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Die Welten des Mittelalters E-Book

Michael Borgolte

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Beschreibung

Die globalisierte Welt der Gegenwart mit ihren Orientierungskrisen erfordert eine Neubestimmung auch des Mittelalters jenseits eurozentrischer Blickverengungen. Michael Borgolte zeigt in seiner magistralen Darstellung, dass Europa zwar stets ein Teil der größten «Welt» von drei Kontinenten – Europa, Asien und Afrika – war, aber sich erst in einem langanhaltenden historischen Prozess aus seiner globalen Randposition befreien und zur eigenständigen Gestaltungsmacht werden konnte. Der bedeutende Mediävist legt damit nichts Geringeres vor als die erste Globalgeschichte der mittelalterlichen Welt. Anders als heute war die mittelalterliche Welt noch nicht global vernetzt. Sie war geprägt von zahlreichen Lebenswelten, die sich inselartig über den Globus verteilten, von Amerika bis China, im Nordmeer und Pazifik, unterschiedlich verdichtet in Europa und Afrika. Doch diese Inseln waren nicht alle isoliert. Es entstanden zahlreiche wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Verbindungen von einer Intensität und Weite, die der Antike noch unbekannt waren. Mit stupender Gelehrsamkeit entfaltet Michael Borgolte in seinem Buch ein Panorama dieser Welten des Mittelalters und verknüpft sie zu einer Globalgeschichte, wie sie – auch international – noch nie geschrieben worden ist.

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Michael Borgolte

DIE WELTEN DES MITTELALTERS

Globalgeschichte eines Jahrtausends

C.H.Beck

Zum Buch

Die globalisierte Welt der Gegenwart mit ihren Orientierungskrisen erfordert eine Neubestimmung auch des Mittelalters jenseits eurozentrischer Blickverengungen. Michael Borgolte zeigt in seiner magistralen Darstellung, dass Europa zwar stets ein Teil der größten «Welt» von drei Kontinenten – Europa, Asien und Afrika – war, aber sich erst in einem langanhaltenden historischen Prozess aus seiner globalen Randposition befreien und zur eigenständigen Gestaltungsmacht werden konnte. Der bedeutende Mediävist legt damit nichts Geringeres vor als die erste Globalgeschichte der mittelalterlichen Welt.

Über den Autor

Michael Borgolte ist Professor (em.) für mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und einer der renommiertesten Mediävisten Deutschlands. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören u.a. Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes (2006) sowie zuletzt Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte (2017).

Inhalt

I. EINLEITUNG DIE TRADITIONEN DER DREIGETEILTEN WELT UND DIE IMAGINATIONEN DER FREMDE

II. DIE WIRKLICHKEITEN DER FREMDE

1. Die beiden Amerikas

a) Der Norden

b) Mesoamerika

c) Der Süden

2. Die Welten des Pazifiks

3. Die Fremde der europäisch-afrikanisch-asiatischen Ökumene

III. EUFRASIEN: VERKNÜPFUNGEN IN DER TRIKONTINENTALEN MENSCHENWELT

1. Zwischen den losen Enden des Netzes: Schwarzafrika und arktische Küstenländer

2. Reiche als Kommunikationsräume

a) Afrika

Am Rand der antiken Ökumene

Politische Neuordnungen durch islamische Eroberung

‹Friedliche› Muslime als Paten binnenafrikanischer Reiche

b) Asien

Ein politischer Spannungsbogen zwischen Mittelmeer und Gelbem Meer im Altertum

Mittelalterliche Reiche als Kettenglieder der Kommunikation

Von der Mandschurei bis Arabien

Indien

Südostasien

China und seine ‹Fremdvölker›

‹Weltherrschaft› der Dschingisiden und ihr Erbe

Korea und Japan

Das Reich der Osmanen: Brücke nach Europa

Reiche in Asien: Verdichtung und Erweiterung des antiken Erbes

c) Europa

Das Erbe eines trikontinentalen Reiches

Das großfränkische und das römisch-deutsche Reich

Byzanz: Kaiserreich und Hegemon

Dynamiken an den Rändern

Spanien

Skandinavien

Keltische Reiche, Frankreich und England

Ostmitteleuropa

Rus’

