Enttäuschte Gefühle - Michaela Dornberg - E-Book

Enttäuschte Gefühle E-Book

Michaela Dornberg

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Beschreibung

Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Mit Michaela Dornberg übernimmt eine sehr erfolgreiche Serienautorin, die Fortsetzung der beliebten Familienserie "Im Sonnenwinkel". Michaela Dornberg ist mit ganzem Herzen in die bezaubernde Welt des Sonnenwinkels eingedrungen. Sie kennt den idyllischen Flecken Erlenried und die sympathische Familie Auerbach mit dem Nesthäkchen Bambi. »Hallo, wer immer da auch anruft. Ich bin erst einmal weg und arbeite für Ärzte ohne Grenzen in Kambodscha …« Roberta hatte diesen Satz, ausgesprochen von einer äußerst sympathisch klingenden Männerstimme, nur ein einziges Mal gehört. Doch dieser Satz hatte sich tief in ihr eingebrannt, so tief, dass ihr zunächst einmal überhaupt nicht bewusst wurde, dass sie den Telefonhörer noch immer in ihrer Hand hielt und dass sie wie erstarrt war. Ehrlich gesagt, hatte Roberta mit allem gerechnet, damit allerdings ganz gewiss nicht. Vor allem hatte sie eine ganz andere Erwartungshaltung gehabt, war davon ausgegangen, dass der Mann, den sie da gerade angerufen hatte, vor lauter Begeisterung jubeln würde, wenn er erfuhr, dass sie ihn als Kollegen für ihre Praxis einstellen wollte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ihr das richtig bewusst wurde. Roberta legte den Telefonhörer auf die Station zurück, danach lehnte sie sich ächzend zurück. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und auch jetzt dauerte es ziemlich lange, bis sie diese wenigstens ein bisschen ordnen konnte. Roberta war bekannt, dass Dr. Florian Andresen immer wieder als Arzt für Ärzte ohne Grenzen freiwillig und unentgeltlich arbeitete. Das war mehr als nur löblich, das war recht anerkennenswert. Und das war auch etwas, was er sich bei einer künftigen Zusammenarbeit unter anderem ausbedungen hatte. Das war für Roberta überhaupt kein Problem, im Gegenteil. Sie begrüßte so etwas, denn auch sie hatte als junge Ärztin immer wieder an den verschiedensten Einsatzorten für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, und sie hatte es später immer wieder sehr bedauert, dass sie in ihrem Beruf so eingespannt war, dass es nichts mehr gab, war ihr wenigstens kleine Freiräume ließ. Mit Florian Andresen an ihrer Seite hatte sich so manches ändern sollen. Für die Organisation hätte sie erst einmal nicht gearbeitet, denn Roberta hatte in so vielem einen ganz großen Nachholbedarf. Vor allem hatte sie sich darauf gefreut, mehr Zeit für Nicki, vor allem für die kleine Olivia, zu haben. Und sie hatte es sich bereits in den allerschönsten Farben ausgemalt, wie es sein würde, wenn ihre allerbeste Freundin mit dem kleinen Mädchen erst einmal im Sonnenwinkel leben würde. Aus der Traum.

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Seitenzahl: 136

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der neue Sonnenwinkel – 93 –

Enttäuschte Gefühle

Du hast zu lange gezögert, Roberta!

Michaela Dornberg

»Hallo, wer immer da auch anruft. Ich bin erst einmal weg und arbeite für Ärzte ohne Grenzen in Kambodscha …«

Roberta hatte diesen Satz, ausgesprochen von einer äußerst sympathisch klingenden Männerstimme, nur ein einziges Mal gehört. Doch dieser Satz hatte sich tief in ihr eingebrannt, so tief, dass ihr zunächst einmal überhaupt nicht bewusst wurde, dass sie den Telefonhörer noch immer in ihrer Hand hielt und dass sie wie erstarrt war.

