Die Welt ist kein Planschbecken - Jürgen Wulff - E-Book

Die Welt ist kein Planschbecken E-Book

Jürgen Wulff

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Beschreibung

Die Welt ist nicht immer so freundlich, wie wir es uns wünschen oder wie sie manchmal erscheint. Sie ist kein harmloses Planschbecken, bei dem das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ein paar Spritzer kaltes Wasser sind. Hinter einem höflichen Lächeln oder einem scheinbar hilfsbereiten Angebot verbirgt sich oft ein Kampf um Einfluss, Macht, Geld, Beziehungen, Image und Zeit. Hier wird ohne Zögern getrickst, gelogen, manipuliert, die Wahrheit verdreht oder sogar gedroht und bestraft. Aber bedeutet das, dass Sie in diese harte Arena einsteigen und genauso rücksichtslos kämpfen müssen, um Ihre Ziele zu erreichen? Ganz sicher nicht. Jürgen Wulff zeigt Ihnen, wie Sie die Spiele der Erwachsenen durchschauen und Ihre eigenen Werte, Positionen und Rechte stärken. Anhand vieler praktischer Beispiele lernen Sie die besten Techniken und erprobte Strategien kennen, um in schwierigen Situationen souverän zu bestehen – ob in Konflikten mit Kollegen, als Kunde oder in Ihrem persönlichen Umfeld. Sie erfahren, wie Sie unangenehme Gesprächspartner elegant handhaben, sich in Auseinandersetzungen behaupten und unfaire Spielchen geschickt kontern. Dieses Buch ist Ihr Wegweiser, um für sich selbst einzustehen und sich nicht länger übervorteilen zu lassen.

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Jürgen Wulff

Die Welt ist kein Planschbecken

Jürgen Wulff

Die Welt ist kein Planschbecken

Überleben unter Erwachsenen

Mentoren-Media-Verlag

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage

© 2023 Mentoren-Media-Verlag,

Königsberger Str. 16, 55218 Ingelheim am Rhein

Lektorat : Deniz S. Özdemir, Mainz

Korrektorat: Sarah Küper, Mainz

Umschlaggestaltung: Nadine Nagel, Mainz

Umschlagsfoto: FangXiaNuo/iStock, #520360312

Satz und Layout: Deniz S. Özdemir, Mainz

Grafik: depositphotos.com/Marina113 (171364864, S. 57)

Autorenfoto: Henryk Boeck, Berlin

Druck und Bindung: MCP, Marki, Polen

eISBN: 978-3-98641-049-0

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Sämtliche Inhalte in diesem Buch entsprechen nicht automatisch der Meinung und Ansicht des Mentoren-Media-Verlages.

www.mentoren-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Wer immer nur auf Harmonie aus ist, zieht schnell den Kürzeren

Das Leben als Reise nach Jerusalem?

Tricks, Lügen und Manipulation: Rücksichtslosigkeit, wohin man blickt

Harmoniebedürfnis als Überlebenstechnik

Unsere Urängste sind gleichzeitig unsere Schwachstellen

Wenn das Gehirn uns in die Irre leitet

Darum sollten Sie nicht vorschnell aufgeben

Verschaffen Sie der Stimme der Vernunft und Ethik Gehör

Kapitel 2: Steinzeitprogramme im Hightech-Umfeld

Programmiert auf das Leben in Höhlen

Kulturelle Prägung: Kultur zähmt Evolution

Kapitel 3: Wie erwachsen sind Erwachsene?

Viva la Evolution?

Kognition: Es ist alles nur in unserem Kopf

Warum es so wichtig ist, eine Wahl zu haben

Dynamische Bewusstheit macht Reaktionen dynamisch

So erwachsen sind Menschen tatsächlich

Was persönliches Wachstum wirklich bedeutet

Wie Bewusstheit alles ändert

Sofortiges Wachstum

Welche Entwicklungsstufe habe ich selbst?

Kapitel 4: Die Eskalationsspirale unterbrechen

Warum Konflikte eskalieren

Eskalationssprünge: Eine unterschätzte Gefahr

So gelingt Ihnen eine schnelle Deeskalation und Beruhigung

Links und rechts vom Gleichheitszeichen

Inhalt, Beziehung und Vorgehen sind miteinander verflochten

Vorsicht, wenn es keine Lösung gibt!

Nicht nur Ziele, auch Vermeiden verbindet

Frühe Vermittlung verhindert Ärger

Konfliktbeschleuniger

Konfliktfallen – wie man sich selbst eine Grube gräbt

Was Drohungen so gefährlich macht

Kapitel 5: So bleiben Sie handlungsfähig

Das Reaktionsmodell: So bleiben Sie immer handlungsfähig

Instinkte sind nicht immer hilfreich

Präzisionsfragen: Das Skalpell unter den Fragen

Die souveräne Muthaltung: In der eigenen Mitte bleiben

Wie Sie geschickt mit Widerstand umgehen

Kapitel 6: So finden Sie Ihr Revier

Wie gut kennen Sie sich wirklich?

Das »richtige« Revier wählen

Beziehung gut, alles gut?

Gemeinsam sind wir stark: Das partnerschaftliche Umfeld

Dein Wille geschehe: Das autokratische Umfeld

Volldampf voraus: Das zielorientierte Umfeld

Darwin lässt grüßen: Das wettbewerbsorientierte Umfeld

Immer gemächlich: Das verwaltende Umfeld

Vergiftungsgefahr! Das aggressiv-toxische Umfeld

Mit Körpereinsatz: Das sexualisierte Umfeld

Die hässliche Fratze der destruktiven Konkurrenz

Warum wir dysfunktionale Umfelder nicht verlassen wollen und wie wir es trotzdem schaffen

Alarmstufe Rot! Wann Sie wirklich in Gefahr sind

So reagieren Sie, wenn es wirklich brenzlich wird

Ein Ausflug in die dunklen Gefilde der menschlichen Psyche

Kapitel 7: Ihr Revier: So positionieren Sie sich richtig

Eine Position erhält man, einen Status muss man erwerben

Sich verorten: Das Revier erkunden und abstecken

Möchten Sie lediglich verwalten oder wollen Sie aktiv gestalten?

Warum Sie Verbündete brauchen

Erfinden Sie sich selbst (neu): Die eigene Rolle definieren

Die Rolle annehmen

Von Alpha-Männchen und Omega-Losern

So verteidigen Sie Ihr Revier

Fazit

Kapitel 8: So schießen Sie sich selbst ab

1. Eine schlechte Visitenkarte abgeben

2. Politische Fehler, die Sie den Kopf kosten können

3. Das läuft schon – Fehler bei der Vorbereitung von Gesprächen und Auseinandersetzungen

4. Ungeschickt lässt grüßen: Sich falsch verhalten und kommunizieren

Kapitel 9: Parieren und kontern: Von Strategie und Taktik

Zwischen Machtausübung und Partnerschaft

Warum wir Emotionen nicht einfach nachgeben sollten, auch wenn es sich gut anfühlt

Das Leben ist ein Spiel – zumindest grundsätzlich

Wichtige Techniken, die Ihnen nutzen werden

Andere auf Kurs bringen: Freundliche Manipulation

Nur kennen reicht nicht, man muss Techniken auch anwenden können

Kapitel 10: Mit harten Bandagen kämpfen

Mit echten Kotzbrocken umgehen

Von Spartanern und Scheinriesen

Die härtere Gangart: Aggressive Gesprächsführung

Unfaire Techniken und Abwehrmöglichkeiten

Das Gleichgewicht des Schreckens

Der präventive Erstschlag

Der wirksame Gegenschlag

Kapitel 11: Es geht auch anders – Plädoyer für eine kooperative Welt

So ist die Welt, aber muss sie wirklich so sein?

Warum uns weder Anführer noch starke Männer vorwärtsbringen

Was uns den Garaus macht

Was uns (vielleicht) rettet

Die Macht des Einzelnen

Was Verantwortliche in Unternehmen und Organisationen verändern können

Was wir als Gesellschaft unternehmen sollten

Warum ich trotz allem optimistisch bleibe

Überleben als reife Erwachsene

Personenverzeichnis

Hinweis:

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern an einigen Textstellen die männliche Form (das generische Maskulinum) verwendet. Sämtliche Angaben beziehen sich jedoch selbstverständlich auf Angehörige aller Geschlechter.

