Die Welt als unsicherer Ort (Leben Lernen, Bd. 328) - Luise Reddemann - E-Book

Die Welt als unsicherer Ort (Leben Lernen, Bd. 328) E-Book

Luise Reddemann

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Beschreibung

Die Corona-Krise als Herausforderung für die Psychotherapie - Das psychotherapeutische Praxisbuch zur Covid-19-Pandemie und darüber hinaus - Mit Interventionen und Beispielen Die fortbestehende Covid-19-Pandemie löst bei vielen gravierende Reaktionen aus, wie z.B. Ängste und Depressionen. Besonders betroffen sind Menschen mit Traumafolgeerkrankungen, die sich in ihrem Leben ohnehin nie ganz sicher fühlen können und in Ausnahmesituationen vom Verlust ihrer oft mühsam erarbeiteten Ressourcen bedroht sind. Um vulnerable Menschen gut durch diese und eventuell folgende Krisenzeiten begleiten zu können, braucht die Psychotherapie mehr und zum Teil anderes als das erlernte »Handwerkszeug«. Der Blick der »Existentiellen Psychotherapie« wird hier sinnvoll verknüpft mit den bestens eingeführten und bewährten Grundsätzen und Tools der »Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie« der Autorin. Über den praktisch-klinischen Schwerpunkt des Buches hinaus fließen auch Erkenntnisse aus Soziologie und Geschichte ein, die Hinweise darauf geben können, was wir als Gesellschaft aus Krisenzeiten lernen können. Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - TraumatherapeutInnen, beratende PsychologInnen - Alle, die sich in der gegenwärtigen Krise ein unterstützendes Angebot wünschen

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Luise Reddemann

Die Welt als unsicherer Ort

Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten

Zu diesem Buch

Die fortbestehende Covid-19-Pandemie löst bei vielen gravierende Reaktionen aus, wie z. B. Ängste und Depressionen. Besonders betroffen sind Menschen mit Traumafolgeerkrankungen, die sich in ihrem Leben ohnehin nie ganz sicher fühlen können und in Ausnahmesituationen vom Verlust ihrer oft mühsam erarbeiteten Ressourcen bedroht sind. Um vulnerable Menschen gut durch diese und eventuell folgende Krisenzeiten begleiten zu können, braucht die Psychotherapie mehr und zum Teil anderes als das erlernte »Handwerkszeug«. Der Blick der »Existentiellen Psychotherapie« wird hier sinnvoll verknüpft mit den bestens eingeführten und bewährten Grundsätzen und Tools der »Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie« der Autorin. Über den praktisch-klinischen Schwerpunkt des Buches hinaus fließen auch Erkenntnisse aus Soziologie und Geschichte ein, die Hinweise darauf geben können, was wir als Gesellschaft aus Krisenzeiten lernen können.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter: www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 328

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von Copyright ©: Photo by Sapeksh Singh Siwach on Unsplash

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89277-2

E-Book: 978-3-608-11708-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20526-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Wie uns die Pandemie herausfordert

Grundlage dieses Buches – Die Existentielle Psychotherapie

Neues lernen

Verlusterfahrungen

Worum es mir in diesem Buch geht

Kapitel 1

Soziologische und historische Blicke auf die Krise

1.1 Die Zerbrechlichkeit des Sozialen

1.2 Der historische Blick

1.3 Begleiter und Begleiterinnen aus verschiedenen Jahrhunderten – eine persönliche Auswahl

Beispielhaftes im Umgang mit Extremerfahrungen

Kapitel 2

Psychotherapie in Zeiten von Corona und anderen kollektiven Krisensituationen

2.1 Stressreduktion

2.2 Interventionen der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie

Innere hilfreiche Wesen

Orientierung und Strukturen

Die Bedeutung von Trost und Mitgefühl

Nutzen und Nutzung der Vorstellungskraft

Arbeit mit jüngeren Ichs/Anteilen

Selbstwirksamkeit erfahren

Aufrichtigkeit

Gegenübertragung

Selbstberuhigungsfähigkeit üben

Bewusste wohlwollende innere Distanzierung statt Dissoziation

First things first

Selbstermächtigung und Förderung von Eigenmacht

Uneindeutigkeit aushalten lernen

2.3 Einige Empfehlungen für den Beginn einer Behandlung

2.4 Akute Belastungsreaktionen bei Menschen mit Traumafolgestörungen

Die therapeutische Beziehung

Vom Nutzen von Imaginationen

Unser emotionales Herz will gepflegt sein

Bescheidenheit

Bild der inneren Weisheit

2.5 Vorschlag für eine überwiegend ressourcenorientierte Krisenintervention im Rahmen von 5–10 Sitzungen nach PITT

Corona als Trigger von negativen, aber auch positiven Erfahrungen

Kapitel 3

Die existentielle Dimension der Pandemie-Erfahrung

3.1 Der Tod bzw. unsere Sterblichkeit als existentielle Bedrohung

Dinge wagen

Befürchtungen und Hoffnungen

Annäherungen aus östlichen Philosophien

Abschiedlich leben und was wir daraus lernen können

3.2 Einsamkeit

3.3 Fragen nach dem Sinn

Es bleibt die Sinnfrage im Kontext von Corona

3.4 Freiheit und Verantwortung

Kindheit hat Folgen – und kann die Bewältigung aktueller Belastungen behindern

Was haben diese Überlegungen mit dem Thema Freiheit zu tun?

