Die Welt in meinen Farben - Natascha Lusenti - E-Book

Die Welt in meinen Farben E-Book

Natascha Lusenti

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Beschreibung

Von Fremden, die zu Freunden werden, und von der Magie von Fantasie und Farben: ein bezaubernder italienischer Roman über ungewöhnliche Freundschaften und die Kraft der Kreativität Mit wenig mehr als ein paar Kleidungsstücken und ihren geliebten Katzen zieht Emilia in ein anonymes Mietshaus. Nach einigen schmerzhaften Verlusten hat sich die sensible junge Frau vor der Welt zurückgezogen. Gleichzeitig sehnt Emilia sich nach einem Neuanfang, nach Kontakt zu anderen Menschen. So beginnt sie, ihre Gedanken und Gefühle in fantasievollen Nachrichten an die Pinnwand des Mietshauses zu heften. Nicht alle sind erfreut über den »Missbrauch« der Pinnwand, eine der Nachbarinnen beschwert sich sogar bei der Hausverwaltung. Doch der kleine Nicola erkennt in Emilia eine verwandte Seele mit demselben feinen Gespür, derselben Freude an Fantasie und Farben. Er überredet seinen alleinerziehenden Vater, Emilia ab und zu auf ihn aufpassen zu lassen. Nach und nach schließt Emilia weitere Freundschaften im Haus, und es scheint fast so, als sei sie bereit für einen Neuanfang. Doch sie wird sich ihrem Schmerz stellen müssen, bevor sie erkennt, dass jeder Tag eine neue Chance bietet, wenn man nur Vertrauen hat. Das Roman-Debüt der italienischen Autorin Natascha Lusenti verwebt den Zauber von Nicholas Barreau mit der Poesie von Muriel Barbery und verspricht wunderschöne Lesestunden für alle, die Freude an fantasievoller Sprache und einem besonderen Blick auf die Welt haben.

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Seitenzahl: 280

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Natascha Lusenti

Die Welt in meinen Farben

Roman

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Knaur e-books

Über dieses Buch

Mit wenig mehr als ein paar Kleidungsstücken und ihren geliebten Katzen zieht Emilia in ein anonymes Mietshaus. Nach einigen schmerzhaften Verlusten hat sich die sensible junge Frau vor der Welt zurückgezogen. Gleichzeitig sehnt Emilia sich nach einem Neuanfang, nach Kontakt zu anderen Menschen. So beginnt sie, ihre Gedanken und Gefühle in fantasievollen Nachrichten an die Pinnwand des Mietshauses zu heften.

Nicht alle sind erfreut über den »Missbrauch« der Pinnwand, eine der Nachbarinnen beschwert sich sogar bei der Hausverwaltung. Doch der kleine Nicola erkennt in Emilia eine verwandte Seele mit demselben feinen Gespür, derselben Freude an Fantasie und Farben. Er überredet seinen alleinerziehenden Vater, Emilia ab und zu auf ihn aufpassen zu lassen. Nach und nach schließt Emilia weitere Freundschaften im Haus, und es scheint fast so, als sei sie bereit für einen Neuanfang. Doch sie wird sich ihrem Schmerz stellen müssen, bevor sie erkennt, dass jeder Tag eine neue Chance bietet, wenn man nur Vertrauen hat.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoProlog. Barfuß durch die Zeit1. Der Umzug2. Der Spaziergang3. Die Zeit sei mit dir4. Heute Morgen bin ich aufgewacht5. Wie Geschichten entstehen6. Hilf mir, Obi-Wan Kenobi7. Gelb8. Im Regen9. Im vierten Stock10. Bullauge und Seifenblasen11. Erkundung12. Blau13. Zyklam14. Rosa15. Januar16. Dinge, die die Straßenbahn hinter sich lässt17. Dreiecke und Quader18. Weiß19. Regenbogen20. Das Schwarze Brett der Fehler21. MispelnIm Gespräch mit Natascha Lusenti
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Für alle, die mich bis hierhin unterstützt haben.

Und für den Neubeginn.

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Man muss der Zukunft das Glück entreißen.

Wladimir Majakowski

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Prolog

Barfuß durch die Zeit

Heute Morgen bin ich aufgewacht und habe mich ausgiebig gereckt und gestreckt. Erst die Arme bis zu den Fingerspitzen und den Fingernägeln, die neugierig das Unbekannte erforschten. Dann die Beine bis zu den Füßen, die sich in alle Richtungen bewegen oder kreisen lassen, wenn ich nicht gerade auf ihnen laufe.

Ich recke und strecke mich gerne, weil man dabei so viel Raum einnehmen kann, wie man will. Warum sollte das nicht auch im Leben möglich sein?

Anschließend ließ ich meinen Gedanken freien Lauf, um in meinem Kopf ein bisschen aufzuräumen und Platz zu schaffen. Es kam mir vor, als ob ich die Falten auf einem Bettlaken oder einem Hemd glätten würde. Indem ich meine Schultern spannte und den Hals seitlich hin und her bewegte, zog ich zugleich meine Gedanken glatt.

»Geh ein bisschen zur Seite, du willst mir nur die Sonne nehmen. Komm endlich aus deiner Ecke, damit ich dich näher kennenlernen kann.«

Außerdem habe ich mir gesagt, dass es endlich Zeit wird, sich dem Sommer zu öffnen, Ballast abzuwerfen, die Schuhe abzustreifen und barfuß zu gehen. Im Park, im Haus, auf der Straße, bei einem Rendezvous oder in der Straßenbahn. Es ist an der Zeit, mir so viel Freiraum zu nehmen, wie ich brauche.

