Die Wallflowers - Annabelle & Simon - Lisa Kleypas - E-Book
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Die Wallflowers - Annabelle & Simon E-Book

Lisa Kleypas

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Beschreibung

Die Wallflowers: Gegen alle Widerstände machen sie die besten Partien der Saison.

Annabelle Peyton ist schön, stolz und klug – aber verarmt. Nur eine vorteilhafte Ehe kann sie und ihre Familie noch retten. Doch die adligen Junggesellen Londons meiden eine Lady ohne Vermögen. Einzig Simon Hunt, ein schwerreicher, ungehobelter, wenn auch äußerst attraktiver Geschäftsmann, hat ein Auge auf sie geworfen. Und er macht kein Geheimnis aus seinen unlauteren Absichten. Als Annabelle auf einem Ball drei weitere Mauerblümchen – Lillian, Daisy und Evie – kennenlernt, scheint sich ihr Schicksal zu wenden. Die vier jungen Frauen beschließen, einander bei der Suche nach vermögenden Ehemännern zu helfen. Als Erstes verschaffen sie Annabelle eine Einladung zum Fest der Saison. Unter den Gästen allerdings auch: Simon Hunt.

Dieser Titel ist bereits auf Deutsch unter dem Titel »Geheimnisse einer Sommernacht« erschienen.

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Seitenzahl: 424

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Contents

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

EPILOG

Die Wallflowers-Reihe

Leseprobe: Lisa Kleypas, Die Wallflowers - Lillian & Marcus

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Buch

Die junge Annabelle Peyton ist schön, stolz und klug – aber ihre Familie steht seit dem Tod des Vaters kurz vor dem Ruin. Die einzige Hoffnung für Annabelle ist eine vorteilhafte Ehe. Doch die adeligen Junggesellen Londons halten sich von einer Lady ohne Vermögen fern, so schön sie auch sein mag. Nur Simon Hunt, ein schwerreicher Geschäftsmann und ungehobelter, wenn auch unverschämt attraktiver Neuling in der feinen Gesellschaft, hat ein Auge auf sie geworfen. Und er macht kein Geheimnis aus seinen unlauteren Absichten. Als Annabelle auf einem Ball drei weitere Mauerblümchen kennenlernt – zwei unerschrockene, neureiche Schwestern aus Amerika, Lillian und Daisy, und die schüchterne Evie aus gutem englischem Hause, scheint sich ihr Schicksal zu wenden. Die vier jungen Frauen versprechen einander, sich bei der Suche nach Ehemännern zu helfen. Und so erhält Annabelle eine Einladung nach Stony Cross – ein altehrwürdiger Landsitz, wo das Fest der Saison stattfindet und alles, was Rang und Namen hat, anreist. Lillian und Daisy kleiden sie in der neuesten Mode ein, und Evie bemüht sich um Kontakte zum Hochadel. Unter den Gästen allerdings auch: Simon Hunt.

Weitere Informationen zu Lisa Kleypas sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lisa Kleypas

Übersetzt vonBabette Schröder & Wolfgang Thon

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Secrets of a Summer Night« bei Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

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Copyright © 2004 by Lisa Kleypas

Copyright © der Neuausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 2006 unter dem Titel "Geheimnisse einer Sommernacht" auf Deutsch erschienenen Romans.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: arcangel/Lauren Rautenbach; FinePic®, München

Redaktion: Antje Steinhäuser

MR · Herstellung: ik

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN: 978-3-641-29700-8V002

www.goldmann-verlag.de

KAPITEL 1

London, 1843Das Ende der Saison

Ein heiratswilliges Mädchen konnte praktisch jedes Hindernis überwinden, es sei denn, bei diesem Hindernis handelte es sich um eine fehlende Mitgift.

Annabelle wippte ungeduldig mit dem Fuß unter ihren bauschigen weißen Röcken, bemühte sich jedoch, nach außen hin gelassen zu wirken. Während der letzten drei gescheiterten Saisons hatte sie sich an das Dasein als Mauerblümchen gewöhnt. Sie hatte sich daran gewöhnt, aber nicht resigniert. Mehr als einmal war ihr der Gedanke gekommen, dass sie etwas Besseres verdient hatte, als auf einem unbequemen Stuhl am Rande des Saales zu sitzen. Verzweifelt auf eine Einladung zu hoffen, die niemals kam. Und sich dabei um eine möglichst gleichgültige Miene zu bemühen – als sei sie vollkommen glücklich, anderen dabei zuzusehen, wie sie tanzten und umworben wurden.

Mit einem langen Seufzer betastete Annabelle die kleine silberne Tanzkarte, die an einem Band an ihrem Handgelenk hing. Das Etui klappte auf, und zum Vorschein kam ein Heft aus fast durchsichtigen elfenbeinfarbenen Seiten, die sich fächerförmig ausbreiteten. Ein Mädchen sollte die Namen ihrer Tanzpartner auf diese zarten Seiten schreiben. Für Annabelle glich der Fächer aus leeren Seiten einer Zahnreihe, die sie spöttisch angrinste. Sie klappte das silberne Etui zu und warf einen Blick auf die drei jungen Frauen, die neben ihr saßen und sich bemühten, ähnlich gleichgültig zu tun.

Sie wusste genau, warum sie hier saßen. Das beträchtliche Familienvermögen von Miss Evangeline Jenner stammte aus dem Glücksspiel, zudem war sie von niederem Stand. Außerdem war Miss Jenner furchtbar schüchtern und stotterte, was ein Gespräch für beide Seiten zu einer Tortur machte.

Die zwei anderen Mädchen, Miss Lillian Bowman und ihre jüngere Schwester Daisy, hatten sich noch nicht in England eingelebt – und wie es aussah, würden sie weiterhin einige Zeit dafür benötigen. Es hieß, die Mutter der Bowmans habe die Mädchen aus New York hierher gebracht, weil sie dort keine passenden Angebote erhalten hatten. Die Seifenblasen-Erbinnen, so wurden sie spöttisch genannt, gelegentlich auch die Dollar-Prinzessinnen. Trotz ihrer eleganten Wangenknochen und ihrer schräg stehenden, dunklen Augen würden sie hier nicht mehr Glück haben. Es sei denn, sie fänden einen aristokratischen Förderer, der für sie bürgte und ihnen beibrachte, wie man sich in die britische Gesellschaft einfügte.

Annabelle fiel auf, dass sie vier – sie selbst, Miss Jenner und die Bowmans – in den letzten Monaten dieser unglücklichen Saison auf Bällen oder Soireen oft zusammengesessen hatten, immer in einer Ecke oder auf unbequemen Stühlen an der Wand. Dennoch wechselten sie nur selten ein Wort, die Langeweile des Wartens hatte sie verstummen lassen. Ihr Blick blieb an Lillian Bowman hängen, in deren samtigen, dunklen Augen ein unerwartet amüsierter Ausdruck glänzte.

»Sie hätten wenigstens für bequemere Stühle sorgen können«, murmelte Lillian, »wenn schon klar ist, dass wir den ganzen Abend auf ihnen sitzen.«

»Wir sollten unsere Namen eingravieren lassen«, erwiderte Annabelle ironisch. »Nach all der Zeit, die ich auf ihm verbracht habe, gehört dieser Stuhl rechtens mir.«

Evangeline Jenner kicherte gedämpft, hob einen behandschuhten Finger und schob sich eine leuchtend rote Locke aus der Stirn. Ihr Lächeln ließ ihre runden blauen Augen funkeln und zauberte einen rosa Schimmer unter die goldenen Sommersprossen auf ihren Wangen. Es schien, als hätte ein plötzliches Gefühl von Verbundenheit sie vorübergehend ihre Schüchternheit vergessen lassen. »Es ist ü …überhaupt nicht nachvollziehbar, dass Sie ein Mauerblümchen sind«, sagte sie zu Annabelle. »Sie sind das schönste Mädchen auf diesem Ball. Die Männer sollten sich um einen Tanz mit I …Ihnen reißen.«

Annabelle zuckte anmutig mit einer Schulter. »Keiner will ein Mädchen ohne Mitgift ehelichen.« Dass Herzöge arme Mädchen heirateten, gab es nur in der Märchenwelt von Romanen. In der Realität lastete auf Herzögen, Viscounts und ihresgleichen die schwere finanzielle Verantwortung, herrschaftliche Anwesen und große Familien zu unterhalten sowie die Pächter zu unterstützen. Ein wohlhabender Adeliger musste genauso dringend in eine reiche Familie einheiraten wie ein verarmter.

