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Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Mit Michaela Dornberg übernimmt eine sehr erfolgreiche Serienautorin, die Fortsetzung der beliebten Familienserie "Im Sonnenwinkel". Michaela Dornberg ist mit ganzem Herzen in die bezaubernde Welt des Sonnenwinkels eingedrungen. Sie kennt den idyllischen Flecken Erlenried und die sympathische Familie Auerbach mit dem Nesthäkchen Bambi. Roberta wollte den heruntergefallenen Briefumschlag wieder zu der übrigen Post legen. Sie zögerte einen Augenblick, dann änderte sie ihre Meinung, sie nahm den Brief mit, nur diesen einen Brief. Beinahe automatisch schaute Roberta erneut auf den Absender. So sehr sie sich allerdings auch den Kopf zerbrach, der Name, ein wohlklingender Name, den man sich durchaus einprägen konnte, sagte ihr noch immer nichts. Eines allerdings fiel ihr auf, und eigentlich waren es Nebensächlichkeiten, die allerdings manchmal, warum auch immer, so etwas wie eine Eigendynamik entwickeln konnten, an Bedeutung gewannen. So schien es auch hier zu sein. Wer immer dieser Florian Andresen auch sein mochte und was auch immer er von ihr wollte: Er besaß ein Umweltbewusstsein. Er hatte einen braunen Umweltbriefumschlag verwandt, einen aus recyceltem Papier. Roberta erkannte es sofort, weil auch sie derartige Umschläge, wenn möglich, verwandte. Und ja, da gab es noch etwas. Dieser Florian Andresen besaß eine sehr schöne, eine ausgeprägte, energische, eine männliche Handschrift. Ein wenig erinnerte Roberta diese Handschrift an die von Lars. Sie spürte, wie sie drauf und dran war, sich in Erinnerungen zu verlieren, und das durfte jetzt nicht sein. Sie durfte nicht immer wieder Rückschlüsse auf Lars ziehen, bei einer Handschrift schon überhaupt nicht. Es gab sehr viele schöne Handschriften. Es waren halt diese zwei Dinge, die auffielen, da war einmal der Briefumschlag, und dann war es halt die Schrift. Was früher eine Selbstverständlichkeit gewesen war, wo niemand darauf geachtet hatte, erweckte heutzutage Neugier. Das mochte durchaus daran liegen, dass kaum noch Briefe und Postkarten geschrieben und verschickt wurden. Diese Art der Kommunikation hatte allgemein an Bedeutung verloren, die Jugendlichen kannten sie nicht einmal, und wenn sie davon hörten, lächelten sie allenfalls müde. Man schickte sich SMS, mailte oder man skypte.
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Roberta wollte den heruntergefallenen Briefumschlag wieder zu der übrigen Post legen. Sie zögerte einen Augenblick, dann änderte sie ihre Meinung, sie nahm den Brief mit, nur diesen einen Brief.
Florian Andresen …
Beinahe automatisch schaute Roberta erneut auf den Absender. So sehr sie sich allerdings auch den Kopf zerbrach, der Name, ein wohlklingender Name, den man sich durchaus einprägen konnte, sagte ihr noch immer nichts. Eines allerdings fiel ihr auf, und eigentlich waren es Nebensächlichkeiten, die allerdings manchmal, warum auch immer, so etwas wie eine Eigendynamik entwickeln konnten, an Bedeutung gewannen. So schien es auch hier zu sein.
Wer immer dieser Florian Andresen auch sein mochte und was auch immer er von ihr wollte: Er besaß ein Umweltbewusstsein. Er hatte einen braunen Umweltbriefumschlag verwandt, einen aus recyceltem Papier. Roberta erkannte es sofort, weil auch sie derartige Umschläge, wenn möglich, verwandte.
Und ja, da gab es noch etwas.
Dieser Florian Andresen besaß eine sehr schöne, eine ausgeprägte, energische, eine männliche Handschrift. Ein wenig erinnerte Roberta diese Handschrift an die von Lars.