Die Kreuzzüge: Multiethnische Unternehmungen und die Bildung neuer Staaten und Kolonien

d) Imperiale Bestrebungen im Mittelalter: Globalisierung als Gewaltgeschichte

3. Beziehungsnetze der Religionen

a) In den Grenzen von ‹Volk› und Land

Shintô: Eine mittelalterliche Hybrid-Religion Japans

Jainismus: Dispersion indischer Wandermönche und Laien im asiatischen Subkontinent

b) Im größten der Erdteile

Zoroastrismus: Eine persisch-indische Geschichte

Brahmanentum und hinduistische Religionen: Eine Diffusion indischer Errungenschaften nach Südostasien

Buddhismus: Von der Erleuchtung eines Einzelnen zur panasiatischen Religion

Indische Ursprünge

Verbreitung übers Meer

Auf Landwegen nach Norden und Osten

Konfuzianismus und Daoismus: Zwei Lehren Chinas und der bescheidene Radius ihrer Strahlkraft

c) In der trikontinentalen Welt

Judentum: Universelle Insularität einer ‹Nationalreligion›

Frühe Migrationen und die Wahrung des jüdischen Zusammenhangs

In Asien

In Afrika

Im Reich von Byzanz und in Italien

Im westlichen Europa

Drei Christenheiten und dezentrale Sonderkirchen

Die Alte Kirche und die Stiftung trikontinentaler Kohärenz

Die ostsyrisch-persische ‹Kirche des Ostens›

‹Nestorianer› und römische Katholiken in Ostasien

Die ‹Orthodoxen Kirchen der Drei Konzilien›

Von der römischen Reichskirche zur Kirche von Byzanz

Die eufrasische Gemeinschaft orthodoxer Kirchen in ihrem asiatischen und afrikanischen Spannungsfeld

Historische Sonderfälle: Georgier und Maroniten

Die byzantinische Orthodoxie in Relation zur lateinischen Kirche in Osteuropa

Griechisches Christentum in Italien

Zwischen Eurozentrismus und Universalität: Die römisch-katholische Kirche

Eine restringierte Universalreligion: Der Manichäismus

Islam: Religion des eufrasischen Mittelalters

d) Christen und Muslime des Mittelalters als religiöse Pioniere der Globalisierung

4. Der Fernhandel

a) Abreißende Bindungen am Beginn?

b) West-östlicher Handel über das Meer: Erneuerungen und Erweiterungen im frühen Mittelalter (7. bis 11. Jahrhundert)

Die Erschließung der nördlichen Meere

Das multipolare Mittelmeer

Die ‹nassen Seidenstraßen›

c) Unterbrechung der maritimen Transversale und Bildung interagierender Netzwerke (ca. 1100–1350)

Das Mittelmeer als Meer des Westens

Formierung und Beitritt Europas hinter den Bergen

Verkettung ökonomischer Kreise in Eufrasien

d) Zwischen regionaler Selbstbeschränkung und globaler Entgrenzung: Die eufrasische Welt im späten Mittelalter (ca. 1350–1500)

Der gefesselte Riese: Asiatischer Fernhandel unter chinesischer Dominanz

Retardierte und expansive Handelskreise zwischen Wolga und Nil

Westeuropäische Durchbrüche

e) Fernhandel auf tausend Wegen

IV. EUFRASIEN UND DIE ANDEREN WELTEN DES MITTELALTERS

Anhang

Anmerkungen

I. Einleitung – Die Traditionen der dreigeteilten Welt und die Imaginationen der Fremde

II. Die Wirklichkeiten der Fremde

III. Eufrasien: Verknüpfungen in der trikontinentalen Menschenwelt

IV. Eufrasien und die anderen Welten des Mittelalters

Abkürzungen und Siglen

Quellen und Literatur

Quellen

Literatur

Nachweise der Abbildungen und Karten

Abbildungen

Karten

Register

Personen

Orte

Sachen

Felix, qui gaudet rerum cognoscere causas. (nach Vergil, Georgica, II.490)

Dieses Buch widme ich meinen Schülerinnen und Schülern, die mit ihrer Kritik, Phantasie und Kultur meine Arbeit inspiriert und mein Leben bereichert haben.

I.

