Glut der Verheißung - Lisa Kleypas - E-Book

Glut der Verheißung E-Book

Lisa Kleypas

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Beschreibung

Die zarte Winnifred Hathaway hat es dem einzelgängerischen Kev angetan, seit er denken kann. Doch bislang fand er nicht den Mut, ihr seine Liebe zu gestehen. Als Winnifred plötzlich von einem anderen Mann umworben wird, weiß Kev, dass er um sie kämpfen muss. Aber ein dunkles Geheimnis überschattet sein Leben, eines, das alles zu zerstören droht…

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Seitenzahl: 502

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Das Original SEDUCE ME AT SUNRISE erschien bei St. Martin’s Paperbacks, New York.
Copyright © 2008 by Lisa Kleypas Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München Umschlagillustration: © Franco Accornero, via Agentur Schlück GmbH Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-05285-0V002www.heyne.de
Inhaltsverzeichnis
 
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
 
Epilog
Das Buch
In ihrer Kindheit waren Winnifred Hathaway und Kev Merripen unzertrennlich. Als die zarte Winnifred nach Jahren in Frankreich nach Hause zurückkehrt, ist plötzlich alles anders: Kevs Zuneigung zu ihr hat sich in leidenschaftliche Liebe verwandelt – doch gleichzeitig ist die einstige Vertrautheit zwischen ihnen einer plötzlichen Fremde gewichen. Als dann auch noch ein hartnäckiger Verehrer auftaucht, der Winnifred umwirbt, wagt Kev es kaum mehr, sich ihr zu nähern. Wird seine Liebe am Ende stark genug sein, die Furcht zu überwinden?
Pressestimmen
»Die fulminante Fortsetzung der Saga um die Hathaway-Familie!« Romance Reviews »Eine Kleypas zu lesen, ist ein Traum!« Romantic Times
Die Autorin
Lisa Kleypas ist eine Meisterin ihres Fachs: Mit ihren zahlreichen historischen Liebesromanen nimmt sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen für sich ein, sondern auch die internationalen Bestsellerlisten. Die Autorin schreibt und lebt mit ihrer Familie in Washington State.
Erstes Kapitel
London, 1848, Winter
 
 
Für Win war Kev Merripen schon immer wunderschön gewesen, auf eine Weise, wie eine karge Landschaft oder ein Wintertag wunderschön sein können. Er war ein hochgewachsener, beeindruckender Mann, kompromisslos in jeder Hinsicht. Seine exotisch verwegenen Gesichtszüge waren die perfekte Kulisse für Augen, so dunkel, dass die Iris kaum von der Pupille zu unterscheiden war. Sein Haar war dick und rabenschwarz, seine Brauen dicht und gerade. Und seinem breiten Mund wohnte stets ein grüblerischer Zug inne, was Win einfach unwiderstehlich fand.
Merripen. Ihre Liebe, aber nie ihr Geliebter. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, als er von ihrer Familie regelrecht adoptiert worden war. Obwohl die Hathaways ihn immer wie einen der ihren behandelt hatten, sah er sich in der Rolle eines Dieners. Eines Beschützers. Eines Außenseiters.
Er kam zu Wins Schlafzimmer, stand lautlos an der Türschwelle und sah zu, wie sie eine Tasche mit persönlichen Utensilien von ihrer Frisierkommode packte. Eine Bürste, eine Schatulle mit Haarnadeln, eine Handvoll Taschentücher, die ihre Schwester Poppy für sie bestickt hatte. Während Win die Dinge in ihre Ledertasche legte, spürte sie auf einmal Merripens reglose Gestalt. Sie wusste, was hinter seiner schweigsamen Fassade lauerte, denn sie quälte dasselbe unstillbare Verlangen.
Der Gedanke, ihn zu verlassen, brach ihr schier das Herz. Und dennoch blieb ihr keine andere Wahl. Sie war eine Invalide, seit sie vor zwei Jahren am Scharlachfieber erkrankt war. Sie war dürr und zerbrechlich, erschöpft und stets der Ohnmacht nahe. Eine schwache Lunge, hatten die Ärzte einstimmig erklärt. Sie würde der Krankheit zwangsläufig erliegen. Ein Leben lang Bettruhe halten, um dann einen frühen Tod zu erleiden.
Win wollte ein solches Schicksal nicht hinnehmen.
Sie sehnte sich danach, gesund zu werden und all die Dinge zu genießen, die die meisten anderen Menschen als selbstverständlich hinnahmen. Tanzen, lachen, lange Spaziergänge machen. Sie wollte die Freiheit haben, zu lieben … zu heiraten … eines Tages ihre eigene Familie zu gründen.
Solange ihr gesundheitlicher Zustand jedoch dermaßen angeschlagen war, war ihr nichts dergleichen vergönnt. Aber das sollte sich ändern. Noch an diesem Tag brach sie zu einem französischen Sanatorium auf, in dem ein tatkräftiger junger Arzt, Julian Harrow, erstaunliche Resultate bei Patienten wie ihr erreicht hatte. Seine Behandlungen waren unkonventionell, umstritten, doch Win interessierte das nicht. Sie hätte alles getan, um geheilt zu werden. Denn erst, wenn dieser Tag anbräche, könnte sie Merripen haben.
»Geh nicht«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstand.
Mit großer Anstrengung gelang es Win, sich gelassen zu geben, obwohl ihr ein heißes und kaltes Kribbeln den Rücken hinabrann.
»Schließ bitte die Tür«, brachte sie mühsam hervor. Die Unterhaltung, die nun folgen würde, erforderte eine gewisse Privatsphäre.
Merripen rührte sich nicht. Eine leichte Röte hatte sein bronzefarbenes Gesicht überzogen, und seine schwarzen Augen leuchteten wild und ungezähmt, was ihm eigentlich gar nicht ähnlich sah. In diesem Moment war er ganz Angehöriger der Roma, und seine Gefühle waren näher an der Oberfläche, als er es normalerweise zuließ.
Sie schloss eigenhändig die Tür, während er ihr auswich, als könne jeder noch so kleine körperliche Kontakt zwischen ihnen verheerende Folgen haben.
»Warum willst du nicht, dass ich gehe, Kev?«, fragte sie sanft.
»Du wärst dort nicht sicher.«
»Ich bin dort vollkommen sicher«, sagte sie. »Ich habe großes Vertrauen zu Dr. Harrow. Seine Behandlung erscheint mir vernünftig, und er hat eine hohe Erfolgsquote …«
»Er hat genauso viele Fehlschläge wie Erfolge. Es gibt bessere Ärzte hier in London. Du tätest besser daran, erst alle Möglichkeiten hier in England auszuschöpfen.«
»Ich glaube, dass meine besten Chancen bei Dr. Harrow liegen.« Win lächelte in Merripens harte schwarze Augen, verstand sie die Dinge doch nur zu gut, die er nicht aussprechen konnte. »Ich komme zu dir zurück. Das verspreche ich.«
Er überging ihre Worte. Jeder Versuch ihrerseits, ihre wahren Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wurde von ihm stets mit unnachgiebiger Zurückhaltung bestraft. Er würde niemals zugeben, dass er etwas für sie empfand, oder sie anders behandeln als eine schwächliche Invalide, die seines Schutzes bedurfte. Ein Schmetterling, eingesperrt unter einer Glashaube.
Während er selbst immer wieder seinem körperlichen Verlangen nachgab.
Trotz Merripens Verschwiegenheit, was sein Privatleben anbelangte, war Win überzeugt, dass es mehrere Frauen gegeben hatte, die ihm ihren Körper dargeboten und ihn zu ihrem eigenen Vergnügen benutzt hatten. Bei dem Gedanken, dass sich Merripen mit einer anderen Frau amüsiert haben könnte, stieg eine düstere Wut aus den Tiefen ihrer Seele in ihr hoch. Dieser brennende Zorn hätte jeden schockiert, der sie kannte, denn immerhin hätte sie damit die Stärke ihrer Begierde für ihn eingestanden. Am meisten hätte es wohl Merripen überrascht.
Beim Anblick seines ausdruckslosen Gesichts dachte Win: Also schön, Kev. Wenn es das ist, was du willst, werde ich stoisch sein. Wir werden uns freundlich und belanglos voneinander verabschieden.
Später würde sie dann in aller Stille leiden, in dem Wissen, dass eine Ewigkeit verginge, bis sie ihn endlich wiedersah. Aber das war besser, als so weiterzuleben, stets zusammen und dennoch getrennt, während ihre Krankheit zwischen ihnen stand.
»Nun«, sagte sie rasch, »ich reise bald ab. Und es gibt keinen Grund, dir Sorgen zu machen, Kev. Leo wird sich auf der Reise nach Frankreich um mich kümmern, und …«
»Dein Bruder kann sich nicht einmal um sich selbst kümmern«, entgegnete Merripen barsch. »Du wirst nicht gehen. Du wirst hierbleiben, wo ich …«
Er verstummte abrupt.
Aber Win hatte einen Anflug wütender Pein vernommen, die kaum merklich in seiner Stimme mitschwang.
Allmählich wurde es interessant.
Ihr Herz klopfte heftig. »Es …« Sie musste innehalten, um Atem zu schöpfen. »Es gibt nur eines, das mich von dieser Reise abhalten könnte.«
Er warf ihr einen wachsamen Blick zu. »Und das wäre?«
Es kostete sie einen langen Moment, bis sie den Mut aufbrachte, fortzufahren: »Sag mir, dass du mich liebst. Sag es, und ich bleibe.«
Merripen riss die schwarzen Augen auf und sog scharf die Luft ein. Das Geräusch seines Atems durchschnitt die Luft wie die herabsausende Klinge einer Axt. Dann war er völlig ruhig, wie erstarrt.