»Eine Amerikanerin, die zwar Geld, aber kein altes Geld hat, will auch niemand heiraten«, stellte Lillian Bowman fest. »Unsere einzige Hoffnung, irgendwann einmal zur Gesellschaft zu gehören, besteht darin, einen Adeligen mit einem respektablen englischen Titel zu heiraten.«

»Aber wir haben keinen Förderer«, fügte ihre jüngere Schwester Daisy hinzu. Sie war eine zierlichere, elfenhaftere Version von Lillian, wies jedoch die gleiche helle Haut, das dichte dunkle Haar und die braunen Augen auf. Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wenn Sie zufällig eine freundliche Herzogin kennen, die bereit wäre, uns unter ihre Fittiche zu nehmen, wären wir Ihnen sehr dankbar.«

»Ich will nicht einmal einen Ehemann finden«, vertraute Evangeline Jenner ihr an. »Ich quäle mich nur durch die S …Saison, weil es für mich nichts anderes zu tun gibt. Ich bin zu alt, um noch länger die Schule zu besuchen, und mein Vater …« Sie brach abrupt ab und seufzte. »Nun, ich habe nur noch eine Saison vor mir, dann bin ich dreiundzwanzig und offiziell eine alte Jungfer. Wie ich mich darauf freue!«

»Ist dreiundzwanzig heutzutage die Grenze für Ehelosigkeit?«, fragte Annabelle mit nur halb gespielter Sorge. Sie verdrehte die Augen und blickte zur Decke. »Großer Gott, ich hatte keine Ahnung, dass meine besten Jahre bereits so lange hinter mir liegen.«

»Wie alt sind Sie denn?«, erkundigte sich Lillian Bowman neugierig.

Annabelle warf einen Blick nach rechts und links, um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurden. »Ich werde im nächsten Monat fünfundzwanzig.«

Diese Enthüllung brachte ihr mitleidige Blicke ein. »Sie sehen keinen Tag älter aus als einundzwanzig«, versicherte Lillian ihr tröstend.

Annabelle umklammerte mit ihren Fingern ihre Tanzkarte, bis sie in ihrer behandschuhten Hand verschwand. Die Zeit verging wie im Flug, dachte sie. Die Saison, ihre vierte, neigte sich rasch dem Ende zu. Und eine fünfte Saison konnte sie einfach nicht absolvieren, das wäre lächerlich gewesen. Sie musste sich einen Mann angeln, und zwar bald. Sonst konnten sie es sich nicht mehr leisten, Jeremy auf die Schule zu schicken … und waren gezwungen, aus ihrem bescheidenen Stadthaus auszuziehen und in einer Pension unterzukommen. Wenn eine solche Talfahrt erst einmal begonnen hatte, gab es kaum ein Zurück mehr.

In den sechs Jahren, seit Annabelles Vater an einem Herzleiden gestorben war, waren die finanziellen Mittel der Familie auf ein Minimum geschrumpft. Sie hatten versucht, ihre zunehmend verzweifelte Lage zu verschleiern, indem sie vorgaben, ein halbes Dutzend Diener zu beschäftigen statt einer überarbeiteten Köchin und einem alternden Hausbediensteten … ihre verblichenen Kleider so umzuarbeiten, dass die Innenseite des Stoffes nach außen zeigte … die Edelsteine aus ihrem Schmuck zu verkaufen und sie durch künstliche zu ersetzen. Annabelle hatte es satt, ständig alle zu täuschen, obwohl jeder zu wissen schien, dass sie kurz vor dem Ruin standen. In letzter Zeit erhielt Annabelle sogar diskrete Angebote von verheirateten Männern, die ihr vielsagend mitteilten, sie müsse nur um ihre Hilfe bitten, sie werde sie sofort erhalten. Es war überflüssig, die Gegenleistungen zu erwähnen, die eine solche »Hilfe« verlangte. Annabelle war sich sehr wohl bewusst, dass sie das Zeug zu einer erstklassigen Mätresse hatte.

»Miss Peyton«, fragte Lillian Bowman, »was für ein Mann wäre der ideale Ehemann für Sie?«

»Oh«, sagte Annabelle mit respektloser Leichtigkeit, »jeder, der standesgemäß ist, wäre mir recht.«

»Jeder, der standesgemäß ist?«, fragte Lillian skeptisch. »Muss er nicht auch gut aussehen?«

Annabelle zuckte mit den Schultern. »Das wäre wünschenswert, aber nicht notwendig.«

»Und was ist mit der Leidenschaft?«, erkundigte sich Daisy.

»Sie ist ganz sicher nicht erwünscht.«

»Intelligenz?«, forschte Evangeline weiter.

Annabelle zuckte mit den Schultern. »Darüber könnte man reden.«

»Charme?«, fragte Lillian.

»Ebenfalls verhandelbar.«

»Sie verlangen nicht viel«, bemerkte Lillian trocken. »Was mich betrifft, hätte ich durchaus ein paar Bedingungen. Mein Auserwählter müsste dunkelhaarig und gut aussehend sein, ein wunderbarer Tänzer … und er würde niemals um Erlaubnis bitten, bevor er mich küsst.«

»Ich möchte einen Mann heiraten, der alle gesammelten Werke von Shakespeare gelesen hat«, sagte Daisy. »Jemand, der ruhig und romantisch ist – noch besser wäre, wenn er eine Brille trüge – , und er sollte die Poesie und die Natur mögen. Außerdem sollte er nicht zu viel Erfahrung mit Frauen haben.«

Ihre ältere Schwester richtete den Blick himmelwärts. »Offenbar konkurrieren wir nicht um die gleichen Männer.«

Annabelle sah Evangeline Jenner an. »Was für ein Ehemann würde Ihnen gefallen, Miss Jenner?«

»Nennen Sie mich Evie«, murmelte das Mädchen und errötete noch stärker, bis die Farbe sich mit ihrem feurigen Haar biss. Sie rang mit ihrer Antwort, ihre arge Schüchternheit kämpfte mit ihrem ausgeprägten Gespür für Diskretion. »Ich nehme an … Ich hätte gern j …jemanden, der nett ist und …« Sie hielt inne und schüttelte mit einem selbstironischen Lächeln den Kopf. »Ich weiß es nicht. Jemand, der m …mich lieben würde. Der mich aufrichtig lieben würde.«

Die Worte berührten Annabelle und erfüllten sie mit plötzlicher Melancholie. Liebe war ein Luxus, den zu erhoffen sie sich nie gestattet hatte – eine höchst überflüssige Angelegenheit, wenn ihr eigenes Überleben auf dem Spiel stand. Dennoch streckte sie die Hand aus und berührte die behandschuhte Hand des Mädchens. »Ich hoffe, Sie finden ihn«, sagte sie aufrichtig. »Vielleicht müssen Sie ja gar nicht lange warten.«

»Ich möchte, dass Sie Ihre Liebe zuerst finden«, sagte Evie mit einem schüchternen Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie dabei helfen.«

»Es scheint, dass wir alle auf die eine oder andere Weise Hilfe brauchen«, bemerkte Lillian. Ihr Blick glitt wohlwollend über Annabelle. »Hmm … Ich hätte nichts dagegen, ein Projekt aus Ihnen zu machen.«

»Wie bitte?« Annabelle hob erstaunt die Brauen und fragte sich, ob sie amüsiert oder beleidigt sein sollte.

»Die Saison dauert nur noch wenige Wochen«, fügte Lillian erklärend an, »und ich vermute, dies ist Ihre letzte. Praktisch gesehen werden sich Ihre Hoffnungen, einen Mann zu heiraten, der Ihnen gesellschaftlich ebenbürtig ist, Ende Juni in Luft auflösen.«

Annabelle nickte unsicher.

»Dann schlage ich vor …« Lillian verstummte mitten im Satz.

Als Annabelle ihrem Blick folgte, sah sie eine dunkle Gestalt auf sich zukommen und stöhnte innerlich auf.

Der Neuankömmling war Mr Simon Hunt – ein Mann, mit dem keine von ihnen etwas zu tun haben wollte, und das aus gutem Grund.

»Übrigens«, sagte Annabelle mit leiser Stimme, »mein idealer Ehemann wäre das genaue Gegenteil von Mr Hunt.«

»Was für eine Überraschung«, murmelte Lillian sardonisch, denn da waren sie sich alle einig.