Kapitel 1

Wer immer nur auf Harmonie aus ist, zieht schnell den Kürzeren

Das Leben als Reise nach Jerusalem?

Haben Sie schon einmal Kinder beim Spielen der Reise nach Jerusalem beobachtet? Bei diesem Spiel laufen und hüpfen Kinder außen um einen Stuhlkreis herum, während fröhliche Musik im Hintergrund erklingt. Sobald die Musik stoppt, soll sich jedes Kind auf einen Stuhl setzen. Allerdings ist bei diesem Spiel in jeder Runde immer ein Stuhl weniger vorhanden, als Kinder mitspielen. Wer keinen Stuhl ergattern kann, scheidet aus. Wer ganz zum Schluss noch übrig bleibt, hat das Spiel gewonnen. Das Erstaunliche dabei ist, wie aus einem gemeinschaftlichen und harmonischen Singen zur Musik plötzlich ein gnadenloser Wettbewerb um die letzten Stühle wird. Mimik, Körpersprache und die Stimmen verändern sich dramatisch. Die entspannten Gesichter der Kinder verziehen sich zu Grimassen, Ellbogen oder der gesamte Körper werden eingesetzt und schrilles Rufen hallt durch den Raum.

Obwohl es sich bei der Reise nach Jerusalem um ein Kinderspiel handelt, kann man daraus viel auf das Leben von Erwachsenen – sowohl beruflich als auch privat – übertragen. Denn auch hier gibt es diesen Kampf um knappe Ressourcen, wie beispielsweise prestigeträchtige oder gut bezahlte Positionen, begehrte Kunden, familiäres Erbe, die Aufmerksamkeit der Chefin, persönliche Freiheiten oder einfach nur einen besseren Platz in der Warteschlange für das Konzert eines berühmten Popstars.

Viele Menschen sind in solchen Situationen einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Sie sind verärgert, dass jemand ihre Grenzen überschreitet, und wütend, weil sie die Rücksichtslosigkeit, den Verfall der Sitten und die zunehmende Aggressivität als Angriff auf ihre persönlichen Werte betrachten, den sie zwar nicht akzeptieren, aber dennoch nicht zu stoppen vermögen. Gleichzeitig fühlen sie sich hilflos, weil sie nicht wissen, mit welchen Techniken sie sich zur Wehr setzen können, wenn jemand sich vordrängelt oder sie übervorteilt. Sie schaffen es nicht, ausreichend Mut aufzubringen, um die ihnen zustehende Position zu verteidigen oder einzufordern. Nicht selten führen solche Erfahrungen auch zu Enttäuschung und Traurigkeit, insbesondere wenn jemand, dem sie bisher vertraut haben, sie betrügt. Dazu gesellt sich eine diffuse Angst, dass andere auch in Zukunft ihre Schwächen ausnutzen könnten.

Wenn es Ihnen auch so geht oder Sie Ihr persönliches Verhalten in solchen Situationen reflektieren und verbessern möchten, dann ist dieses Buch genau richtig für Sie. Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie anderen mit den richtigen Techniken Paroli bieten können. Sie erfahren, wie Sie selbstsicher auftreten und mehr Mut zeigen können, um dadurch Ihre Position oder Rolle stärken. Dabei werden wir auch über Werte sprechen und wie Sie es schaffen, weiterhin moralisch und ethisch vertretbar zu handeln und zum Wohl der Menschen um Sie herum beizutragen. Diesen Gedanken werde ich auf unsere gesamte Gesellschaft ausweiten und ein Plädoyer für mehr Kooperation und gegen destruktiven Wettbewerb formulieren.

Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass das Ziel nicht darin besteht, dass Sie selbst zukünftig zum »Schwein« für Ihre Mitmenschen werden und rücksichtslos agieren. Auch sollten Sie sich nicht unüberlegt in gefährliche Situationen begeben, die finanzielle oder gesundheitliche Risiken mit sich bringen. Vielmehr geht es darum, brenzlige Situationen zu deeskalieren und auch ein geordneter Rückzug aus der Höhle des Löwen sollte eine Option bleiben. Allerdings ist es weder sinnvoll noch angebracht, von vornherein aufzugeben und die Flagge zu streichen.

In diesem Buch beziehe ich mich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die persönliche Reife von Menschen. Dadurch werden Sie in der Lage sein, Situationen zügig einzuschätzen und angemessen darauf zu reagieren. Entdecken Sie, wie Sie Ihre persönliche Stärke und Reife entwickeln und nutzen können, um im Leben erfolgreich zu sein, ohne Ihre Werte und Prinzipien zu verraten.

Tricks, Lügen und Manipulation: Rücksichtslosigkeit, wohin man blickt

Die Welt ist nicht immer so freundlich, wie wir es uns wünschen oder wie sie manchmal erscheint. Sie gleicht nicht einem harmlosen Planschbecken, bei dem das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte, ein paar Spritzer kaltes Wasser sind. Nein, Sie werden häufig genug mit Situationen konfrontiert, in denen unfaire Methoden an der Tagesordnung sind, ähnlich wie bei der bereits beschriebenen Reise nach Jerusalem. Hinter der Fassade der Höflichkeit oder der vermeintlichen Hilfe tobt häufig genug ein Kampf um Einfluss, Macht, Geld, Beziehungen, Image und Zeit – um nur einige Faktoren zu nennen. Um das zu erreichen, wird getrickst und gelogen, manipuliert und die Wahrheit verbogen, gedroht und bestraft.

Es scheint manchmal so, als würden sich vor allem Menschen mit ausgefahrenen Ellbogen und der größten Klappe in unserer modernen Welt durchsetzen und die besten Stücke vom Kuchen abbekommen. Daraus könnte man schließen, dass beruflicher und privater Erfolg nur noch mit einer gehörigen Portion Kaltschnäuzigkeit und einer offensichtlichen Freude, anderen Menschen gegen das Schienbein zu treten, zu erreichen ist. Aber ist das wirklich so? Und was bedeutet das für diejenigen, die keine Befriedigung daraus ziehen, auf den Scherben nach oben zu steigen, die andere im zwischenmenschlichen Miteinander hinterlassen? Muss man heutzutage streitlustig und abgezockt sein, um sich durchzusetzen?

Die ganz klare Antwort darauf lautet: Jein. Das Prinzip »Wenn man mir auf die linke Wange schlägt, halte ich die rechte Seite auch noch hin« funktioniert im Geschäftsleben nicht – es sei denn, man ist Masochist oder empfindet Freude daran, schlecht behandelt zu werden. Diese christliche und philosophische Grundhaltung der bedingungslosen Nächstenliebe, kombiniert mit dem Glauben, der dahinterstehende moralische Kodex sei doch in jedem von uns verankert, ist schlicht naiv.

Sicher, es gibt sie, die netten, zuvorkommenden und rücksichtsvollen Menschen, die zurückstehen, um dem gemeinsamen Wohl zu dienen. Aber genauso häufig stimmt auch das Gegenteil: Wir treffen auf rücksichtslose, eigensinnige Menschen, denen ihr eigener Vorteil alles bedeutet und denen es vollkommen gleichgültig ist, ob ihre Umwelt unter ihrem Verhalten leidet. Getreu dem Motto: »Nach mir die Sintflut!«

Die Auswirkungen sind überall in der Welt zu sehen. Der Raubbau an natürlichen und menschlichen Ressourcen nimmt weiter zu, mit dramatischen Auswirkungen auf Individuen, Gruppen und die Umwelt. Psychische Probleme, Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf Kosten künftiger Generationen sind weit verbreitet.

Nun befinden wir uns in einem echten Dilemma: Sollen wir das rücksichtslose Spiel mancher Mitmenschen mitspielen und mit allen Mitteln um unsere Rechte und Vorteile kämpfen, selbst wenn dies das Leid anderer verschlimmert und die natürlichen Ressourcen weiter zerstört werden? Oder ist es nicht besser, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen und der feindlichen, abweisenden Welt da draußen den Rücken zu kehren, auch wenn das bedeutet, dass wir selbst vom Kuchen gar nichts abbekommen, während sich andere das Maul und die Taschen vollstopfen?