Ehrlich gesagt, hatte Roberta mit allem gerechnet, damit allerdings ganz gewiss nicht. Vor allem hatte sie eine ganz andere Erwartungshaltung gehabt, war davon ausgegangen, dass der Mann, den sie da gerade angerufen hatte, vor lauter Begeisterung jubeln würde, wenn er erfuhr, dass sie ihn als Kollegen für ihre Praxis einstellen wollte.

Florian Andresen war weg …

Es dauerte eine ganze Weile, ehe ihr das richtig bewusst wurde.

Roberta legte den Telefonhörer auf die Station zurück, danach lehnte sie sich ächzend zurück.

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und auch jetzt dauerte es ziemlich lange, bis sie diese wenigstens ein bisschen ordnen konnte.

Roberta war bekannt, dass Dr. Florian Andresen immer wieder als Arzt für Ärzte ohne Grenzen freiwillig und unentgeltlich arbeitete. Das war mehr als nur löblich, das war recht anerkennenswert. Und das war auch etwas, was er sich bei einer künftigen Zusammenarbeit unter anderem ausbedungen hatte. Das war für Roberta überhaupt kein Problem, im Gegenteil. Sie begrüßte so etwas, denn auch sie hatte als junge Ärztin immer wieder an den verschiedensten Einsatzorten für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, und sie hatte es später immer wieder sehr bedauert, dass sie in ihrem Beruf so eingespannt war, dass es nichts mehr gab, war ihr wenigstens kleine Freiräume ließ.

Mit Florian Andresen an ihrer Seite hatte sich so manches ändern sollen. Für die Organisation hätte sie erst einmal nicht gearbeitet, denn Roberta hatte in so vielem einen ganz großen Nachholbedarf. Vor allem hatte sie sich darauf gefreut, mehr Zeit für Nicki, vor allem für die kleine Olivia, zu haben. Und sie hatte es sich bereits in den allerschönsten Farben ausgemalt, wie es sein würde, wenn ihre allerbeste Freundin mit dem kleinen Mädchen erst einmal im Sonnenwinkel leben würde. Aus der Traum.

Roberta griff nach ihrem Glas, trank ein wenig von dem Mineralwasser, weil sie einen ganz trockenen Hals hatte, und dabei bemerkte sie, dass ihre Hand zitterte, als sie das Glas wieder abstellte. Es war ihre innere Anspannung, vielleicht war es ja auch ihre Enttäuschung.

War sie sich seiner zu sicher gewesen?

Hatte sie tatsächlich geglaubt, Florian Andresen würde den ganzen Tag voller Erwartung neben seinem Telefon sitzen und auf den heiß ersehnten Anruf von ihr warten?

Vielleicht. Es war schon ziemlich überheblich von ihr gewesen zu glauben, dass er entzückt sein würde über die Aussicht, mit ihr, für sie, in der Praxis im Sonnenwinkel arbeiten zu dürfen.

Es hatte deutliche Signale dafür gegeben, wie gern er in der Praxis arbeiten wollte. War es das, warum sie sich so viel Zeit gelassen hatte? Und nun war der Schuss nach hinten losgegangen.

Ein solcher Gedanke war geradezu unerträglich, und deswegen flüchtete sie sich in einen anderen. Es war zunächst einfach wichtiger gewesen, sich um Nicki zu kümmern, die schließlich ihre allerbeste Freundin war, die ihr zunächst am Herzen lag. Und es war deswegen vorrangig gewesen, zuerst einmal eine Lösung für Nicki und die kleine Olivia zu finden.

Das hörte sich großartig an, war edelmütig, doch Roberta wusste, dass es nicht so ganz stimmte. Ja, sie war darum bemüht gewesen, für Nicki und das entzückende Mädchen eine Wohnung, genauer, ein Haus zu finden. Doch das hatte sie nicht daran gehindert, Dr. Andresen eine Zusage zu geben. Dass sie so herumgeeiert, so gezögert hatte, dafür gab es einen anderen Grund. Und das musste sie sich eingestehen!