3.5 Verbundenheit als existentielle Herausforderung und Chance

Wie können wir die hier ausgeführten Gedanken in der Psychotherapie von belasteten Menschen umsetzen?

Kapitel 4

Mitgefühl in Zeiten der Corona-Pandemie

Abschließende Gedanken

Danksagung

Literatur

Für meine Geschwister Gunde Hartmann, Ekkehard Mutschler und Marese Hoffmann in großer Dankbarkeit

Einleitung

»Die Corona-Krise trennte auf gesellschaftlicher Ebene die Gegenwart von der Vergangenheit im ersten Augenblick kaum weniger abrupt, als der Einzelne sich durch Unfall oder Diagnose von einer Sekunde zur anderen aus seinem bisherigen Leben gerissen fühlen kann. ›Covid-19‹ hatte im Erwartungshorizont der Zeitgenossen keinen Erfahrungswert, die Pandemie bedeutete den Einbruch des Unvorstellbaren in eine Lebenswelt, die sich gerade in Europa ihrer historischen Gewordenheit so sicher wusste wie ihrer voraussehbaren Entwicklungsrichtung.« (Sabrow, 2020, o. S.)

Wie uns die Pandemie herausfordert

Wir hatten in der Tat nicht damit gerechnet, was sich seit März 2020 in unser aller Leben ereignete. Vielleicht empfinden manche es sogar nach Monaten noch immer wie einen bösen Traum, aus dem wir bald erwachen werden – und alles wäre wieder wie zuvor: Auch vor Corona war es nicht immer leicht, aber wir gingen davon aus, dass doch das meiste berechen- und beherrschbar sei. Und das, was nicht dazuzugehören schien, etwa der Tod, kümmerte uns wenig. Wozu sich den Kopf zerbrechen über etwas, das doch für die meisten weit weg war, wovon man ohnehin nichts weiß. Irgendwie würden wir auch das schaffen. Vielleicht gab es manchmal kleine Unsicherheiten, vielleicht sogar Ängste, aber das alltägliche Leben schien ja doch greifbar und vor allem beeinflussbar. Im weiteren Verlauf der Pandemie wurden wir immer unsicherer und wurden mit Erfahrungen konfrontiert, die wir uns kaum vorstellen konnten. Und inzwischen, nach vielen Monaten? Inzwischen sind wir mehr oder weniger fassungslos, dass uns so etwas geschieht. Es scheinen sich einerseits Akzeptanz und andererseits stille Verzweiflung auszubreiten. Und natürlich große Hoffnungen, vor allem auf die Impfstoffe. Es werden auch zunehmend soziale Verwerfungen deutlich, die Anlass zu Besorgnis geben können. Auch der – vorsichtig ausgedrückt – teilweise sorglose Umgang mit Grundrechten gibt zu denken.

Aus dem bisherigen Leben gerissen, muss uns der Historiker Martin Sabrow sagen. Und wir hatten nicht damit gerechnet, dass uns selbst so etwas widerfahren könnte – eine Pandemie, eine weltweite Heimsuchung, der man, so scheint es, nirgends gänzlich ausweichen kann.

Corona scheint mir nach wie vor auch deshalb eine sehr verstörende Erfahrung zu sein, weil das Virus nicht »greifbar« ist. Erst wenn der Körper beginnt, an ihm manifest zu leiden, wissen wir, dass wir erkrankt sind.1 Vielleicht fällt es manchen Menschen auch deshalb schwer, sich an all die einschränkenden Gebote zu halten, weil sie körperlich zunächst nichts von ihm bemerken. Erst wenn es sich bereits Tage in uns ausgebreitet hat, nehmen es einige wahr, indem sie sich krank fühlen oder auch schwer erkranken. Die Frage, ob all die einschränkenden Maßnahmen sinnvoll sind, steht ebenfalls zunehmend im Raum.

Wie wenig haben wir »vor Corona« gelernt, uns mit derlei Gegebenheiten einzurichten!? Sind wir nicht hustend und schnupfend herumgelaufen, ohne uns viele Gedanken zu machen? Und inzwischen sollen wir unbedingt zu Hause bleiben, wenn wir erkältet sind. Und müssen uns sogar an Quarantäneregeln halten. Es gibt also relativ neue Herausforderungen, die anzunehmen nicht für alle einfach und einleuchtend sind.