Sie spürte, wie sie drauf und dran war, sich in Erinnerungen zu verlieren, und das durfte jetzt nicht sein. Sie durfte nicht immer wieder Rückschlüsse auf Lars ziehen, bei einer Handschrift schon überhaupt nicht. Es gab sehr viele schöne Handschriften.
Es waren halt diese zwei Dinge, die auffielen, da war einmal der Briefumschlag, und dann war es halt die Schrift.
Was früher eine Selbstverständlichkeit gewesen war, wo niemand darauf geachtet hatte, erweckte heutzutage Neugier. Das mochte durchaus daran liegen, dass kaum noch Briefe und Postkarten geschrieben und verschickt wurden. Diese Art der Kommunikation hatte allgemein an Bedeutung verloren, die Jugendlichen kannten sie nicht einmal, und wenn sie davon hörten, lächelten sie allenfalls müde. Man schickte sich SMS, mailte oder man skypte. Man hatte alles, was gerade angesagt war und man benutzte auch die gerade angesagten Geräte, natürlich alle auf dem neuesten Stand der Technik. Alles wurde immer unpersönlicher, und irgendwie wurde es auch austauschbar.
Roberta konnte sehr gut die überaus sympathische und herzliche Inge Auerbach verstehen, die sich dagegen wehrte, die dagegen herumwetterte, die Briefe schrieb, die telefonierte, um mit dem anderen Teilnehmer oder der anderen Teilnehmerin sprechen zu können, persönlich zu sprechen. Doch leider hatte auch diese bemerkenswerte Frau erkennen müssen, dass man keine Chance hatte, nur auf Althergebrachtem zu verharren. Man konnte sich nicht vor der neuen Technik verschließen, weil man sonst ins Abseits geriet, abgehängt wurde.
Roberta legte den Umschlag erst einmal auf den Tisch, holte sich etwas zu trinken, ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Irgendwann setzte sie sich schließlich. Es war ganz merkwürdig, sie verspürte eine unerklärliche Aufgeregtheit, und es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich diesen braunen Briefumschlag in die Hand nahm.
Was war bloß los mit ihr?
Wegen eines Briefes von jemandem, den sie nicht einmal kannte, machte sie eine solche Staatsaktion, umschlich den Umschlag wie die Katze den heißen Brei.
Sie gab sich einen Ruck, riss den Umschlag auf. Das geschah so heftig, dass der Inhalt erst einmal auf den Boden fiel. Seufzend bückte sie sich, um alles wieder aufzuheben. Und dann starrte sie auf das Foto auf dem ersten Blatt, und beinahe wäre es ihr wieder aus der Hand gefallen.
Das konnte jetzt nicht wahr sein!
Roberta brauchte eine ganze Weile, ehe sie sich wieder beruhigt hatte. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, wild zu kreisen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Ganz vorsichtig, als drohe Gefahr davon, warf sie einen erneuten Blick auf das Foto. Sie erkannte den Mann sofort. Es war der Fremde, der neulich vor dem Doktorhaus gestanden und sich nach der Ärztin erkundigt hatte. Dass er ihr sogar ein Kompliment gemacht hatte, spielte jetzt keine Rolle. Er hatte ihr seine Bewerbungsunterlagen geschickt, einfach so.
Florian Andresen war promovierter Arzt. Er besaß zwei Facharztausbildungen, er war Internist und Chirurg.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Roberta sich auf den Inhalt dieser Bewerbung konzentrieren konnte. Promoviert hatte er in Heidelberg, Auslandssemester in Amerika, Südafrika, in Spanien und Singapur gehörten auch dazu. Und dann hatte er überall auf der Welt für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, immer wieder.
Es war ein beachtenswerter Lebenslauf.
Nachdem sie die Unterlagen immer wieder studiert hatte, begann sie sich zu fragen, wieso ausgerechnet jemand wie dieser Florian Andresen sich bei ihr im verträumten Sonnenwinkel um einen Job bewarb.