Eine sonderbare Mischung aus Belustigung und Verzweiflung pulsierte durch Win, während sie auf seine Antwort wartete.
»Ich … sorge mich um jeden in deiner Familie …«
»Nein. Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe.« Win bewegte sich auf ihn zu und hob ihre blassen Hände, legte ihre Handflächen auf seine harte, muskulöse Brust. Sie spürte die glutvolle Reaktion, die ihn hindurchzuckte. »Bitte«, sagte sie und hasste den verzweifelten Unterton in ihrer Stimme, »es würde mir nichts ausmachen, morgen zu sterben, hätte ich es nur ein einziges Mal gehört …«
»Nicht«, knurrte er und wich zurück.
Win ließ alle Vorsicht fahren und folgte ihm. Sie streckte die Hände aus, um sein weites Hemd zu packen. »Sag es! Lass uns endlich ehrlich miteinander sein …«
»Sei still! Du überanstrengst dich nur.«
Es erboste Win, dass er Recht hatte. Sie konnte die gewohnte Erschöpfung bereits spüren, die Benommenheit, die einherging mit ihrem pochenden Herzen und den schwer arbeitenden Lungen. Sie verfluchte ihren dahinsiechenden Körper. »Ich liebe dich«, jammerte sie. »Und wenn ich gesund wäre, könnte mich keine Macht der Welt von dir fernhalten. Wenn ich gesund wäre, würde ich dich in mein Bett zerren und dir so viel Leidenschaft entgegenbringen wie jede andere Frau …«
»Nein.« Seine Finger glitten zu ihrem Mund, um sie zum Schweigen zu bringen, doch als er ihre warmen Lippen spürte, riss er die Hand zurück.
»Wenn ich keine Angst habe, es zuzugeben, warum dann du?« Der unbeschreibliche Genuss, in seiner Nähe zu sein, ihn zu berühren, glich einer Art Wahnsinn. Beherzt drängte sie sich an ihn. Merripen versuchte, sie behutsam von sich wegzudrücken, aber sie klammerte sich mit allerletzter Kraft an ihn. »Und wenn dies nun unser letzter gemeinsamer Moment sein sollte? Würdest du nicht bereuen, mir deine Gefühle nicht gestanden zu haben? Würdest du …?«
Merripen bedeckte ihren Mund mit seinem, ein Akt der Verzweiflung, um Win zum Schweigen zu bringen. Beide keuchten auf und verstummten schließlich, kosteten den Geschmack des anderen aus. Jeder Atemzug an ihrer Wange kam einer Hitzewelle gleich. Seine Arme umschlossen sie, umhüllten sie mit seiner enormen Stärke, zogen sie an seinen festen Körper. Und dann entzündete sich alles, und sie wurden in einen Strudel der Begierde gezogen.
Win bemerkte den Duft von süßen Äpfeln in seinem Atem, den bitteren Hauch von Kaffee, doch vor allem seinen ganz eigenen Geruch. Sie wollte mehr, sehnte sich nach ihm, presste sich an ihn. Er nahm ihr unschuldiges Angebot mit einem tiefen, unbändigen Stöhnen entgegen.
Da spürte sie seine Zunge. Sie öffnete die Lippen, gewährte ihm Einlass, benutzte zögerlich ihre eigene Zunge, um sein seidiges Eindringen zu begleiten, und er erbebte und keuchte und hielt sie noch fester. Eine neue Schwäche bemächtigte sich ihrer, und all ihre Sinne lechzten nach seinen Händen und seinem Mund und seinem Körper … seiner kraftvollen Stärke über und zwischen und in ihr … Oh, sie wollte ihn, wollte …
Merripen küsste sie voll wilder Leidenschaft, sein Mund bewegte sich mit unnachgiebigen, köstlichen Stößen. Wins Nerven loderten vor Vergnügen, und sie drängte sich an ihn, wollte ihn noch näher wissen.
Selbst durch die vielen Lagen Unterröcke spürte sie, wie er seine Hüften in einem kaum merklichen Rhythmus gegen ihre presste. Instinktiv schob sie die Hand nach unten, wollte ihn spüren, ihn streicheln, und ihre zitternden Finger ermutigten seine harte, pralle Erregung.
Er barg ein gepeinigtes Stöhnen in ihrem Mund. Für einen siedend heißen Moment packte er ihre Hand und drückte sie an seine Männlichkeit. Ihre Augen flogen auf, als sie sein hartes Pulsieren spürte, die Hitze und Anspannung, die jede Sekunde explodieren konnte. »Kev … das Bett …«, flüsterte sie und errötete vom Kopf bis zu den Zehen. Sie hatte ihn schon so lange begehrt, und jetzt würde es endlich geschehen. »Nimm mich …«
Merripen fluchte verärgert, schob Win von sich weg und drehte sich um. Sein Atem ging stoßweise.
Win eilte zu ihm. »Kev …«
»Komm ja nicht näher!«, befahl er mit solcher Inbrunst, dass sie verängstigt zurückschreckte.
Mindestens eine Minute lang waren sie völlig still und reglos, abgesehen von dem zornigen Keuchen ihres Atems.
Merripen gewann als Erster die Sprache wieder. Seine Stimme bebte vor wütender Verachtung, doch es war unklar, ob sie gegen Win oder sich selbst gerichtet war. »Das wird nie wieder geschehen.«
»Weil du Angst hast, du könntest mir wehtun?«
»Weil ich dich so nicht will.«
Entrüstet stieß sie ein ungläubiges Lachen aus. »Aber ich habe doch gerade gespürt, dass du mich willst.«
Er errötete. »Das wäre mir bei jeder Frau passiert.«
»Du … du willst mir weismachen, dass du dir nichts aus mir machst?«
»Nicht mehr als aus jedem anderen deiner Familie.«
Sie wusste, es war eine Lüge. Sie wusste es einfach! Aber seine herzlose Zurückweisung machte ihr wenigstens den Abschied leichter. »Ich …« Das Reden fiel ihr schwer. »Wie edel von dir.« Ihr Versuch, einen ironischen Tonfall zu treffen, scheiterte an ihrer Atemlosigkeit. Diese verdammte schwache Lunge!
»Du bist überreizt«, sagte Merripen und ging auf sie zu. »Du solltest dich ausruhen …«
»Mir geht es gut«, fauchte Win und eilte zum Waschtisch, um sich dort festzuhalten. Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, goss sie etwas Wasser auf einen Waschlappen und drückte ihn sich auf die geröteten Wangen. Als sie in den Spiegel sah, ließ sie ihr Gesicht zu seiner gewohnten Maske erstarren. Es gelang ihr, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich will dich ganz oder gar nicht«, sagte sie. »Du kennst die Worte, die mich zum Bleiben bewegen. Wenn du sie nicht sagen willst, werde ich abreisen.«
Die Luft im Zimmer war emotionsgeladen. Wins Nerven kreischten widerwillig auf, als sich das Schweigen ausdehnte. Sie starrte in den Spiegel, konnte jedoch nur den breiten Umriss seiner Schulter und seines Arms sehen. Und dann bewegte er sich, und die Tür öffnete und schloss sich hinter ihm.
Win fuhr fort, sich das Gesicht mit dem kühlen Tuch abzutupfen, und benutzte es gleichzeitig, um vereinzelte Tränen wegzuwischen. Als sie den Lappen auf den Tisch legte, bebte die Hand, mit der sie Merripen an seiner intimsten Stelle berührt hatte, immer noch unkontrolliert. Ihre Lippen kitzelten immer noch bei der Erinnerung an seine süßen, harten Küsse, und ihre Brust schmerzte vor verzweifelter Liebe.
»Also schön«, sagte sie zu ihrem geröteten Spiegelbild, »jetzt hast du wenigstens einen Anreiz.« Und sie brach in ein zitterndes Gelächter aus, bis sie den Strom an Tränen nicht mehr aufhalten konnte.
 
Während Cam Rohan das Beladen der Kutsche beaufsichtigte, die sich schon bald zum Londoner Hafen aufmachen würde, kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob er einen Fehler beging. Er hatte seiner frischgebackenen Ehefrau versprochen, für ihre Familie zu sorgen. Aber knapp zwei Monate, nachdem er Amelia geheiratet hatte, schickte er bereits eine ihrer Schwestern nach Frankreich.
»Wir können warten«, hatte er Amelia erst in der vergangenen Nacht gesagt, während er sie an seine Schulter gedrückt und ihr über das volle kastanienbraune Haar gestreichelt hatte, das sich in einer sinnlichen Flut über seiner Brust ergoss. »Wenn du Win noch ein wenig länger bei dir haben willst, können wir sie im Frühling in das Sanatorium schicken.«
»Nein, sie muss so schnell wie möglich nach Frankreich. Dr. Harrow hat seinen Standpunkt klar und deutlich gemacht: Es ist bereits viel zu viel Zeit vergeudet worden. Wins größte Hoffnung auf eine Besserung ihres Gesundheitszustands liegt allein darin, auf der Stelle mit der Behandlung zu beginnen.«
Cam hatte über Amelias pragmatischen Ton lächeln müssen. Seine Frau übertraf sich selbst darin, ihre Gefühle zu verbergen, und trug eine solch starke Fassade zur Schau, dass nur wenige Menschen ahnten, wie verletzlich sie in Wirklichkeit war. Cam war der Einzige, bei dem sie ihren Panzer vollständig ablegte.