Man konnte einem Mann verzeihen, dass er ein Parvenü war, wenn er ein ausreichendes Maß an ritterlichem Anstand besaß. Simon Hunt besaß nichts dergleichen. Mit einem Mann, der immer aussprach, was er dachte, ganz gleich wie wenig schmeichelhaft oder anstößig seine Meinung sein mochte, konnte man keine höfliche Konversation führen.

Gewiss, man könnte Mr Hunt vielleicht als gut aussehend bezeichnen. Annabelle nahm an, dass einige Frauen seine kräftige Männlichkeit anziehend fanden. Und selbst sie musste zugeben, dass der Anblick all dieser kaum gezügelten Kraft in offizieller schwarz-weißer Abendgarderobe verlockend war. Die fraglichen Reize von Simon Hunt verschwanden jedoch gänzlich hinter seinem ungehobelten Charakter. Er hatte keine empfindsame Seite, verfügte über keinerlei Idealismus oder Sinn für Eleganz … er war durch und durch berechnend, ganz und gar beherrscht von Egoismus und Habgier. Jeder andere Mann in seiner Situation hätte den Anstand besessen, sich für seinen Mangel an Raffinesse zumindest zu schämen, doch Hunt hatte offenbar beschlossen, daraus eine Tugend zu machen. Nur allzu gern spottete er über die Gepflogenheiten und Umgangsformen der aristokratischen Gesellschaft. Dabei funkelten seine kalten schwarzen Augen amüsiert, als würde er sie alle verlachen.

Zweifellos teilten viele Menschen Annabelles Abneigung gegen Simon Hunt, aber zum Entsetzen der feinen Londoner Gesellschaft blieb er. In den letzten Jahren war er unvergleichlich reich geworden, indem er Mehrheitsbeteiligungen an Unternehmen erworben hatte, die landwirtschaftliche Geräte, Schiffe und Lokomotiven herstellten. Trotz seines ungehobelten Verhaltens wurde Hunt zu Gesellschaften der erlesensten Kreise eingeladen, weil er einfach zu reich war, um ihn zu ignorieren. Hunt verkörperte die Bedrohung, die moderne Industrieunternehmen für den britischen Adel darstellten, dessen Wohlstand jahrhundertelang auf der Verpachtung und Nutzung seiner Ländereien gefußt hatte. Daher betrachtete ihn der Adel insgeheim mit Feindseligkeit, auch wenn er ihm widerwillig Zugang zu den hehren Kreisen der Gesellschaft gewährte. Schlimmer noch: Hunt übte sich keineswegs in Bescheidenheit, sondern schien es zu genießen, sich dort aufzudrängen, wo er nicht erwünscht war.

Annabelle spürte die Erleichterung der anderen Mauerblümchen, als Hunt sie ignorierte und seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf sie richtete. »Miss Peyton«, sagte er. Dem Blick aus seinen dunklen Augen schien nichts zu entgehen: die sorgfältig geflickten Ärmel ihres Kleides, die Tatsache, dass sie mit einem Strauß rosa Rosenknospen den ausgefransten Saum ihres Mieders kaschiert hatte, die falschen Perlen, die an ihren Ohren hingen. Annabelle musterte ihn mit kühler, herausfordernder Miene.

»Guten Abend, Mr Hunt.«

»Würden Sie mir diesen Tanz schenken?«, fragte er ohne langes Vorgeplänkel.

»Nein danke.«

»Warum nicht?«

»Meine Füße sind müde.«

Er hob eine dunkle Augenbraue. »Wovon? Sie haben den ganzen Abend hier gesessen.«

Annabelle hielt seinem Blick stand, ohne zu blinzeln. »Ich bin nicht verpflichtet, mich vor Ihnen zu rechtfertigen, Mr Hunt.«

»Ein Walzer dürfte keine zu große Zumutung darstellen.«

Obwohl Annabelle sich bemühte, gelassen zu bleiben, spürte sie, wie sich ihre Miene allmählich verfinsterte. »Mr Hunt«, erwiderte sie mit angespannter Stimme, »hat Ihnen noch niemand gesagt, dass es unhöflich ist, eine Lady zu etwas zu drängen, das sie offensichtlich nicht zu tun wünscht?«

Er lächelte schwach. »Miss Peyton, wenn ich mich immer mit Höflichkeiten aufhalten würde, bekäme ich nie, was ich will. Ich dachte bloß, Sie würden eine vorübergehende Pause von Ihrem ewigen Mauerblümchendasein genießen. Denn wenn dieser Ball Ihrem üblichen Muster folgt, ist meine Aufforderung zum Tanz wahrscheinlich die einzige, die Sie erhalten.«

»Wie überaus charmant«, bemerkte Annabelle in einem Ton spöttischer Verwunderung. »Welch raffinierte Schmeichelei. Wie könnte ich da ablehnen?«

In seinen Augen blitzte neues Interesse auf. »Dann werden Sie also mit mir tanzen?«

»Nein«, zischte sie scharf. »Und jetzt gehen Sie. Bitte!«

Anstatt sich peinlich berührt über diese Abfuhr zurückzuziehen, grinste Hunt. »Was kann ein einziger Tanz schon schaden? Ich bin ein recht versierter Partner – vielleicht gefällt es Ihnen sogar.«

»Mr Hunt«, murmelte sie mit wachsender Verzweiflung, »der Gedanke, mit Ihnen in irgendeiner Weise und zu irgendeinem Zweck eine Partnerschaft einzugehen, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.«

Hunt beugte sich dichter zu ihr und senkte die Stimme, sodass niemand anders ihn hören konnte. »Nun gut. Aber ich möchte Ihnen etwas zu bedenken geben, Miss Peyton. Es könnte eine Zeit kommen, in der Sie sich den Luxus nicht mehr leisten können, ein ehrenwertes Angebot von jemandem wie mir abzulehnen … oder nicht einmal ein unehrenhaftes.«

Annabelles Augen weiteten sich, und sie spürte, wie ihr vor Empörung die Röte vom Ausschnitt ihres Mieders den Hals hinauf und in die Wangen kroch. Das war wirklich zu viel – erst den ganzen Abend an der Wand zu sitzen und dann auch noch von einem Mann, den sie verachtete, beleidigt zu werden. »Mr Hunt, Sie klingen wie der Bösewicht in einem sehr schlechten Theaterstück.«

Das entlockte ihm nur ein weiteres Grinsen, und er verbeugte sich mit spöttischer Höflichkeit, bevor er davonschritt.

Aufgewühlt von dieser Begegnung, sah Annabelle ihm mit zusammengekniffenen Augen nach.

Die anderen Mauerblümchen atmeten erleichtert auf, als er verschwand.

Lillian Bowman ergriff als Erste das Wort. »Das Wort ›Nein‹ scheint ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.«

»Was hat er zuletzt gesagt, Annabelle?« fragte Daisy neugierig. »Ich meine das, woraufhin Sie ganz rot geworden sind.«

Annabelle starrte auf das silberne Etui ihrer Tanzkarten und rieb mit dem Daumen über einen winzigen angelaufenen Fleck an der Ecke. »Mr Hunt deutete an, dass meine Lage eines Tages so verzweifelt werden könnte, dass ich erwägen würde, seine Mätresse zu werden.«

Wäre sie nicht so besorgt gewesen, hätte Annabelle über den verblüfften, beinahe eulenartigen Ausdruck in ihren Gesichtern lachen können. Aber statt in jungfräulicher Empörung aufzuschreien oder die Angelegenheit taktvoll fallen zu lassen, stellte Lillian eine Frage, mit der Annabelle nicht gerechnet hatte. »Hat er recht?«

»Er hat recht, was meine verzweifelte Lage angeht«, gab Annabelle zu. »Aber nicht damit, dass ich seine oder irgendjemandes Mätresse werde. Ehe ich so tief sinke, würde ich eher einen Rübenbauern heiraten.«

Lillian lächelte sie an und schien sich mit der grimmigen Entschlossenheit zu identifizieren, die in Annabelles Stimme lag. »Ich mag dich«, verkündete sie, locker zu einer weniger formellen Anrede übergehend, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schlug die Beine mit einer Lässigkeit übereinander, die für ein Mädchen in ihrer ersten Saison eher unangemessen war.