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1.

Der Umzug

Der Palazzo steht direkt an der Straße, die Fensterrahmen sind grün. Salbeigrün. Sie mag die Farbe. Als Kind hat sie sich vorgestellt, dass alles in ihrer Heimatstadt salbeigrün sei, es allerdings nie laut zu sagen gewagt – aus Angst, man werde sie für verrückt halten. Irgendwann vergaß sie es. Zu lange war sie weg, doch jetzt, wo sie zurück ist, erinnert sie sich wieder daran.

Den meisten Leuten ist der Gedanke fremd, dass eine Stadt farbig sein kann, für sie ist alles grau. Und deshalb macht es ihnen auch nichts aus, dem Grau der Stadt ihr eigenes Grau hinzuzufügen. An manchen Tagen hat man den Eindruck, durch einen stummen grauen Fluss zu laufen, wenn man in den Straßen unterwegs ist. Oder durch einen stummen grauen Regen zu gehen.

Aber ist Grau überhaupt eine Farbe?

Die junge Frau weiß, dass selbst ein stummer Regen etwas zu sagen hat, und aus diesem Grund mag sie es, wenn es regnet. Denn sie versteht den Klang der Tropfen und kann unterscheiden, ob der Regen eine traurige oder eine hoffnungsvolle Geschichte erzählt. Sie hat gelernt, ihm zuzuhören, das macht sie schon lange, ganz still, während die anderen sich lauthals über das schlechte Wetter beschweren. Dabei wäscht der Regen alles weg, was die Menschen in die Luft gepustet haben. Im Augenblick regnet es jedoch nicht, und nichts ist grau.

Sie betrachtet den Palazzo und hat den Eindruck, als würde er sie in sich einsaugen wollen. Die Sonne scheint, und die Wolken am Himmel sehen aus, als ob jemand sie aus weißem Karton ausgeschnitten und auf eine blaue Wand geklebt hätte. Sie fühlt sich ein bisschen so wie eine dieser Wolken. Nur hat man bei ihr zu wenig Klebstoff verwendet, an einer Ecke löst er sich bereits wieder.

Abrupt wendet sie den Blick vom Himmel und senkt den Kopf, um zu verhindern, dass sie tatsächlich eine Wolke wird. Dann blickt sie erneut auf das Haus mit den grünen Fensterrahmen. Sie hat immer noch ein ungutes Gefühl, hineinzugehen. Die weit geöffnete Tür kommt ihr vor wie das aufgerissene Maul eines unbekannten Raubtiers, dem man besser nicht zu nahekommt. Es erinnert sie an die wasserspeienden Kreaturen, die die Fassaden mancher Kirchen zieren oder die mit weit aufgerissenen Mäulern drohend auf den Dächern manch eines herrschaftlichen Hauses hocken.

Unbeweglich steht sie da, die Füße leicht nach innen gedreht, in beiden Händen eine Transportkiste. Sie trägt eine hüftlange rote Jacke, die bis zum Hals zugeknöpft ist, dazu graue Skinny Jeans. Sie mag Grau, obwohl Grau eine Farbe ist, die ihre Launen hat, aber die haben alle Farben. Doch im Augenblick will sie nicht wissen, welche Laune ihre graue Jeans hat, sie braucht sie heute, um ihre rote Jacke zum Schweigen zu bringen.

Wenngleich dieser Tag nichts Gutes zu versprechen scheint, wird sie sich der Herausforderung stellen. Jetzt, wo sie darüber nachdenkt, sieht sie Parallelen zwischen dem Kontrast der grauen Jeans zu der roten Jacke und dem Inhalt der beiden Boxen. Sie mögen sich nicht, geraten immer wieder aneinander. Egal, wenn sie bei ihr bleiben wollen, müssen sie sich zusammenraufen. Die junge Frau bereut es inzwischen, die Jacke angezogen zu haben, das Rot ist einfach zu aufdringlich.

Erneut hebt sie den Blick. Fünf Stockwerke. Sie muss ins zweite. Wenn sie es richtig verstanden hat, gibt es am Ende der Treppe zwei Türen, eine geradeaus und eine rechts. Zwei Stock die Treppen hoch mit zehn Kartons, falls es keinen Aufzug gibt. Und in jedem unzählige Stimmen.

Im Augenblick hört sie zwei. Eine aus jeder Transportkiste, die sie dabeihat. Die eine ist schwach, ein leises Wimmern. Die andere ist lauter, klingt rot. Ein aggressiver Ton, der das ganze Rot aus ihrer Jacke zu ziehen droht, und wenn sie nicht aufpasst, bleibt nichts Rotes mehr übrig, dann gibt es bloß noch Grau.

Weiß sie denn nicht mehr, dass die Farbe Rot für Gefahr steht?

Rot war ihr als Kind sympathisch, vielleicht wegen Rotkäppchen, das sich im Wald verlaufen und es am Ende trotzdem geschafft hat. Ist sie etwa in Gefahr, weil sie ihre Füße nach innen gedreht hat wie zwei Straßen, die sich zu nähern scheinen und dann wieder auseinanderdriften? Man kann mit seinen Füßen nicht in verschiedene Richtungen gehen. Unmöglich. Zwei Füße, eine Richtung. Die beiden müssen sich einig sein.