»Wir müssen vernünftig sein«, hatte Amelie hinzugefügt.
Cam hatte sie auf den Rücken gerollt und in ihr kleines, liebliches Gesicht gestarrt, das vom Licht der Lampe erhellt wurde. Solch runde blaue Augen, dunkel wie die tiefste Nacht, dachte er verwundert. »Ja«, hatte er sanft erwidert. »Aber es ist nicht immer einfach, vernünftig zu sein, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen wurden feucht.
Er streichelte ihre Wangen mit den Fingerspitzen. »Armer Kolibri«, flüsterte er. »Du hast in den letzten Monaten so viele Veränderungen ertragen müssen – nicht zuletzt eine Heirat mit mir. Und jetzt schicke ich auch noch deine Schwester fort.«
»In ein Sanatorium, damit sie geheilt wird«, flüsterte Amelia. »Ich weiß, es ist zu ihrem Besten. Es ist nur … Ich werde sie vermissen. Win ist die Liebste und Sanftmütigste in der Familie. Die Friedensstifterin. Während ihrer Abwesenheit wird sich der Rest von uns wahrscheinlich zerfleischen.« Sie bedachte ihn mit einem düsteren Blick. »Erzähl niemandem, dass ich geweint habe, oder ich werde für immer sehr böse auf dich sein!«
»Nein, Monisha«, hatte er sie beruhigt und an sich gezogen, als sie schniefte. »All deine Geheimnisse sind bei mir sicher. Das weißt du.«
Und dann hatte er sie geküsst, ihr Nachthemd zärtlich nach oben geschoben und noch zärtlicher mit ihr geschlafen. »Mein kleiner Liebling«, hatte er geflüstert, als sie unter ihm erschauderte. »Ich werde dafür sorgen, dass du dich besser fühlst …« Und während er behutsam Besitz von ihr ergriff, hauchte er ihr in der alten Sprache ins Ohr, dass sie ihm auf jede erdenkliche Art gefiel, dass er es liebte, in ihr zu sein, und er sie nie verlassen würde. Obwohl Amelia die fremden Worte nicht verstand, erregte sie der Klang. Ihre samtenen Hände bearbeiteten seinen Rücken wie Katzenpfoten, und ihre Hüften drängten sich gierig an ihn. Er hatte ihr Vergnügen bereitet und sein eigenes Bedürfnis gestillt, bis seine Frau in tiefen Schlaf gefallen war.
Noch lange Zeit hatte Cam sie in den Armen gehalten, das köstliche Gewicht ihres Kopfes an seiner Schulter. Er war nun für Amelia verantwortlich, und für ihre gesamte Familie.
Die Hathaways waren ein Grüppchen von Außenseitern, das aus vier Schwestern, einem Bruder und Merripen bestand, der wie Cam ein Rom war. Niemand schien viel über Merripen zu wissen, abgesehen von dem Umstand, dass er als Junge von den Hathaways aufgenommen wurde, nachdem er bei einer Zigeunerjagd verwundet und dann sterbend zurückgelassen worden war. Er war mehr als ein Dienstbote, aber kein echtes Familienmitglied.
Man konnte nicht vorhersehen, wie Merripen Wins Abwesenheit aufnähme, aber Cam beschlich das untrügliche Gefühl, dass es keine angenehme Zeit werden würde. Es gab keine größeren Gegensätze als diese beiden Menschen, die blasse blonde Invalide und der riesige Rom. Die eine kultiviert und wie aus einer anderen Welt stammend, der andere dunkel und ungehobelt. Aber eine unsichtbare Verbindung bestand zwischen ihnen, wie der Flug eines Falken, der immer wieder zum selben Wald zurückkehrte, einer unsichtbaren Landkarte folgend, die in sein Gedächtnis eingebrannt zu sein schien.
Als die Kutsche beladen und das Gepäck mit Lederriemen befestigt war, ging Cam in die Hotelsuite, die die Familie bewohnte. Sie hatten sich zur Verabschiedung im Salon versammelt.
Merripen fehlte.
Sie drängten sich in dem kleinen Zimmer zusammen, die Schwestern und ihr Bruder Leo, der als Wins Begleiter und Eskorte nach Frankreich mitreisen würde.
»Na, na«, sagte Leo schroff und tätschelte Beatrix, der Jüngsten, die gerade sechzehn geworden war, den Rücken. »Kein Grund, eine Szene zu machen.«
Sie umarmte ihn fest. »Du wirst einsam sein, so weit weg von Zuhause. Willst du nicht eines meiner Haustiere mitnehmen, damit es dir Gesellschaft leistet?«
»Nein, meine Süße. Ich werde mich wohl mit der menschlichen Gesellschaft an Bord begnügen müssen.« Er drehte sich zu Poppy um, einer rothaarigen Schönheit von achtzehn Jahren. »Auf Wiedersehen, Schwesterherz. Genieß deine erste Saison in der Londoner Gesellschaft. Versuch bitte, nicht den ersten Mann zu erhören, der dir einen Antrag macht.«
Poppy ging auf ihn zu und schlang ihm die Arme um den Hals. »Lieber Leo«, sagte sie mit gedämpfter Stimme an seiner Schulter, »versuch bitte, dich anständig zu benehmen, während du in Frankreich bist.«
»Niemand benimmt sich in Frankreich anständig«, erwiderte Leo. »Das ist der Grund, warum jeder dieses Land liebt.« Er drehte sich zu Amelia um. Erst in diesem Augenblick bröckelte seine selbstbewusste Fassade ein wenig. Er holte seufzend Atem. Von allen Hathaway-Geschwistern lieferten sich Leo und Amelia die heftigsten und bittersten Wortgefechte. Und dennoch war sie zweifelsohne seine Lieblingsschwester. Gemeinsam hatten sie viel durchgestanden und sich nach dem Tod ihrer Eltern um die jüngeren Geschwister gekümmert. Dabei hatte Amelia mitansehen müssen, wie sich Leo von einem vielversprechenden jungen Architekten in ein menschliches Wrack verwandelt hatte. Den Titel eines Viscounts zu erben, hatte Leos Schwierigkeiten nicht vermindert. Vielmehr hatten der neu erworbene Rang und Status seinen Niedergang nur beschleunigt. Das hatte Amelia jedoch nicht davon abgehalten, für ihn zu kämpfen, ihn retten zu wollen, immer und immer wieder. Was ihm allerdings schrecklich auf die Nerven gegangen war.
Amelia ging zu ihm und legte ihm den Kopf auf die Brust. »Leo«, sagte sie leise schniefend. »Wenn Win etwas zustoßen sollte, bist du ein toter Mann.«
Er streichelte ihr sanft übers Haar. »Du drohst mir schon seit Jahren, mich umzubringen, aber das sind doch alles bloß leere Versprechungen.«
»Ich habe a-auf den richtigen Anlass gewartet«, schluchzte sie.
Lächelnd schob Leo ihren Kopf von seiner Brust und küsste sie auf die Stirn. »Ich bringe sie sicher und gesund nach Hause.«
»Und dich?«
»Und mich.«
Mit zitternder Lippe strich sie ihm den Überzieher glatt. »Dann solltest du endlich aufhören, das Leben eines betrunkenen Nichtsnutzes zu führen.«
Leo grinste. »Aber ich war immer der festen Überzeugung, man solle seine angeborenen Talente fördern.« Er senkte den Kopf, so dass sie ihn auf die Wange küssen konnte. »Du bist gerade die Richtige, mich über anständiges Benehmen zu belehren«, sagte er. »Du, die gerade einen Mann geheiratet hat, den sie kaum kennt.«
»Und es war die beste Entscheidung meines Lebens«, entgegnete Amelia.
»Da er meine Reise nach Frankreich bezahlt, kann ich wohl schlecht widersprechen.« Leo streckte den Arm aus und schüttelte Cam die Hand. Nach einem schwierigen Anfang hatten die beiden Männer Gefallen aneinander gefunden. »Auf Wiedersehen, Phral«, sagte Leo und benutzte das Romani-Wort für Bruder. »Ich bin überzeugt, dass du dich ausgezeichnet um meine Familie kümmern wirst. Du hast dich bereits meiner entledigt, was ein vielversprechender erster Schritt ist.«
»Du wirst zurückkehren, um ein Zuhause und ein blühendes Anwesen wieder aufzubauen.«
Leo lachte leise. »Ich kann kaum erwarten zu sehen, was du in der Zwischenzeit erreicht haben wirst. Immerhin würde nicht jeder Adlige seine Geschäfte in die Hand zweier Zigeuner legen.«
»Ich kann wohl mit Sicherheit behaupten«, erwiderte Cam, »dass du der Einzige bist.«
 
Nachdem sich Win von ihren Schwestern verabschiedet hatte, half ihr Leo in die Kutsche und setzte sich neben sie. Mit einem sanften Ruck rollte der Landauer an, und sie brachen in Richtung des Londoner Hafens auf.