Es ging nicht anders, ihre Gedanken begannen erneut zu kreisen.
Woher wusste er, dass sie mit dem Gedanken spielte, tatsächlich einen Kollegen oder eine Kollegin einzustellen?
Er konnte es nicht wissen.
Außerdem, wenn man die Bewerbung genau las, dann erkannte man, dass es praktisch ein Schuss ins Blaue gewesen war. Er schrieb, falls sie jemanden suche, wolle er sich bewerben.
Das war vielleicht ein Ding!
Sie hatte keine Erklärung dafür, allerdings auch keine dafür, warum ihr Herz so sehr klopfte, warum sie ein unbegreifliches Gefühl verspürte.
Ihre Freundin Nicki hätte sofort eine Erklärung gehabt, sie würde mit den Begriffen Vorbestimmung, Schicksal oder ähnlichen herumwerfen.
Nicki …
Für einen Augenblick vergaß sie die Bewerbung, sie musste an Nicki denken. Das war ihr wichtiger als alles sonst. In ihr stritten Besorgnis und Verärgerung miteinander. Nicki war nicht zu erreichen, außer spärlichen Kurznachrichten, dass es ihr gut gehe, war nichts gekommen. Nicki hüllte sich in Schweigen, und Roberta und Alma überboten sich mit Überlegungen, was alles passiert sein könne.
Roberta hatte sogar Jens Odenkirchen angerufen, Nickis Nachbarn. Die beiden hatten eine merkwürdige Verbindung zueinander. Roberta hatte mittlerweile allerdings den Gedanken aufgegeben, aus ihnen könne ein Paar werden.
Jens wusste noch weniger. Er hatte seit ihrer Abreise überhaupt noch nichts von Nicki gehört. Und Roberta war froh, ihm in ihrer Sorge nichts von dem kleinen Mädchen erzählt zu haben. Nicki hatte es, entgegen aller sonstigen Gepflogenheiten, nämlich nicht getan. Jens wusste nur, dass sie nach New York geflogen war, einen Grund dafür kannte er nicht, er wollte ihn von Roberta wissen. Und die hatte Mühe gehabt, sich herauszureden, weil sie ihn nicht mit etwas Belanglosem belügen wollte, und die Wahrheit hatte sie ihm auch nicht erzählen dürfen, das hätte Nicki schon selbst tun müssen.
Für einen Moment war die Bewerbung vergessen, sie versuchte wieder einmal zum gefühlten tausendsten Male ihre Freundin zu erreichen. Sie hätte es sich ersparen können. Nickis Handy war abgeschaltet.
Was war da los in New York?
Hielt sie sich dort überhaupt noch auf?
Und was war mit dem kleinen Mädchen Olivia?
Diese Fragen und noch mehr waren es, die Roberta derzeit voll und ganz ausfüllten. Da hatte sonst nichts Platz.
Eines allerdings stand fest!
Es lief nicht so glatt, wie Nicki es sich erträumt hatte.
Wäre nämlich das der Fall gewesen, dann hätte ihre Freundin sie zu allen Tages- und Nachtzeiten angerufen, um ihr zu erzählen, wie wunderschön alles doch war.
Zumindest war es immer so gewesen, wenn sie wieder mal geglaubt hatte, endlich den richtigen Frosch geküsst zu haben, aus dem endlich der ersehnte Prinz geworden war … was sich allerdings später dann doch nicht bewahrheitet hatte. Der Frosch war leider ein Frosch geblieben. Es war immer das Gleiche gewesen bei Nicki.
Stopp!
Dieser Vergleich hinkte. Hier ging es um keinen Mann, sondern um dieses dreijährige Mädchen, das die Mutter verloren hatte und für die Nicki der Ersatz werden sollte.