EINLEITUNG DIE TRADITIONEN DER DREIGETEILTEN WELT UND DIE IMAGINATIONEN DER FREMDE

Als ‹Mittelalter› gilt eine Periode der europäischen Vergangenheit, genauer gesagt bezeichnet der Begriff einen Ausschnitt aus der west- und mitteleuropäischen Geschichte in einem universalen Sinnzusammenhang.[1] Zuerst sprachen Humanisten des 14. und 15. Jahrhunderts von dem ‹Medium Aevum› (oder der ‹Media Aetas›), das sie gegenüber der als klassisch empfundenen lateinischen Antike geringschätzten und von dem sie sich selbst in ihrer Gegenwart distanzierten.[2] Eine solche Geschichtskonzeption schloss das Bestreben ein, an die alten Errungenschaften anzuknüpfen, um auf diese Weise eine neue Zeit heraufzuführen.[3] Die eigentliche ‹Erfindung des Mittelalters› war ein Projekt der Aufklärung um 1800; diese lehnte die herkömmliche Ordnung der geschichtlichen Zeit nach religiös begründeten Vorstellungen ab mit der Ausrichtung zugunsten einer Gliederung, die «sich erst aus der Geschichte selbst» ableiten sollte.[4] Andererseits erfand das späte 18. Jahrhundert auch die Gattung der ‹Historia universalis› (Weltgeschichte), die in der Tradition der christlichen Heilsgeschichte stand.[5] Sie ließ sich von der Vorstellung leiten, dass die Geschichte im Ganzen wenn nicht einen einzigen Ursprung, so doch ein bestimmtes Endziel hatte, das die Menschheit in weltbürgerlicher Einheit zusammenführe. Methodisch operierte sie mit dem Vergleich von Früherem mit Späterem, auch von verschiedenen gleichzeitigen Kulturen, um den Prozess des universalen Fortschritts zu erfassen.

Häufig, so auch in diesem Buch, wird in der Geschichtswissenschaft das Jahrtausend zwischen ca. 500 und 1500 als Mittelalter begriffen; die eine Zäsur bezieht sich auf Ereignisse wie die Christianisierung des römischen Kaiserreichs und die sogenannte germanische Völkerwanderung seit dem 4. Jahrhundert oder die letzte Einigung des antiken Imperiums unter Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert, die andere etwa auf die Reformation in Deutschland. Natürlich gab und gibt es zahlreiche Versuche, Beginn und Ende des Mittelalters früher oder später anzusetzen. Der Neuhistoriker Dietrich Gerhard sprach etwa von ‹Alteuropa› mit dem 11. und 18. Jahrhundert als Grenzen[6], der französische Mediävist Jacques Le Goff von einem ‹langen Mittelalter› zwischen dem 2./3. und dem 19. Jahrhundert.[7] Unlängst plädierte der deutsche Mediävist Bernhard Jussen leidenschaftlich gegen die Periodisierung Antike – Mittelalter – Neuzeit überhaupt, die wir der Aufklärung verdanken.[8]

Problematisch ist die Anwendung des Begriffs ‹Mittelalter› im europäischen Horizont, wenn ein es selbst bedingendes ‹Altertum› nicht vorausgesetzt werden kann, auf das sich spätere Generationen in wiederholten ‹Renaissancen› beziehen konnten. Das gilt etwa von den griechisch-orthodoxen Völkern. Skandinavien hatte ebenfalls keine Antike gekannt, sondern hier gingen dem ‹Mittelalter› ab ca. 1000/1050 die (römische) Eisen- und die Wikingerzeit voraus.[9] Andererseits wurde und wird die Epochenbezeichnung auch von den Expertinnen und Experten anderer Kulturen zur Kennzeichnung einer postklassischen Periode verwendet.[10] Insbesondere die Geschichte Indiens hat man nach dem Vorbild des lateinischen Europa gegliedert; hier soll das 5./6. Jahrhundert beziehungsweise das Ende des Gupta-Reiches (540) ein Altertum von einem frühen (bis 1206) und späten Mittelalter (bis 1526) getrennt haben.[11] Das ‹Ende des chinesischen Mittelalters› wird hingegen schon mit der Song-Dynastie (960–1279) datiert,[12] während für Japan ein klassisches Altertum des 6. bis 12. Jahrhunderts von einer Folgezeit der Dezentralisierung als Periode des Mittelalters bis ins späte 16. Jahrhundert abgesetzt wird.[13] Besonders empfindlich reagieren manche Islamwissenschaftler auf die Übertragung eurozentrischer Zeitkategorien wie ‹Mittelalter› und ‹Moderne› oder auch auf Essentialisierungen wie ‹Klassik› und ‹Renaissance›.[14] Trotzdem wurde unlängst konstatiert, dass ‹Mittelalter› als historische Epochenbezeichnung von der Forschung weitestgehend akzeptiert sei und selbst von arabischsprechenden Gelehrten benutzt werde (‹al qurūn al-wusṭā›, ‹die mittleren Jahrhunderte›).[15] Das Ende der so gefassten Periode falle etwa mit dem Beginn der Osmanenzeit zusammen und markiere insofern auch eine disziplinäre Grenze zwischen eher arabistisch und stärker turksprachig orientierten Erforschern der Geschichte des Islam. Trotz aller Unzulänglichkeiten biete die Verwendung des Begriffes zudem einen einheitlichen Bezugsrahmen für interkulturelle Studien.