»Ich mag dich auch«, erwiderte Annabelle unwillkürlich, weil es zum guten Ton gehörte, ein solches Kompliment zu erwidern. Doch als sie die Worte aussprach, stellte sie überrascht fest, dass sie der Wahrheit entsprachen.

Lillian ließ ihren prüfenden Blick über sie gleiten und fuhr fort. »Es würde mir zutiefst widerstreben, dich hinter einem Maultier und einem Pflug in einem Rübenfeld enden zu sehen – du bist für etwas Besseres bestimmt.«

»Ganz recht«, erwiderte Annabelle trocken. »Was wollen wir also tun?«

Obwohl die Frage scherzhaft gemeint war, schien Lillian sie ernst zu nehmen. »Dazu wollte ich gerade kommen, bevor wir unterbrochen wurden. Ich möchte einen Vorschlag machen: Wir sollten einen Pakt schließen, um uns gegenseitig bei der Suche nach Ehemännern zu helfen. Wenn sich die richtigen Gentlemen nicht um uns bemühen, dann bemühen wir uns eben um sie. Der Prozess ist wesentlich Erfolg versprechender, wenn wir unsere Kräfte bündeln, anstatt einzeln vorzugehen. Wir fangen mit der Ältesten an – das scheinst du zu sein, Annabelle – und arbeiten uns dann zur Jüngsten vor.«

»Das ist aber nicht zu meinem Vorteil«, protestierte Daisy.

»Das ist nur fair«, schmetterte Lillian ihren Einspruch ab. »Du hast noch mehr Zeit als wir anderen.«

»Welche Art von ›Hilfe‹ meinst du?«, erkundigte sich Annabelle.

»Welche auch immer erforderlich ist.« Lillian fing an, eifrig etwas in ihre Tanzkarte zu schreiben. »Wir verbessern gegenseitig unsere Schwächen und stehen uns falls nötig mit Rat und Tat zur Seite.« Mit einem fröhlichen Grinsen blickte sie auf. »Wir sind wie eine Schlagball-Mannschaft.«

Annabelle musterte sie skeptisch. »Du meinst dieses Spiel, bei dem Gentlemen abwechselnd mit einem flachen Schläger auf einen Lederball eindreschen?«

»Nicht nur Gentlemen«, korrigierte Lillian sie. »In New York dürfen auch Ladys spielen, solange sie sich vor Aufregung nicht vergessen.«

Daisy lächelte verschmitzt. »Wie bei dem einen Mal, als Lillian sich derart über eine ungerechte Entscheidung empörte, dass sie einen Pfosten aus dem Boden riss.«

»Er war schon locker«, protestierte Lillian. »Ein lockerer Pfosten hätte eine Gefahr für eine der Spielerinnen darstellen können.«

»Vor allem, als du damit nach ihnen geworfen hast«, sagte Daisy und reagierte auf die finstere Miene ihrer älteren Schwester mit einem zuckersüßen Grinsen.

Annabelle unterdrückte ein Lachen und blickte von den beiden Schwestern in Evies fassungsloses Gesicht. Es war nicht schwer, Evies Gedanken zu lesen – die amerikanischen Schwestern würden noch eine Menge lernen müssen, bis sie die Aufmerksamkeit geeigneter Heiratskandidaten auf sich ziehen konnten. Als sie sich wieder den Bowman-Schwestern zuwandte, musste sie unwillkürlich über ihre erwartungsvollen Gesichter lächeln. Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, wie die beiden mit Stöcken nach Bällen schlugen und mit bis zu den Knien gerafften Röcken über das Spielfeld rannten. Sie fragte sich, ob alle amerikanischen Mädchen so viel Temperament besaßen … Zweifellos würden die Bowmans jeden anständigen britischen Gentleman, der es wagte, sich ihnen zu nähern, verschrecken.

»Irgendwie habe ich die Jagd nach einem Ehemann nie als Mannschaftssport betrachtet«, sagte sie.

»Nun, das solltest du aber!«, erwiderte Lillian mit Nachdruck. »Stell dir nur vor, wie viel erfolgreicher wir sein werden. Schwierig würde es nur, wenn sich zwei von uns für denselben Mann interessierten … aber das erscheint mir angesichts unserer unterschiedlichen Vorlieben unwahrscheinlich.«

»Dann kommen wir überein, niemals um denselben Gentleman zu konkurrieren«, schlug Annabelle vor.

»Und au …außerdem«, unterbrach Evie sie unerwartet, »werden wir niemandem jemals Schaden zufügen.«

»Sehr hippokratisch«, erklärte Lillian anerkennend.

»Ich denke, sie hat recht, Lillian«, protestierte Daisy, die ihre Schwester offenkundig missverstanden hatte. »Schüchtere das arme Mädchen doch nicht ein, um Himmels willen.«

Lillian sah sie verärgert an. »Ich sagte ›hippokratisch‹ nicht ›hypokritisch‹, Dummkopf.«

Eilig ging Annabelle dazwischen, bevor die beiden zu streiten begannen. »Dann müssen wir uns alle über unser Vorgehen einig sein – es bringt nichts, wenn eine von uns querschießt.«

»Und wir werden uns alles haarklein erzählen«, sagte Daisy mit sichtlicher Vorfreude.

»Auch in …intime Details?«, fragte Evie schüchtern.

»Oh, besonders die!«

Lillian lächelte schief und ließ prüfend den Blick über Annabelles Kleid gleiten. »Deine Kleider sind einfach grässlich«, stellte sie unverblümt fest. »Ich werde dir ein paar von meinen geben. Ich habe ganze Truhen voll Kleidern, die ich nie getragen habe, und werde sie nicht vermissen. Und meiner Mutter wird das ohnehin nicht auffallen.«

Annabelle schüttelte augenblicklich den Kopf, dankbar für das Angebot, aber zugleich beschämt über ihre so augenfällige finanzielle Notlage. »Nein, nein, ein solches Geschenk kann ich nicht annehmen, obwohl du wirklich sehr großzügig bist …«

»Das blassblaue mit der lavendelfarbenen Paspel«, raunte Lillian Daisy zu, »erinnerst du dich an das?«

»Oh, das würde ihr himmlisch stehen«, stimmte Daisy begeistert zu. »Gewiss viel besser als dir.«

»Na, vielen Dank«, schoss Lillian zurück und warf ihr einen gespielt wütenden Blick zu.

»Nein, wirklich …!«, protestierte Annabelle.

»Und das aus grünem Musselin mit der weißen Spitzenborte am Mieder«, fuhr Lillian fort.

»Ich kann deine Kleider nicht annehmen, Lillian«, beharrte Annabelle leise.

Das Mädchen blickte von ihren Notizen auf. »Warum nicht?«

»Zum einen könnte ich es dir niemals vergelten. Und es würde nichts nützen. Hübsche Kleider machen meine fehlende Mitgift auch nicht attraktiver.«

»Ach, Geld«, bemerkte Lillian in dem sorglosen Ton, der nur jenen zu eigen war, die reichlich davon besaßen. »Du wirst es mir vergelten, indem du mir etwas schenkst, das unendlich viel wertvoller ist als Geld. Du lehrst Daisy und mich, wie wir … nun, mehr so zu sein wie du. Bring uns bei, wie man das Richtige sagt und tut – erkläre uns all die unausgesprochenen Regeln, gegen die wir anscheinend fortwährend verstoßen. Wenn möglich, könntest du uns sogar helfen, einen Förderer zu finden. Dann erhielten wir Eintritt zu all den Türen, die uns derzeit noch verschlossen sind. Und was deine fehlende Mitgift angeht, wirf einfach den Haken nach dem Mann aus. Wir anderen helfen dir, ihn an Land zu ziehen.«

Annabelle sah sie verblüfft an. »Du meinst das wirklich ernst.«

»Natürlich meinen wir das ernst«, antwortete Daisy. »Wie erleichternd es wäre, wenn wir etwas zu tun hätten, statt wie Kretins an der Wand zu sitzen! Lillian und ich hat die Langeweile dieser Saison fast in den Wahnsinn getrieben.«

»M …Mich auch«, schloss sich Evie an.