Roberta warf mit dem Wort Beuteschema nicht so herum, wie es ihre Freundin Nicki immer wieder tat. Doch ganz offensichtlich gab es auch für sie so etwas, obschon es doch eigentlich unerklärlich war. Es passte nicht zu ihr, es passte überhaupt nicht zu ihr.

Doch wenn sie ehrlich war …

Und das musste sie jetzt sein!

Nach dem Scheitern ihrer Ehe mit dem treu- und sorglosen Max Steinfeld hatte sie sich zu Kay hingezogen gefühlt, dem unkonventionellen, vor allem wesentlich jüngeren Aussteiger. Es war mehr gewesen als nur eine Affäre, und wäre sie nicht so verklemmt gewesen und hätte sie nicht die Reißleine gezogen, weil es einfach nicht ging, dass man da mit einem jungen Mann zusammen war, der eine ganz andere Lebensauffassung hatte als sie …

Wer weiß, vielleicht wären sie heute noch zusammen, denn trotz aller Unterschiedlichkeit hatte es auch viele Gemeinsamkeiten gegeben. Vor allem hatte Kay ihr geholfen aus dem tiefen Loch herauszukommen, in das sie gefallen war. Und er hatte ihr gezeigt, was für eine begehrenswerte Frau sie war. Er hätte sich nicht von ihr getrennt, weil sehr viel Gefühl im Spiel gewesen war, von ihrer Seite ebenfalls, doch sie hatte sich einfach nicht getraut. Und als sie sich doch auf einen Versuch mit ihm einlassen wollte, war er nicht mehr da gewesen, da war er bereits gegangen.

Ach ja, Kay … Sie würde immer liebevoll an ihn zurückdenken, den charmanten Aussteiger.

Glücklicherweise hatte sie Kay nicht lange nachtrauern müssen, und sie brauchte auch keine Schuldgefühle mehr zu haben, weil sie es vermasselt hatte. Ein unglaubliches Wunder war dann geschehen!

Roberta war Lars Magnussen begegnet, der Liebe ihres Lebens!

Sie als umsichtige Autofahrerin war mit ihrem Wagen in seinen hineingefahren, es hatte so sein sollen.

Roberta wurde von ihren Gefühlen auch heute noch förmlich überrannt, wurde von ihnen übermannt, wenn sie an den Mann mit den unglaublich blauen Augen dachte. Auch Lars war, wenn auch auf ganz andere Weise als Kay, anders gewesen als normalerweise die Männer, mit denen sie zu tun hatte, denen sie begegnete in ihrem Umfeld. Auch Lars war frei, unabhängig, unkonventionell gewesen. Doch im Gegensatz zu Kay war Lars kein Aussteiger gewesen, sondern ein überaus erfolgreicher Mann, der sein Ding machte, der auf der anderen Seite aber auch sehr sensibel war, der ihr so vieles hinterlassen hatte, nicht nur den Stern, der ihren Namen trug.

Ein dauerhaftes Paradies auf Erden gab es offensichtlich nicht, irgendwo lauerte immer eine Schlange. In ihrem Fall waren es stattdessen die Eisbären, die ihr Glück zerstört hatten. Es fiel Roberta auch heute noch schwer, daran zu denken. Ausgerechnet die Eisbären, über die Lars erfolgreich geschrieben und die er über alles geliebt hatte! Es hatte ihn noch einmal zu ihnen hingezogen, und das war sein Verhängnis geworden. Niemand wusste, was wirklich geschehen war, es gab viele Vermutungen. Die Wahrheit würde niemand erfahren, sicher war, und damit hatte auch sie sich abfinden müssen, dass Lars im ewigen Eis verschollen war …

Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an Kay und noch intensiver an Lars?

Roberta musste nicht lange darüber grübeln.

Sie musste nur ehrlich sein!

Florian hatte sie vom ersten Augenblick an, ehe sie wusste, wer er war, an Kay und ganz besonders an Lars erinnert.