Unabhängig von seiner jeweils variierenden chronologischen Begrenzung scheint sich der Mittelalter-Begriff also gerade wegen seiner vagen inhaltlichen Bestimmung weit über die Geschichte der lateinischen Welt hinaus bewährt zu haben. Setzt man ihn aber mit ‹Globalgeschichte› in Beziehung, verliert er noch den Rest seiner Bedeutung, nämlich die Zwischenzeit in einem Aufstieg der Menschheit zu ihrer weltgeschichtlichen Bestimmung zu markieren. ‹Globalgeschichte› soll nicht, wie die herkömmliche Universalgeschichte, die Geschichte der ‹ganzen Welt› darstellen und deren Entwicklungsstränge zielgerichtet bündeln. Sowohl der Anspruch auf universale Sinngebung der Geschichte als auch auf historische Vollständigkeit haben heute ihre Überzeugungskraft verloren. ‹Globalgeschichte› soll eine andere Perspektive zur Geltung bringen.[16] Sie ist von der aktuellen Erfahrung einer realen oder mindestens möglichen Vernetzung aller Menschen durch Medien der Kommunikation, Austausch von Waren und persönliche Begegnung gekennzeichnet, die zusammenfassend als ‹Globalisierung› bezeichnet wird.[17] Im Unterschied zu religiösen Endzeiten oder zur säkularen Moderne galt und gilt die Globalisierung gewiss nicht als historische Verheißung; die universalen Verknüpfungen durch allgemeine menschliche Mobilisierung und neue Kommunikationstechniken haben sich offenkundig ohne programmatische Zielsetzung einfach ereignet.

Für historische Studien über globale Verknüpfungen ergibt sich aus dieser Lage eine große konstruktive Freiheit. Da keine historischen Zäsuren bekannt sind, mit denen sich die Geschichte der Vernetzungen vor den Modernen im Hinblick auf die gesamte Ökumene gliedern ließen, ist es gerechtfertigt, die chronologischen Grenzen selbst zu setzen. Man kann also in diesem Sinne auch das ‹mittelalterliche Jahrtausend› als Bezugsrahmen wählen, ohne damit die historischen Urteile und Vorurteile über diese Periode zu transportieren oder gar als Maßstab an andere ‹Kulturen› anzulegen.

Ein umfassendes Netzwerk, wie wir es aus unserer Zeit zu kennen glauben, hat es allerdings in dem Jahrtausend zwischen 500 und 1500 nicht gegeben. Wenn trotzdem von einer Globalgeschichte dieser Zeit gesprochen werden soll, muss der Bezug auf die gegenwärtige Globalisierung doch erkennbar bleiben; sie sollte durch Kommunikationsgemeinschaften gekennzeichnet sein, die Räume erheblichen Umfangs gebildet haben.[18] Allerdings wäre es verkehrt, hier wie auch sonst die ältere Periode nur als Vorgeschichte unserer Zeit aufzufassen. Neben komplexen Vernetzungen müssen auch die freien Enden und Risse in den Netzen sowie die weiten Maschen schwacher Wechselwirkungen beachtet werden. Zu rechnen ist damit, dass sich der eine Globus in der Vormoderne in mehrere, auch unabhängige ‹Welten› aufgefächert hat.