Sie hört jetzt deutlich, dass die Stimmen aus den beiden Boxen nach ihr rufen.

In der einen sitzt eine graue Katze mit schwarzen Tupfen auf der Nase. Das changierende Fell scheint sich der Umgebung anzupassen, an klaren Herbsttagen glänzt es bräunlich wie eine Kastanie, die von der Sonne beschienen wird. Sie hat weiße Pfoten und hellgrüne Augen wie Blätter, die sich gerade entfalten. In der anderen befindet sich ein weißer Kater mit großen schwarzen Flecken auf dem Rücken und kleinen schwarzen Flecken in der Mundhöhle, die allein seine Besitzerin kennt, denn sie ist die Einzige, die der Kater in seiner Nähe duldet, wenn er gähnt. Dann starrt sie aufmerksam in sein Mäulchen wie ein Zahnarzt bei einem Patienten, betrachtet fasziniert die kleinen schwarzen Flecken auf der rosafarbenen Schleimhaut, die aussehen wie ein unbekanntes Universum.

Bei diesem Anblick muss sie immer lächeln. Die Schönheit liegt manchmal im Verborgenen. Eine Laune der Natur. Die kleinen Flecken erinnern sie an die Perlenketten, die sie als Kind aufgefädelt hat. Wenn der Faden riss, rollten die Perlen nach allen Seiten und schienen sich ein Rennen zu liefern, als würden sie wetteifern, welche am schnellsten war.

 

Die junge Frau heißt Emilia. Ihr langer schwarzer Pony fällt ihr weit ins Gesicht wie ein Vorhang. Die Katze heißt Lù, sie war zuerst da. Der Kater heißt Leo. Als sie die Namen ausgesucht hat, war ihr wichtig, dass beide mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Aus Gründen der Gleichberechtigung. Irgendwann fiel ihr dann auf, dass sein Name einen Buchstaben mehr hat als ihrer. Ein Problem. Seitdem spricht sie den Namen ganz schnell aus, sodass sie eine Silbe verschluckt und kaum noch ein Unterschied zu erkennen ist. Natürlich war es ein Fehler, der sich jedoch nicht mehr rückgängig machen ließ.

Heute ist wieder einer dieser Tage, an denen Emilia kein gutes Gefühl hat. Aber da muss sie durch, es gibt kein Zurück. Sie muss in dieses Haus gehen, muss zumindest die Boxen abstellen. Die eine ist ziemlich schwer, Lù hat immer Appetit. Die andere ist kaum leichter, denn Leo ist schreckhaft, und auch Angst wiegt schwer. Wobei Emilia das Gefühl hat, das Gewicht ihrer eigenen Angst könnte mindestens so groß, wenn nicht größer sein als das der beiden zusammen.

 

Sie hat die Stadt verlassen, in der sie einige Jahre lang lebte, und ist zurückgekommen. Wenngleich man nie wirklich zurückkommen kann. Dort hatte sie einen Job in der Marktforschung, eine spannende Aufgabe, die ihr die Möglichkeit bot, einen Blick in das Leben anderer Menschen zu werfen. Bei ihren Interviews zur Markteinführung eines neuen Reinigungsmittels oder eines neuen Autos versuchte sie sich immer vorzustellen, wie die Männer und Frauen, mit denen sie gerade sprach, wohl lebten.

Sie mochte ihre Tätigkeit, aber man wollte ihren Vertrag nicht verlängern, und deshalb ist sie jetzt wieder in ihrer Heimatstadt. Mit kleinem Gepäck. Das meiste hat sie verkauft: Möbel, Bücher, Geschirr, und das Angebot einer Freundin angenommen, ein Jahr lang in ihre Wohnung zu ziehen.

Emilia versteckt sich hinter ihrem langen Pony, fühlt sich damit als Teil einer Theaterkulisse – als stünde sie unter einem Bühnenhimmel. Obwohl sie Angst hat, geht sie weiter, zählt die Schritte. Das hat sie seit Langem nicht mehr gemacht. Sie zählt sie immer doppelt, damit sie mit einer geraden Zahl vor dem Haus ankommt. Zwei. Vier. Sechs. Beim neunten Schritt ist sie fast an der Tür und verkürzt die Schrittlänge. Zehn. Dann überschreitet sie die Schwelle aus eloxiertem Aluminium.

»Suchen Sie jemand Bestimmtes? Hier im Haus gibt es keinen Tierarzt.«

»Nein. Ich werde für eine Weile die Wohnung im zweiten Stock übernehmen, Nummer fünf.«

»Wie heißen Sie? Ich bin Franca.«

Emilia stellt sich vor und zieht die Schlüssel aus der Tasche.

»Die Katzen dürfen nicht in den Hof, das wissen Sie, oder nicht?«

»Sie kommen nie raus, sie sind daran gewöhnt, in der Wohnung zu bleiben.«

»Sind sie etwa krank?«

Die junge Frau schweigt, verkneift sich die Antwort, die ihr auf der Zunge liegt: dass sie einfach Angst haben und keine Veränderungen mögen.