Nein, wir brauchen unseren moralischen Kompass nicht zu verschrotten. Wir sollten wichtige Werte weiterhin offensiv vertreten und das einfordern, was uns zusteht. Dazu brauchen wir die richtige Portion an Durchsetzungskraft, wenn wir nicht auf der Strecke bleiben wollen. Heißt das, dass Sie zukünftig ebenfalls gegen Schienbeine treten und Ihre Ellbogen in andere Menschen rammen sollten? Das nicht, doch Sie benötigen eine Strategie, um sich gegen diejenigen durchzusetzen, die versuchen, Sie im Berufsleben auszutricksen oder Ihr Revier zu besetzen. Eine Strategie, die zu Ihnen persönlich passt und die Ihnen zu Ihrem berechtigten Anteil am Kuchen verhilft. Dabei möchte ich Sie unterstützen und im Laufe dieses Buches erhalten Sie viele wertvolle Tipps und Vorgehensweisen, um Ihre persönlichen Interessen durchzusetzen. Sie erfahren, wie Sie in schwierigen Situationen, in einem rauen Umfeld oder im Umgang mit rücksichtslosen Menschen Ihre Rechte, Ansprüche und Ihre Position stärken können. Manchmal ist es dafür wichtig, Grenzen zu setzen. »Bis hierher und nicht weiter!«, lautet dann das Motto, das vielen schwerfällt. Glücklicherweise kann man das alles lernen. Ich werde Ihnen die entsprechenden Techniken vermitteln und zeigen, wie Sie diese künftig mit dem nötigen Selbstvertrauen umsetzen können.

Harmoniebedürfnis als Überlebenstechnik

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die menschliche Spezies grundsätzlich nach dem Prinzip »Entweder ich oder die anderen« funktioniert. Waren wir schon immer so egoistisch, ohne Rücksicht auf unsere Mitmenschen, oder ist das ein unvermeidlicher Entwicklungsschritt in unserer modernen Welt?

Grundsätzlich ist die Bindung zu anderen Menschen ein Grundbedürfnis, das fast jeder von uns besitzt – abgesehen von einigen wenigen Mitmenschen, die tatsächlich vollkommen davon befreit agieren und eine lange Spur menschlicher Tragödien hinter sich lassen. Meist handelt es sich dabei um Soziopathen oder um Personen mit anderen Persönlichkeitsstörungen, deren Denkmuster gewaltigen Fehlfunktionen unterliegen. Der Tübinger Neurowissenschaftler Niels Birbaumer fand heraus, dass der Anteil der Soziopathen unter uns etwa vier Prozent beträgt.1 Es sind also nur wenige, die gewissermaßen »über Leichen gehen« und keinen Gedanken an die Folgen für die betroffenen Personen verschwenden. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering, dass Sie irgendwann einmal sich mit so einer Person auseinandersetzen müssen. Dann ist es besser, vorbereitet zu sein!

Glücklicherweise haben 96 Prozent der Menschen das Bedürfnis, eine Bindung zu ihren Artgenossen aufzubauen. Mehr noch: Der Wunsch, sich in eine Gruppe zu integrieren, ist stark ausgeprägt und geht vermutlich auf erfolgreiche Überlebensstrategien aus der Frühzeit unserer Geschichte zurück. Nur in der Gruppe konnten wir überleben – damals, als gefährliche Tiere das Leben erschwerten und Begegnungen mit anderen Menschengruppen Tod und Verderben bedeuten konnte. Frühmenschen erkannten die Vorteile der Zusammenarbeit bei der Jagd, der Herstellung von Werkzeugen und der Zubereitung von Nahrung. Eine Gruppe konnte viel mehr erreichen als ein Einzelner, besonders, wenn es sich bei der Beute um ein Mammut mit reichlich schlechter Laune handelte.

Bereits Babys empfinden Angst, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden. Die Trennung von wichtigen Bezugspersonen ist eine tiefsitzende Urangst. Ohne die Mutter kann ein Baby nicht überleben und wird instinktiv alles tun, um die Mutter an sich zu binden.

Von der Gruppe vertrieben oder ausgesetzt zu werden, gilt auch heute noch als wirkungsvolles Mittel, die Gruppe vor unerwünschten Mitgliedern zu schützen oder Macht auszuüben. Niemand möchte zu den »Aussätzigen« zählen.

Der innere Drang nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist bei uns stark ausgeprägt. So gilt es für die meisten Menschen als Höchststrafe, wenn sie aus einer Gruppe ausgeschlossen werden oder der Kontakt von jemandem verweigert wird. Das Ausschließen von Menschen ist eine äußerst effektive Methode, jemanden emotional und nachweislich auch körperlich zu schädigen.2Dazu zählt auch das komplette Ignorieren einer Person oder das Kappen sämtlicher Kommunikationsverbindungen. In sozialen Medien nennt man das Ghosting, wenn man jemanden plötzlich wie einen Geist behandelt und in keiner Weise mehr auf die Person reagiert. Wenn man Druck auf jemanden ausüben möchte, ist eine effektive Möglichkeit, mit dem Ausschluss aus einer Gemeinschaft zu drohen. Das kann der Freundeskreis, der Verein oder auch das Projektteam sein.

Unsere Urängste sind gleichzeitig unsere Schwachstellen

Die Angst davor, von einer Gruppe nicht mehr akzeptiert zu werden, ist tief in uns verwurzelt. Entsprechend groß ist die Angst der meisten Menschen vor der Strafe, aus dem Team verbannt zu werden. Daraus resultiert ein Anpassungsdruck, dem wir alle in unterschiedlichem Maße unterliegen. In einer Gruppe, die für uns wichtig ist, beispielsweise innerhalb der Abteilung im Job, unternehmen wir fast alles, um von den anderen als beliebt, unentbehrlich, stark oder hilfreich wahrgenommen zu werden. Nur wenn uns der Rauswurf aus einer Gruppe kaltlässt – weil wir etwa bereits woanders Unterschlupf gefunden haben oder davon überzeugt sind, dass uns nichts passieren kann –, trauen wir uns, gegen den Strom zu schwimmen oder egoistisch zu handeln. Solch eine Person spielt den Querulanten, der ständig widerspricht, oder sie bleibt der Gruppe fern, indem sie vorgibt, krank zu sein, während sich die anderen anstrengen, um die gesetzten Ziele zu erreichen.

Ähnliche Dynamiken entstehen auch in Beziehungen zwischen zwei Personen, insbesondere bei emotionaler Bindung oder Abhängigkeit.

Harmonie, also das Bewahren eines guten Miteinanders, erscheint ein gutes Mittel, um die Gefahr eines Auseinanderbrechens einer Gruppe oder einer Beziehung möglichst kleinzuhalten.

Doch manchmal halten Menschen an Harmonie fest, selbst wenn sie sich extrem verbiegen müssen, um sie aufrechtzuerhalten. Sie vergewaltigen sich sozusagen selbst, nur um einen Rauswurf zu vermeiden. So löst der Gedanke an die Trennung vom Lebenspartner bei vielen Urängste aus und sie tun praktisch alles, um dies zu vermeiden. Dass ein einseitiger Wunsch nach Bindung und Harmonie nicht funktionieren kann, versteht sich von selbst. Leicht gesagt, doch wer sich schon einmal in einer derartigen Situation befand, kennt diese verzweifelten Versuche, sich an etwas zu klammern, das nicht mehr existiert. Urängste vernebeln unser Gehirn: Selbstreflexion, Logik und nüchterne Analyse werden durch die Verlustangst und den unrealistischen Wunsch nach Harmonie verdrängt – eine Selbsttäuschung erster Klasse.