Ich habe seit Jahrzehnten eine Übung empfohlen und angeleitet, sich einen »sicheren Ort«, oder, wie ich heute lieber sage, einen »Ort der Geborgenheit« (Reddemann, 2016a, S. 57 ff.) vorzustellen; insgeheim zumindest dachten wir nicht, dass die Welt, in der wir leben, ganz und gar unsicher sein könne. Wir hatten Mitgefühl mit PatientInnen, die durch schwere Traumatisierungen so etwas wie ein Sicherheitsgefühl nie gehabt oder früh verloren hatten. Wir dachten aber nicht, dass wir nun alle davon heimgesucht würden, uns – bis auf Weiteres – in der Welt an keinem Ort mehr sicher fühlen zu können. Wenn uns von weisen Menschen gesagt wurde, dass es keine Sicherheit gäbe, weil die Welt so nicht gemacht sei, haben wir das schnell beiseitegeschoben und uns wieder beruhigt. Und nun ist dieser Alptraum wahr geworden. Und es ist kein Alptraum, es ist eine Tatsache.

Jetzt, wo ich dies schreibe, klammern wir uns an die Hoffnung auf einen wirksamen Impfstoff, aber ist da nicht eine leise Stimme, die zweifelt? Und es wird uns angekündigt, dass es noch sehr viele Viren gäbe, die uns in den kommenden Jahren immer wieder aufs Neue mit Pandemien heimsuchen könnten. Daher ist dieses Buch nicht nur für die Covid-Problematik gedacht, sondern auch für ähnliche kollektive Erfahrungen, denen wir jetzt und in der Zukunft vermutlich nicht entgehen können.

Das von mir oben beschriebene Lebensgefühl der Ratlosigkeit und Angst geht wohl die meisten Menschen derzeit etwas an. So sagt Milena Glimbovski in einem Interview: »Ich würde behaupten, dass ich relativ stabil bin. Ich habe eine Partnerschaft, bin gesund, habe einen Job, den ich liebe, tolle Kolleginnen und Kollegen, bin finanziell abgesichert – und trotzdem hatte ich Panikattacken in der Woche, in der Corona losging, weil ich nicht glauben konnte, wie schnell die Welt aus den Fugen geraten kann. Ich saß da, habe geheult und keine Luft gekriegt.« (Glimbovski in Glimbovski & Lenarz, 2021, o. S.)

Und dann sind noch diejenigen, die sich noch nie sicher und geborgen gefühlt haben, denen wir versucht haben, innere Sicherheit zu vermitteln, die durch die äußeren Ereignisse ungewisser denn je wird.

Wie reagiert die Ärzteschaft, wie die Psychotherapie auf die neuen Herausforderungen?

Die Bundesärztekammer (BÄK, 2020) empfahl in einem 10-Punkte-Programm vom 21. 8. 2020:

»Krisenmanagement von Bund und Ländern weiter optimieren, Sicherheit des medizinischen Personals gewährleisten, Versorgungskapazitäten für Krisenfälle vorhalten und finanzieren, Europäische Zusammenarbeit stärken, Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken/Meldewege verkürzen, Testmaßnahmen gezielt ausweiten, Kapazitätserfassung und Kapazitätssteuerung optimieren, Impfstoffentwicklung durch internationale Abkommen beschleunigen, Nachwuchs fördern und Fachkräfte sichern, Krise als Treiber für Digitalisierung nutzen« (ebd., S. 1).

Leider wird bei keinem dieser Punkte auf die Notwendigkeit hingewiesen, seelische Gesundheit zu fördern, obwohl es ausreichend Daten aus früheren vergleichbaren Ereignissen gibt, wonach Menschen durch Erfahrungen wie die jetzige teilweise mit starken psychischen Problemen reagieren. Ich möchte hier auch von einem eklatanten Versagen der Gesundheitspolitik sprechen. Inzwischen gibt es neuere Forschung, die teilweise im »Ärzteblatt« abgedruckt oder referiert wird. So schreibt z. B. Petra Bühring im Oktober 2020: »Je länger eine Krise andauert und Menschen psychischen Belastungen ausgesetzt sind, desto eher sind die Selbstheilungskräfte überfordert und es kann zu psychischen Störungen kommen« (Bühring, 2020, S. 2049). Das können inzwischen viele KollegInnen bestätigen.