»Ich habe noch nie eine Katze so jämmerlich miauen gehört. Das legt sich hoffentlich? Ich wohne nämlich Ihnen gegenüber. Außerdem bin ich möglicherweise sogar allergisch gegen Katzenhaare. Sie lassen die Tiere wirklich nicht raus?«

Emilia hat geahnt, dass es Schwierigkeiten geben könnte, und bedauert, dass es nicht regnet – das Geräusch der fallenden Tropfen würde das Geschwätz der Frau übertönen. Überdies hat der Regen viel zu erzählen. Zunächst füllen sich die Wolken mit lauter Geschichten, dann platzen sie, und wenn es endlich zu regnen beginnt, saugt die Erde die Geschichten in sich ein.

Zögernd, fast ängstlich betritt sie die Wohnung. Tränen steigen ihr in die Augen, halten sich für Regen und fallen in schweren Tropfen auf den Boden. Da erst wird ihnen klar, wer sie wirklich sind.

Lù schiebt die Nase aus ihrer Kiste. Leo drückt sich in die hinterste Ecke. Als hätte er den Wolken den Klebstoff geklaut, um sich damit an der Wand der Box einen Halt zu verschaffen. Wenigstens hat er aufgehört, das Rot aus ihrer Jacke zu saugen. Er beschwert sich nicht mehr, der vorwurfsvolle Klang seiner Stimme hat sich in ein leises Knurren verwandelt, der Kater ächzt und stöhnt, es klingt wie in einem Zeichentrickfilm, wenn der Verfolgte auf eine Klippe zurennt und keinen Ausweg aus der drohenden Gefahr mehr sieht.

Die Wohnung ist außer der Küche so gut wie leer. Im ersten Zimmer, in das sie schaut, steht ein Sofa, das mit einem weißen Laken abgedeckt ist. Ob es sich oder eine falsche Geschichte verstecken will, fragt sie sich unwillkürlich. Auf dem Boden liegt eine Matratze. Emilia zieht die Jacke aus, rollt sie zu einem Kopfkissen zusammen und streckt sich aus, erst auf dem Rücken, dann auf der linken Seite, denkt dabei an die Frau im Treppenhaus. Sie hat keinen Willkommensgruß erwartet, aber genauso wenig einen derart frostigen Empfang. Jetzt weiß sie wenigstens, was auf sie zukommt. Sie nimmt sich vor, noch vorsichtiger zu sein und die Wohnung bloß dann zu verlassen, wenn es unbedingt nötig ist.

Sie wendet den Blick ihrer grauen Katze zu. »Lù, das ist unser neues Zuhause, jedenfalls für eine Weile. Ich weiß, es gibt hier kaum Versteckmöglichkeiten. Tut mir leid, doch etwas Besseres kann ich dir nicht bieten.«

Mit dem Kater spricht sie nicht. Ihm ist das ganz recht, er hat am liebsten seine Ruhe, vor ihr und überhaupt. Leo ist wütend. Emilia ist erschöpft. Lù hat Hunger.

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2.

Der Spaziergang

Was für ein hässlicher Fußboden«, sagt Emilia, die in der Verbindungstür zwischen zwei Räumen steht und den linken Fuß auf die weißen Steinfliesen des einen Zimmers stellt. »Der dagegen ist richtig schön«, fährt sie fort und stellt den rechten Fuß auf das Fischgrätparkett des anderen Zimmers.

Der linke Fuß hebt sich ein wenig, weil der Küchenboden kalt ist, bevor er sich eher widerwillig wieder senkt. Er erinnert sie an Leo, der sie von nebenan mit seinem gesunden gelben Auge beobachtet und tastend eine Pfote aus der Kiste schiebt. Auf dem anderen Auge ist er blind. Emilias rechter Fuß ist eingeschlafen. Sie hebt ihn an, schüttelt ihn und lässt ihn kreisen, dabei hört sie das Knacken des Knöchels, das sich mit Lùs wütendem Miauen mischt.

»Soll ich deinen Fressnapf auf die Fliesen stellen, damit du den Schock über den hässlichen Anblick mit der Freude über deine erste Mahlzeit in der neuen Wohnung überdecken kannst, oder ziehst du den schönen Holzfußboden vor, um den Genuss zu vergrößern?«

Emilias Füße sind nackt. Sie ist überzeugt, dass man barfuß sein muss, um mit einer neuen Wohnung Kontakt aufzunehmen. Eigentlich streift sie bei jeder Gelegenheit ihre Schuhe ab, selbst im Kino, sobald das Licht ausgegangen ist. Dann zieht sie die Knie bis unters Kinn und drückt die nackten Füße auf das Samtpolster des Sitzes. Erst kurz vor Ende des Films schlüpft sie rasch wieder in die Schuhe, damit die anderen Besucher nichts bemerken. Allerdings macht sie das nur im Sommer, weil der Kontakt mit dem Samt nicht halb so viel Spaß macht, wenn sie Strümpfe trägt.

Jetzt, ohne Arbeit und mit zu viel Zeit, ist alles anders geworden.

Würde ihr das Kino genauso viel Spaß machen wie früher? Vermutlich nicht, denn was man immer haben kann, verliert seinen Reiz. Und wenn einem die Stunden und Tage zu lang werden, entsteht eine Leere, die Angst macht. Aber sie will es alleine schaffen. Zu ihrer Mutter geht sie auf keinen Fall zurück, sie hat ihr nicht einmal Bescheid gesagt, dass sie wieder da ist.