Aufrichtige Anerkennung, zum Beispiel durch Komplimente, stärkt die Bindung zwischen zwei Personen. So ist der Liebesentzug durch Versagen der Anerkennung eine Vorstufe zum endgültigen Bruch und stellt daher ein starkes Machtinstrument dar. Über gespielte Anerkennung lassen sich Menschen häufig steuern und manipulieren. Wenn Sie viel Anerkennung von jemandem erfahren, dann versucht diese Person, Sie stärker an sich zu binden. Dies kann unbewusst geschehen oder sehr gezielt eingesetzt werden. In diesem Fall spricht man von Manipulation. Die Gründe dafür sind vielfältig, jedoch liegt immer die Absicht zugrunde, dass die manipulierende Person ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt. Entweder möchte sie Ihnen etwas verkaufen, Ihre Meinung beeinflussen oder einen Anteil an dem, das Sie besitzen. Geld, Wissen, Geschäftskontakte oder ein Freundeskreis – suchen Sie sich etwas aus.

Wenn das Gehirn uns in die Irre leitet

Das Streben nach Beziehungen und Anerkennung verändert unser Verhalten. Um der Harmonie willen passen wir uns an, schlucken Beleidigungen und persönliche Angriffe hinunter und stimmen Meinungen zu, die wir eigentlich nicht teilen. So zwingen uns unsere Urängste dazu, uns zu verbiegen und Kränkungen hinzunehmen. Dies kann uns sogar krank machen und zu Burn-out, Depressionen, Rückenschmerzen sowie vielem mehr führen.

Da das Bedürfnis nach Harmonie bereits in unserer kindlichen Erziehung gefördert wird, speichern wir schon sehr früh Glaubenssätze ab, die im späteren Leben oft mehr Schaden anrichten, als uns im Leben voranzubringen. »Harmonie ist gut«, so lautet eine häufige Botschaft. »Um des lieben Friedens willen, soll der schöne Schein gewahrt bleiben«, lautet eine andere. Häufig steckt dahinter die Angst vor Zurückweisung durch die Außenwelt: »Was sollen nur die Nachbarn denken?« war noch in meiner Kindheit ein sehr häufig verwendeter Satz. Der perfekte äußere Schein war wichtiger als die Bedürfnisse der Familie. Nur lassen sich die Dinge nicht immer einfach unter den Teppich kehren. In der heutigen Welt können unterschiedliche Meinungen, Bedürfnisse, Lebenskonzepte und -formen nicht mehr so leicht unterdrückt werden. Eine Scheinharmonie aufrechtzuerhalten, das klappt nur bedingt oder lediglich über einen gewissen Zeitraum hinweg. Viele Menschen setzen alles auf Harmonie und bleiben letztlich auf der Strecke. Harmonie ist grundsätzlich gut, keine Frage. Doch hier fehlt ein wichtiger Zusatz: »Harmonie ist gut, solange sie für mich und die anderen auch wirklich hilfreich ist«, sollte die Leitlinie sein. Wir benötigen in bestimmten Situationen Abgrenzung, damit andere nicht auf unseren Köpfen herumtanzen. Wie das funktioniert, erfahren Sie im zweiten Teil dieses Buches. An dieser Stelle ist es zunächst wichtig, sich bewusst zu machen, wie leicht unser Harmoniebedürfnis von anderen ausgenutzt werden kann.

Darum sollten Sie nicht vorschnell aufgeben

Aber ist das nicht alles Zeit- und Energieverschwendung? Wäre es in vielen Fällen nicht klüger, toxische Kontexte zu verlassen, statt sich mit viel persönlichem Engagement in einem Umfeld zu positionieren, das wahrscheinlich auch zukünftig sehr viel Energie und Zeit erfordert, um die Stellung zu halten? Warum soll man sich etwa in einem Team quälen, wenn einzelne Teammitglieder einem das Leben zur Hölle machen und die Führung zu schwach ist, das zu unterbinden? Was hat es für einen Sinn, wenn im Vereinsvorstand ständig Konflikte herrschen und man sich gegen unfaire Angriffe zur Wehr setzen muss? Und ist es zumutbar, sich dauerhaft mit rücksichtslosen Verwandten auseinanderzusetzen?

Natürlich können Sie sich jederzeit aus einem bestimmten Kontext zurückziehen. In den meisten Fällen lässt sich ein Rückzug in der Anfangsphase einer Konfrontation so gestalten, dass alle Parteien ihr Gesicht wahren können. Je weiter die Auseinandersetzung eskaliert ist, desto schwieriger wird es dagegen für die beteiligten Personen werden, diese unbeschadet zu überstehen. Zudem nehmen Kollateralschäden zu, also negative Auswirkungen etwa auf Mitarbeitende, Kunden oder Familienmitglieder. Deshalb gilt: Wenn Sie sich in einem toxischen Umfeld befinden und sich bereits eine lohnenswerte, aber auch nachhaltige Alternative bietet, ist ein Wechsel durchaus ratsam. Wenn es sich ergibt, können Sie auch andere Menschen mitnehmen, wie beispielsweise Kollegen oder Mitarbeiter, die ebenfalls diesem toxischen Umfeld entfliehen möchten. Sollten Sie also sofort toxische Umfelder verlassen und das so schnell wie möglich? Nein, das möchte ich Ihnen nicht empfehlen.

Ein vorschneller Rückzug geht immer mit Verlusten und Verzicht einher

Ein vorschneller Rückzug geht immer mit Verlusten und Verzicht einher. Dabei verzichten Sie beispielsweise auf die Möglichkeit, aktiv mitzugestalten, weitreichenden Einfluss auszuüben, Vorteile für sich oder andere zu erlangen, sich selbst ins Rampenlicht zu rücken, hilfreiche Netzwerke aufzubauen oder einfach Geld zu verdienen.

Manch ein Rückzug ist zudem mit Prestigeverlust oder Rufschädigung verbunden. Als ich mich einst aus dem Vorstand eines Vereins zurückziehen wollte, sprach eine erfahrene Freundin Klartext: »Auf keinen Fall! Willst du etwa den Unruhestiftern das Feld überlassen? Lass die Angelegenheit von unabhängiger Seite prüfen und du wirst sehen, dann klärt sich alles.« Sie lag richtig. Nach einer Analyse durch eine Sachverständige verfügten wir im Vorstand über genügend »Munition«, um uns erfolgreich zu behaupten. Zwar verloren wir einige der lautstarken Protestierer, aber das bedauerten nur wenige.

Verschaffen Sie der Stimme der Vernunft und Ethik Gehör

Es ist ratsam, zu bleiben und zu kämpfen, wenn Sie für Ihre persönlichen Kernwerte eintreten möchten, sich für bedeutende Fortschritte in der Gesellschaft engagieren oder durch Ihre Präsenz und Ihr konkretes Handeln das Leben vieler Menschen positiv beeinflussen können. Das mag jetzt klingen, als ob Sie – wie ein Märtyrer oder eine Heilige – allein die Stellung halten und bedeutende Werte sowie gemeinwohlorientiertes Handeln vertreten sollen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: Es kann äußerst bedeutsam sein, der Stimme der Vernunft und der Ethik Gehör zu verschaffen. Bedenken Sie stets, dass Sie vermutlich nicht alleine sind. Mit einem gut aufgebauten und handlungsfähigen Netzwerk lässt sich viel bewirken und zum Positiven verändern. Meiner Meinung nach schweigt die vernünftige Mehrheit viel zu oft und überlässt das Feld den Lauten und Rücksichtslosen.

1 Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/psychopath-sein-heisst-nicht-dass-man-verbrecher-wird-100.html; besucht am 26.02.2023.

2 Psychische Gewalt hat die gleichen verheerenden Auswirkungen wie körperliche Folter; vgl. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/studie-psychische-gewalt-so-verheerend-wie-koerperliche-folter-a-470220.html; besucht am 26.02.2023.

Kapitel 2

Steinzeitprogramme im Hightech-Umfeld

In jedem von uns steckt noch eine Portion Steinzeit.