Es gab bereits im Mai 2020 im »Deutschen Ärzteblatt« einen Artikel von Jürgen Zielasek und Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank mit dem Titel »Psychische Störungen werden zunehmen«. Die Rede ist hier von einem »Anstieg von Anpassungsstörungen, Angsterkrankungen, Depressionen und Traumafolgestörungen« (ebd., S. 1114). Und auch: »Die Erfahrungen mit früheren Virusepidemien und Wirtschaftskrisen zeigen, dass soziale Isolation und abzusehende wirtschaftliche Folgen ungünstige Faktoren für die seelische Gesundheit in der Allgemeinbevölkerung darstellen.« (S. 1116)

Dies alles hat sich inzwischen vielfach bestätigt: In einer weiteren Studie zu »Coronabezogene(n) Belastungen und Verhaltensweisen« (Kuehner et al., 2020) in der Zeitschrift Psychiatrische Praxis schreiben die AutorInnen:

»Unsere COVID-19-Umfrage zeigt eine breite Streuung wahrgenommener Belastungen in der Bevölkerung. Am häufigsten sind Ängste um die Gesundheit nahestehender Personen, während Ängste um die eigene Gesundheit deutlich seltener berichtet werden. Weitere häufige Belastungen betreffen Auswirkungen auf die familiäre Situation und Belastung durch Ausgangsbeschränkungen, gefolgt von Sorgen um den Arbeitsplatz bzw. um finanzielle Einbußen. Knapp 20% der Befragten gibt an, zumindest teilweise mehr Alkohol zu konsumieren, verstärkter Konsum anderer psychotroper Substanzen wie Rauchen oder Medikamente wird von knapp 9% bejaht. Inwieweit es sich hierbei um temporäre oder stabile Veränderungen handelt, lässt sich noch nicht abschätzen.« (S. 366)

Andreas Heinz (2020), ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin, erklärt, dass die negativen Folgen von Isolations- und Quarantänemaßnahmen gut belegt sind. Vor allem mit Fortschreiten der Krise und den damit verbundenen Einschränkungen sei die Gefahr groß, dass schwer kranke Patienten den Verzicht auf den persönlichen Kontakt nicht lange aushalten könnten. Auch mit erhöhten Suizidraten müsse gerechnet werden …

Heinz betont, dass »Forschungsbedarf zu den psychosozialen Folgen von Isolations- und Quarantänemaßnahmen für ältere und hochbetagte Menschen bestehe und wie sich soziale Ungleichheit unter Pandemiebedingungen weiter verschärft« (o. S.; Hervorhebung L. R.).

Zu bestimmten psychischen Aspekten, wie dem Auftreten von Psychosen, Somatisierung, Suizidalität, Substanzmissbrauch und dem möglicherweise vermehrten Auftreten nicht stoffgebundener Süchte wie beispielsweise der Computerspielsucht wie auch zu Veränderungen im Sozialverhalten (Aggressivität und Reizbarkeit) würden bisher zu wenige Erkenntnisse vorliegen.

Wichtig sei auch der Hinweis, dass »soziale Distanz immer ein Belastungsfaktor [ist], [denn] wir Menschen brauchen in aller Regel die Mitwelt. Die Menschen leiden unterschiedlich stark unter Vereinsamung oder fehlendem direkten Kontakt, aber die wenigsten kommen damit langfristig ganz unbeschwert klar. Deshalb ist jede Form gesellschaftlicher Solidarität so wichtig.« (ebd.; Hervorhebung L. R.)

Mir macht Eindruck, dass Wolfgang Merkel, Professor der Politikwissenschaft am Wissenschaftszentrum Berlin das »Regieren durch Angst« (2020) kritisiert. Die Politik orientiere sich vor allem an den »Worst Cases, den schlimmsten Szenarien« (ebd., o. S.). Fast kann der Eindruck entstehen, dass Politiker auf Angst setzen, damit die Menschen die Beschränkungen zu akzeptieren bereit seien. Was vermutlich eine problematische, wenn nicht auf Dauer irrige, Einschätzung sein könnte.

Wie ist so etwas möglich? Zumindest spricht einiges dafür, dass der »Corona-Krieg« Bewältigungsmechanismen wie im Krieg aktiviert mit Durchhalteparolen im Befehlston. Das empfinde ich als verstörend 75 Jahre nach Ende des Krieges und der NS-Zeit. Dies auch deshalb, weil sich über die Monate der Corona-Krise zeigt, dass es in einigen anderen Ländern Alternativen im Umgang mit dieser Herausforderung gibt, die die Eigenmacht der Menschen mehr zu respektieren scheinen, auch wenn dort kurzfristig! Einschränkungen hingenommen wurden.2 Reagieren wir aus unbewussten kollektiven Schichten also, als drohe uns Krieg?3

Dass in Pandemiezeiten aktionistisch Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, sollte uns nachdenklich und kritisch machen. Tiefenpsychologisch betrachtet scheint sich hier ein Bedürfnis zu zeigen, dass »die Oberen« – als Elternersatz – schon alles richten sollen. Und »die Elternrepräsentanten« scheinen das gerne, zum Teil habe ich den Eindruck, zu gerne, anzunehmen. Vielleicht weil sie sich damit etwas sicherer fühlen? Das Gegenmodell sind aus meiner Sicht diejenigen, die sich gegen alle Maßnahmen wehren wie trotzige Kinder.