Nicki und ein Kind …
Roberta wollte nicht voreingenommen sein, doch wenn sie an die Vergangenheit dachte, konnte sie sich das nicht vorstellen. In Nickis Vergangenheit hatte es Männer gegeben, die Väter von Kindern waren. Bei Nicki hatte es immer einen Ablauf gegeben. Trotz aller Liebe, trotz des besten Willens hatte sie immer das Weite gesucht. Und damals, als sie von diesem Straßenmusikanten, allerdings einem auf höchstem Niveau, schwanger gewesen war …
Die Vergangenheit holte Roberta ein, weil sie mit ihrer Freundin sehr gelitten hatte. Zuerst wollte Nicki das Kind nicht, dann um jeden Preis, und dann hatte das Schicksal ihr einen Streich gespielt. Nicki hatte das Kind verloren und …
Roberta trank etwas, lehnte sich zurück.
Nicki hatte entsetzlich gelitten. Und das war nicht gespielt gewesen. Roberta hatte sich sehr große Sorgen um ihre allerbeste Freundin gemacht. Und es hatte sehr lange gedauert, bis Nicki wieder zu sich gefunden hatte.
Warum kam ihr das alles jetzt in den Sinn?
Die Situation, in der Nicki sich augenblicklich befand, war eine ganz andere. Sie hatte zu überhaupt nichts beigetragen. Um es in Nickis Sprachgebrauch zu sagen, es war auf ihren Weg gekommen. Nicki hatte sich um nichts bemüht, sie hatte von nichts etwas geahnt. Der Brief dieser Anwaltskanzlei war ausschlaggebend gewesen. Eine alte Freundin hatte dafür gesorgt, dass im Falle eines Falles Nicki die Verantwortung für die kleine Olivia übernehmen sollte, Veras Tochter.
Es war an Nicki herangetragen worden, und Nicki wäre nicht Nicki gewesen, wenn sie sich nicht sofort dafür entschieden hätte, nach New York zu fliegen, um das Mädchen zu sich zu holen.
Roberta konnte es verstehen, doch ihr wäre es lieber gewesen, Nicki wäre nicht unüberlegt und kopflos nach New York geflogen, sondern hätte zuvor Überlegungen angestellt, Vorbereitungen getroffen. Nickis Loft war in keiner Weise kindgerecht. Nicki hätte darüber nachdenken müssen, wie sie alles unter einen Hut bringen wollte, Arbeit und Kind. Glücklicherweise arbeitete Nicki freiberuflich, doch das geschah nicht von einem Schreibtisch in ihrem Loft aus. Sie nahm auch viele Auslandsaufträge an, welche in anderen Städten.
Nicki hatte noch nicht einmal nachgesehen, was in beruflicher Hinsicht eigentlich anstand. Völlig kopflos war sie nach New York geflogen.
Es war unfassbar. Es passte nicht in Nickis Welt. Irgendetwas war da aus den Fugen geraten.
Nicki war nicht nach New York geflogen, um ein Erinnerungsstück an ihre Freundin Vera abzuholen, nicht, um deren Grab zu besuchen.
Es ging um ein Kind!
Es ging um ein kleines, dreijähriges Mädchen, das die Mutter verloren hatte, jetzt vielleicht traumatisiert war und deswegen besonders viel Aufmerksamkeit und Liebe benötigte.
Nicki hatte ein ganz großes Herz, doch das reichte in diesem Fall nicht aus.
War Nicki das alles bewusst geworden, und sie wusste nun nicht, was sie tun sollte und sie traute sich auch nicht, im Doktorhaus anzurufen, weil sie sich einfach darüber hinweggesetzt hatte, den Ratschlag zu befolgen, erst einmal alles in gebotener Ruhe zu überdenken und dann zu handeln?
Sie drehte sich im Kreis!
Vielleicht war ja alles auch ganz anders. Sie durfte sich wegen Nicki und deren New Yorker Abenteuer nicht länger den Kopf zerbrechen.
