs, was die Kraft der Patrix schwinden lässt, und auf einige Bereiche unserer Alltagswelt hinweisen, die uns als letzte Bastionen der patriarchalen Matrix erscheinen.
Höchste Zeit, Eva Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Eva ist die Frau, die die Initiative ergreift, die «sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte».[53] Sie wägt ab und entscheidet, sie muss keinen Mann fragen. Sie lässt sich nichts sagen, schon gar nicht von fragwürdigen Autoritäten. Eva, das ist die erste Heldin der Menschheitsgeschichte. Und Adam? Der nahm die angebotene Frucht aus Evas Hand und tat es ihr gleich: Er biss herzhaft zu.
Über zweitausend Jahre lang musste Eva herhalten, um die Unterdrückung der Frauen zu legitimieren. Der erste Schritt zur Erkenntnis der patriarchalen Matrix kann deshalb nur sein, diesen zentralen Mythos der Misogynie seiner toxischen Kraft zu berauben und Eva zu rehabilitieren. Nie war die Gelegenheit günstiger: Es gibt Neuigkeiten aus dem Paradies!
Da darf man endlich einmal bei Adam und Eva anfangen und muss feststellen, dass das alles andere als ein Anfang ist. Aber was Marjo Korpel und Johannes de Moor entdeckt haben, tröstet schnell darüber hinweg. Die niederländischen Bibelwissenschaftler sind sicher, aus 3200 Jahre alten Tontafeln die bisher unbekannte Vorlage der ersten Episode der Bibel rekonstruieren zu können.[54] Wenn sie recht haben – und wir halten die Beweisführung der beiden renommierten Wissenschaftler für überzeugend –, dann wäre die Geschichte unserer Ureltern eine ganz und gar irdische Kopie, ohne jegliche Spur göttlichen Genies. Es gab Zeiten, da wäre man für solch eine Behauptung auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.
Erstaunlicherweise blieb diese Entdeckung bisher weitgehend unbeachtet. Dabei spricht die neu entdeckte Urversion Eva (und auch Adam) von aller Schuld frei. Die beiden haben die Menschheit nicht ins Verderben gestürzt, sie haben sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Statt mit sündigen Menschen haben wir es mit rettenden Göttern zu tun. Und das ist brisant: Bis zum heutigen Tag begründet die katholische Kirche die Sündhaftigkeit der Welt mit Adam und Eva und baut darauf ihre Erlösungslehre auf. In unserem Kontext noch wichtiger: Mit dieser Entdeckung ist der zentrale Mythos der Frauenunterdrückung als Plagiat entlarvt. Zwei Jahrtausende christlicher Misogynie stützen sich auf eine zusammengebastelte Geschichte heidnischer Herkunft. Brechen mit dieser Erkenntnis endgültig die «letzten Tage des Patriarchats»[55] an?
Deshalb kann es für uns keinen passenderen ersten Schritt zur Erkenntnis der patriarchalen Matrix geben. Wir nutzen die Steilvorlage der Bibelwissenschaftler, um den Mythos von Adam und Eva als Legitimationsquelle der Misogynie zum Versiegen zu bringen. Auch kann es für unser Buch keinen besseren Anfang geben, als zu zeigen, dass ein Anfang gar kein Anfang ist. Es gibt so gut wie immer ein Davor. Die Idee eines Ursprungs, eines singulären Ausgangspunktes, ist in aller Regel Ideologie. Damit wird deutlich, warum es zu einem evolutionären Ansatz keine Alternative gibt: Die Evolution kennt keinen sinnstiftenden Ursprung. Die Geschichte der Frauen hingegen an einem historischen Punkt beginnen zu lassen, sei es mit der Vertreibung aus dem Garten Eden, mit der Steinzeit, den Griechen oder dem Christentum, läuft Gefahr, sie zu verengen und im schlimmsten Fall Frauen auf ein angeblich in diesem Ursprung angelegtes Wesen zu beschränken.
Beginnen wir nun mit der Genesis und den bizarren Blüten, die sie treiben wird; wir werden manches davon später noch vertiefen. Hier ist aber ein erster Überblick nötig, um die Bedeutung des sagenhaften Vorgängermythos einschätzen zu können und zu verstehen, warum Eva als Führerin durch die Welt der patriarchalen Matrix bestens taugt.