Darüber hinaus beunruhigt es mich, dass inzwischen sehr viele uns ethisch herausfordernde Themen, vor allem die zum Umgang mit unserer Umwelt, sei es die Natur oder andere Menschen, stark in den Hintergrund rücken. Die Ausbeutung unserer Lebensräume und von anderen Menschen scheinen als Mainstream-Themen beinahe vergessen, zumal viel dafür spricht, dass Corona eine Folge unseres die Natur ausbeutenden Lebenswandels ist.

Was gebraucht wird, sind Erwachsene, die sich ihrer Verantwortung im Umgang mit sich selbst und der Umgebung gewachsen fühlen und eingestehen können, wenn sie sich geirrt haben.

»The coronavirus is a reminder of our vulnerability and our finitude«, schreibt der amerikanische Arzt Ryan M. Antiel (2020, S. 2232) in seinem bemerkenswerten Essay »Oedipus and the Coronavirus Pandemic«, denn auch Ödipus musste die Grenzen menschlicher Existenz erfahren, ja erleiden, so wie wir sie jetzt kollektiv durch das Virus in einer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Heftigkeit erleben.4

Es mag hilfreich sein, sich klar zu machen, was uns jetzt geschieht, ist nicht völlig neu. Es gibt einige Akzente, die neu sind. Wir könnten durchaus von unseren Vorfahren lernen, wenn wir uns die Zeit dafür nehmen. Eine tiefgehende Analyse findet sich bei Frank Winter (2020), Sozial- und Rechtswissenschaftler, der den Versuch unternimmt, »den Ausnahmezustand der Corona-Politik als eine Macht zu verstehen, deren Motiv aus einer spezifischen Angst gespeist wird« (o. S.). Angst und Macht stellt er Würde entgegen. Es liege in unserer freien Entscheidung, welche positiven Werte wir an die Würde koppeln (vgl. ebd.). Wir können immer noch entscheiden, ob wir uns nur noch angstgeleitet treiben – und womöglich bevormunden – lassen, oder ob wir uns unserer Würde als Menschen gerade jetzt bewusst werden und entsprechend handeln. Ich wünsche mir, dass sich unsere Politiker von Philosophen und anderen Humanwissenschaftlern so viel beraten lassen würden wie von Virologen.

Wie bereits Ralf Vogel (2020) möchte ich mir in diesem Buch »therapieschulenübergreifende Gedanken« machen und die existentiellen Themen genauer in den Blick nehmen. Alle existentiellen Themen betrachte ich auch im Kontext von Menschenwürde. Inzwischen belehrt uns die Psychotherapieforschung über »common factors«, also Faktoren, die sich als wirksam erwiesen haben, die auch in anderen zwischenmenschlichen Begegnungen eine Rolle spielen; das meint Faktoren neben den Methoden, oder möglicherweise sogar eine Kunst der Begegnung in psychotherapeutischen Kontexten, die über Methoden hinausgehen. Und wichtig ist es, immer auch unsere Würde im Blick zu behalten (vgl. ausführlich Reddemann, 2020a; s. u. zu Foucault, 1994, sowie zu Sarasin, 2020).

Es liegt mir am Herzen, auf das Thema Verbundenheitsbedürfnisse Bezug zu nehmen und auf dieses Thema immer wieder hinzuweisen. Es ist ja seit etwa drei Jahrzehnten durch neoliberale Gedanken wie selbstverständlich aus dem Blick geraten; der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe hat das in seinem Buch »Und Ich?« (2013) brillant und nachdenklich untersucht. Können wir es uns immer noch leisten, uns fast ausschließlich vom Neoliberalismus bestimmen zu lassen und daraus unsere Identität abzuleiten?

Das kleine Virus fordert uns heraus, gründlich darüber nachzudenken, wer wir sein wollen.