Und zwischen ihr und Florian war vom allerersten Augenblick an etwas gewesen, das man deutlich spüren konnte, ohne dass etwas ausgesprochen worden war, für das es keine Erklärung gab.

Was sollte es, Roberta musste sich nicht länger etwas vormachen. Unbewusst hatte sie Angst gehabt! Angst vor ihren eigenen Gefühlen.

Stopp!

Machte sie sich da gerade nicht etwas vor?

Suchte sie Gründe dafür, warum sie es vermasselt hatte?

Es war nicht daran zu rütteln, dass Dr. Florian Andresen ein ganz hervorragender Arzt mit den allerbesten Zeugnissen war. Gut, unkonventionell war er schon, denn bereits vor Arbeitsbeginn hatte er ihr klipp und klar erklärt, dass er neben der Arbeit seine Freiräume brauchte, um weiterhin für Ärzte ohne Grenzen arbeiten zu können und um für den Ironman auf Hawaii nicht nur zu trainieren, sondern auch, um an diesem Wettbewerb teilzunehmen.

Warum dachte sie jetzt daran?

Es wäre kein Hindernis gewesen, beides nicht.

Sie hatte gezögert, und er hatte seine Konsequenzen daraus gezogen, hatte sich anders entschieden. Und sie hatte keine Ahnung, wie lange er in Kambodscha bleiben würde. Und ob er nach seiner Rückkehr noch an dem Job bei ihr interessiert war, das stand ohnehin in den Sternen.

Florian Andresen war finanziell unabhängig und konnte sein Leben gestalten wie er wollte.

Es war verrückt!

Sie hatte es in der Hand gehabt. Florian hatte sogar sofort bei ihr anfangen wollen. Und jetzt jammerte sie herum, bedauerte etwas, was sie selbst zu verantworten hatte.

Warum gab sie nicht einfach zu, dass sie sich in ihn verknallt hatte?

Oh Gott!

Sie musste jetzt nicht erstaunt tun, sie hatte es von Anfang an gewusst, hatte aber immer, wenn auch mit mäßigem Erfolg, versucht, es zu verdrängen.

Wenn sie emotional bewegt war, musste Nicki immer einen Schnaps trinken. Roberta hatte es niemals verstanden, weil man mit Alkohol keine Probleme löste.

Doch auch jetzt hatte sie selbst das dringende Bedürfnis, einen Grappa zu trinken.

So weit war es mit ihr also schon gekommen!

Sie musste kein Läppchen mehr drummachen, Dr. Florian Andresen hatte ihr von Anfang an als Mann gefallen. Und sie hatte es genossen, dass er mit ihr geflirtet hatte. Und sie bedauerte es, nicht darauf eingegangen zu sein. Nicki, die hätte das getan.

Sie stand auf, um sich den Grappa zu holen, und vorsichtshalber nahm sie die Flasche gleich mit, weil sie sich nicht ganz sicher war, dass es bei dem einen Schnäpschen bleiben würde. Sie hatte keine Erfahrung darin, wusste nur, wie es bei Nicki war.

Nicki …

Sollte sie ihrer Freundin erzählen, zu welcher Erkenntnis sie gekommen war?

Vielleicht besser nicht, denn Nicki nahm das nicht so eng, sie würde sie ermuntern, sich auf Florian einzulassen, auch wenn Liebe am Arbeitsplatz nicht unbedingt das war, was man sich wünschte, was man besser bleiben ließ.

Roberta war jetzt völlig verwirrt.

Sie goss sich einen Grappa ein, vergaß allerdings erst einmal, ihn zu trinken, weil ihre Gedanken Achterbahn spielten.

Sie und der smarte, auch wieder jüngere Mann, nicht so jung wie Kay, aber auch nicht im Alter von Lars …

Nein!

Es ging nicht!

Es gehörte sich nicht!

Außerdem …

Der Drops war gegessen, völlig unklar, ob sie noch mal etwas von ihm hören würde.