Kurz nach dem Sonnenaufgang hatte er sich auf die Lauer gelegt, um unter den Ersten zu sein. Nun war der Moment gekommen: Er verließ seinen Unterschlupf und schlich langsam, aber zielstrebig auf seine Beute zu. Obwohl es noch früh am Morgen war, konnte er die Schreie seiner Stammesgenossen hören, die sich auch auf den Weg gemacht hatten. Sie klangen gierig und er wusste, sie forderten ihren Anteil ein. Er beschleunigte seine Schritte und begann schließlich zu laufen. Und dann sah er ihn endlich, den Lohn seiner Anstrengungen. Er griff danach, kurz bevor sich die anderen in einer schier unmenschlichen Gier ebenfalls darauf stürzten. Er drückte es eng an sich, duckte sich vor einem gierig um sich schnappenden Artgenossen weg, rollte sich seitlich an einem anderen Jäger vorbei und rannte mit seiner Trophäe davon. Er blickte kurz hinter sich und sah, wie einige andere um das letzte Stück Beute rangelten. War es das Knacken von Knochen, das er hörte? Es interessierte ihn nicht mehr, denn er ging zufrieden davon, direkt zur Kasse des Baumarktes. In seinen Händen die ersehnte Beute, eine Heckenschere, die an diesem Montag mit einem unfassbaren Angebot angepriesen wurde. Minus 30 Prozent. Rasch verließ er den Laden und steuerte auf sein Auto zu. Jetzt musste er sich beeilen, um rechtzeitig bei der Arbeit anzukommen. Nachdem er sich in den Verkehr eingereiht hatte, schlich er in der trägen Masse der Autokolonne langsam voran, während seine Finger ungeduldig auf das Lenkrad trommelten. Gemeinsam mit unzählig anderen seiner Artgenossen, die mit verbissenen Mienen hinter dem Steuer auf einen entfernten Punkt vor ihnen starrten. Hupen und teilweise wildes Fluchen der entnervten Autofahrer waren zu hören. Wie gern hätte er jetzt auf Autopilot geschaltet, um seine Beute näher in Augenschein zu nehmen. Einige Meter vor ihm sah er ein liegengebliebenes Fahrzeug – einer von vielen, die es heute Morgen nicht rechtzeitig schaffen würden.

Programmiert auf das Leben in Höhlen

Solche Szenen erinnern an das Leben vor Hunderttausenden von Jahren, als die Menschen noch in Fellen gekleidet in Höhlen hausten – natürlich ohne Baumarkt, Heckenschere und Fahrzeuge. Obwohl wir uns technologisch enorm weiterentwickelt haben, verhalten wir uns in mancher Hinsicht noch wie unsere Vorfahren. Wir drängeln in der U-Bahn um die letzten Sitzplätze und erweitern unser Revier mit Rucksäcken, Tragebeuteln und Handtaschen. Wir werfen uns schützend vor unsere Brut, die Kinder, und schimpfen, wenn es mal wieder jemand wagt, ihnen samstags in der überfüllten engen Fußgängerzone zu nahe zu kommen. Wir drängen uns an der Supermarktschlange vor, benutzen den Einkaufswagen als Schutz und Waffe zugleich und geben vor, es nicht zu merken, wenn wir an der Kasse irrtümlich einen Euro zu viel zurückbekommen. Kurzum: Obwohl wir Satelliten ins All schießen und die Entstehung unseres Universums auf die Nanosekunde genau berechnen können, verhalten wir uns in vielen Situationen wie Höhlenmenschen.

Die in der Steinzeit entwickelten Verhaltensmuster sichern unser Überleben bis heute. Ähnlich der Firmware eines Computers sind sie fest in unserem Verhalten verankert. Wenn wir eine Situation (meist unbewusst) als bedrohlich empfinden, aktiviert sich unser Kampf- oder Fluchtreflex. Das bedeutet, wir greifen entweder an oder versuchen, der Bedrohung zu entkommen. Damit unser Zusammenleben grundsätzlich funktioniert, nutzen wir jedoch eine zweite Verhaltensstrategie – unsere kulturelle Prägung, auf die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels eingehen werde. Sie entsteht aus der Aktivität des Großhirns, das im Verlauf der Evolution wesentlich später in unseren Vorfahren entstanden ist. Bei realen oder scheinbaren Bedrohungen stoßen wir jedoch sämtliche Regeln von Höflichkeit und Anstand über die Klippe und es zeigt sich das steinzeitliche Erbe, das sich ungeniert nach vorn drängelt.

Ein Beispiel: Angenommen, Sie diskutieren mit Arbeitskollegen oder Freunden ein Thema und vertreten eine bestimmte Meinung, die von einer anwesenden Person schroff und deutlich zurückgewiesen wird. Diese »Abweisung« empfindet Ihr Gehirn als Bedrohung und schüttet Stresshormone aus. Daraufhin reagieren Sie entweder mit Flucht oder Angriff. Sie könnten beispielsweise die Arme vor dem Oberkörper verschränken, die Person ignorieren und das Thema wechseln oder gar die Zusammenkunft verlassen (Fluchtreaktion). Alternativ könnten Sie mit starken Argumenten dagegenhalten (Angriff). Bis zu diesem Zeitpunkt verläuft alles noch gesittet und Ihre kulturellen Prozesse schützen Sie vor Handlungen, die das Gruppengefüge gefährden könnten. Wenn jedoch jemand beginnt, Sie vor allen Anwesenden lächerlich zu machen und zu verhöhnen, kann es passieren, dass Sie wütend aufstehen und weggehen oder die offene Konfrontation suchen, indem Sie mit ausladenden Gesten und Faustschlägen auf den Tisch Ihren Argumenten Nachdruck verleihen. Oder Sie greifen verbal andere an, die möglicherweise damit begonnen haben, Sie ebenfalls in ein schlechtes Licht zu rücken. An diesem Punkt brechen Sie mit den kulturellen Regeln, denn das steinzeitliche Programm setzt sich normalerweise immer dann durch, wenn ein Angriff als bedrohlich genug empfunden wird – und diese Einschätzung stammt zunächst von unseren älteren Gehirnteilen.

Das Beispiel ist rein fiktiv, denn wie wir uns in welcher Situation verhalten, hängt von einer Vielzahl von Parametern ab. Wichtig ist hier zu verstehen, dass unsere »Firmware« nicht einfach umprogrammiert werden kann. Wir können sie aber anpassen – wie weit, das hängt von unserer Reife und Entwicklungsstufe ab. Eine Person, die bei der kleinsten Provokation zu explodieren droht, kann beispielsweise durch Training mehr Gelassenheit entwickeln. Sie lernt dann, dass verbale Angriffe nicht zwangsläufig eine Bedrohung für die eigene Person darstellen.

Warum verhalten sich viele Menschen in Gruppen eher rücksichtsvoll, während sie in einer direkten Konfrontation mit einer anderen Person – beispielsweise nach einer Besprechung – aggressiver auftreten?

Hier tritt ein zweites unbewusstes Verhaltensmuster zutage, das seit unzähligen Generationen unser Überleben zu schützen versucht. Wenn wir von Gruppenmitgliedern abgelehnt oder gar aus einer Gruppe ausgeschlossen werden, stehen wir plötzlich allein da und sind der gefährlichen Welt schutzlos ausgeliefert. Zumindest glaubt ein Teil unseres Gehirns das, obwohl heutzutage ein Ausschluss aus einer Gruppe, zum Beispiel bei einer Kündigung durch einen Arbeitgeber, keine unmittelbare Lebensgefahr darstellt. Dieses Programm in unserem Kopf ist immer noch aktiv und sehr mächtig. Es beeinflusst weiterhin Teile unseres unbewussten Verhaltens. In Zeiten, als Menschen in kleinen Gruppen zusammenlebten, war eine Verbannung oft gleichbedeutend mit einem sicheren Tod. Obwohl dies in unserer modernen Welt nicht mehr der Fall ist, beeinflussen uns die Steinzeitprogramme weiterhin, als wären wir in früheren Entwicklungsstadien unserer Spezies. Der Homo erectus lässt grüßen.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im Zug der Deutschen Bahn, der aus Stuttgart kommend mit einer Verspätung von 60 Minuten den Frankfurter Hauptbahnhof erreicht hat und durch die zugestiegenen Fahrgäste hoffnungslos überfüllt ist. Gerade hat die Zugführerin die Fahrgäste ohne Sitzplatz aufgefordert, den Zug zu verlassen. Die lautstarken Proteste und die Eigenart mancher Reisenden, sich wie trotzige Kinder in den Zwischenräumen zwischen den Sitzreihen niederzulassen, zeigen mir, wie schnell die Steinzeitprogramme aktiv werden können.