»Nun …« Annabelle blickte von einem erwartungsvollen Gesicht zum anderen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wenn ihr drei dazu bereit seid, bin ich es auch. Aber wenn wir schon einen Pakt schließen, sollten wir ihn dann nicht mit Blut oder so besiegeln?«

»Um Himmels willen, nein!«, rief Lillian. »Ich denke, wir können uns darauf einigen, ohne uns deswegen eine Ader aufzuschlitzen.« Sie gestikulierte mit ihrer Tanzkarte. »Ich denke, wir sollten jetzt eine Liste der vielversprechendsten Kandidaten erstellen, die nach der letzten Saison übrig geblieben und mittlerweile ein recht trauriger Haufen sind. Sollen wir sie in der Reihenfolge ihres Ranges auflisten? Beginnend mit den Herzögen?«

Annabelle schüttelte den Kopf. »Die Mühe mit den Herzögen können wir uns gleich sparen. Denn ich kenne keinen, der unter siebzig ist und noch Zähne hat.«

»Intelligenz und Charme sind also verhandelbar, aber nicht die Zähne?«, bemerkte Lillian verschlagen. Damit brachte sie Annabelle zum Lachen.

»Zähne sind auch verhandelbar«, antwortete Annabelle, »aber sehr wünschenswert.«

»Also gut«, lenkte Lillian ein. »Lassen wir die Kategorie der zahnlosen, alten Herzöge aus und stürzen uns gleich auf die Earls. Ich weiß von Lord Westcliff, dass …«

»Nein, nicht Westcliff.« Annabelle verzog das Gesicht und fügte hinzu: »Er ist ein kalter Fisch – und er hat kein Interesse an mir. Als ich vor vier Jahren debütierte, habe ich mich ihm praktisch an den Hals geworfen, und er schaute mich an wie Dreck, der unter seinem Schuh klebt.«

»Vergessen wir also Westcliff.« Lillian zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was ist mit Lord St. Vincent? Jung, standesgemäß, sündhaft gut aussehend …«

»Das wäre nicht von Erfolg gekrönt«, sagte Annabelle. »Ganz gleich wie kompromittierend die Situation wäre, St. Vincent würde mir nie einen Antrag machen. Er hat mindestens ein Dutzend Frauen verführt, kompromittiert und ihren Ruf vollkommen ruiniert – Ehre bedeutet ihm nichts.«

»Da wäre n …noch der Earl of Eglinton«, schlug Evie zögernd vor. »Aber er ist ziemlich b …b …beleibt und mindestens fünfzig Jahre alt …«

»Setzt ihn auf die Liste«, beharrte Annabelle. »Ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein.«

»Und Viscount Rosebury«, bemerkte Lillian etwas nachdenklich. »Obwohl er etwas sonderbar ist, und so … wie soll ich sagen, schlaff.«

»Solange er eine feste Brieftasche hat, darf er ruhig überall sonst schlaff sein«, bemerkte Annabelle, was die anderen Mädchen mit einem Kichern quittierten. »Schreib ihn ebenfalls auf.«

Die vier ignorierten die Musik und die Paare, die vor ihnen vorbeiwirbelten, arbeiteten eifrig an der Liste und brachten sich gelegentlich gegenseitig so sehr zum Lachen, dass sie neugierige Blicke der anderen Ballbesucher auf sich zogen.

»Ruhig«, ermahnte Annabelle die anderen und bemühte sich, streng zu klingen. »Wir wollen doch nicht, dass jemand ahnt, was wir vorhaben … und Mauerblümchen sollten nicht lachen.«

Alle bemühten sich um einen ernsten Gesichtsausdruck, was nur zu neuen Kicheranfällen führte. »Oh, nun seht doch«, keuchte Lillian und betrachtete die immer länger werdende Liste der Heiratskandidaten. »Ausnahmsweise sind unsere Tanzkarten voll.« Sie betrachtete die Liste der Junggesellen und schürzte nachdenklich die Lippen. »Mir fällt ein, dass einige dieser Gentlemen wahrscheinlich an der Jagdgesellschaft zum Saisonende bei den Westcliffs in Hampshire teilnehmen werden. Daisy und ich sind bereits eingeladen. Was ist mit dir, Annabelle?«

»Ich bin mit einer seiner Schwestern bekannt«, sagte Annabelle. »Ich denke, ich kann sie dazu bringen, mich einzuladen. Notfalls werde ich betteln.«

»Ich lege auch ein Wort für dich ein«, sagte Lillian zuversichtlich. Sie lächelte Evie an. »Und ich sage ihr, dass sie dich ebenfalls einladen muss.«

»Das wird ein Spaß!«, rief Daisy. »Dann steht unser Plan fest. In vierzehn Tagen fallen wir in Hampshire ein und finden einen Ehemann für Annabelle.« Alle reichten sich die Hände. Sie kamen sich verrückt vor, waren aufgedreht und mehr als nur ein wenig ermutigt. Vielleicht wendet sich mein Glück bald, dachte Annabelle und schloss die Augen, während sie ein hoffnungsvolles Stoßgebet gen Himmel schickte.

KAPITEL 2

Simon Hunt hatte schon früh gelernt, dass er sein Glück einer oft wenig wohlwollenden Welt abtrotzen musste, da er nicht von edlem Geblüt war und das Schicksal ihn nicht mit Reichtum oder außergewöhnlichen Gaben gesegnet hatte. Er war zehnmal aggressiver und ehrgeiziger als ein durchschnittlicher Mann. Den Menschen fiel es in der Regel weitaus leichter, ihm seinen Willen zu lassen, als sich gegen ihn zu stellen. Und obwohl Simon herrschsüchtig, vielleicht sogar rücksichtslos war, wurde sein Schlaf nachts nie von Gewissensbissen geplagt.

Sein Vater war Metzger gewesen und hatte davon gut eine sechsköpfige Familie versorgen können. Als Simon alt genug war, um das schwere Hackmesser zu schwingen, stellte er ihn als seinen Gehilfen ein. Der jahrelangen Arbeit im Laden seines Vaters verdankte Simon die kräftigen Arme und breiten Schultern. Sein Vater war immer davon ausgegangen, dass er eines Tages den Familienbetrieb übernehmen würde, aber mit einundzwanzig Jahren verließ Simon zur Enttäuschung seines Vaters das Geschäft, um sich eine andere Existenz aufzubauen. Als er sein weniges Erspartes investierte, entdeckte Simon schnell sein wahres Talent – er verstand es, Geld zu verdienen.

Simon liebte die Geschäftssprache, die Risiken, das Zusammenspiel von Handel, Industrie und Politik … und er hatte sofort erkannt, dass das wachsende britische Eisenbahnnetz schon bald die wichtigste Grundlage für den Erfolg der Banken bilden würde. Die Anweisung von Bargeld und Wertpapieren, schnell entstehende Investitionsmöglichkeiten – alles würde in hohem Maße von den Dienstleistungen der Eisenbahn abhängen. Seinem Instinkt folgend, investierte Simon jeden Cent in Eisenbahnaktien. Nun, mit dreiunddreißig, besaß er eine Mehrheitsbeteiligung an drei produzierenden Unternehmen, einer dreieinhalb Hektar großen Gießerei und einer Werft. Er war ein – wenn auch unerwünschter – Gast in aristokratischen Ballsälen und saß mit Angehörigen der obersten Kreise in den Vorständen von sechs Unternehmen.

Nach Jahren unermüdlicher Arbeit hatte er fast alles erreicht, was er sich jemals gewünscht hatte. Würde man ihn jedoch fragen, ob er ein glücklicher Mann sei, hätte Simon diese Frage mit einem Schnauben abgetan. Glück, dieses schwer fassbare Gefühl, das mit Erfolg einherging, war ein sicheres Zeichen von Selbstzufriedenheit. Es lag nicht in Simons Natur, selbstgefällig oder zufrieden zu sein, und er wollte es auch gar nicht sein.

Dennoch … in der verborgensten, entlegensten Ecke seines vernachlässigten Herzens hielt sich ein Wunsch, den Simon nicht auszulöschen vermochte.

Er warf einen verstohlenen Blick durch den Ballsaal, und wie immer versetzte ihm der Anblick von Annabelle Peyton einen seltsam heftigen Stich. Trotz all der Frauen, die ihm zu Willen gewesen wären – und das waren mehr als nur ein paar – , hatte noch nie eine so umfassend seine Aufmerksamkeit erregt. Annabelles Anziehungskraft ging über bloße körperliche Schönheit hinaus, obwohl sie weiß Gott auch damit mehr als reichlich gesegnet war. Wäre in Simons Seele auch nur ein Funken Poesie gewesen, hätte er Dutzende von schwärmerischen Formulierungen finden können, um ihre Reize zu beschreiben. Aber er war durch und durch gewöhnlich und fand keine Worte für die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Er wusste nur, dass ihm beim Anblick von Annabelle im glitzernden Licht der Kronleuchter fast die Knie weich wurden.