Um sich abzulenken, griff Roberta nach den Bewerbungsunterlagen des Herrn Dr. med. Florian Andresen. Das war auch etwas, was sie nicht durchschaute, was sie nicht nachvollziehen konnte. Ihre Gedanken gingen zurück zu ihrer ersten, ihrer einzigen, ihrer flüchtigen Begegnung vor dem Doktorhaus.
Was war da geschehen?
Nicht viel!
Er hatte vor dem Haus gestanden, es betrachtet. Sie war hinzugekommen, war verwirrt gewesen, weil der Mann sie irgendwie an Lars erinnerte und dann …
Roberta sprang auf.
Nein!
Es lohnte sich nicht, die Situation bis zur geringsten Kleinigkeit in die Erinnerung zurückzuholen. Was immer er sich auch mit seiner Bewerbung gedacht hatte, herausfinden konnte sie es nur, wenn sie auf diese Bewerbung reagierte, vor allem, wenn sie sich vollkommen klar darüber geworden war, dass sie tatsächlich eine Kollegin oder einen Kollegen einstellen wollte und nicht nur vage mit dem Gedanken spielte.
Er hatte einen netten Eindruck gemacht, auch wenn er sie verwirrt hatte, seine Zeugnisse waren exzellent.
Was also sollte sie tun?
Auf seine Bewerbung reagieren? Sie vergab sich doch nichts, und jetzt, da sie Elena Mynakis eingestellt hatte, könnte die doch in erster Linie für ihn arbeiten, und sie hätte weiterhin ihr bewährtes Duo Ursel Hellenbrink und Leni Wendler an ihrer Seite.
Die Gedanken an Nicki traten in den Hintergrund, Gott sei Dank!
Also, wie sollte sie auf die Bewerbung reagieren? Sie nahm die Seite mit dem Foto noch einmal in ihre Hand, versank in Betrachtungen, und dann auf einmal dämmerte es ihr. Er erinnerte sie an Lars, weil er ebenfalls diese unbekümmerte Souveränität ausstrahlte, und damals, ganz am Anfang, als sie gerade im Sonnenwinkel ihre Zelte aufgeschlagen hatte, war es bei Kay so gewesen, dem Aussteiger auf hohem Niveau.
Du liebe Güte!
Was war denn los mit ihr, dass sie auch jetzt noch Kay aus der Kiste ihrer Erinnerungen kramte. Ein Wunder war es allerdings nicht, Kay, Lars und dieser Florian Andresen waren sich ähnlich, und wenn sie …
Roberta wurde aus ihren Gedanken gerissen, sie hatte eine Nachricht auf ihrem Handy bekommen. Doch ehe sie die las, warf sie einen letzten Blick auf das Foto. So, und jetzt musste es gut sein.
Es war kein Bewerber um ihre Hand, und sie suchte auch keinen Mann fürs Leben, sondern, wenn überhaupt, eine Unterstützung für ihre Praxis. Und unter diesen Umständen war es besser und richtiger, sich die Unterlagen noch einmal ganz genau durchzulesen, statt das Gesicht anzuschauen und Vergleiche anzustellen mit Männern, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten.
Sie legte alles beiseite, griff nach ihrem Handy.
Das konnte jetzt nicht wahr sein!
Es war eine Nachricht von Nicki, die kurz und knapp lautete: »Ankunft morgen früh um acht. Kommst du zum Flughafen, liebste Freundin? Bitte, Nicki. PS – wir haben uns viel zu erzählen. Bitte, nimm dir Zeit. In Liebe, N.«
Roberta versuchte sofort, Nicki anzurufen oder aber sie wollte ihr wenigstens eine Nachricht schicken. Nichts ging, das Handy war wieder abgeschaltet. Aber sie konnte jetzt nicht sauer sein, sie wollte sich auch keine Gedanken wegen Nickis Verhalten machen. Endlich, endlich, würde sie nach Deutschland kommen, und natürlich würde Roberta sie vom Flughafen abholen, das war überhaupt keine Frage!