Unsere archaischen Reaktionen treten in den Vordergrund, wenn wir potenziell gefährlichen Situationen begegnen. Zum Beispiel, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen oder auf etwas verzichten müssen, von dem wir glauben, dass es uns zusteht, etwa unseren Anteil an der »Beute«. Wenn uns dies verwehrt wird – selbst wenn es sich nur um das Recht handelt, in einem von uns gewählten Zug mitzufahren –, reagieren wir häufig auf sehr primitive Weise. In solchen Situationen ist das Eskalationspotenzial groß und unsere Fähigkeit, unterschiedliche Verhaltensweisen anzuwenden, wird eingeschränkt, da die Aufregung unser Denken beeinträchtigt. Der innere Impuls lautet dann: lieber erst einmal zuschlagen oder der unangenehmen Situation entfliehen. Sicher ist sicher. Erst danach kommt unser rationaler Verstand, eine verhältnismäßig junge Region unseres Gehirns, zum Einsatz. Wir analysieren und bewerten die Situation nüchterner, vergleichen sie aber weiterhin mit unserem Bauchgefühl. Eine richtige Entscheidung zu treffen, kann ziemlich schwierig sein. Manchmal fühlen wir uns innerlich zerrissen zwischen dem, was unser Verstand uns rät, und dem, was das Bauchgefühl verlangt.

Wir haben meistens wenig Kontrolle darüber, wann uns eine Situation als bedrohlich erscheint. Ob wir uns jedoch zur Wehr setzen oder lieber zurückziehen und alles über uns ergehen lassen, hängt nur in geringem Maße von unserer genetischen Veranlagung ab, sondern ist hauptsächlich auf unsere Erziehung und erlernte Muster zurückzuführen. Daher können wir unser Verhalten größtenteils ändern, wenn wir uns dessen bewusst sind. Das ist die gute Nachricht. Unsere Fähigkeit, eine Situation umfassend zu betrachten und dabei multiple Perspektiven einzunehmen, ist ein Zeichen unserer Reife, die wir als Erwachsene erreicht haben. Dies wird im dritten Kapitel behandelt. Im Laufe dieses Buches werden wir noch ausführlich diskutieren, wie wir auf dieser Basis gezielt unser Verhalten ändern können, um uns in Zukunft nicht mehr herumschubsen zu lassen.

Unser übervorsichtiges Gehirn

Im Laufe unzähliger Generationen entwickelte der Mensch die Fähigkeit, Gefahren zu erkennen und sein Territorium zu verteidigen. Beides trug zum Überleben bei, weshalb sich diese Mechanismen tief in unserem Gehirn verankert haben und bis heute aktiv sind. Deshalb schüttet jeder von uns sofort Stresshormone aus, wenn wir eine Situation in irgendeiner Weise als bedrohlich oder gefährlich wahrnehmen. Dies können beispielsweise unerklärliche laute Geräusche, verbale Sticheleien oder andere Ereignisse sein, die unsere Position schwächen oder bedrohen. Unser Gehirn reagiert in solchen Fällen mit Angriffs- oder Fluchtverhalten.

Stellen Sie sich vor, Sie übernachten in einem Hotel und hören plötzlich flüsternde Stimmen vor Ihrer Zimmertür. In kürzester Zeit beschleunigt sich Ihr Herzschlag, Ihre Muskeln spannen sich an und all Ihre Sinne konzentrieren sich darauf, herauszufinden, was sich vor der Tür abspielt. Obwohl Sie zuvor völlig müde waren, sind Sie jetzt hellwach. Erst wenn die anderen Hotelgäste verschwinden und keine Gespräche mehr hörbar sind, entspannen Sie sich langsam wieder und die Müdigkeit kehrt zurück. Je nach Intensität der Aufregung, die dieses Ereignis ausgelöst hat, kann es eine Weile dauern, bis sich der Körper wieder beruhigt.

Auch das Verhalten anderer Personen in unserer Nähe, etwa bei einer geschäftlichen Besprechung, kann bedrohlich wirken. Zum Beispiel kann ein herablassendes Lächeln Ihres Gegenübers, verbunden mit einer dominant wirkenden Körperhaltung, Unbehagen hervorrufen. Daher empfinden wir manchmal Arbeitskollegen als unsympathisch, wenn ihre Körpersprache und verbale Ausdrucksweise nicht unseren Vorstellungen eines friedlichen Miteinanders entsprechen.

Letztendlich ist alles eine Frage der Wahrnehmung und der Beurteilung des Geschehens durch unser Gehirn. Das bedeutet, die tatsächlichen Absichten der anderen Person sind nicht entscheidend, sondern vielmehr, wie wir diese interpretieren.

Revierverhalten

Unser Revierverhalten dient ebenfalls dem Schutz vor möglichen Angriffen anderer. Grundsätzlich neigen wir dazu, unsere unmittelbare Umgebung als Revier zu betrachten und reagieren empfindlich, wenn jemand zu nahe kommt. Oft versuchen wir, uns unbekannte Menschen auf Abstand zu halten. Man beobachtet häufig Rucksäcke und Handtaschen auf Sitzen in Bussen und Bahnen, die auch nach Aufforderung manchmal nur widerwillig beiseite geräumt werden, um den Platz neben sich freizugeben.

Ebenso fühlen wir uns unbehaglich, wenn uns jemand während eines persönlichen Gesprächs körperlich zu nahe kommt. Dabei muss die Person nicht einmal so nah sein, dass man ihre Atmung nicht nur hört, sondern sogar spürt. In Mitteleuropa beträgt der bevorzugte Abstand zwischen weitgehend fremden Personen etwa zwei Armlängen oder etwa 1,5 Meter. Unterschreitet jemand diese unsichtbare Grenze, weichen wir entweder zurück oder reagieren nervös, was sich bis zu leichter Aggression steigern kann. Daher beobachten wir manchmal Menschen, die sich im Laufe eines Gesprächs durch einen ganzen Raum bewegen, wie auf einer Party. Der eine nähert sich, der andere weicht zurück, und nach einiger Zeit stehen beide am anderen Ende des Raumes.

Die empfundene Wohlfühlzone variiert jedoch von Person zu Person. Südeuropäer und Menschen aus dem arabischen Kulturkreis rücken für unsere Verhältnisse oft ziemlich nah zusammen, selbst wenn sie sich noch nicht gut kennen. Wenn jemand auf mehr Abstand besteht, kann dies als Unhöflichkeit aufgefasst werden und Misstrauen erwecken. In vielen skandinavischen Ländern, wie Schweden, ist es hingegen normal, größeren Abstand zu halten. Daher besteht für eine schwedische Geschäftsdelegation, die mit arabischen Kunden verhandelt, die Herausforderung, den angemessenen Körperabstand zu finden. In solchen Fällen ist es wichtig, über den eigenen Schatten zu springen, um den Kontakt erfolgreich zu gestalten.

Doch nicht nur die Distanz zum Gesprächspartner wird unbewusst festgelegt. Wir identifizieren auch Räume, Gegenstände und immaterielle Dinge wie Titel oder Ränge als unser Revier und verteidigen sie in unterschiedlichem Maße. Dazu gehört beispielsweise das Fahrzeug, das wir fahren, das für viele Menschen auch ein Statussymbol ist. Eine Situation, die fast jeder schon erlebt hat: Ein Autofahrer fährt uns besonders dicht auf. Sofort spüren wir Ärger aufsteigen, regen uns über dieses Verhalten auf oder beginnen gar, ungebührlich zu gestikulieren.

Auch das eigene Büro wird zum Revier – und wenn jemand es wagt, ohne vorherige Erlaubnis hereinzustürmen, wird der sonst so sympathische Arbeitskollege schnell zum Widersacher. Normalerweise halten wir uns an den unbewusst vorhandenen Kodex des Revierverhaltens, indem wir kurz vor dem Büro des Kollegen innehalten und zumindest Blickkontakt aufnehmen oder an die geschlossene Tür klopfen, bevor wir eintreten. Wenn wir diese stillschweigende Vereinbarung missachten, dürfen wir uns über eine negative Stimmung nicht wundern.