Deshalb werde ich mich auch auf Frans de Waals Buch: »Mamas letzte Umarmung. Die Emotionen der Tiere und was sie über uns Menschen verraten« (2020) beziehen, ebenso wie auf das Wissen der Bindungsforschung vom Menschen und Ergebnissen der Psychotherapieforschung zum Thema Bedeutung der therapeutischen Beziehung. Falls es im »Schlechten« der Pandemie etwas »Gutes« gibt, dann aus meiner Sicht, dass wir uns bewusster werden, wie kostbar für uns Nähe und Verbundenheitserfahrungen sind, sowie, dass wir in irgendeiner Form Leiblichkeit brauchen, dass sie eine kostbare Gabe des Lebens ist. Um diese bewusst zu erfahren, ist derzeit Kreativität wichtig. So empfinde ich es als durchaus bedrückend, dass gerade hilfreiche sinnliche Erfahrungen kaum mehr möglich sind: also z. B. der Besuch von Konzerten oder Museen. Sind diese kompletten Lockdowns sozial verträglich? Unsere Phantasie ist gefragt, unsere imaginative Kraft, um das, was uns zutiefst ausmacht – was gewiss nicht nur neoliberalen Idealen entspricht –, so gut es uns möglich ist, zu verwirklichen.

Einladung zur Reflexion

Welche Werte halten Sie in der derzeitigen Situation für besonders wichtig? Und wie möchten Sie diese Werte konkretisieren?

Grundlage dieses Buches – Die Existentielle Psychotherapie

Mein Anliegen ist es, anlässlich der aktuellen Pandemie und über sie hinausgehend, existentiellen Fragestellungen nachzugehen und sie mit biographischen Belastungen in Verbindung zu bringen, individuellen und kollektiven.

Existentielle Fragen kommen in den hierzulande anerkannten Psychotherapieformen zu kurz. Dies hat mich motiviert, zu suchen: nach Verbundenheit mit denen, die vor uns Ähnliches durchgemacht haben. Nach Verstehen, nach Akzeptanz. In diesem Buch durchziehen existentielle Fragen alle Kapitel.

Wichtige Lehrer in Sachen »Existentielle Psychotherapie« sind für mich Viktor Frankl (v. a. 1946/1975) und Irvin Yalom (v. a. 1980/2015). Er führt aus, dass dem Forscher, der versuche, bedeutende Faktoren wie die Fähigkeit zu lieben oder die Sorge für jemand anderen zu messen, nur bleibe, phänomenologisch zu arbeiten und dem anderen Menschen ohne Vorannahmen zu begegnen (vgl. ebd., S. 39). Ich möchte das Wörtchen »nur« hier gerne infrage stellen, denn zunächst als junge Psychiaterin und in den letzten Jahren erneut vermehrt habe ich phänomenologisches Arbeiten schätzen gelernt. Der Philosoph Edmund Husserl empfiehlt, dass wir zunächst von allen Vorannahmen, Theorien und Selbstverständlichkeiten absehen müssen, damit die »Sachen selbst« (1901/1984, S. 10) zum Vorschein kommen können, so wie sie sind (vgl. auch Eberwein, 2015). Daran will ich mich, so gut es mir möglich ist, halten.

Durch zahlreiche Begegnungen mit schwer traumatisierten Menschen über viele Jahrzehnte habe ich erfahren, dass es sinnvoll und lohnend ist, einer phänomenologisch orientierten Arbeitsweise breiten Raum zu geben, allerdings auch getragen von psychodynamischem Verstehen und ergänzt durch verhaltensbezogene Interventionen wie Arbeit an Kognitionen, angeleitete Übungen und gelegentlich auch direkt am Verhalten.5

In der Behandlung von interpersonell schwer beschädigten Menschen geht es regelmäßig um existentielle Themen als Sinnfragen, um Befreiung, gnadenlose Einsamkeit und Tod und Fragen nach Verbundenheit. Inzwischen sind, ausgelöst durch das Corona-Virus und den daraus resultierenden Umgang damit, existentielle Themen für uns alle konkreter, wenn nicht bedrängend geworden. Und eine offene, an den Phänomenen orientierte Grundhaltung kann es nach meiner Erfahrung erleichtern, Menschen mit Offenheit zu begegnen, um erst später Krankheitstheorien zurate zu ziehen.

Aufgrund meiner Erfahrungen ergänze ich Yaloms vier grundlegende existentielle Fragen nach Tod, Freiheit, Isolation und Sinn bzw. Sinnlosigkeit um Verbundenheit als Leitmotiv für Mitgefühl und die sich daraus ergebende Care-Ethik. Ich sehe die Notwendigkeit, Weiterentwicklungen seit dem Erscheinen von Yaloms Buch zu berücksichtigen, insbesondere was das Verständnis von Traumafolgen angeht. Dies war für Yalom kein Thema gewesen. Ich fühle mich auch bei Überlegungen von frühen Pionieren der Psychoanalyse zu Hause, die alle, früher als viele andere, das Erkennen von interpersonellen Traumatisierungen und daraus resultierende Schwierigkeiten und Erkrankungen in den Blick genommen haben.

Die übergeordneten Themen scheinen mir also Verbundenheit und Mitgefühl zu sein.