Emilia braucht Zeit für sich, und das würde sie nicht verstehen, vielleicht würde sie ihr nicht einmal zuhören. Bevor sie sich zum Umzug entschloss, hat sie versucht, einen neuen Job zu finden. Vergeblich, ihr Lebenslauf war wohl nicht attraktiv genug. Da half es nicht einmal zu versichern, dass ihr jede Tätigkeit recht sei, weil sie unbedingt Geld verdienen müsse, um die Miete für ihre Wohnung bezahlen zu können und ihre immer hungrige Katze ausreichend zu füttern. Die Personalchefs lächelten, offenbar hielten sie ihre Bewerbung für einen Scherz, bedankten sich für das Interesse und wünschten ihr viel Glück für die Zukunft.

Lù streicht ihr um die Beine und miaut. Ihr ist es völlig egal, wo sie etwas zu fressen bekommt, und sie wird langsam ungeduldig. Emilia lächelt, für sie hat dieser Augenblick eine besondere Bedeutung.

»Ich finde, wir sollten das Zimmer mit dem hässlichen Fußboden etwas netter machen«, sagt sie, während sie ein Schälchen mit Katzenfutter füllt. Immerhin ist es der einzige Raum, in dem Möbel stehen.«

Lù versenkt ihre kleine Schnauze in den Fleischbrocken, die sie regelmäßig jeden Nachmittag um sechs Uhr serviert bekommt.

»Und du willst nichts, Leo?«

Emilia schleudert die Frage wie eine Frisbeescheibe gegen die Wand und kauert sich vor die schwarz-orange gestreifte Hartplastikbox. Drinnen ist es dunkel, einzig Leos linkes Auge blitzt heraus. Es ist trüb blau, der Rand schwarz gepunktet, und sieht aus wie eine Murmel im Wasser. Wenn er Angst hat, macht er dieses Auge auf, mit dem er zwar nichts sieht, in dem man dafür sehr gut seine Gefühle lesen kann. Nebenan schmatzt Lù genüsslich, ein angenehmes Geräusch. Ihren Katzen beim Fressen zuzuhören erzeugt in ihr das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben.

Das Telefon piept. Emilia angelt nach ihrem braunen Rucksack und zieht es heraus. Eine Nachricht von Lisa, die ihr die Wohnung überlassen hat und vor einigen Tagen nach Texas geflogen ist. Zu einer Tante, die vor vielen Jahren Italien und ihrem Leben dort den Rücken gekehrt hat. Auslöser war damals ein Mann, inzwischen lebt sie wieder allein, nachdem die Kinder aus dem Haus sind und der Mann sie verlassen hat. Eine wunderschöne Geschichte von einer Frau, die konsequent ihren Weg geht und weiß, dass die Zeit alle Wunden heilt und sich die Dinge irgendwann von selbst erledigen.

Die Freundin kennt Emilia seit ihrer Kindheit, als noch alle Farben in ihrem Leben in Ordnung waren. Bislang ist sich Lisa nicht sicher, was sie machen will, ob sie in Amerika bleibt oder zurückkommt. Die Möbel jedenfalls hat sie verkauft, und innerhalb eines Jahres will sie sich endgültig entscheiden. So lange kann sie die Wohnung benutzen und sie gegebenenfalls später übernehmen. Die Miete hat die Freundin im Voraus bezahlt, der Eigentümer ist mit allem einverstanden.

Dieses Jahr in der Schwebe ist eine Art Zwischenzeit, die ihr ganz allein gehört. So wie die Stunden nachmittags im Kino, wo man sich über nichts Gedanken machen muss. Eine Zeit, die in der Endabrechnung nicht zählt, weil sie niemand richtig bemerkt. Sie liest Lisas Nachricht.

 

Morgen kommt ein Typ wegen des Sofas, wenn er es nimmt, zahlt er dir fünfzig Euro. Hau sie auf den Kopf und denk an mich. Hab dich lieb. Mit der Tante ist alles okay. Texas ist ein bisschen komisch, ich komme mir vor wie auf dem Mond. Geht’s dir gut?

 

Geht es ihr gut, fragt sich Emilia. Sie weiß es nicht, und so beschließt sie, sich etwas Zeit mit der Antwort an Lisa zu lassen. Jeden Tag wird sie herauszufinden versuchen, ob und warum sie glücklich ist. Eine schwierige Frage. Deshalb nimmt sie sich erst mal die kleinen Dinge vor. Zu wissen, dass sie nicht gleich antworten muss, macht sie glücklich. Oder besser gesagt: Es könnte sie glücklich machen, wenn sie nicht daran zweifeln würde, ob sie jemals eine Antwort findet. Kurzum: Emilia weiß nicht, ob es ihr gut geht – hingegen weiß sie, dass sie entscheiden muss, ob sie auf dem Sofa mit dem verschmutzten Laken oder auf der Matratze am Boden schlafen will. Und in welchem Zimmer.

Aber das hat noch Zeit, jetzt braucht sie erst einmal frische Luft.

 

»Guten Abend.«

Emilia hat gehofft, ihre Nachbarin von gegenüber nicht zu treffen. Allein deshalb nicht, weil sie ungekämmt ist und der Pony ihr noch mehr in den Augen hängt als sonst. Solchen Frauen gefallen keine ungepflegten Haare und erst recht keine zu langen Ponyfransen, man könnte schließlich vermuten, sie wolle sich dahinter verbergen.