Ähnlich verhält es sich in Restaurants oder Kneipen, wo wir uns nicht ohne weiteres an einen bereits besetzten Tisch setzen, ohne vorher zu fragen. All diese scheinbaren Höflichkeitsfloskeln dienen dem Ziel, das Revier des anderen zu respektieren.

Unser Revierverhalten zeigt sich besonders stark in Bezug auf unsere Wohnungen, Häuser und dazugehörigen Grundstücke. Wer sich auf einem fremden Grundstück aufhält – selbst wenn es nur eine weitläufige Wiese ist –, muss damit rechnen, vom Eigentümer zurechtgewiesen zu werden. »Betreten verboten« bedeutet dabei im übertragenen Sinne: »Bleib von meinem Revier fern!«

Dieses Verhalten ist auf unseren Überlebensinstinkt zurückzuführen. Der in unserem Gehirn verankerte, steinzeitliche Teil ist stets darauf bedacht, potenzielle Feinde von uns fernzuhalten. Öffentliche Reviere, wie eine Parkbank, verteidigen wir in der Regel weniger energisch als unsere Rückzugsorte, die für unseren Schutz wichtig sind. Es ist unwahrscheinlich, dass jemand die Polizei ruft, weil sich eine andere Person an denselben Tisch in einer Kneipe setzt. Sollte jedoch eine uns fremde Person auf unserem Liegestuhl im Garten Platz nehmen, könnte selbst ein friedliebender Pazifist zum Berserker werden, überspitzt formuliert.

Schutz und Ruhe zählen zu den wichtigsten Privilegien, die wir besitzen, neben unseren Bedürfnissen nach Nahrung und Fortpflanzung. Um Konflikte mit Mitmenschen zu vermeiden, sollten wir diese stets respektieren. Dies ist einer der Hauptgründe, warum Nachbarschaftsstreitigkeiten oft hochemotional ausgetragen werden und manchmal in regelrechten Katastrophen enden. So eskalierte beispielsweise der Nachbarschaftsstreit zwischen einem 35-Jährigen und einer 72 Jahre alten Frau in Stralsund, weil sie den Fernseher immer wieder zu laut aufdrehte. Als der Mann mit einer Axt vor der Tür stand, rief sie die Polizei.3

Zudem kann sich Revierverhalten auch als Machtdemonstration zeigen, insbesondere in öffentlichen Bereichen, die kein individuelles Eigentum sind. Ein Beispiel dafür ist der Restaurantgast, der niemanden an seinen Tisch setzen lässt und den Eindringling an einen anderen Platz verweist. Wenn sich dieser dagegen wehrt, kann es schnell zu einer lautstarken Auseinandersetzung kommen, bei der um jeden Preis gekämpft wird, als stünde das eigene Leben auf dem Spiel.

Alles meins! Warum wir ungern teilen

Wir verteidigen nicht nur unser Revier, sondern schützen auch unseren Besitz – selbst dann, wenn er uns gar nicht gehört. Wer jemals im Urlaub auf andere Gäste traf, die direkt nach Sonnenaufgang am Pool Liegestühle mit Badetüchern reservierten, kennt dieses Phänomen. Besonders deutschen Urlaubern wird dieses Verhalten häufig nachgesagt. Sollte jemand es wagen, diese Markierung zu entfernen, ist Ärger vorprogrammiert. Die Sonnenliege und der dazugehörige Sonnenschirm gelten als erobertes Gut, das umgebende Gebiet als Revier. Wer sich zu nahe heranwagt, wird mindestens mit misstrauischen oder aggressiven Blicken bedacht.

Auch dieses Verhalten ist steinzeitlich geprägt, denn damals4 konnte es den sicheren Tod bedeuten, wenn Eindringlinge die eigene Höhle besetzten oder Nahrungsmittel stahlen. Wir lernten, möglichst viel zu sammeln, um unser Überleben zu sichern. Dazu gehörten neben Nahrungsmitteln auch Felle, Werkzeuge oder Waffen. Dies war notwendig, um die entbehrungsreichen Wintermonate zu überstehen und zugleich Macht zu signalisieren, um potenzielle Konkurrenten um Nahrungsressourcen abzuschrecken. Die unbewusste Botschaft lautet: »Ich habe viel und das zeigt, dass ich besonders geschickt darin bin, mich durchzusetzen.« Eine hohe Durchsetzungsfähigkeit erhöhte gleichzeitig die Chancen für eine erfolgreiche Paarung – ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Mehr ist besser

Auch heute sammeln viele von uns unzählige Dinge des täglichen Lebens und weitere Besitztümer. Schätzungen zufolge besitzt eine durchschnittliche erwachsene Person in Deutschland etwa 10.000 Gegenstände.5 Dahinter verbirgt sich unsere steinzeitliche Logik, dass nur die Stärksten und Besten in der Lage sind, möglichst viele Besitztümer anzuhäufen. Deshalb kaufen wir zum Beispiel fünf Packungen Mehl, obwohl wir nur eine benötigen, und horten große Mengen an Lebensmitteln in unseren Tiefkühltruhen – für den Fall, dass »schlechte Zeiten« kommen. Unser Steinzeitgehirn hat noch immer nicht begriffen, dass in unserer modernen Welt Supermärkte existieren. Aus dem gleichen Grund besitzen wir in den wohlhabenden Ländern oft mehr Kleidung, Werkzeuge und andere Dinge, als wir tatsächlich benötigen. Das Teilen von Gegenständen wie einem Akkuschrauber, der nur wenige Minuten im Jahr verwendet wird, empfinden viele als emotional unbefriedigend – aus Angst, dass er genau dann gebraucht wird, wenn er gerade von jemand anderem verwendet wird.

Andere wiederum sparen sehr viel Geld an und leben gleichzeitig ein spartanisches Leben, damit sie vorbereitet sind, wenn etwas Unvorhersehbares passiert. Dieses Verhalten ist durchaus nachvollziehbar, nimmt jedoch manchmal groteske Formen an. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte einer Obdachlosen, die in einem Obdachlosenheim lebte und nach ihrem Tod ein Vermögen von 45.000 Euro hinterließ. Die Frau hatte sich dafür entschieden, in bescheidenen Verhältnissen zu leben, anstatt sich den Risiken und Entscheidungen eines gewöhnlichen Lebens mit Geld auszusetzen. Nach ihrem Tod wurde das unerwartete Vermögen entdeckt; das Sozialamt von Düsseldorf erhob Ansprüche auf das Erbe, während gleichzeitig nach möglichen Erben gesucht wurde.6

Warum haben die mehr?! Von Sicherheit und Neid

Wir streben grundsätzlich nach wirtschaftlicher und gefühlter Sicherheit. Natürlich sind nicht alle Menschen gleich, aber diese Muster finden sich in jedem von uns. Viele reagieren irrational, wenn sie bemerken, dass andere mehr besitzen als sie selbst. Dadurch entsteht Neid mit all seinen Facetten, wenn jemand mehr Dinge und somit potenziell mehr Sicherheit hat. Dieser – oft unbewusste – Vergleich und die daraus resultierenden Mangelgefühle können in unserem Steinzeitgehirn regelrechte Panik auslösen. Vielleicht glauben wir, dass es noch mehr von den Dingen braucht, die wir bereits besitzen, um unsere Überlebenschancen und die unserer Familie zu erhöhen – etwa ein drittes Auto oder ein weiteres Haus.

Ein anderes Beispiel ist die Tochter, die nicht nur studiert, sondern sogar auf eine renommierte Universität in den USA geht und zukünftig ihre Eltern noch besser unterstützen kann, wenn diese selbst nicht mehr für ihr Leben sorgen können. Durch das häufige Vergleichen mit anderen entsteht Konkurrenzverhalten, aus dem Konflikte entstehen können. Oder man versucht noch mehr, den anderen zu übertrumpfen, um das eigene Sicherheitsgefühl zu stärken: »Mein Sohn geht zwar nicht auf diese Eliteuniversität, aber er ist so klug, dass sogar die Professoren an der Universität ihn um Rat fragen.«

Die einfachste Form der unbewussten Selbstabsicherung vor diesem Dilemma besteht darin, den Erfolg anderer abzuwerten. »Das wird schon nicht so großartig sein«, beruhigt uns das Steinzeitgehirn. Wir schmälern die Leistung anderer, um uns selbst besser und vor allem sicherer zu fühlen.