Die globale Erweiterung ‹des Mittelalters› bringt es mit sich, dass das westliche Europa, insbesondere die lateinische Christenheit, keineswegs Ausgangspunkt und Zentrum dieser Studie sein kann. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Menschheit jener tausend Jahre überhaupt, und jeder Region, jedem Land und jeder ‹Kultur› gebührt prinzipiell gleicher Rang und gleiches Interesse. Nicht zufällig werden im Folgenden scheinbar immer wieder zuerst die Peripherien vor den vermeintlichen historischen Schwerpunkten in den Fokus gerückt. Der globalhistorische Ansatz lässt auch keine fortlaufende Erzählung von 500 bis 1500 zu, sondern zwingt zu einem ständigen Wechsel der historischen Subjekte. Nur ein narrativer Duktus kann indessen den Zusammenhang der Dinge, das eigentliche Thema aller Wissenschaft, vor Augen führen; deshalb wird das Konzept der ‹untersuchenden Darstellung› gewählt. Johann Gustav Droysen hat sie insbesondere von der ‹erzählenden Darstellung› unterschieden. Während diese das Gewordene als Geschichte des Werdens darstelle, brauche jene «die Form der Forschung, um das erforschte Ergebnis darzulegen». Sie sei eine «Mimesis [Nachahmung] des Suchens und Findens»; sie gehe Indizien und Spuren nach und finde «immer weitere Momente, bis endlich das Ganze zusammenhängend und vollständig» dastehe.[19] Deshalb werden in diesem Buch auch immer wieder Zwischenbilanzen gezogen, um die Isolation oder den Zusammenhang der mittelalterlichen Welten zu unterstreichen.

Die Bausteine des Ganzen haben andere geliefert, vor allem die Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihrer jeweiligen Spezialgebiete und Überlieferungen; auch wenn sie nicht unkritisch verwendet werden, kann eigene quellenkritische Arbeit nicht geleistet werden. Der Verzicht darauf ist schmerzhaft und nur durch den möglichen Gewinn umfassender Einsichten gerechtfertigt. Manche Leser und Leserinnen werden vielleicht auch eingehende Studien zu den kulturellen Verflechtungen und ‹Hybridbildungen› vermissen, die zum Themenbereich der Globalgeschichte gehören und zu dem der Autor selbst manche Beiträge geleistet hat.[20] Für diesen Ansatz fehlen indessen im globalen Maßstab die Voraussetzungen in der Forschung. Möglich und sinnvoll ist es indessen, die Kohärenz der identifizierten Welten zu untersuchen, also die Reichweite und Intensität derjenigen Kräfte zu ermessen, die sie konstituierten oder prägten. Selbstverständlich geht es dabei auch immer um die Frage, wie die Einen die Anderen ergänzt, beeinflusst und verändert haben.

*

Unter welchem Aspekt soll die mittelalterliche Globalgeschichte betrachtet werden? Gewiss wäre es verfehlt, sich ohne Weiteres für eine lateinchristliche Perspektive zu entscheiden und leichtfertig den berechtigten Vorwurf einer eurozentrischen Blickverengung zu riskieren. Andererseits wäre es auch naiv anzunehmen, dass es einen Standpunkt ohne nachhaltige Einwirkung der eigenen Herkunft und Lebenswelt gibt. Vielleicht bietet es sich an, einen Einstieg bei Zeugnissen der mittelalterlichen Selbstwahrnehmung zu suchen, sofern sie der Sache, um die es geht, gerecht zu werden versprechen. Das kann sicherlich von den kartographischen Traditionen der Zeit gesagt werden; hier ist allerdings die lateinische Überlieferung besonders ergiebig.