Diese und Yaloms (1980/2015) Themen Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit/Sinn betreffen uns alle. Die Themen verbinden uns auf einer sehr tiefen Ebene und laden uns ein, miteinander mitfühlend umzugehen. Mir fällt jedoch immer mehr auf, dass genau diese Themen selten in den Corona-Diskussionen vorkommen. Selbstverständlich ist es wichtig, dass wir uns mit den Krankheitsbildern, der Epidemiologie und allen Aspekten der Bewältigung befassen; die Ausschließlichkeit führt mich allerdings zu der Frage, inwieweit die Virenthematik die existentiellen Fragen so stark überdeckt, dass sie nicht einmal mehr bewusst werden. Immer dann, wenn Corona in den Vordergrund rückt, scheint uns dies möglicherweise die existentiellen Fragen zu ersparen. Das kann auf Dauer nicht heilsam sein, sondern verhängnisvoll. Ich möchte mich daher darum bemühen, »hinter die Kulissen« zu schauen.

Als Menschen sind wir vermutlich alle mit existentiellen Themen mehr oder weniger vertraut, sie kommen jedoch in unseren Mainstream-Überlegungen zur Psychotherapie zu wenig vor. Es steht jeder und jedem von uns frei, das zu ändern und zu beginnen, die existentiellen Themen im eigenen Leben aufzuspüren, wie z. B. Tod, Freiheit, Einsamkeit sowie Sinn und Sinnlosigkeit, Verbundenheit und vielleicht noch einiges mehr, das Sie als existentiell definieren möchten. Um dann in aktuellen Psychotherapien darauf zu achten, ob diese Themen anklingen; nicht zuletzt dadurch, dass sie »sprechend vermieden« werden. Es mag eine Frage des Taktes, ja des Feingefühls, sein, diese Themen anzusprechen oder ggf. auch zu warten, bis sie eingebracht werden.

Corona ist selbstverständlich keine interpersonelle Traumatisierung im üblichen Sinn, sondern eine schicksalhafte Herausforderung. Die Corona-Erfahrung wird jedoch von vielen interpersonell traumatisierten Menschen als Wiederholung tödlichen Erschreckens erlebt. Dabei wird das Schicksal quasi zum Täter und wird ähnlich beantwortet: so als widerfahre jemandem etwas Böses von einer Macht, die stärker ist als man selbst. Dies entspricht in vielem den Erfahrungen, die gemacht werden, wenn andere Menschen massiv schädigend auf uns einwirken, insbesondere gilt das für Kinder und – daraus folgend – für Menschen, die als Kinder schwer interpersonell geschädigt worden sind.

Heute wird Schicksalhaftes erlebt wie frühe verletzende Bezugspersonen und darauf oft mit Ohnmacht, tiefer Verzweiflung und/oder Wut und Verleugnung reagiert. Corona wird so zum Aufhänger, ohne dass es als solcher erkannt wird.

Angesichts von Corona sind wir aus den o. g. Gründen nun auf jeden Fall auch in der Psychotherapie mit einer Reihe von Themen – und daraus sich ergebenden Fragen – konfrontiert, mit denen wir uns insbesondere in den in Deutschland anerkannten Methoden möglicherweise nicht genügend befasst haben.6 Auch wenn uns existentielle Fragen von PatientInnen nicht gestellt werden, sollten wir daran denken, dass sie im Hintergrund darauf warten könnten, durch Nachfragen eingeladen zu werden. (Wenn unsere Erkundungsversuche zurückgewiesen werden, gilt es selbstverständlich, dies zu respektieren.) Die Fragen könnten etwa so formuliert werden: Hat dies alles einen Sinn? Warum passiert mir das? Warum widerfährt mir die Krankheit/das Ungemach? Könnte ich an der Erkrankung sterben? Wie kann ich es aushalten, wenige oder keine Kontakte haben zu dürfen? Muss ich mich einschränken/mich meiner Freiheit berauben lassen? Was kann mir helfen, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind?

Ich gehe davon aus, dass jetzt mehr existentielle Fragen mitschwingen, als von uns bisher berücksichtigt wurden. Das möchte ich ändern. Ich betrachte von daher die durch Corona an uns gestellten Fragen und Aufgaben als eine Art Weckruf, uns klarer zu werden, was wir wollen und was uns in Krisen trägt.

Ich lade Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, daher immer wieder mit Fragen zum Innehalten oder zu kleinen Reflexionen ein.

Einladung zum Innehalten

Was wünschen Sie sich in Bezug auf Ihre therapeutische Arbeit? Was möchten Sie durch die Corona-Erfahrung gewinnen?

Es kann sein, dass die Erkundung existentieller Erfahrungen auch zu spirituellen Fragen führt.