Simon erinnerte sich noch genau an den Moment, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie stand auf einer Terrasse und suchte mit leicht gerunzelter Stirn etwas in ihrer Handtasche. Die Sonne zauberte goldene und champagnerfarbene Strähnen in ihr Haar und ließ ihre Haut leuchten. Sie hatte etwas Köstliches … etwas ganz und gar Rührendes an sich, mit ihrer samtigen Haut, den strahlend blauen Augen und den zarten Falten auf der Stirn, die er ihr so gern fortgestrichen hätte.

Er war sich sicher gewesen, dass Annabelle inzwischen längst verheiratet wäre. Dass die Peytons in eine schwierige finanzielle Lage geraten waren, hatte Simon nichts bedeutet. Er war davon ausgegangen, dass alle heiratsfähigen Männer, die bei Verstand waren, ihren Wert erkennen und sie sofort für sich beanspruchen würden. Doch nachdem zwei Jahre vergangen waren und Annabelle nach wie vor unverheiratet war, erwachte in Simon ein zarter Funken Hoffnung. Er sah eine rührende Tapferkeit in ihrer entschlossenen Suche nach einem Ehemann, der Selbstbeherrschung, mit der sie ihre zunehmend fadenscheinigen Kleider trug. Und darin, dass sie sich nicht für wertlos hielt, auch wenn sie keine Mitgift einbringen konnte. Die raffinierte Art, mit der sie die Suche nach einem Ehemann betrieb, erinnerte ihn an einen erfahrenen Glücksspieler, der in einer verlorenen Partie seine letzten Karten ausspielte. Annabelle war klug, achtsam, kompromisslos und noch immer schön, obgleich die drohende Armut ihren Augen und ihrem Mund in letzter Zeit eine gewisse Härte verliehen hatte. Nur aus purem Egoismus bedauerte Simon ihre finanzielle Notlage nicht – sie bot ihm eine Gelegenheit, die er sonst nie erhalten hätte.

Das Problem war nur, dass Simon noch nicht herausgefunden hatte, wie er Annabelle für sich gewinnen konnte, da sie sich ganz offensichtlich von allem, was er darstellte, abgestoßen fühlte. Simon war sich sehr wohl bewusst, dass sein Charakter sich nicht durch gutes Benehmen auszeichnete. Zudem hatte er so wenig Ehrgeiz, ein Gentleman zu werden, wie ein Tiger eine Hauskatze. Er war lediglich ein sehr wohlhabender Mann, der unter der Enttäuschung litt, dass er ausgerechnet das, was er am meisten begehrte, nicht kaufen konnte.

Bisher hatte Simon geduldig abgewartet, weil er wusste, dass die Verzweiflung Annabelle schließlich zu Entscheidungen zwingen würde, die sie vorher nicht in Betracht gezogen hatte. Entbehrungen ließen eine Situation oftmals in einem völlig neuen Licht erscheinen. Bald war Annabelles Spiel zu Ende. Dann würde sie vor der Wahl stehen, einen armen Mann zu heiraten oder die Geliebte eines reichen zu werden. Und in letzterem Fall würde sie in seinem Bett landen.

»Ein appetitliches kleines Schneckchen, nicht wahr?«, bemerkte jemand neben ihm, und Simon drehte sich zu Henry Burdick um, dessen Vater, ein Viscount, angeblich im Sterben lag. Zum Warten verurteilt, bis sein Vater abtrat und er endlich den Titel und das Familienvermögen erbte, widmete Burdick den Großteil seiner Zeit dem Glücksspiel und seiner Rolle als Schürzenjäger. Er folgte Simons Blick zu Annabelle, die in ein lebhaftes Gespräch mit den anderen Mauerblümchen vertieft war.

»Das kann ich nicht beurteilen«, erwiderte Simon und verspürte schlagartig Antipathie gegenüber Burdick und seinesgleichen, die vom Tag ihrer Geburt an alle möglichen Privilegien auf dem Silbertablett serviert bekamen. Und für gewöhnlich unternahmen sie nichts, um diese willkürliche Großzügigkeit des Schicksals zu rechtfertigen.

Burdick lächelte, sein Gesicht war vom übermäßigen Alkoholkonsum und reichhaltigem Essen gerötet. »Nun, ich werde es bald herausfinden«, verkündete er.

Mit dieser Absicht war Burdick bei Weitem nicht allein. Nicht wenige Männer hatten es auf Annabelle abgesehen und ihre Fährte aufgenommen wie ein Wolfsrudel, das ein verwundetes Beutetier wittert. In dem Moment, in dem sie am schwächsten war und kaum noch Widerstand leisten konnte, würde einer von ihnen zugreifen und sie erlegen. Wie in der Natur üblich, würde jedoch letztlich das dominante Männchen den Sieg davontragen.

Der Schatten eines Lächelns spielte um Simons harten Mund. »Sie überraschen mich«, murmelte er. »Ich hätte angenommen, dass die missliche Lage einer Lady Gentlemen wie Sie zu Ritterlichkeit inspirieren würde. Stattdessen stelle ich fest, dass Sie die gemeinen Absichten hegen, die man von meinesgleichen erwarten würde.«

Burdick lachte leise und übersah das bösartige Funkeln in Simons schwarzen Augen. »Lady hin oder her, wenn ihre Mittel endlich erschöpft sind, wird sie sich für einen von uns entscheiden müssen.«

»Wird denn keiner von Ihnen ihr einen Antrag machen?«, fragte Simon beiläufig.

»Großer Gott, warum?« Burdick leckte sich bereits voller Vorfreude die Lippen. »Wir brauchen die Kleine doch nicht zu heiraten, wenn sie bald für einen weit günstigeren Preis zu haben ist.«

»Vielleicht besitzt sie dafür zu viel Ehrgefühl.«

»Das bezweifle ich«, erwiderte der junge Aristokrat unbekümmert. »Frauen, die so schön und so arm sind, können sich keine Ehre leisten. Außerdem kursiert das Gerücht, dass sie ihre Ehre bereits Lord Hodgeham geopfert hat.«

»Hodgeham?« Simon ließ sich sein Erschrecken nicht anmerken. »Was war der Anlass für dieses Gerücht?«

»Oh, Hodgehams Kutsche wurde zu höchst merkwürdigen Zeiten an den Stallungen hinter dem Haus der Peytons gesehen … Und einigen ihrer Gläubiger zufolge begleicht er auch ab und zu ihre Rechnungen.« Burdick lachte anzüglich. »Eine Nacht zwischen diesen hübschen Schenkeln ist es wert, die Rechnung des Lebensmittelhändlers zu bezahlen, meinen Sie nicht auch?«

Simon verspürte augenblicklich den mörderischen Drang, Burdicks Kopf vom Rest seines Körpers zu trennen. Er war sich nicht sicher, wie viel von seiner kalten Wut durch das Bild geschürt wurde, wie Annabelle Peyton mit Lord Hodgeham im Bett lag, und wie viel durch Burdicks niederträchtiges Vergnügen an Klatsch und Tratsch, der zudem höchstwahrscheinlich auch noch erfunden war.

»Ich würde sagen, wenn Sie den Ruf einer Lady ruinieren wollen«, sagte Simon in gefährlich liebenswürdigem Ton, »sollten Sie besser handfeste Beweise für Ihre Behauptungen haben.«

»Bei Gott, Klatsch und Tratsch brauchen doch keine Beweise«, antwortete der junge Mann augenzwinkernd. »Und die Zeit wird bald den wahren Charakter der Lady offenbaren. Hodgeham verfügt bei Weitem nicht über die Mittel, eine solche Schönheit zu halten. Schon bald wird sie mehr wollen, als er ihr geben kann. Ich prophezeie, dass sie am Ende der Saison mit dem Kerl mit den tiefsten Taschen davonsegeln wird.«

»Das wären dann wohl meine«, bemerkte Simon leise.

Burdick blinzelte überrascht, und sein Lächeln verblasste, als er sich fragte, ob er richtig gehört hatte. »Wie bitte?«

»Zwei Jahre lang habe ich zugesehen, wie Sie und das Rudel von Idioten, mit dem Sie sich herumtreiben, ihr auf den Fersen waren«, sagte Simon und verengte die Augen. »Jetzt haben Sie jede Chance auf sie verspielt.«

»Ich habe meine … Wie meinen Sie das?«, verlangte Burdick entrüstet zu wissen.