Über die Teile der Welt haben schon Griechen und Römer der Antike nachgedacht. Ihnen war keineswegs klar, wieviele Kontinente es gebe. Hekataios von Milet (um 510 v. u. Z.)[21] und Herodot (um 445 v. u. Z.) rangen um die Frage, ob von zweien oder von dreien die Rede sein sollte.[22] In augusteischer Zeit beschränkte sich der Geograph Strabon in seiner ‹Erdkunde› auf die mediterrane Perspektive und schrieb: «Schifft man durch die Meerenge bei den Säulen [des Herkules, also bei Gibraltar], so liegt zur Rechten [Afrika] bis zum Laufe des Nils, zur Linken aber als Gegenküste Europa bis zum Tanaïs [Don]. Beide endigen in Asien.»[23] Zuerst hat wohl Plinius der Ältere (gest. 79 u. Z.) unmissverständlich erklärt: Terrarum orbis universus in tres dividitur partes: Europam, Asiam, Africam («Der Erdkreis ist in drei Teile geschieden: Europa, Asien und Afrika»).[24] Durch den Kirchenvater Augustinus, seinen Zeitgenossen Orosius und den Bischof Isidor von Sevilla ist das Schema zum festen Wissensbestand der Christen geworden.[25]

Im lateinischen Mittelalter wurde die Welt seit dem 8. Jahrhundert durch Karten abgebildet und repräsentiert.[26] Um die eintausend ‹mappae mundi› konnten ermittelt werden, unter denen dreigeteilte Diagramme der Ökumene dominieren. Im orbis terrae tripartitus (dem «dreigeteilten Erdkreis») nimmt hier Asien im Osten die obere Hälfte eines Kreises ein, während Europa im Norden das linke untere und Afrika im Süden das rechte untere Viertel füllen.[27] Die Karten der bewohnten Welt als tripartite Menschenwelt wurden zuerst zur Illustration der vorchristlichen Autoren Sallust (86–34 v. u. Z.) und Lucan (39–65 u. Z.) verwendet. Sallust hatte vom Krieg zwischen den Brüdern Adherbal, einem Verbündeten Roms, und Jugurtha um die Kontrolle Numidiens (118–105 v. u. Z.) erzählt und ausführliche Beschreibungen Afrikas gegeben. Sein Werk sollte in karolingischer Zeit bekannt und seit dem 11. Jahrhundert populär werden.[28] Auch bei Lucan ging es um einen Krieg, den zwischen Caesar und Pompejus und insbesondere die Schlacht von Pharsalos (48 v. u. Z.). Der Dichter skizziert wiederum Afrika (das er wie andere Autoren auch als ‹Libyen› bezeichnet) und nennt als Grenzen dieses Kontinents sowie Europas und Asiens den Nil, den Don, den Ozean und die Stadt Cádiz. Die geographischen Namen finden sich auch in beigefügten Karten der mittelalterlichen Lucan-Handschriften wieder.[29]

Birmesische Karte der Welt mit Kombination altindischer kosmologischer und geographischer Vorstellungen

Nach indischer Tradition besteht die Welt aus einer Mehrzahl von Universen; den von Menschen besiedelten ‹Welten› kommt kein Vorrang zu.

Ein entscheidender Schritt zur Verchristlichung des Kartenbildes wurde offenbar um das Jahr 600 vollzogen, als die drei Kontinente mit den Namen der Söhne Noahs verbunden wurden. Nach biblischer Überlieferung hat Gott mit Noah einen Bund geschlossen, der dem Menschengeschlecht das Überleben der Sintflut ermöglichte (1. Mose 9). Von den drei Söhnen des Erzvaters sollen die (70 oder 72) Völker der Erde abstammen (1. Mose 10), von Sem diejenigen Asiens, von Japhet die in Europa und von Ham die afrikanischen. Durch die Namen der Söhne Noahs werden die drei Kontinente zugleich auf den gemeinsamen Urvater der Menschheit bezogen. Das Ganze der bewohnten Welt ist auch das Ganze der Menschheit und ihrer Geschichte.[30]