Neues lernen

Im Buddhismus gibt es einige lebenspraktische Empfehlungen, die über Yaloms existentielle Themen hinausgehen. Kategorien, die in Betracht zu ziehen sich lohnen kann. Sehr aufschlussreich finde ich, was im Buddhismus als Bedrohung erkannt wird: Bekommen, was man nicht haben will, nicht bekommen, was man haben will.

Wie häufig wehren wir uns gegen Dinge, die wir nicht haben wollen, die aber geschehen, ohne dass wir wirklich Einfluss nehmen können; und wie häufig fordern wir, etwas zu bekommen, was uns nicht gegeben wird? Es lohnt sich, das einmal freundlich und genau zu untersuchen, insbesondere bezogen auf die aktuelle Situation der Pandemie: Wir möchten gesund sein und bleiben und spüren doch eine Bedrohung, die in den letzten Monaten möglicherweise zugenommen hat.

Ich will hier sowohl den Belastungen durch die existentiellen Bedrohungen wie auch den Chancen, die sich in einem Bewusstsein der Verbundenheit und des Mitgefühls aufzeigen lassen, nachgehen (vgl. Dürr, 2016). Vielleicht können uns Philosophie und ggf. spirituelle Orientierung in herausfordernden Zeiten, die auch mehr beinhalten als die Bedrohung durch das Virus, mehr Rat geben als psychotherapeutische Fragestellungen und Antworten allein.

Im Kontext der Pandemie zeigt sich mehr denn je, dass sich wiederholende traumatische Ereignisse mit fortgesetztem und oft sehr raschem Verlust von Ressourcen einhergehen können. Insbesondere bei Menschen, die bereits in der Vergangenheit traumatisiert wurden; und weiter: dass ein akuter Ressourcenverlust die Belastungen durch früheren Ressourcenverlust verstärkt. Wichtig ist mir zu erkennen, dass dann z. B. auch Gewissheiten wie »ich bin verbunden« verloren gehen und Ängste, manchmal beinahe exponentiell, zunehmen können. Dies fordert uns heraus, zum Mitsein, zur Einfühlung, zum Hoffen, um nur einiges zu nennen, das jetzt möglicherweise dringender gebraucht wird als in früheren Jahren.

Einladung zum Innehalten

Wie möchten Sie mit den hier genannten Erfahrungen und deren Konsequenzen liebevoll umgehen können?

Verlusterfahrungen

Pauline Boss (2008) folgend möchte ich zum Ausdruck bringen: Der Wunsch, die aktuell schwierige Situation abzuschließen und hinter uns zu lassen, um Leiden zu beenden und zu einem »normalen« Leben zurückkehren zu können, ist zwar verständlich; zu glauben, dass wir die Situation nach unseren Vorgaben gestalten könnten, erweist sich derzeit jedoch immer wieder als unrealistisch, als eine Art Denkfehler. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass uns schon bald ähnliche Erfahrungen wie die Corona-Pandemie wieder begegnen könnten, denn es gibt entsprechende Mahnungen.

Helfende sollten sich bewusst machen, »dass sie die Probleme des Klienten nicht lösen und seinen Schmerz nicht zu lindern vermögen« (ebd., S. 142). Eine Pandemie zum Verschwinden zu bringen, liegt ganz gewiss nicht in unserer Macht. Da ist viel zu vieles uneindeutig. Was wir beeinflussen können, ist unser sich daraus ergebendes Handeln, das mir zum Teil geradezu absurde, von purer Angst getragene Züge zu zeigen scheint. Und wir können uns auseinandersetzen und nach Lösungen suchen.

Was wir jederzeit verwirklichen können, ist Mitgefühl mit anderen – und mit uns selbst –, sodass PatientInnen erfahren können, dass wir bereit sind, mit ihnen und ihrem Schmerz zu sein.

Dies wiederum fordert uns heraus, hier und jetzt eine – in unseren Augen und aufgrund unserer Annahmen – »unvollkommene Situation zu akzeptieren« (ebd.). Das Unbehagen, etwas nicht zu wissen und eine Situation nicht bewältigen zu können, werde in der Ausbildung von TherapeutInnen selten thematisiert, meint Boss (ebd., S. 149). Doch unbeantwortbare Fragen gehören untrennbar zu den existentiellen klinischen Problemen, die uns z. B. von traumatisierten Menschen, entwurzelten Familien, Menschen, die in Kurzarbeit gehen müssen, von Arbeitslosen oder von Pflegepersonen, die schwer und unheilbar kranke Angehörige versorgen oder sie nicht besuchen dürfen! präsentiert werden.

»Damit wir mehr Empathie zeigen können, wenn unseren Klienten das Gefühl der Beherrschbarkeit fehlt, müssen wir unsere eigene Situation der Unvollkommenheit erkennen« (ebd., Hervorhebung L. R.) – und uns damit befassen. Auch die äußere Unvollkommenheit!