Leo musterte Wins Profil. Wie üblich zeigte sie keinerlei Gefühle, ihr fein gemeißeltes Gesicht war gelassen und ruhig. Aber er bemerkte die roten Flecken, die auf ihren blassen Wangen brannten, und die Art, wie ihre Finger sich verkrampften und das bestickte Taschentuch in ihrem Schoß zerknüllten. Es war ihm nicht entgangen, dass Merripen mit seiner Abwesenheit geglänzt und ihnen nicht Lebewohl gesagt hatte. Leo fragte sich verwundert, ob er und Win sich womöglich gestritten hatten.
Seufzend legte Leo seiner Schwester den Arm um die schmalen, zerbrechlichen Schultern. Sie versteifte sich, entwand sich jedoch nicht seiner Umarmung. Nach einem kurzen Moment hob sie das Taschentuch und betupfte sich die Augen. Sie hatte Angst, war krank und fühlte sich miserabel.
Und er war alles, was ihr geblieben war, dachte er erschrocken. Gott stehe ihr bei!
»Du hast doch hoffentlich keines von Beatrix’ Haustieren mitgenommen, oder?«, wollte er sie aufmuntern. »Ich warne dich, wenn du einen Igel oder eine Ratte mitgenommen hast, geht das Tier über Bord, sobald wir das Schiff betreten.«
Win schüttelte den Kopf und schnäuzte sich.
»Du musst wissen«, sagte Leo im Plauderton und drückte sie weiter an sich, »du bist die am wenigsten amüsante meiner Schwestern. Wie ist es eigentlich gekommen, dass ich ausgerechnet mit dir nach Frankreich fahren muss?«
»Glaub mir«, kam ihre schniefende Antwort, »ich wäre nicht so langweilig, wenn ich in dieser Angelegenheit auch nur das kleinste Wörtchen mitzureden hätte. Sobald ich gesund bin, werde ich mich sehr unanständig benehmen.«
»Nun, das ist doch zumindest eine Aussicht, auf die man sich freuen kann.« Er legte seine Wange an ihr weiches blondes Haar.
»Leo«, fragte sie zögerlich, »warum hast du dich freiwillig angeboten, mit mir in das Sanatorium zu gehen? Du willst ebenfalls gesund werden, nicht wahr?«
Leo war gleichzeitig gerührt und ungehalten über die harmlose Frage. Wie der Rest der Familie betrachtete Win seine ausschweifenden Trinkgewohnheiten als eine Krankheit, die durch eine Zeit der Abstinenz und eine förderliche Umgebung geheilt werden konnte. Doch sein Trinken war nur das Symptom der echten Krankheit – einer so überwältigenden Trauer, die bisweilen drohte, sein Herz zum Stillstand zu bringen.
Es gab kein Heilmittel, um den Verlust von Laura zu überwinden.
»Nein«, sagte er zu Win. »Ich hege nicht die Hoffnung, gesund zu werden. Ich will lediglich mein ausschweifendes Leben vor einer neuen Kulisse fortsetzen.« Seine Worte entlockten ihr ein leises Kichern. »Win … habt du und Merripen euch gestritten? Ist das der Grund, weshalb er sich nicht verabschiedet hat?« Nach einem langen Schweigen rollte Leo mit den Augen. »Wenn du auch weiterhin so wortkarg bist, Schwesterherz, wird das in der Tat eine lange Reise.«
»Ja, wir haben uns gestritten.«
»Worüber? Das Sanatorium?«
»Nicht wirklich. Zum Teil, aber …« Win zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Es ist so kompliziert. Es würde zu lange dauern, es zu erklären.«
»Wir werden einen Ozean und halb Frankreich durchqueren. Glaub mir, wir haben reichlich Zeit.«
Nachdem die Kutsche abgefahren war, ging Cam zu den Stallungen hinter dem Hotel, einem sauberen Gebäude mit einem Pferdestall und einem Unterstand für Kutschen im Erdgeschoss und dem Wohntrakt der Bediensteten in der oberen Etage. Wie erwartet, kümmerte sich Merripen um die Pferde. Seine Bewegungen waren geschmeidig, schnell und methodisch, während er Cams schwarzem Wallach mit einer Bürste über die schimmernden Flanken strich.
Cam beobachtete ihn einen Moment, wobei er die Geschicktheit des Rom anerkennen musste. Das Vorurteil, dass Zigeuner außergewöhnlich gut mit Pferden zurechtkamen, war kein Mythos. Ein Rom betrachtete ein Pferd als einen Kameraden, ein Tier der Poesie mit unermesslichen Instinkten. Und Pooka tolerierte Merripens Anwesenheit mit einer ruhigen Gelassenheit, die er nur wenigen Menschen entgegenbrachte.
»Was willst du?«, fragte Merripen, ohne aufzublicken.
Gemächlich betrat Cam den offenen Stall und lächelte, als Pooka den Kopf senkte und ihn anstupste. »Nein, mein Junge … heute habe ich kein Zuckerstück für dich.« Er tätschelte ihm den muskulösen Hals. Cams Hemdärmel waren bis zu den Ellbogen aufgerollt, gaben den Blick auf die Tätowierung an seinem Unterarm frei, einem schwarzen Pferd mit Flügeln. Cam hatte keinerlei Erinnerung daran, wann er die Tätowierung bekommen hatte … Sie war schon immer da gewesen, aus Gründen, die ihm seine Großmutter nicht hatte erklären wollen.
Das Bild zeigte ein irisches Fabelwesen namens Pooka, ein abwechselnd bösartiges und gütiges Pferd, das mit menschlicher Stimme sprach und sich nachts mit weit ausgebreiteten Flügeln in die Lüfte erhob. Laut der Legende kam der Pooka zur mitternächtlichen Stunde an die Tür argloser Menschen und nahm sie auf eine Reise mit, die sie für immer verändern würde.
Nie zuvor hatte Cam dieses Bild an einem anderen Menschen gesehen.
Bis er Merripen getroffen hatte.
Was Cam einige Rätsel aufgegeben hatte.
Er bemerkte, dass Merripen die Tätowierung auf seinem Unterarm anstarrte. »Was könnte es bedeuten, dass ein Rom ein irisches Fabelwesen eintätowiert bekommen hat?«, fragte Cam.
»Es gibt auch in Irland Roma. Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Aber diese Tätowierung ist sehr ungewöhnlich«, erwiderte Cam ruhig. »Ich habe sie noch nie bei jemand anderem gesehen – außer bei dir. Und da sie selbst für die Hathaways eine Überraschung war, musst du dir offenbar große Mühe gegeben haben, sie zu verbergen. Wie kommt das, Phral?«
»Nenn mich nicht so.«
»Du bist seit deiner Kindheit ein Teil der Hathaway-Familie«, sagte Cam. »In die ich hineingeheiratet habe. Das macht uns zu Brüdern, nicht wahr?«
Ein verächtlicher Blick war Merripens einzige Antwort.
Es bereitete Cam ein diebisches Vergnügen, übertrieben freundlich zu dem Rom zu sein, der ihn offenkundig nicht ausstehen konnte. Er wusste genau, womit er Merripens Feindseligkeit auf sich gezogen hatte. Der Zuwachs eines neuen Mannes in einer Sippe oder Vitsa war immer eine schwierige Situation, und normalerweise wäre sein Platz in der Hierarchie sehr weit unten gewesen. Doch Cam, der Fremde, war einfach hereingeplatzt und hatte sich wie das Oberhaupt der Familie aufgeführt, was für Merripen unerträglich sein musste. Es half auch nicht, dass Cam ein Poshram war, ein Mischling, gezeugt von einer Roma-Mutter und einem irischen Gadjo-Vater. Und was die Sache noch verschlimmerte, war Cams Reichtum, der in den Augen eines Rom eine Schande war.
»Warum hast du sie immer versteckt gehalten?«, beharrte Cam.
Merripen hielt im Striegeln inne und bedachte Cam mit einem kalten, finsteren Blick. »Mir wurde gesagt, es sei das Zeichen eines Fluchs. Dass an dem Tag, an dem ich seine Bedeutung herausfände, ich oder ein mir Nahestehender sterben würde.«
Cam zeigte keinerlei Reaktion nach außen, aber er spürte ein unbehagliches Kribbeln in seinem Nacken.
»Wer bist du, Merripen?«, fragte er leise.
Der große Rom fuhr mit seiner Arbeit fort. »Ein Niemand.«
»Früher warst du einmal Teil einer Sippe. Du musst eine Familie gehabt haben.«
»Ich erinnere mich an keinen Vater. Meine Mutter starb bei meiner Geburt.«
»Wie meine. Ich wurde von meiner Großmutter aufgezogen.«
Die Bürste hielt mitten in der Bewegung an. Keiner der beiden Männer bewegte sich. Im Stall wurde es totenstill, abgesehen von dem Schnauben und Scharren der Pferde. »Ich wurde von meinem Onkel aufgezogen. Um ein Asharibe zu sein.«
»Oh.« Cam verbannte jede Spur von Mitleid aus seiner Miene, aber im Stillen dachte er: Du armer Kerl.
Es war also kein Wunder, dass Merripen so gut kämpfen konnte. Einige Zigeunerstämme nahmen ihre stärksten Jungen und bildeten sie zu unerbittlichen Kämpfern aus, die sich auf Jahrmärkten oder in Spelunken miteinander maßen, damit Zuschauer Wetten auf sie abgeben konnten. Einige der Jungen wurden dabei entstellt oder sogar getötet. Und diejenigen, die überlebten, waren durch und durch gestählte Kämpfer, die Krieger der Sippe.