»Ich meine damit, dass ich dem ersten Mann, der es wagt, in mein Territorium einzudringen, die schlimmsten Schmerzen zufügen werde, und zwar geistig, körperlich und finanziell. Und dem Nächsten, der in meiner Anwesenheit unbegründete Gerüchte über Miss Peyton in die Welt setzt, werde ich mit der Faust den Rachen stopfen.« Als er in Burdocks fassungsloses Gesicht sah, wirkte Simons Lächeln so bedrohlich wie das Zähnefletschen eines Tigers. »Erzählen Sie das gern jedem, den es interessieren könnte«, empfahl er ihm und ließ den aufgeblasenen, gaffenden Wicht einfach stehen.

KAPITEL 3

Nachdem Annabelle von ihrem älteren Cousin, der sie manchmal begleitete, in ihr Stadthaus zurückgebracht worden war, schritt sie durch die leere, mit Steinplatten ausgelegte Eingangshalle. Beim Anblick des Hutes, der auf dem Demi-Lune-Tisch mit den geschwungenen Schnitzereien lag, hielt sie kurz inne. Es war ein hoher Herrenhut, grau, mit einem dunkelburgunderroten Satinband. Auffällig, verglichen mit den einfachen schwarzen Modellen, die die meisten Herren trugen. Annabelle hatte ihn schon viel zu oft hier liegen sehen, wie eine zum Angriff bereite Schlange.

Daneben lehnte ein eleganter Stock mit einem diamantbesetzten Griff am Tisch. Annabelle durchzuckte der lebhafte Wunsch, mit dem Stock die Spitze des Hutes einzuschlagen – am besten, während der Besitzer ihn trug. Stattdessen ging sie schweren Herzens und mit finsterer Miene die Treppe hinauf.

Als sie sich dem zweiten Stock näherte, wo sich die Gemächer der Familie befanden, trat ein schwergewichtiger Mann auf den obersten Treppenabsatz. Er betrachtete sie mit einem unerträglichen Grinsen. Sein Teint war gerötet und glänzte von einer kürzlichen Anstrengung, und eine Locke seines über den Kopf gekämmten Haares baumelte wie ein Hahnenkamm an der Seite herunter.

»Lord Hodgeham«, sagte Annabelle steif und versuchte, die Scham und die Wut herunterzuschlucken, die in ihrer Kehle einen Kloß gebildet hatten. Hodgeham war einer der wenigen Menschen auf der Welt, die sie wirklich hasste. Als sogenannter Freund ihres verstorbenen Vaters kam er sporadisch zu Besuch, jedoch nie zu den üblichen Zeiten. Hodgeham erschien stets spät am Abend und verbrachte entgegen allen Geboten des Anstands viel Zeit allein in einem Privatzimmer mit Annabelles Mutter Philippa. Und Annabelle konnte nicht umhin zu bemerken, dass in den Tagen nach seinen Besuchen einige ihrer dringendsten Rechnungen auf geheimnisvolle Weise bezahlt waren und der eine oder andere wütende Gläubiger Ruhe gab. Und Philippa war dann ungewohnt spröde, reizbar und verweigerte jedes Gespräch.

Annabelle konnte kaum glauben, dass ihre Mutter, die stets bei jeder Unsittlichkeit erschaudert war, jemandem für Geld Zugang zu ihrem Körper gewährte. Doch es war die einzig vernünftige Schlussfolgerung, und sie erfüllte Annabelle mit hilfloser Scham und Wut. Dabei richtete sich ihre Wut nicht allein gegen ihre Mutter – sie war genauso wütend auf ihre Situation und auf sich selbst, weil es ihr noch nicht gelungen war, einen Ehemann zu finden. Annabelle hatte lange gebraucht, um zu begreifen, dass sie, ganz gleich wie hübsch und charmant sie war und wie interessiert ein Gentleman auch wirken mochte, keinen Antrag erhielt. Zumindest keinen seriösen.

Seit ihrem Debüt hatte Annabelle allmählich einsehen müssen, dass ihre Träume von einem gut aussehenden, kultivierten Verehrer, der sich in sie verliebte und all ihre Probleme verschwinden ließe, eine naive Fantasie waren. Diese ernüchternde Erkenntnis war ihr während ihrer dritten Saison mehr als deutlich zu Bewusstsein gekommen. Und jetzt, in ihrer vierten Saison, kam das wenig attraktive Bild von Annabelle, der Bauersfrau, der Realität erschreckend nahe.

Mit versteinerter Miene versuchte Annabelle, schweigend an Hodgeham vorbeizugehen, doch er legte ihr eine fleischige Hand auf den Arm und hielt sie auf. Vor lauter Abscheu zuckte Annabelle derart heftig zurück, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. »Fassen Sie mich nicht an«, sagte sie und starrte in sein gerötetes Gesicht.

Hodgehams Augen wirkten sehr blau im Vergleich zu seinem rötlichen Teint. Grinsend stützte er sich mit der Hand auf das obere Ende des Geländers und hinderte Annabelle so daran, zum Treppenabsatz hinaufzusteigen. »So ungastlich«, murmelte er mit einer für seine Gestalt höchst unpassenden Tenorstimme, mit der viele große Männer ausgestattet zu sein schienen. »Nach all den Gefälligkeiten, die ich Ihrer Familie erwiesen habe …«

»Sie haben uns keine Gefälligkeiten erwiesen«, widersprach Annabelle knapp.

»Ohne meine Großzügigkeit hätte man euch schon längst auf die Straße gesetzt.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass ich Ihnen dankbar sein sollte?«, fragte Annabelle voller Abscheu. »Sie sind nichts weiter als ein schmieriger Aasfresser.«

»Ich habe nichts genommen, was man mir nicht willig angeboten hat.« Hodgeham streckte die Hand aus und legte einen Finger unter ihr Kinn. Die feuchte Berührung seiner Haut ließ sie angewidert zurückfahren. »In Wahrheit war es eine eher biedere Angelegenheit. Ihre Mutter ist viel zu fügsam für meinen Geschmack.« Er beugte sich dichter zu ihr, bis sein Geruch – alter Schweiß, der von reichlich Eau de Cologne überdeckt war – Annabelle stechend in die Nase stieg. »Vielleicht probiere ich beim nächsten Mal dich aus«, murmelte er.

Zweifellos erwartete er, dass Annabelle weinen, erröten oder ihn anflehen würde. Stattdessen bedachte sie ihn mit einem kühlen Blick. »Sie eitler, alter Narr«, sagte sie ruhig. »Meinen Sie nicht, dass ich jemand Besseren als Sie finden könnte, wenn ich die Mätresse von jemandem werden wollte?«

Schließlich verzog Hodgeham die Lippen zu einem Lächeln, obwohl Annabelle erfreut feststellte, dass es ihn einige Mühe zu kosten schien. »Es ist unklug, sich mich zum Feind zu machen. Mit ein paar wohlplatzierten Worten könnte ich Ihre Familie hoffnungslos ins Verderben stürzen.« Er warf einen vielsagenden Blick auf den ausgefransten Stoff ihres Mieders und lächelte verächtlich. »In diesen Lumpen und mit falschen Edelsteinen würde ich die Nase an deiner Stelle ja nicht so hoch tragen.«

Annabelle errötete und schlug wütend seine Hand weg, als er versuchte, ihr an den Ausschnitt zu fassen. Hodgeham lachte in sich hinein und stieg die Treppe hinunter, während Annabelle wie erstarrt wartete. Kaum hatte sie gehört, wie sich die Haustür öffnete und schloss, eilte sie die Treppe hinunter und drehte den Schlüssel um. Schwer atmend vor Angst und anhaltender Empörung, legte sie ihre Handflächen auf die schwere Eichentür und lehnte die Stirn an eine der Scheiben.