Tatsächlich sind ihre Haare ein Zufluchtsort, eine Art Versteck, doch Frauen wie ihre neue Nachbarin mögen so was nicht. Sie denken, man schäme sich. Woher soll sie schon wissen, dass Emilia bereits früher Schwierigkeiten hatte, sich den Raum zu nehmen, den sie braucht. Auch jetzt wirkt es, als wollte sie sich verstecken, damit sie nicht auffällt und nicht zu viel Raum einnimmt.

»Guten Abend. Haben Sie keine Waschmaschine?« Ohne eine Antwort abzuwarten, redet Franca weiter. »Sie kommen nicht zur Eigentümerversammlung, oder? Ich dachte, vielleicht anstelle Ihrer Freundin? Obwohl sie keine Eigentümerin ist, hat sie ein paarmal teilgenommen. Am Donnerstag, also übermorgen, ist wieder eine Zusammenkunft. Wir müssen wegen der Heizung entscheiden, bevor es kalt wird.«

Wenn sie nur daran denkt, was sie alles entscheiden muss, bevor es kalt wird, läuft Emilia ein Schauer über den Rücken.

»Entschuldigen Sie bitte, ich muss weiter.«

Die Nachbarin verabschiedet sich und geht ins Haus zurück, versäumt es jedoch nicht, zuvor noch einen missbilligenden Blick auf Emilias Füße zu werfen. Offenbar gehört sie zu den Frauen, die keine Ballerinas mögen. Emilia kann das nicht verstehen. Diese Schuhe sind wunderbar, sie versprechen Leichtigkeit und Anmut dort, wo fast niemand hinschaut. In ihren samtweichen Ballerinas, die den Fuß wie eine zweite Haut umschließen und ein Schleifchen vorne am Rand haben, fühlt sie sich wie eine Balletttänzerin.

 

Der Waschsalon ist ein langer Schlauch. Auf der Seite zur Straße hin stehen die großen Waschmaschinen und die Trockner, in der Mitte befindet sich die Kasse, die den Raum in zwei Hälften teilt, und auf der anderen Seite gibt es einen schmalen Bartresen. Von dort gelangt man in einen kleinen Innenhof mit Tischen und Stühlen. Ein Ort für alle, die keine Heimat haben oder denen es nicht gut geht. Genau das Richtige für Emilia an diesem Nachmittag.

Im Schaufenster hängt das Poster einer jungen Frau, die einem amerikanischen Reklameplakat der Fünfzigerjahre entsprungen zu sein scheint. Neben ihr steht ein Plastikkorb mit schmutziger Wäsche. Ihre blonden Haare sind kurz geschnitten, der Mund ist leicht geöffnet. Der Rock ihres engen Kleides ist etwas nach oben gerutscht und gibt den Blick auf ihre halterlosen fleischfarbenen Strümpfe frei. Sie beugt sich nach vorne, um das Bullauge der Waschmaschine zu öffnen.

Ob sie diese Pose ebenfalls hinbekommt? Emilia sieht sich um, und als sie niemanden entdeckt, öffnet sie leicht den Mund, zieht die Augenbrauen hoch, legt die linke Hand auf die linke Wange, schiebt den Po lässig nach hinten und streckt den Brustkorb nach vorne. Plötzlich entfährt ihr ein »Oh«. Prompt wird sie rot. Fast so rot wie ihre Jacke. Gefahr.

Sie ist aus ihrem Versteck gekommen, ohne aufgepasst zu haben. In der Ecke gegenüber sitzt nämlich ein Junge, den sie übersehen hat, mit einem Comic auf dem Schoß. Seine langen Locken sehen wie ein zerrupftes Wollknäuel aus, mit dem Leo bestimmt gerne spielen würde.

»Ciao.«

Die Stimme ist so zart wie der Duft einer Lakritzschnecke, die sie als Kind gerne gegessen hat. Und sie bleibt im Ohr hängen wie die Lakritze damals in den Zähnen.

Emilia legt die schmutzige Bettwäsche auf den Boden, wählt eine Waschmaschine oben in der Reihe aus und wirft eine Münze in den Schlitz des Waschmittelautomaten. Die Laken sind rot und rosa. Irgendwann einmal hat ein Mann sie gefragt, warum sie keine weißen Laken benutze. Sie hätte ihm am liebsten geantwortet, dass man sich in weißen Laken nicht so gut verstecken könne und man in Rot und Rosa weniger blass wirke, das weiß sie noch genau, aber was sie wirklich gesagt hat, ist ihr entfallen. Bestimmt war es irgendeine Rechtfertigung.

Emilia hasst konkrete Fragen, denen man schlecht ausweichen kann.

Während sie die Laken in die Maschine stopft, versucht sie den Umschlag des Comics zu erkennen. Der Junge liest Tim und Struppi auf dem Mond. Manchmal bewegen sich seine Lippen, als würde er sich die Geschichte selbst vorlesen, manchmal lacht er leise. Sie lässt sich Zeit, um möglichst lange in seiner Nähe zu bleiben. Auf alle Fälle ist ihr das lieber, als an die Bar zu gehen, wo alle anderen sitzen. Zwei Frauen plaudern miteinander und trinken Rotwein. Ein Mann beugt sich über den Tresen, stellt ein leeres Glas darauf und ordert ein zweites Bier. Offensichtlich langweilt er sich ziemlich.