»Nun, das erklärt zumindest dein zauberhaftes Wesen«, sagte Cam ironisch. »War das der Grund, weshalb du bei den Hathaways geblieben bist, nachdem sie dich bei sich aufgenommen haben? Weil du nicht länger als Asharibe leben wolltest?«
»Ja.«
»Du lügst, Phral«, erwiderte Cam, der ihn eindringlich beobachtet hatte. »Du bist aus einem anderen Grund geblieben.« Merripen errötete, und Cam wusste, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Leise fügte er hinzu: »Du bist ihretwegen geblieben.«
Zweites Kapitel
Zwölf Jahre zuvor
 
 
Es steckte nichts Gutes in ihm. Nichts Sanftes. Ihm war beigebracht worden, auf dem harten Boden zu schlafen, einfachste Nahrung zu essen, kaltes Wasser zu trinken und auf Befehl mit anderen Jungen zu kämpfen. Wenn er sich weigerte, wurde er von seinem Onkel, dem Rom Baro, verprügelt. Es gab keine Mutter, die sich für ihn hätte einsetzen, keinen Vater, der bei den drakonischen Strafen des Rom Baro hätte eingreifen können. Er wurde nur berührt, wenn ihm Gewalt angetan wurde. Er existierte nur, um zu prügeln, zu stehlen und sich gegen die Gadjos aufzulehnen.
Die meisten Zigeuner hassten die blassen, aufgeschwemmten Engländer nicht, die in sauberen Häusern wohnten, Taschenuhren trugen und am Kaminfeuer Bücher lasen. Sie misstrauten ihnen lediglich. Aber Kevs Sippe verachtete die Gadjos aus tiefster Seele, vor allem deshalb, weil der Rom Baro es tat. Und egal, welche Launen, Ansichten oder Wünsche der Anführer vorbrachte, sie wurden willenlos übernommen.
Da die Sippe des Rom Baro überall dort viel Schaden und Leid angerichtet hatte, wo sie ihr Lager aufschlug, hatten sich die Gadjos schließlich entschieden, sie von ihrem Land zu vertreiben.
Die Engländer waren auf Pferden gekommen und waren bewaffnet gewesen. Es hatte Schüsse und Knüppelschläge gehagelt. Die schlafenden Roma waren in ihren Betten angegriffen worden, Frauen und Kinder hatten geschrien und geweint. Die Gadjos hatten das Lager zerstört, alle Zigeuner davongejagt, die Vardos – die Wagen – in Brand gesetzt und viele Pferde gestohlen.
Kev versuchte, sie zu bekämpfen, die Vitsa zu verteidigen, wurde jedoch von einem schweren Gewehrkolben am Kopf getroffen. Ein anderer Engländer rammte ihm ein Bajonett in den Rücken. Seine Sippe ließ ihn sterbend zurück. In der Nacht lag er allein und halb bewusstlos am Fluss, lauschte dem Rauschen des dunklen Wassers und spürte die eisige Kälte der harten, feuchten Erde unter sich, während ihm das Blut in einem warmen Rinnsal aus dem Körper sickerte. Furchtlos wartete er darauf, dass sich die mächtige Dunkelheit über ihn legen würde. Er hatte keinen Grund oder auch nur den geringsten Wunsch weiterzuleben.
Doch gerade in dem Moment, als die Nacht ihrer Schwester, der Morgendämmerung, wich, wurde Kev auf einmal hochgehoben und auf einem kleinen, rostigen Karren weggefahren. Ein Gadjo hatte ihn gefunden und einen Dorfjungen gebeten, ihm zu helfen, den sterbenden Rom in sein Haus zu tragen.
Es war das erste Mal, dass Kev unter einem anderen Dach als dem eines Vardo gewesen war. Er war hin- und hergerissen zwischen seiner Neugierde angesichts der ihm fremden Umgebung und seiner entrüsteten Wut, im Innern eines Gadjo-Hauses sterben zu müssen. Doch Kev war zu schwach und hatte zu große Schmerzen, um Widerstand zu leisten.
Das Zimmer, in dem er lag, war nicht viel größer als ein Pferdeverschlag und mit nichts weiter als einem Bett und einem Stuhl eingerichtet. Es gab kleine Läufer, eingerahmte Stickereien und eine Lampe mit Fransen an der Wand. Wäre er nicht so krank gewesen, hätte ihn der überfüllte Raum in den Wahnsinn getrieben.
Der Gadjo, der ihn hierhergebracht hatte … Hathaway … war ein großer, schlanker Mann mit flachsblonden Haaren. Seine freundliche Art und seine Zurückhaltung brachten Kev in Rage. Warum hatte dieser Hathaway ihn gerettet? Was mochte er von einem Roma-Jungen wollen? Kev weigerte sich, mit dem Gadjo zu reden oder seine Medizin einzunehmen. Er widersetzte sich jeglicher höflicher Annäherung. Diesem Hathaway schuldete er nichts. Er hatte nicht gerettet werden wollen, hatte nicht leben wollen. Deshalb lag er reglos und schweigend da, wann immer der Mann den Verband an seinem Rücken wechselte.
Nur ein einziges Mal machte Kev den Mund auf, und zwar als Hathaway ihn zu der Tätowierung befragte.
»Was bedeutet dieses Zeichen?«
»Es ist ein Fluch«, sagte Kev durch zusammengepresste Zähne. »Rede mit niemandem darüber, oder der Fluch wird dich ebenfalls treffen.«
»Ich verstehe.« Die Stimme des Mannes war sanft. »Ich werde dein Geheimnis für mich behalten. Aber als Mann der Wissenschaft muss ich dir gestehen, dass ich an solche Ammenmärchen nicht glaube. Ein Fluch hat nur so viel Macht, wie der Mensch ihm einräumt.«
Dummer Gadjo, hatte Kev gedacht. Jeder wusste, dass es großes Pech brachte, einen Fluch zu leugnen.
Es war ein lauter Haushalt, voller lärmender Kinder. Kev konnte sie hinter seiner geschlossenen Zimmertür hören. Doch da war noch etwas anderes … eine schwache, süße Präsenz in seiner Nähe. Er spürte sie draußen vor dem Raum schweben, genau außerhalb seiner Reichweite. Und er sehnte sich nach ihr, lechzte regelrecht danach, der Dunkelheit und dem Fieber und dem Schmerz zu entfliehen.
Inmitten des Kraches, der Streitigkeiten, des Lachens und Singens hörte er ein sanftes Murmeln, das ihm einen köstlichen Schauder den Rücken hinabjagte. Die Stimme eines Mädchens. Liebreizend, tröstlich. Er wollte, dass sie zu ihm sprach. Jeder Gedanke drehte sich um sie, während er dort lag, und sich seine Wunden mit quälender Langsamkeit schlossen. Komm zu mir …
Aber sie tauchte nie auf. Die Einzigen, die je sein Zimmer betraten, waren Hathaway und seine Gattin, eine freundliche, wenn auch misstrauische Frau, die Kev ansah, als sei er ein wildes Tier, das sich einen Weg in ihr zivilisiertes Heim erschlichen hatte. Und er verhielt sich wie eines, schnappte um sich und fauchte, wenn sie ihm zu nahe kamen. Sobald er sich wieder bewegen konnte, wusch er sich mit warmem Wasser aus der Schüssel, die sie in sein Zimmer gestellt hatten. Er aß in ihrer Gegenwart nicht und wartete, bis sie ein Tablett an sein Bett stellten und fortgingen. Sein ganzer Wille richtete sich allein auf den Moment, an dem er weit genug genesen war, um die Flucht ergreifen zu können.
Ein oder zwei Mal kamen die Kinder, um einen Blick auf ihn zu erhaschen, und spähten um die angelehnte Tür. Da waren zwei kleine Mädchen namens Poppy und Beatrix, die kichernd aufjauchzten, als er sie anknurrte. Dann noch eine andere, ältere Tochter, Amelia, die ihn mit den gleichen abschätzenden Augen ansah wie ihre Mutter. Und schließlich gab es einen großen, blauäugigen Jungen, Leo, der nicht viel älter als Kev sein mochte.
»Eins will ich klarstellen«, hatte der Junge vom Türrahmen aus geflüstert, »niemand hier will dir etwas Böses. Sobald du dazu in der Lage bist, kannst du gehen.« Er hatte einen Moment in Kevs mürrisches, fiebriges Gesicht gestarrt, bevor er hinzufügte: »Mein Vater ist ein guter Mann. Ein Samariter. Ich hingegen nicht. Denk also nicht mal dran, einen der Hathaways zu verletzen oder zu beleidigen, oder du bekommst es mit mir zu tun.«
Kev respektierte diese Haltung. Jedenfalls genug, um Leo mit einem kaum merklichen Nicken zu antworten. Wenn Kev gesund gewesen wäre, hätte er den Jungen natürlich mit Leichtigkeit besiegen, ihn blutend und mit gebrochenen Knochen zu Boden werfen können. Aber Kev hatte allmählich eingesehen, dass ihm diese sonderbare kleine Familie tatsächlich nichts zuleide tun wollte. Sie hatten ihn lediglich gesund gepflegt und ihm ein Obdach gewährt, als sei er ein streunender Hund. Und im Gegenzug schienen sie nichts von ihm zu erwarten.
Das minderte allerdings nicht die Verachtung, die er für sie und ihre lächerlich weiche, bequeme Welt empfand. Er hasste sie alle, beinahe so sehr, wie er sich selbst hasste. Er war ein Kämpfer, ein Dieb, erfüllt von Gewalt und Betrug. Sahen sie das denn nicht? Sie schienen sich der Gefahr nicht bewusst zu sein, die sie in ihr eigenes Haus gebracht hatten.