Und gewiss war es auch besser so. Komplikationen konnte sie nicht gebrauchen. Absolut nicht.

Aber …

Robertas Gedanken gingen in eine andere Richtung. Immerhin konnte sie sich ein Türchen offen lassen, indem sie ihm einen freundlichen Brief schrieb und ihm mitteilte, dass sie sehr gern mit ihm in der Praxis im Sonnenwinkel zusammenarbeiten würde.

Sie wusste, dass sie so schnell keine Antwort bekommen würde, doch das machte nichts. Irgendwann würde er zurückkommen, und dann sollte das Schicksal entscheiden.

Es gab auch noch eine ganz andere Möglichkeit!

Und das war etwas, was auf jeden Fall Ruhe in alles bringen würde. Sie konnte weiterhin Ausschau nach einer Kollegin oder einem Kollegen halten, sie oder ihn einstellen, und dann war das Thema Florian Andresen vorbei. Nicki würde sofort sagen, dass es ein Zeichen war, dass es so gekommen war. Doch so dachte Roberta einfach nicht, würde niemals so denken.

Aber …

Roberta hielt sich die Ohren zu, obwohl sie doch überhaupt nichts hörte, sich alles in ihrem Inneren, in ihren Gedanken abspielte.

Und was sollte das alles?

Sie wusste doch nur zu gut, dass sie niemanden sonst wollte. Sie wollte nur ihn …, als Kollegen natürlich!

Jetzt trank Roberta ihren Grappa doch.

Morgen war ein neuer Tag. Das hatte schon Scarlett O’Hara in dem weltbekannten, großartigen Film ›Vom Winde verweht‹ gesagt.

Roberta begann sich zu entspannen, und damit es keinen Rückfall gab in etwas, was ihr nur Unbehagen bereitete, holte sie sich rasch vorsorglich eine der Krankenakten, in die sie sich auch sogleich vertiefte. Was Roberta immer auch bewegte, wie immer sie drauf war: Krankenakten waren in jeder Lebenslage ihre Rettung. Eines stand fest, in allererster Linie kamen ihre Patientinnen und Patienten, und dann kam lange nichts. Sie war nicht umsonst eine Ärztin aus Leidenschaft. Sie liebte ihren Beruf über alles, und sie würde sich immer für ihn entscheiden.

Luise Müller war eine Bluthochdruckpatientin, leider eine uneinsichtige. Sie vergaß zwischendurch ihre Medikamente einzunehmen, glaubte, sie nicht mehr einnehmen zu müssen, weil sie dem Irrtum verfallen war, mit ihr sei doch alles in Ordnung.

Dabei war sie eindeutig eine Risikopatientin mit ziemlichem Übergewicht, sie bewegte sich kaum, legte selbst kürzeste Strecken mit ihrem Auto zurück, und dann hatte sie auch noch besorgniserregende Blutfettwerte. Wenn es das nur wäre, ihr Allgemeinzustand verschlechterte sich ständig.

Da musste unbedingt etwas geschehen!

Jetzt war Roberta wirklich abgelenkt, und das war sehr gut so.

*

Hermine Steinhoff, Simones Vermieterin, hatte es sich mit einem Kaffee und einem leckeren Stückchen Torte in ihrem hübschen Wohnzimmer gemütlich gemacht, neben sich Bella, Simones Honigtöpfchen, die an einem Knochen herumknabberte.

So liebte Hermine es!

Sie war ja so froh, dieser reizenden Simone den Zuschlag für die Wohnung gegeben zu haben. Sie verstanden sich ausgezeichnet, doch das größte Glück war Bella, Simones wunderschöner Hund. Und Hermine war unendlich dankbar dafür, auf Bella aufpassen zu dürfen. Wie sehr hatte sich ihr Leben dadurch bereichert. Und nun hatten sie sogar ein ganzes Wochenende für sich. Hermine konnte überhaupt nicht sagen, wie sehr sie das genoss, und auch der hübschen Hundedame war anzusehen, dass es ihr sehr gut ging. Sie wurde aber auch nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, was für ein Glück, dass Simone ihr nicht misstraute.