Klack. Emilia schließt die Tür der Waschmaschine und wartet, ob alles funktioniert. Der erste Waschgang beginnt, das Wasser steigt bis über die Laken, und das penetrant duftende Waschmittel lässt große Blasen entstehen, die sie gerne weggepustet hätte wie in ihrer Kindheit die Seifenblasen. Statt an die Bar zu gehen, setzt sie sich auf einen Stuhl in der Nähe der Waschmaschine und schlägt das Buch auf, das sie mitgebracht hat, ohne sich wirklich darauf konzentrieren zu können.

»Nic, willst du Großmama Hallo sagen?«

Ein junger Mann kommt auf das Kind zu. Er hält ein Handy in der Hand und streckt es ihm entgegen. Der Junge nimmt es, verlässt den Waschsalon und steuert draußen eine Bank an. Emilia beobachtet ihn durchs Schaufenster. Er muss seine Großmutter sehr mögen, denn er spricht mit ihr, als würde er ihr ein Geheimnis anvertrauen, dabei gestikuliert er heftig mit der freien Hand.

»Entschuldige, kannst du kurz ein Auge auf ihn haben, damit er keinen Unsinn macht? Ich gehe rasch mal auf die Toilette. Er heißt übrigens Nicola.«

Sie fährt herum. »Ja, in Ordnung.«

Schon ist der Mann weg. Undeutlich hört sie die Stimme des Jungen.

»Papa sagt, ich muss mir die Haare schneiden lassen, doch ich will nicht. Mir gefallen lange Haare. Außerdem sind sie gar nicht zu lang.«

Emilia tritt näher an die Scheibe heran und betrachtet den schmalen Rücken des Kindes unter dem blaugrauen Star-Wars-T-Shirt. Seine kastanienbraunen Locken, in denen orangefarbene Lichtreflexe blitzen, fallen ihm bis in den Nacken.

»Er meint, so sehe ich wie ein Mädchen aus«, sagt der Junge und nickt, als hätte die Großmutter ihm den Rat gegeben, gar nicht darauf zu achten. Seine Stimme klingt jetzt entspannter. »Weißt du eigentlich, dass die Rose und der Kaktus Pflanzen sind, die sich verteidigen? Gestern hat Mama Rosen für den Balkon gekauft. Als ich eine anfassen wollte, hat sie mich gestochen, das hat ganz schön wehgetan.«

In diesem Moment überkommt Emilia große Lust, mit einer Bürste durch den widerspenstigen Lockenschopf zu fahren, um ihn zu zähmen. Und seine Gedanken scheinen genauso widerspenstig zu sein: Sie stellt sich vor, dass sie wie bunte Luftballons oder dicke Wolken aus seinem Kopf aufsteigen. Und wie schön es wäre, mit ihm auf einer solchen Wolke durch die Luft zu fliegen. Seine Gedankenwolken würden bestimmt reichen, einmal kreuz und quer über die ganze Stadt zu schweben.

Als der Junge entdeckt, dass er beobachtet wird, verstummt er, steht auf und geht ein Stück weiter weg, damit sie ihn nicht mehr hören kann. Kurze Zeit darauf taucht der Vater wieder auf, nimmt seinem Sohn das Telefon aus der Hand und hält es sich selbst ans Ohr.

»Mama, kann Nic am Donnerstag zu dir kommen? Ich habe eine Eigentümerversammlung, da muss ich hin.«

Eine Eigentümerversammlung an einem Donnerstag? War das Zufall, oder wohnte er etwa im selben Haus? Wenn Kinder dabei sein dürfen, würde sie sich vielleicht überlegen, ebenfalls hinzugehen.

Als der Junge in den Waschsalon zurückkommt, sich wieder hinsetzt und nach seinem Comic greift, spricht sie ihn an.

»Was liest du da?«

Er schaut auf den Umschlag, als hätte er es vergessen. »Tim und Struppi auf dem Mond.«

»Gefällt es dir?«

»Ja, ich kenne es bereits.«

»Und warum liest du es noch mal?«

»Weil es mir gefällt.«

Emilia würde nie auf die Idee kommen, ein Buch ein zweites Mal zu lesen. Oder sich einen Film zweimal anzuschauen. Das betrachtet sie als reine Zeitverschwendung, weil es immer wieder neue Bücher und neue Filme gibt.

Bei Kindern scheint das wohl anders zu sein, denkt sie und versucht sich zu erinnern, wie es bei ihr war. Wieder und wieder hat sie dasselbe Märchen auf ihrem Plattenspieler angehört, ganz allein in ihrem Zimmer auf dem Boden liegend, und den Text mitgesprochen.

Mumienpulver für das ewige Leben färbt Nacht und Kleidung pechschwarz.

Die Stimme klang rau, und sie lachte wie eine Hexe. An dieser Stelle lief ihr immer ein kalter Schauer über den Rücken. Dieses bösartige Lachen war wie Gift, das sich jahrelang in ihren Träumen einnistete, genau wie die Schreie der Hexe, als sie in den Abgrund stürzt. Emilia hat sich selbst später als Erwachsene nie Horrorfilme angesehen, weil dieses Märchen sie nie losließ. Noch heute bekommt sie Albträume, wenn sie an die böse Stiefmutter von Schneewittchen denkt.

Inzwischen weiß sie nicht mehr, welche Stelle ihr am meisten Angst eingejagt hat: wenn das Gesicht der Königin sich in eine Fratze verwandelt, die ihren ganzen Neid und Hass widerspiegelt, oder wenn sich die Prinzessin gegen die Tiere des Waldes zur Wehr setzt, die eigentlich ihre Freunde sind und ihr helfen wollen.