Muster erkannt – Gefahr gebannt?

Das menschliche Miteinander ist also – trotz kulturellen Fortschritts – häufig noch durch evolutionär geprägte Verhaltensweisen gekennzeichnet. Jagdinstinkt, Revier- und Gruppenverhalten sowie Mechanismen, die bei Stress sichtbar werden, können häufiger als gewünscht die Kontrolle übernehmen. Wenn es Ihnen aber gelingt, diese Muster frühzeitig zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren, können Sie Konflikte gar nicht erst entstehen lassen oder, wenn sie doch aufflammen, adäquat darauf reagieren. Wir können unsere Grundmuster, unser steinzeitliches Gehirn, nicht ändern. Schließlich haben wir darin im Laufe der letzten zwei Millionen Jahre unsere gesamten Überlebensstrategien auf evolutionärem Wege abgespeichert. Diese in der modernen Welt überwiegend überholten Verhaltensweisen lassen sich nicht innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte verändern. Solche Prozesse benötigen Zeit und einen neuen Umgang miteinander, bei dem der Egoismus nicht an erster Stelle stehen darf. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns dieses Erbes bewusst zu sein und gleichzeitig an uns zu arbeiten.

Wir werden jedoch immer wieder auf selbstbezogene, rücksichtslose Menschen treffen. Deshalb benötigen wir Techniken, um uns zu schützen und richtig zu positionieren. Es ist wichtig, unsere Programmierung zu kennen, doch sie sollte nicht als Entschuldigung für unangemessenes Verhalten herangezogen werden. »Ich bin halt so, daran kann ich nichts ändern.« Wenn Ihnen das jemand glaubhaft machen möchte, nachdem Sie von dieser Person minutenlang angeschrien wurden, dann ist es nichts anderes als eine fadenscheinige Ausrede. Natürlich besitzen wir alle eine steinzeitliche Programmierung, die Schutzreaktionen auslöst, wenn wir uns bedroht fühlen. Die Entscheidung, ob wir schreien oder ruhig diskutieren, treffen wir jedoch bewusst. Letztendlich sind wir immer für unser Verhalten verantwortlich, unabhängig von unserer steinzeitlichen Programmierung.

Kulturelle Prägung: Kultur zähmt Evolution

An dieser Stelle übernimmt die kulturelle Prägung. Darunter verstehe ich die Summe unserer erlernten Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Menschen sowie innerhalb von Gemeinschaften. Zunächst lernen wir von unserem direkten Umfeld – meist unseren Eltern –, wie wir uns verhalten sollten, um uns innerhalb verschiedener Gruppen bestmöglich anzupassen. Anschließend beeinflussen weitere Verwandte, Lehrer, Freunde und Bekannte der Eltern sowie unser eigener Freundeskreis unser Verhalten. Auch durch Beobachtung eignen wir uns bereits früh Verhaltensmuster an.

Je älter wir werden, desto mehr Möglichkeiten bieten sich uns, um unsere kulturelle Prägung anzupassen oder uns von ihr zu lösen, sofern wir uns der damit verbundenen Einschränkungen bewusst sind. Wir sammeln eigene Erfahrungen, lesen Bücher, schauen Dokumentationen und verbringen Zeit im Urlaub. Das führt dazu, dass jede Generation junger Menschen die Welt aus einer anderen Perspektive bewertet. Während die Elterngeneration die von den Großeltern übernommenen Einstellungen und Regeln infrage stellten und weiterentwickelten, machen ihre Kinder das Gleiche mit der Welt der Eltern.

Dabei sind Konflikte häufig vorprogrammiert, die nicht nur die Beziehungen zwischen den Generationen belasten, sondern ganze Gesellschaften erschüttern können. Nicht zufällig gehen Proteste gegen als überkommene oder verkrustet empfundene gesellschaftliche Zustände von den Universitäten aus, sei es 1968 in Deutschland oder 2022 im Iran. Es braucht dann nur einen konkreten Anlass, um die aufgestaute Energie zur Explosion zu bringen.

Auch hierbei geht es letztendlich darum, das Überleben zu sichern, indem bessere Bedingungen für die Gestaltung des eigenen Lebens geschaffen werden. Allerdings ist diese Erklärung allein zu simpel. Jeder Mensch hat eine Reihe von Grundbedürfnissen, die erfüllt sein müssen, um ein zufriedenes Leben führen zu können.

Wir alle haben grundlegende Bedürfnisse

Der in Hamburg aufgewachsene und in Zürich lehrende Psychotherapieforscher Klaus Grawe beschrieb 1998 in seiner Konsistenztheorie, dass der Mensch nach Übereinstimmung oder Vereinbarkeit der unterschiedlichen, gleichzeitig ablaufenden psychischen Prozesse strebt. Demnach haben wir vier Grundbedürfnisse:

Orientierung bzw. Kontrolle,

Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung,

Bindung und

Selbstwerterhöhung bzw. Selbstwertschutz.

Diese Bedürfnisse streben nach Befriedigung und sind für uns gleich wichtig. Im Laufe unseres Lebens entwickeln wir individuelle Annäherungs- oder Vermeidungsstrategien, um unsere Bedürfnisse zu schützen bzw. deren Verletzung zu vermeiden. Wenn wir etwa feststellen, dass uns eine bestimmte Tätigkeit keine Freude bereitet, dann versuchen wir, diese künftig zu vermeiden. Wenn bei Ihnen beispielsweise die jährliche Steuererklärung schon beim Gedanken daran Übelkeit auslöst, dann kaufen Sie sich entweder eine Steuersoftware, die Ihnen diese Arbeit weitgehend erleichtert, oder Sie suchen sich ein Steuerberatungsbüro. Wir tauschen Geld dafür ein, um einen Lustgewinn zu generieren. Das erklärt auch, warum wir nach immer mehr Geld streben. Schließlich können wir es verwenden, um uns von lästigen Dingen zu befreien und es für Dinge einsetzen, die uns mehr Lust bereiten, wie dem Urlaub unter Palmen.

Wir streben nach Stimmigkeit und Konsistenz der vier Grundbedürfnisse. Das bedeutet, wenn eines oder mehrere dieser Bedürfnisse nicht erfüllt werden, entstehen in uns Mangelgefühle, die wir auszugleichen versuchen. Gelingt uns das nicht, entsteht eine Sinnleere, die Unzufriedenheit, Frust oder Rastlosigkeit zur Folge hat. Nach Grawe erhöht ein dauerhafter Mangel sogar die Anfälligkeit für psychische Störungen.

Unsere individuelle kulturelle Prägung unterliegt sowohl diesen psychischen Grundbedürfnissen als auch unseren physischen Bedürfnissen wie Nahrung, Schlaf, Luft zum Atmen, Wärme und so weiter.7 Wenn wir in der Gesellschaft einer bestimmten Person einen Mangel bei zumindest einem der Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe empfinden, versuchen wir diesen zunächst einmal auszugleichen, indem wir uns beispielsweise emotional von diesem Menschen distanzieren. Schlagen aber sämtliche Versuche fehl, eine Beziehungsebene herzustellen – das Grundbedürfnis Bindung bleibt dabei unerfüllt –, dann werden wir wahrscheinlich den Kontakt sehr bald abbrechen. Können wir das nicht so einfach, etwa weil es sich bei dieser Person um unseren Vorgesetzten handelt, dann werden wir den Kontakt zumindest so weit wie möglich einschränken. Unerfüllte Grundbedürfnisse führen jedoch auf Dauer zu Frust und manche werden krank, wenn sie keine Veränderung erreichen, die den Mangel ausgleicht. Häufig brechen wir dann mit unserer kulturellen Prägung, kündigen beispielsweise und verlassen das Team, obwohl wir in der Kindheit gelernt haben, dass wir uns nur in einer Gruppe sicher fühlen. Daher schließen wir uns auch schnell einer neuen Gemeinschaft an (in diesem Fall einem neuen Arbeitgeber), statt permanent ein Mangelgefühl zu erleben.

Von Traditionen und Gruppenregeln