Hermine schob sich genüsslich etwas von der köstlichen Champagnertorte in den Mund, die sie sich extra in Hohenborn geholt hatte. Wenn schon, denn schon.

»Bella, meine Schöne, und hernach machen wir einen langen Spaziergang um den See, damit ich all die Kalorien ein wenig abtrainieren kann, die ich jetzt in mich hineinstopfe.«

Sofort begann Bella voller Freude zu winseln, weil sie den See über alles liebte, wollte aufspringen. Doch Hermine hielt sie zurück.

»Später, Bella-Schatz, jetzt will ich meine Torte erst noch so richtig genießen. Außerdem muss es sich ja lohnen, nicht wahr.« Sie griff neben sich. »Komm, ich will ja nicht so sein, du bekommst auch noch ein Leckerli. Aber hörst du, nur eines. Fang also danach nicht an zu betteln. Du hast heute schon zu viele Belohnungen erhalten.«

Sie hielt dem Honigtöpfchen das Leckerli hin, Bella nahm es vorsichtig, und schon war es weg. Sie schaute Hermine an, doch die widerstand dem Blick aus den bettelnden Hundeaugen.

»Nein, darauf falle ich jetzt nicht wieder herein. Du kannst gucken, wie du willst.«

Sie trank einen Schluck ihres Kaffees, wollte zur Kuchengabel greifen, als es an der Haustür klingelte. Zunächst einmal sprang Bella auf, rannte zur Haustür, winselte.

Hermine war etwas irritiert, beinahe machte es den Eindruck, als freue Bella sich.

Ein wenig ächzend erhob sich Hermine, ging zur Haustür, öffnete sie, Bella schoss an ihr vorbei, freute sich. Und Hermine sah, weswegen das so war.

Simone Rettinger, ihre Mieterin, stand vor der Haustür, und Hermine erkundigte sich gedehnt: »Du?«

Die Frage war berechtigt, denn mit Simone hätte sie jetzt nicht gerechnet. Die sollte doch noch bei den Eltern ihres Freundes sein, denen er sie unbedingt vorstellen wollte.

Simone schluckte, sagte nichts, beugte sich zu der Hündin herunter, umarmte sie und sagte mit bebender Stimme: »Was für ein Glück, dass ich dich habe, mein Honigtöpfchen.« Dann begann sie zu weinen, und Hermine schaute verunsichert auf die junge Frau und den schwanzwedelnden Hund, der sich die Umarmung gern gefallen ließ.

Hermine war die Erste, die sich fasste.

»Simone, was ist passiert? Wieso bist du hier?«

Es dauerte eine Weile, ehe Simone sich erhob, sich die Tränen wegwischte und leise sagte: »Ach, Hermine, das ist eine lange Geschichte.«

Hermine nickte.

»Gut, ich will sie hören. Wir haben Zeit. Doch komm erst einmal in die Wohnung.«

Vergessen war der Spaziergang am See. Aber so war es nun mal, man machte seine Pläne, und dann kam wieder alles ganz anders.

Weil Simone zögerlich war, zog Hermine Steinhoff resolut ihre Mieterin in ihre Wohnung, Bella folgte ihnen.

Hermine bot Simone Kaffee und Torte an. Vorsorglich hatte sie etwas mehr gekauft, weil sie aus Erfahrung wusste, wie schrecklich es war, wenn man seine Bedürfnisse, in diesem Fall wohl eher seine Gelüste, nicht befriedigen konnte.

Simone schüttelte den Kopf, doch Hermine ließ sich nicht beirren, sie schenkte Kaffee in eine rasch herbeigeholte Tasse und legte ein Stück der köstlichen Champagnertorte auf einen Kuchenteller.

Und erstaunlicherweise begann Simone sofort zu essen, obwohl sie doch eigentlich nichts haben wollte.