Eine Stimme holt sie in die Gegenwart zurück: »Nic, wir gehen.«

Der Vater des Jungen leert die Waschmaschine und legt rasch T-Shirts, Socken, Hosen und einen Trainingsanzug zusammen. Er sieht gut aus, kein Gramm Fett zu viel auf den Hüften, muskulös, ohne dass es übertrieben wirkt. Ein sportlicher Typ eben.

Sein Sohn winkt ihr zum Abschied: »Das nächste Mal erzählst du mir, was du liest.«

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3.

Die Zeit sei mit dir

Bei den Abenteuern von Tim auf dem Mond gefällt Nicola am besten, dass die Leute dort ohne Sauerstoff leben können, dass es einen Zirkus im Weltall gibt und dass sie nach zwei Clowns suchen. Er mag sogar den Bösewicht.

Struppi liebt er natürlich besonders und fände es schön, wenn Papa ihm einen Hund erlauben würde. Allerdings einen, der größer ist als Struppi und braunes Fell hat, damit man den Sand vom Spielplatz nicht so sieht. Und vor allem nicht die Schlammspritzer, wenn er mit ihm durch den Matsch gerannt ist.

Leider will Papa keinen Hund. Weder einen großen noch einen kleinen, weder einen braunen noch einen weißen. Er sagt, er habe keine Zeit. Daraufhin hat er es bei der Großmutter versucht, aber die hat angeblich auch keine Zeit.

Inzwischen ist er überzeugt, dass der größte Feind der Erwachsenen die Zeit ist. Sie scheinen regelrecht gegen die Zeit zu kämpfen, schauen ständig auf die Uhr oder auf das Handy und behaupten, dass sie spät dran sind. Nie haben sie Zeit, um mit ihm zu spielen oder Minions auszumalen, was ihnen bestimmt guttun würde. Der Junge jedenfalls ist davon begeistert, er malt die kleinen Wesen mit einem zyklamfarbenen und einem lila Farbstift aus. Wobei er Lila nur für den Rand benutzt oder wenn er etwas stärker betonen will, sonst nimmt er immer das Zyklamrot, das wie ein kräftiges, dunkles Pink aussieht.

Es ist die Lieblingsfarbe seiner Mutter, sie hat ihm den Stift geschenkt. Jedes Mal wenn er ihn benutzt und über das Papier fährt, hat er das Gefühl, sie sanft zu streicheln. Gerade malt er ein großes Auge mitten auf die Stirn eines Minions und glaubt dabei ihren warmen Atem an seinem Ohr zu spüren. Es fühlt sich wunderschön an, sein Ohr scheint zunehmend größer zu werden, um möglichst viel von der warmen Luft aufzunehmen. Vielleicht hat er ja inzwischen bloß noch ein Ohr, weil das zweite von dem ersten aufgesaugt worden ist. So ähnlich wie bei den Minions, die lediglich ein Auge haben.

Wenn Mama hinter ihm steht und ihm beim Zeichnen zusieht, lächelt sie. Er kann es nicht sehen, wohl aber hören, denn für ihn macht sogar ein Lächeln ein Geräusch. Und deshalb weiß er immer, ob jemand lächelt, egal ob er es sieht oder nicht. Sein Papa behauptet zwar zu wissen, ob er das Gesicht verzieht, ohne hinzusehen, das habe er im Gefühl, doch ob jemand lächelt, kann er nicht hören. Was nach der Überzeugung des Jungen bestimmt daran liegt, dass sein Vater sich keine Zeit zum Zuhören nimmt.

Seine Mutter ist nicht ganz so schlimm, sie bemüht sich zumindest öfter. Und wenn sie ihm beim Malen zuschaut, dann sind sie sich ganz nahe. Seine zweite Großmutter, Mamas Mutter, behauptet immer, er sehe aus wie sie als Kind. Er findet das nicht, sondern meint, dass er aussieht wie sie als Erwachsene.

Es stimmt ihn traurig, dass er sie so selten sieht, gerade mal zwei Tage in der Woche. Von Geburt an hat sich Papa mehr um ihn gekümmert, während sie den ganzen Tag aus dem Haus war und gearbeitet hat. Sie hielten das für eine gute Lösung, aber dann haben seine Eltern sich getrennt, und seitdem lebt er allein mit seinem Vater.

Häufig ist er bei der anderen Großmama, Papas Mutter, die in der Nähe wohnt. Sie findet, er sehe aus wie sein Vater. Sie ist nämlich davon überzeugt, Kinder würden dem Elternteil ähneln, mit dem sie am meisten zusammen sind. Da irrt sie sich seiner Meinung nach, denn es kommt darauf an, wer am tiefsten in ihrem Herzen wohnt, und das ist bei ihm seine Mama.

Leider hat auch sie viele Fehler. Immer kommt sie zu spät, immer muss sie irgendwas anderes erledigen und hat zu wenig Zeit für ihn. Sonst könnte er öfter hören, wie sie lächelt. Bei anderen Erwachsenen hört er es eigentlich nie.

Bei Kindern hingegen schon. In der Schule oder auf der Straße hört er es – es klingt wie das Glockenspiel über seinem Bett, das er eigentlich nicht mehr braucht, weil er zu groß dafür ist. Papa würde es am liebsten wegwerfen, genau wie die Bilderbücher. Er braucht immer Platz in der Wohnung, ohne zu wissen, wofür.