Nach einer Woche war Kevs Fieber gesunken und seine Wunde so weit verheilt, dass er sich auf den Weg machen konnte. Er musste verschwinden, bevor etwas Schreckliches geschah, bevor er etwas Schlimmes anstellte. Aus diesem Grund wachte Kev eines Morgens früh auf und zog sich bedächtig die Kleidung an, die sie ihm gegeben und die früher Leo gehört hatte.
Jede Bewegung tat weh, doch Kev beachtete das heftige Pochen in seinem Kopf und den brennenden Schmerz in seinem Rücken nicht. Er steckte sich das Messer und die Gabel von seinem Tablett, einen Kerzenstummel und ein Stück Seife in die Jackentasche. Das erste Licht der Morgendämmerung schien durch das kleine Fenster über seinem Bett. Die Familie würde bald erwachen. Er schlich zur Tür, fühlte sich benommen, und wäre beinahe wieder auf die Matratze gesunken. Keuchend versuchte er, seine Kräfte zu sammeln.
Da klopfte es an der Tür, und sie schwang auf. Verdrossen öffnete er den Mund, um den Besucher anzufauchen.
»Darf ich hereinkommen?«, hörte er ein Mädchen leise fragen.
Der Fluch erstarb auf Kevs Lippen. Er schloss die Augen, atmete, wartete.
Das bist du. Du bist hier.
Endlich.
»Du bist schon viel zu lange allein gewesen«, sagte sie, während sie auf ihn zukam. »Ich dachte, du hättest vielleicht gerne etwas Gesellschaft. Ich bin Winnifred.«
Kev sog ihren Duft und den Klang ihrer Stimme in sich auf. Sein Herz klopfte. Vorsichtig setzte er sich aufs Bett, ignorierte den brennenden Stich, der durch ihn hindurchschoss. Er öffnete die Augen.
Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass sich eine Gadji- mit einem Roma-Mädchen hätte messen können. Doch dieses Geschöpf hier war außergewöhnlich, ein übernatürliches Wesen, so blass wie das Mondlicht, mit silberblondem Haar und ernsten Gesichtszügen, die aus Marmor gemeißelt zu sein schienen. Sie sah warmherzig und unschuldig und weich aus. Alles, was er nicht war. Jede Faser seines Körpers reagierte mit einer solchen Heftigkeit auf das Mädchen, dass er den Arm ausstreckte und es mit einem schwachen Grunzen packte.
Die Kleine keuchte leise auf, hielt jedoch still. Kev wusste, dass es falsch war, sie zu berühren. Er hatte keine Erfahrung darin, mit einem anderen Menschen sanft umzugehen. Er würde ihr wehtun, ohne es zu wollen. Und dennoch entspannte sie sich in seinem Griff und sah ihn mit ruhigen blauen Augen unverwandt an.
Warum hatte sie keine Angst vor ihm? Denn er hatte Angst um sie, weil er wusste, wozu er fähig war.
Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie näher an sich herangezogen hatte. Alles, was er wusste, war, dass nun ein Teil ihres Gewichts auf ihm lastete, während er auf dem Bett lag und sich seine Fingerspitzen in das weiche Fleisch ihrer Oberarme krallten.
»Lass los«, bat sie ihn leise.
Das wollte er nicht. Nie mehr. Er wollte sie bis in alle Ewigkeit bei sich haben, ihr das geflochtene Haar öffnen und mit den Fingern durch die fahle Seide streichen. Er wollte sie bis ans Ende der Welt tragen.
»Wenn ich es tue«, sagte er schroff, »wirst du dann bleiben?«
Ein süßes, köstliches Lächeln stahl sich auf ihre zarten Lippen. »Du dummer Junge! Natürlich bleibe ich. Ich bin doch zu Besuch gekommen.«
Langsam lösten sich seine Finger. Er glaubte, sie würde weglaufen, aber sie blieb ruhig sitzen. »Leg dich hin«, riet sie ihm. »Warum bist du schon so früh angezogen?« Sie riss die Augen auf. »Oh. Du darfst nicht fortgehen. Jedenfalls nicht, bevor du wieder völlig gesund bist.«
Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Kevs Fluchtpläne hatten sich in der Sekunde in Luft aufgelöst, als er sie erblickt hatte. Er lehnte sich in die Kissen zurück und beobachtete aufmerksam, wie sie auf dem Stuhl Platz nahm. Sie trug ein rosafarbenes Kleid. Der Halsausschnitt und die Ärmel waren mit kleinen Rüschen besetzt.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
Kev hasste Gespräche. Hasste es, sich mit irgendjemandem zu unterhalten. Doch er war bereit, alles zu tun, damit sie bei ihm blieb. »Merripen.«
»Ist das dein Vorname?«
Er schüttelte den Kopf.
Winnifred legte den Kopf schief. »Willst du ihn mir nicht sagen?«
Das konnte er nicht. Ein Rom durfte seinen richtigen Namen nur anderen Roma anvertrauen.
»Dann verrat mir wenigstens den ersten Buchstaben«, lockte sie ihn.
Verwirrt starrte Kev sie an.
»Ich kenne nicht viele Zigeunernamen«, sagte sie. »Ist es Luca? Marko? Stefan?«
Da erkannte Kev, dass sie ein Spiel mit ihm spielte. Ihn neckte. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Wenn ihn normalerweise jemand ärgerte, versenkte er die Faust im Gesicht seines Gegenübers.
»Irgendwann wirst du ihn mir sagen«, fuhr sie mit einem schwachen Grinsen fort. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie vom Stuhl aufstehen, und Kevs Hand schoss vor und packte sie am Arm. Erstaunen huschte über ihr Gesicht.
»Du hast gesagt, du bleibst«, entrüstete er sich.
Ihre frei Hand legte sich auf seine. »Das werde ich auch. Sei unbesorgt, Merripen! Ich will uns nur etwas Brot und Tee holen. Lass mich gehen! Ich komme gleich wieder.« Ihre Handfläche, die über seine Hand strich, war weich und warm. »Ich bleibe den ganzen Tag hier, wenn du willst.«
»Das werden sie nicht zulassen.«
»O doch, das werden sie.« Mit sanften Fingern lockerte sie seinen Griff an ihrem Handgelenk. »Sei nicht so ängstlich! Gütiger Himmel, ich dachte, Zigeuner sind fröhlich.«
Ihre Worte hätten beinahe ein Lächeln auf seine Lippen gezaubert. »Ich hatte keine gute Woche.«
Sie war immer noch damit beschäftigt, seine Finger von ihrem Arm zu lösen. »Ja, das sehe ich. Wie kam es, dass du verletzt worden bist?«
»Gadjos haben meine Sippe angegriffen. Vielleicht folgen sie mir auch hierher.« Er starrte sie gierig an, zwang sich jedoch, sie loszulassen. »Es ist nicht sicher. Ich sollte verschwinden.«
»Niemand würde es wagen, dir hier etwas anzutun. Mein Vater ist ein sehr angesehener Mann im Dorf. Ein Gelehrter.« Als sie Merripens fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie hinzu: »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.«
Das klang nach etwas, das ein Gadjo sagen würde. Es ergab für ihn keinen Sinn. »Die Männer, die letzte Woche meine Vitsa angegriffen haben, waren nicht mit Federn bewaffnet.«
»Du armes Ding«, sagte sie mitleidvoll. »Es tut mir leid. Deine Wunden müssen nach all den Anstrengungen wehtun. Ich bringe dir ein Schmerzmittel.«
Nie zuvor war Kev Mitgefühl entgegengebracht worden. Und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Sein Stolz sträubte sich gegen ihre liebevollen Worte. »Ich werde es nicht einnehmen. Gadjo-Medizin funktioniert nicht. Wenn du sie holst, werde ich sie nur wegschütten …«
»Also schön. Reg dich nicht so auf! Das ist sicherlich nicht gut für deine Genesung.« Sie ging zur Tür, und tiefe Verzweiflung packte Kev. Er war überzeugt, dass sie nicht zurückkäme. Und er wollte sie unbedingt in seiner Nähe wissen. Hätte er die Kraft gehabt, wäre er aus dem Bett gesprungen und hätte sie wieder gepackt. Doch dazu war er einfach nicht in der Lage.
Aus diesem Grund starrte er sie lediglich griesgrämig an und murmelte: »Dann geh doch. Der Teufel soll dich holen!«
Winnifred blieb mit einem verwirrten Lächeln auf den Lippen im Türrahmen stehen und warf einen Blick über ihre Schulter. »Wie trotzig und mürrisch du bist! Ich werde mit Brot und Tee und einem Buch zurückkommen, und ich werde so lange hierbleiben, bis ich ein Lächeln aus dir herausgekitzelt habe.«
»Ich lächle nie«, erklärte er großspurig.
Zu seiner großen Überraschung kehrte Win tatsächlich zurück. Sie verbrachte den Großteil des Tages damit, ihm eine langweilige und langatmige Geschichte vorzulesen, die ihn vor Zufriedenheit schläfrig machte. Keine Musik, kein Rascheln der Waldbäume, kein Vogelgesang hatte ihn je so verzückt wie ihre sanfte Stimme. Bisweilen kamen andere Familienmitglieder an die Tür, aber Kev konnte sich nicht überwinden, sie anzufauchen. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich aufgehoben. Er konnte niemanden hassen, wenn er der absoluten Glückseligkeit so nah war.