»Das reicht«, befand sie laut und zitterte vor Wut. Kein Hodgeham mehr, keine unbezahlten Rechnungen mehr … sie hatten alle genug gelitten. Sie musste sofort einen geeigneten Heiratskandidaten finden – auf der Jagdgesellschaft in Hampshire würde sie den besten nehmen, den sie finden konnte, und dann hatte sie es endlich hinter sich. Und wenn das nicht klappte …

Langsam ließ sie ihre Hände über die Türverkleidung gleiten, wobei ihre feuchten Handflächen Abdrücke auf dem gemaserten Holz hinterließen. Wenn sie niemanden zum Heiraten fand, konnte sie immer noch die Mätresse irgendeines Gentlemans werden. Obwohl niemand sie als Ehefrau wollte, schien es eine unendliche Anzahl von Gentlemen zu geben, die bereit waren, sich in Sünde mit ihr zu verbinden. Wenn sie geschickt war, konnte sie dabei ein Vermögen verdienen. Aber sie schreckte vor dem Gedanken zurück, sich nie wieder in der besseren Gesellschaft blicken lassen zu können, verachtet und geächtet zu sein und nur für ihre Fähigkeiten im Bett geschätzt zu werden. Aber die Alternative, nämlich in tugendhafter Armut zu leben und als Näherin oder Wäscherin zu arbeiten oder Gouvernante zu werden, war unendlich viel gefährlicher. Eine junge Frau in dieser Position wäre jedem ausgeliefert. Und der Lohn reichte nicht aus, um ihre Mutter zu ernähren, oder Jeremy, der sich ebenfalls als Dienstbote verdingen müsste. Es sah nicht so aus, als könnten die drei sich Annabelles Moral leisten. Sie lebten in einem Kartenhaus … und die geringste Erschütterung konnte es zum Einsturz bringen.

*

Am nächsten Morgen saß Annabelle am Frühstückstisch und hielt eine Tasse in den eiskalten Fingern. Sie hatte ihren Tee gerade ausgetrunken, aber das Porzellan war noch warm von dem kräftigen Getränk. Sie rieb mit dem Daumen über eine winzige Scharte in der Glasur und blickte nicht auf, als ihre Mutter Philippa den Raum betrat.

»Tee?«, fragte sie vorsichtig und hörte Philippas gemurmelte Zustimmung. Annabelle schenkte eine weitere Tasse aus der Kanne vor ihr ein, süßte den Tee mit einem Stück Zucker und füllte die Tasse mit einem großzügigen Schuss Milch auf.

»Ich trinke ihn nicht mehr mit Zucker«, erklärte Philippa. »Ich mag ihn lieber ohne.«

An dem Tag, an dem ihre Mutter keine Süßigkeiten mehr mochte, würde man in der Hölle Eiswasser servieren. »Zucker für deinen Tee können wir uns immer noch leisten«, antwortete Annabelle und rührte energisch mit dem Löffel den Tee um. Sie blickte auf und schob Tasse und Untertasse zu Philippas Platz am Tisch. Wie erwartet, sah ihre Mutter mürrisch und verhärmt aus, und hinter ihrer verbitterten Maske lauerte die Scham. Es wäre früher unvorstellbar gewesen, dass ihre elegante, temperamentvolle Mutter – die so viel hübscher war als alle anderen Mütter – einen solchen Gesichtsausdruck aufsetzen könnte. Als sie jetzt Philippas angespanntes Gesicht betrachtete, wurde Annabelle klar, dass ihre eigene Miene fast genauso überdrüssig wirkte und um ihren Mund der gleiche enttäuschte Ausdruck lag.

»Wie war der Ball?« Philippa hielt ihr Gesicht dicht über die Teetasse, sodass ihr der Dampf ins Gesicht stieg.

»Das übliche Desaster!« Annabelle milderte ihre schockierend ehrliche Antwort mit einem gezwungenen Lachen. »Der einzige Mann, der mich zum Tanzen aufgefordert hat, war ausgerechnet Mr Hunt.«

»Ach, du lieber Himmel«, murmelte Philippa und trank einen Schluck heißen Tee. »Hast du ihn erhört?«

»Natürlich nicht. Es hätte keinen Zweck. Wenn er mich ansieht, ist klar, dass er alles andere als die Ehe im Sinn hat.«

»Selbst Männer wie Mr Hunt heiraten irgendwann«, erwiderte Philippa und blickte von ihrer Tasse auf. »Und du wärst die ideale Frau für ihn … Du könntest vielleicht einen mildernden Einfluss auf ihn ausüben und ihm den Weg in die anständige Gesellschaft erleichtern.«

»Großer Gott, Mama – das klingt ja, als wolltest du mich ermutigen, seine Aufmerksamkeiten zu erhören.«

»Nein …« Philippa nahm ihren Löffel und rührte unnötigerweise in ihrem Tee. »Nicht, wenn du Mr Hunt wirklich abstoßend findest. Aber wenn es dir gelänge, ihn zu Anstand zu erziehen, wären wir sicher alle gut versorgt …«

»Er ist nicht der Typ, der heiratet, Mama. Das wissen alle. Ganz gleich, was ich täte, ich könnte nie einen anständigen Antrag von ihm bekommen.« Annabelle kramte mit einer winzigen, angelaufenen Silberzange in der Zuckerdose und suchte nach dem kleinsten Stückchen, das sie finden konnte, entdecke einen Krümel braunen Zuckers, ließ ihn in ihre Tasse fallen und übergoss ihn mit frischem Tee.

Philippa nahm einen Schluck, den Blick sorgfältig abgewandt, während sie einen neuen Gesprächsfaden aufnahm, der allerdings für Annabelle eine unangenehme Verbindung zum letzten aufwies. »Wir haben nicht die Mittel, Jeremy auch das nächste Schuljahr auf die Schule zu schicken. Ich habe die Dienstboten seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt. Es gibt Rechnungen …«

»Ja, das weiß ich alles«, sagte Annabelle und errötete leicht, als kurz Ärger in ihr aufstieg. »Ich werde einen Mann finden, Mama. Sehr bald schon.« Sie zwang ein oberflächliches Lächeln in ihr Gesicht. »Was hältst du von einem Abstecher nach Hampshire? Jetzt, wo sich die Saison dem Ende zuneigt, werden viele Leute London verlassen, um neue Vergnügungen zu suchen. Insbesondere diese Jagdgesellschaft, die Lord Westcliff auf seinem Landsitz veranstaltet.«

Plötzlich sah Philippa sie mit neuem Interesse an. »Mir war nicht bewusst, dass wir eine Einladung vom Earl erhalten haben.«

»Haben wir auch nicht«, antwortete Annabelle. »Noch nicht. Aber das werden wir … und ich habe das Gefühl, dass uns in Hampshire etwas Gutes erwartet, Mama.«

KAPITEL 4

Zwei Tage, bevor Annabelle und ihre Mutter nach Hampshire abreisten, traf ein riesiger Stapel aus Schachteln und Paketen ein. Es verlangte dem Diener drei Gänge ab, um sie von der Eingangshalle zu Annabelles Zimmer im zweiten Stock zu schaffen, wo er sie neben dem Bett auftürmte. Beim vorsichtigen Auspacken entdeckte Annabelle mindestens ein halbes Dutzend ungetragener Kleider … Seidentaft und Musselin in satten Farben, dazupassende Jacken, die mit butterweichem Gamsleder gesäumt waren, und ein Ballkleid aus schwerer elfenbeinfarbener Seide mit zarter belgischer Spitze an Mieder und Ärmeln. Dazu Handschuhe, Schals, Tücher und Hüte von solcher Qualität und Schönheit, dass Annabelle beinahe geweint hätte. Die Kleider und Accessoires mussten ein Vermögen gekostet haben – für die Bowman-Mädchen war das zweifellos nicht der Rede wert, aber Annabelle fühlte sich von diesem Geschenk nahezu überwältigt.

Sie nahm den Brief, der mit den Paketen geliefert worden war, brach das Wachssiegel und las die entschlossen geschriebenen Zeilen.

Von deinen guten Feen, auch bekannt als Lillian und Daisy. Auf eine erfolgreiche Jagd in Hampshire.

PS: Du wirst doch wohl nicht den Mut verlieren, oder?

Annabelle verfasste sogleich eine Antwort.

Liebe gute Feen,

das Einzige, was ich noch besitze, ist mein Mut. Ich danke euch unendlich für die Kleider. Ich bin vollkommen außer mir vor Freude, weil ich endlich wieder schöne Kleider tragen kann. Es ist eine meiner vielen Schwächen, dass ich schöne Dinge so sehr liebe.

Eure ergebene Annabelle

PS: Die Schuhe schicke ich euch zurück, sie sind mir viel zu klein. Und dabei habe ich immer gehört, Amerikanerinnen hätten große Füße!

Liebe Annabelle,