Allerdings …
Nachdem sich ihre erste Aufregung gelegt hatte, ihre Freude in geordnete Bahnen übergegangen war, begann sie zu überlegen.
Nicki machte viele Auslandsreisen, doch sie ließ sich niemals abholen. Und weswegen hatte sie nicht von uns gesprochen, weswegen hatte sie das Kind mit keiner Silbe erwähnt? Bedeutete das, dass Nicki allein kommen würde, dass alles aus dem Ruder gelaufen war, dass sie getröstet werden wollte?
Ihre Gedanken liefen in eine unheilvolle Richtung, sie wollte die nicht vertiefen. Doch Roberta wusste auch, dass sie nicht in der Lage sein würde, sich in Krankenakten zu vertiefen. Das war eigentlich etwas, was sonst immer half. Jetzt allerdings nicht. Erst die merkwürdige Bewerbung, dann die Nachricht von Nicki.
Wie sollte sie sich also ablenken?
Schade, dass Katja verreist war, sonst hätte sie ein Ziel gehabt.
Aber dann kam ihr eine Idee, sie hatte ein neues Arzneimittelmuster bekommen, das sie Leonore von Kramp geben wollte. Die hatte sich zwar ganz erstaunlich erholt und konnte ein ganz normales Leben führen, aber deren Blutdruck spielte manchmal verrückt. Während der diastolische Wert immer sehr niedrig war und auch niemals über die gewünschten 80 ging, schoss der systolische Wert manchmal kurzfristig in die Höhe. Eine kardiologische Untersuchung, die Roberta bereits veranlasst hatte, hatte keine Erkenntnisse gebracht. Es gab halt Menschen, bei denen es so war, und dieses Mittel sollte speziell für diese Patientinnen und Patienten wirksam sein.
Roberta hatte alle Studien über dieses Präparat eingehend gelesen, es schien wirklich erfolgversprechend zu sein, und wenn sie so etwas ausprobierte, dann nur an Patientinnen oder Patienten, denen sie vertraute, die sorgfältig alles aufzeichneten und die sie zuvor über alles informiert hatte. Leonore von Kramp war begeistert, sie wollte es unbedingt ausprobieren.
Roberta wusste, dass Lenore daheim sein würde, denn Beatrix Sendler machte mit Sandra einen Ausflug. Im Sonnenwinkel bekam man immer etwas voneinander mit.
Roberta atmete erleichtert auf.
Ja, das war eine gute Idee, die sie auch sofort in die Tat umsetzen wollte, sie rief bei Leonore von Kramp an, die war auch sofort am Apparat, freute sich und erkundigte sich: »Frau Doktor, haben Sie auch noch Zeit, einen Kaffee oder Tee mit mir zu trinken?«
»Kaffee wäre wunderbar, Frau von Kramp, dann bis gleich.« Roberta war froh, ihren Gedanken entfliehen zu können. Leonore von Kramp war eine sehr kluge, kultivierte Frau, mit der man sich herrlich unterhalten konnte. Es war kein Wunder, dass es eine Freundin von Teresa von Roth war. Und mittlerweile war sie auch mit Sophia von Bergen befreundet.
Es waren alles Damen aus feinsten adeligen Kreisen, die auf der einen Weise ein bisschen aus dem Leben gefallen zu sein schienen, die auf der anderen Seite aber unglaublich stark waren, die ihr Schicksal annahmen, daran aber nicht zerbrachen, sondern auf unglaubliche Weise kämpften. Na ja, Teresa von Roth war schon ein bisschen anders, die war einfach hinreißend. Roberta mochte sie alle, doch Teresa, die hatte sie sehr in ihr Herz geschlossen, und das lag gewiss nicht daran, dass sie und ihr Ehemann ihre ersten Patienten gewesen waren, damals, als die Sonnenwinkler sich ihr gegenüber noch überaus reserviert gezeigt hatten. Magnus und Teresa waren gekommen, nicht, weil für sie ein Arztbesuch anstand, sondern weil sie damit etwas demonstrieren wollten.