Am nächsten Tag brachten ihn die Hathaways in den Salon des Landhauses, der mit verschlissenen Möbeln bestückt war. Jeder freie Zentimeter war mit Skizzen, Näharbeiten und Bücherstapeln verstellt. Man konnte sich kaum bewegen, ohne versehentlich etwas umzustoßen.
Während Kev auf dem Sofa ruhte, spielten die jüngeren Mädchen auf dem Teppich in seiner Nähe und versuchten, Beatrix’ Eichhörnchen Kunststücke beizubringen. Leo und sein Vater spielten in der Ecke Schach. Amelia und ihre Mutter bereiteten das Essen in der Küche zu, und Win saß neben Kev und kümmerte sich um sein Haar.
»Du hast die Mähne eines wilden Tieres«, erklärte sie und benutzte die Finger, um die Knoten vorsichtig zu lösen, bevor sie die verfilzten schwarzen Strähnen kämmte. »Halt still! Ich gebe mir alle Mühe, damit du zivili… Oh, hör auf zusammenzuzucken! Dein Kopf kann unmöglich so empfindlich sein.«
Kev zuckte nicht wegen der Knoten oder dem Kamm zusammen. Es lag an dem Umstand, dass er noch nie in seinem Leben von jemandem so lange berührt worden war. Er fühlte sich gedemütigt, war aufgewühlt und beunruhigt … doch als er sich wachsam im Zimmer umblickte, musste er feststellen, dass sich niemand dafür zu interessieren schien, was Win gerade tat.
Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Der Kamm zerrte ein wenig zu hart, und Win murmelte eine Entschuldigung nach der anderen und strich mit den Fingerspitzen über die schmerzenden Stellen. So unsagbar sanft. Die Berührung schnürte ihm die Kehle zu. Tief verunsichert schluckte Kev seine Gefühle hinunter. Mit aller Gewalt versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Er konnte kaum atmen, so berauschend war der Genuss, den sie ihm bereitete.
Als Nächstes folgten ein Tuch um seinen Hals und eine Schere.
»Ich bin sehr gut«, lobte sich Win, schob seinen Kopf nach vorne und kämmte die Locken in seinem Nacken. »Und dein Haar schreit geradezu nach einem Haarschnitt. Immerhin gibt es genug Wolle auf deinem Kopf, um eine ganze Matratze zu stopfen.«
»Nimm dich in Acht, mein Junge!«, rief Mr Hathaway fröhlich. »Vergiss nicht, was mit Samson geschehen ist.«
Kev hob den Kopf. »Was denn?«
Win drückte ihn wieder nach unten. »Samsons Haar war der Quell seiner Stärke«, sagte sie. »Nachdem Delila es ihm abgeschnitten hatte, wurde er schwach und von den Philistern gefangen genommen.«
»Hast du etwa die Bibel nicht gelesen?«, wollte Poppy wissen.
»Nein«, erwiderte Kev. Er hielt still, während sich die Schere vorsichtig durch die dicken Wellen in seinem Nacken kämpfte.
»Dann bist du ein Heide?«
»Ja.«
»Von der Sorte, die Menschen frisst?«, fragte Beatrix mit großem Interesse.
Win antwortete, bevor Kev etwas sagen konnte. »Nein, Beatrix. Man kann Heide sein, ohne gleich ein Kannibale sein zu müssen.«
»Aber Zigeuner essen Igel«, sagte Beatrix. »Und das ist genauso schlimm wie Menschen zu essen. Igel haben nämlich Gefühle.« Sie hielt inne, als eine schwere Locke seines schwarzen Haares zu Boden fiel. »Ooooh, wie schön!«, rief das kleine Mädchen. »Darf ich sie haben, Win?«
»Nein«, sagte Merripen mürrisch, den Kopf immer noch nach unten gebeugt.
»Und warum nicht?«, fragte Beatrix.
»Jemand könnte sie benutzen, um einen Unglückszauber zu spinnen. Oder einen Liebeszauber.«
»Oh, das würde ich nicht«, entgegnete Beatrix aufrichtig. »Ich will nur ein Nest damit auspolstern.«
»Was soll’s, mein Liebling«, sagte Win gleichmütig. »Wenn es unserem Freund Unbehagen bereitet, werden sich deine Tiere mit einem anderen Füllmaterial begnügen müssen.« Die Schere schnitt erneut eine dicke schwarze Strähne ab. »Sind alle Zigeuner so abergläubisch wie du?«, fragte sie Kev.
»Nein. Die meisten sind noch schlimmer.«
Ihr helles Lachen kitzelte ihn am Ohr, und ihr warmer Atem verursachte ihm eine Gänsehaut. »Was würdest du mehr hassen, Merripen … das Unglück oder den Liebeszauber?«
»Den Liebeszauber«, sagte er, ohne auch nur einen Moment zu zögern.
Aus irgendeinem Grund brach die gesamte Familie in Gelächter aus. Merripen funkelte sie finster an, fand jedoch keinen Spott in ihren Gesichtern, sondern nur aufrichtige Erheiterung.
Kev rührte sich nicht und lauschte dem Geschnatter der Familie, während Win ihm eine Frisur verpasste. Es waren die sonderbarsten Gespräche, die er je gehört hatte, und auch die Mädchen redeten völlig ungeniert mit ihrem Bruder und Vater. Sie alle sprangen von einem Thema zum nächsten, diskutierten Ideen, die sie nicht berührten, und Geschehnisse, die sie nichts angingen. Das alles ergab keinen Sinn, aber die Familie schien sich prächtig zu amüsieren.
Er hatte nicht geahnt, dass es Menschen wie sie geben könnte. Und er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie sie so lange überlebt haben mochten.
 
Die Hathaways waren ein weltfremder Haufen, exzentrisch und fröhlich und gingen ganz in ihren Büchern, der Kunst und Musik auf. Sie wohnten in einem heruntergekommenen Landhaus, aber anstatt Türrahmen oder Löcher im Dach zu reparieren, züchteten sie Rosen und schrieben Gedichte. Wenn ein Stuhlbein zerbrach, klemmten sie einfach einen Stapel Bücher darunter. Ihre Prioritäten waren Kev ein Rätsel. Und nachdem seine Wunden verheilt waren, überraschten sie ihn noch mehr mit der Einladung, er könne sein Lager im Dachboden des Stalls aufschlagen.
»Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, hatte Mr Hathaway gesagt, »obwohl ich vermute, dass du dich eines Tages auf die Suche nach deiner Sippe machen wirst.«
Doch Kev hatte längst keine Sippe mehr. Sie hatten ihn zum Sterben zurückgelassen. Das hier war sein neues Zuhause.
Er kümmerte sich um all die Dinge, die die Hathaways im Laufe der Zeit vernachlässigt hatten, reparierte Löcher in den Decken und tauschte vermodernde Balken im Kamin aus. Trotz seiner Höhenangst verpasste er dem Haus ein neues Reetdach. Er versorgte das Pferd und die Kuh, pflegte den Küchengarten und flickte die Schuhe der Familie. Schon bald vertraute ihm Mrs Hathaway sogar Geld an, damit er im Dorf Essen und andere notwendige Kleinigkeiten kaufen konnte.
Nur ein einziges Mal schien sein Aufenthalt bei den Hathaways gefährdet zu sein, nämlich als man ihn dabei erwischte, wie er sich mit einigen Dorfrüpeln eine Rauferei lieferte.
Mrs Hathaway war von seinem Anblick entsetzt gewesen – zerbeult und mit blutiger Nase -, und hatte wissen wollen, was geschehen war. »Ich habe dich geschickt, damit du Käse kaufst, und du kommst mit leeren Händen nach Hause, und in solch einer körperlichen Verfassung!«, rief sie. »Was hast du getan, und warum?«
Kev hatte nicht geantwortet, sondern war düster dreinblickend an der Tür gestanden, während sie ihn ausgescholten hatte.
»Ich dulde keine Gewalt in diesem Haus. Wenn du keine Erklärung liefern kannst, dann pack deine Sachen und verschwinde.«
Doch bevor Kev sich rühren oder etwas erwidern konnte, hatte Win das Haus betreten. »Nein, Mutter«, hatte sie ruhig gesagt. »Ich weiß, was geschehen ist – meine Freundin Laura hat es mir gerade erzählt. Ihr Bruder war auch dort. Merripen hat unsere Familie verteidigt. Zwei andere Jungen haben ihm beleidigende Dinge über uns Hathaways zugerufen, und Merripen hat sie deshalb verprügelt.«
»Was für Beleidigungen?«, fragte Mrs Hathaway verwirrt.
Mit geballten Fäusten starrte Kev zu Boden.
Win schreckte vor der Wahrheit nicht zurück. »Sie kritisieren unsere Familie«, sagte sie, »weil wir einen Rom bei uns aufgenommen haben. Einigen Dorfbewohnern gefällt das nicht. Sie haben Angst, Merripen könne sie bestehlen oder mit Flüchen belegen oder sonst einen Unsinn anstellen. Sie machen uns verantwortlich, weil wir ihm ein Dach über dem Kopf gewähren.«
In der Stille, die nun folgte, zitterte Kev vor unsäglicher Wut. Und gleichzeitig war er von Traurigkeit erfüllt. Er belastete die Familie. Nie könnte er friedvoll bei den Gadjos leben.
»Dann werde ich gehen«, sagte er. Es war das Beste, was er tun konnte.
»Wohin?«, fragte Win mit einem überraschten Unterton in der Stimme. »Du gehörst hierher. Du hast kein anderes Zuhause.«
»Ich bin ein Rom«, war seine ganze Erklärung. Sein Zuhause war nirgendwo und überall.
»Du wirst selbstverständlich nicht gehen«, sagte Mrs Hathaway entschlossen. »Und sicherlich nicht wegen irgendwelcher Dorflümmel. Was würde es meine Kindern lehren, wenn eine solche Beschränktheit und ein derart verabscheuungswürdiges Verhalten obsiegte? Nein, du wirst bleiben. Das ist das Richtige. Aber du darfst dich nicht prügeln, Merripen. Ignorier sie einfach, und irgendwann werden sie das Interesse daran verlieren, dich aufzuziehen.«
Ein törichter Gadjo-Gedanke. Ignorieren funktionierte nie. Der schnellste Weg, die Sticheleien eines Raufbolds zu beenden, bestand darin, ihn grün und blau zu schlagen.
Eine neue Stimme mischte sich in das Gespräch ein. »Wenn er bleibt«, bemerkte Leo und betrat die Küche, »wird er wohl oder übel kämpfen müssen, Mutter.«
Wie Kev sah auch Leo mitgenommen aus, mit einem blauen Auge und einer aufgeplatzten Lippe. Die erschrockenen Ausrufe seiner Mutter und Schwestern bedachte er mit einem schiefen Grinsen. Immer noch lächelnd blickte er zu Kev. »Ich habe mir einen oder zwei der Kerle vorgenommen, die du übersehen hast.«
»Du meine Güte«, sagte Mrs Hathaway betrübt und besah sich die Hand ihres Sohnes, die aufgeschrammt war und blutete. »Das sind Hände, die dazu geschaffen sind, Bücher zu halten. Nicht zum Prügeln.«
»Ich hoffe, ich kann beides«, erklärte Leo trocken. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, als er Kev ansah. »Ich lasse mir doch von niemanden vorschreiben, wer in meinem Haus wohnen darf. Solange du hierbleiben willst, Merripen, werde ich dich wie einen Bruder verteidigen.«
»Ich will euch keine Schwierigkeiten bereiten«, murmelte Kev.
»Dies sind keine Schwierigkeiten«, erwiderte Leo und bewegte behutsam seine Finger. »Schließlich gibt es Prinzipien, die es wert sind, dass man dafür eintritt.«
Drittes Kapitel
Prinzipien. Ideale. Die harte Wirklichkeit von Kevs früherem Leben hatte solche Dinge nicht zugelassen. Doch das Zusammensein mit den Hathaways veränderte ihn. Längst drehten sich seine Gedanken nicht ausschließlich um das nackte Überleben. Gewiss würde nie ein Gelehrter oder Gentleman aus ihm werden, aber er verbrachte Jahre damit, den angeregten Gesprächen der Hathaways über Shakespeare, Galileo, flämische Kunst im Vergleich zu venezianischer, Demokratie, Monarchie und Theokratie zu lauschen. Das Lesen hatte er gelernt, sich etwas Latein angeeignet und sogar ein paar Worte Französisch aufgeschnappt. Er hatte sich in jemanden verwandelt, den seine frühere Sippe nicht wiedererkannt hätte.
Kev wäre nie auf den Gedanken gekommen, Mr und Mrs Hathaway als seine Eltern zu betrachten, obwohl er einfach alles für sie getan hätte. Er hatte nicht den Wunsch, sich an Menschen zu binden. Das hätte mehr Vertrauen und eine größere Nähe erfordert, als er jemals aufzubringen vermochte. Aber er liebte den Hathaway-Clan, selbst Leo. Und dann war da noch Win, für die Kev gestorben wäre.
Er hätte Win nie durch seine Berührung gedemütigt oder die dreiste Hoffnung gehegt, jemals einen anderen Platz in ihrem Leben einzunehmen als den eines Beschützers. Sie war zu zart, zu außergewöhnlich. Während sie zu einer atemberaubenden Frau heranwuchs, war jedoch auch jeder andere Mann in der Grafschaft von ihrer Schönheit verzaubert.
Außenstehende neigten zu der Ansicht, Win sei eine Eisprinzessin, elegant und ruhig und von einer anderen Welt. Aber Außenstehende wussten nichts von ihrem verschlagen Witz und der Wärme, die unter ihrer makellosen Oberfläche lauerte. Außenstehende sahen nicht, wie Win ihrer Schwester Poppy die Schritte für eine Quadrille beibrachte, bis die beiden laut kichernd auf dem Boden zusammenbrachen. Oder wie sie mit Beatrix nach Fröschen jagte, ihre Schürze voller sich windender Amphibien. Oder die lustige Art, in der sie die Romane von Dickens vortrug, mit einer Vielzahl verschiedener Stimmen und Geräusche, bis die gesamte Familie in ihren Bann geschlagen war.
Kev liebte sie. Nicht auf die Art, die Schriftsteller und Dichter beschrieben. Er liebte sie mit einer Inbrunst, die ihn schier zu ersticken drohte, wild und ungebändigt. Jeder Moment, den er nicht in ihrer Gesellschaft verbrachte, glich einer unerträglichen Folter. Jeder Moment mit ihr bedeutete himmlischen Frieden. Jede Berührung ihrer Hände hinterließ einen Abdruck, der sich bis in seine Seele fraß. Er hätte sich eher umgebracht, als seine Gefühle für sie zu offenbaren. Die Wahrheit war tief in seinem Herzen vergraben.
Kev wusste nicht, dass Win ihn ebenfalls liebte. Und das hätte er auch nie gewollt.
 
»Na also«, sagte Win eines Tages, nachdem sie über trockene Wiesen gewandert und sich an ihrem Lieblingsort niedergelassen hatten. »Du hättest es fast geschafft.«
»Was hätte ich fast geschafft?«, fragte Kev träge. Sie lagen vor einem Baumstamm neben einem kleinen Bach, der während der Sommermonate austrocknete. Das Gras war mit violetten Teufelskrallen und weißem Mädesüß besprenkelt, das seinen süßen, nach Mandeln riechenden Duft in die warme, stehende Luft verströmte.
»Ein Lächeln.« Sie rollte sich auf die Ellbogen und berührte mit den Fingern seine Lippen.
Kevs Atem setzte aus.
Ein Wiesenpieper erhob sich aus einem nahe gelegenen Baum in die Höhe und stieß einen langen Pfiff aus.
Win, die ganz auf ihre Aufgabe konzentriert war, strich Kevs Mundwinkel nach oben.
Erregt und gleichzeitig amüsiert, lachte Kev leise und schob ihre Hand weg.
»Du solltest öfter lachen«, sagte Win, die immer noch auf ihn herabstarrte. »Du bist sehr attraktiv, wenn du lachst.«
Sie war strahlender als die Sonne, ihr Haar schimmerte seidenweich, ihre Lippen hatten ein weiches Rosa angenommen. Zuerst war ihr Blick nichts weiter als eine freundliche Aufmunterung, doch als ihre Augen ihn auch weiterhin gefangen hielten, erkannte er, dass sie seine Geheimnisse zu ergründen suchte.
Er wollte sie zu sich herabziehen und ihren Körper mit seinem bedecken. Es waren nun schon vier Jahre vergangen, seit er zu den Hathaways gestoßen war. Allmählich kostete es ihn immer größere Mühe, seine Gefühle für Win im Zaum zu halten.
»Woran denkst du, wenn du mich so ansiehst?«, fragte sie sanft.
»Das kann ich nicht sagen.«
»Warum nicht?«
Kev spürte, wie ihm erneut ein Lächeln auf den Lippen lag. »Es würde dir Angst einjagen.«
»Merripen«, sagte sie entschlossen, »nichts, was du je tun oder sagen könntest, würde mich ängstigen.« Sie runzelte die Stirn. »Wirst du mir denn jemals deinen Namen verraten?«
»Nie.«
»Doch, das wirst du. Ich bringe dich schon noch dazu.« Spielerisch schlug sie mit den Fäusten auf seine Brust ein.
Kev packte ihre schmalen Handgelenke, rollte sich in einer geschmeidigen Bewegung über Win und hielt sie unter sich gefangen. Es war falsch, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Und während er sie mit seinem Gewicht auf den Boden drückte, spürte er, wie sie sich instinktiv wand, um sich ihm anzupassen. Er war wie versteinert von dem köstlichen Wonnegefühl, das ihre Nähe ihm bereitete. Eigentlich hatte er erwartet, sie würde sich zur Wehr setzen, gegen ihn kämpfen, doch stattdessen lag sie lächelnd in seiner Umarmung.
Vage erinnerte sich Kev an eine der mythischen Geschichten, die die Hathaways so mochten … die griechische Sage über Hades, den Gott der Unterwelt, der die Jungfrau Persephone von einer Blumenwiese entführte und sie durch einen Spalt in der Erde zog. Hinab in seine dunkle eigene Welt, wo er sie mit Leib und Seele besitzen konnte. Obwohl sich alle Hathaway-Töchter über das Schicksal Persephones empört hatten, war Kev im Stillen auf Hades’ Seite gewesen. In der Roma-Kultur galt die Vorstellung, eine Frau zu entführen und sie anschließend zu ehelichen, als sehr romantisch.