Die mittelalterlichen Noachiden-Karten stellen sich wie eine Kombination der Buchstaben T und O dar, indem sie Asien, Europa und Afrika durch die Flüsse Nil und Don sowie das Mittelmeer voneinander trennen und den umlaufenden Weltozean die drei Erdteile einschließen lassen. Mit ihrer heilsgeschichtlichen Botschaft transportieren sie einen epochalen Wandel des Geschichtsdenkens, nämlich die Erfindung der Geschichtstheologie durch Israel. Nach der Genesiserzählung bilden alle Völker der Welt eine genealogisch bestimmte Einheit und sind über Noah und seine Söhne gleichberechtigt in das Heilsversprechen Gottes einbezogen. Die T-O-Karten beruhen ihrer Anlage nach nicht auf der Unterscheidung von ‹Wir und die Anderen›, sie formulieren ihre Weltsicht also nicht aus der partikularen Perspektive eines bestimmen Volkes, Raumes oder Ortes, sondern wollen das Gesamte der Welt – ‹Wir alle› – gewissermaßen aus dem Blickwinkel Gottes selbst erfassen. Schon vor einiger Zeit hat einer der großen Mediävisten des 20. Jahrhunderts die ‹Völkertafel› der Genesis in diesem Sinne hellsichtig gewürdigt: «Was Moses, der Jahwist oder wer immer sonst (…) hier aussagen, ist grundstürzend neu. In keinem Kulturkreis der Erde war bis dahin die Einheit des Menschengeschlechts und die einheitliche Lenkung der Geschichte durch einen Gott verkündet worden».[31] Dem ist hinzuzufügen, dass die Noachiden-Karten eben dieses Bild der Weltgeschichte im Diagramm fixieren und damit, wie ihre große Verbreitung zeigt, eine nachhaltige Wirkung erzielten.

Im engeren Sinne ist der Kartentyp mit seinem Bezug auf die Geschichte Noahs und seiner Söhne biblisch, nicht exklusiv christlich geprägt; schon in den ältesten Exemplaren fanden dem ‹Alten Testament› gemäß auch das Paradies im Osten und die Völker Gog und Magog ihren Platz, die die Heilige Schrift als Feinde des Gottesvolkes Israel sowie als hereinbrechende Heidenvölker der Endzeit kennt. Ob aber der die Erdteile trennende Doppelstrich, das T in Entsprechung zum griechischen tau, unter Bezug auf den spätantiken Gelehrten Isidor als ein Abbild des Kreuzes Christi verstanden werden sollte, wird sich kaum beweisen lassen. Im 8. Jahrhundert drangen allerdings die Wirkungsstätten Jesu Christi in die Karten vor. In einer Handschrift aus dem Vatikan wurden um 762 erstmals Orte des Heiligen Landes und darunter besonders Bethlehem, Jericho und Jerusalem kartographiert. Tradition hat der Mönch Beatus von Liébana (gest. um 798) durch seinen Kommentar der Apokalypse gestiftet. Beatus lebte zwar im christlichen Königreich Asturien, aber Spanien war zu seiner Zeit weitgehend von den expansiven Heeren des Islams eingenommen. In seinen Text schloss wohl er selbst eine ‹pictura› (ein ‹Bild›) ein, die die Verbreitung des christlichen Glaubens durch die Apostel demonstrieren sollte. Zum Beispiel sind in der Osma-Karte von etwa 1100, die aber vermutlich auf die ursprüngliche Fassung des Beatus zurückgeht, alle zwölf Apostel an den Stätten ihrer Glaubensverkündigung ‹porträtiert› worden.[32]

Offenbar wurde das Motiv der Apostelmission in den frühmittelalterlichen Karten des Beatus-Typs während der Epoche der Kreuzzüge wiederbelebt. Gleichzeitig rückte Jerusalem ins Zentrum der Karten. Ein Wort des Propheten Ezechiel (Hes 16,4) hatte bereits der Kirchenvater Hieronymus mit den Thesen kommentiert, Jerusalem sei der Nabel der Erde inmitten der Welt und der Völker, so dass alle Nationen im Umkreis seinem Vorbild folgten. Eine Handschrift aus Oxford, wohl vom Jahr 1110, bringt dies beispielhaft kartographisch zum Ausdruck: Im Querbalken des T, wo sonst Don und Nil genannt werden, ist hier HIERUSALEM eingeschrieben; zwei Kreuze markieren die crux Christi (das «Kreuz Christi») und – in der exakten Mitte des Weltrunds – den Mons Syon (den «Berg Zion»). Im Osten, dem Ort des Paradieses, erinnert der Schreiber an die Völker der Genesis, von denen er – nach Augustinus – Sem in Asien 27 und Ham in Afrika 30 zuteilt.[33] Immer mehr Kartenzeichner setzten seit dieser Zeit die Heilige Stadt in die Mitte der Welt.

Neben den T-O-Karten, die eine einzige Menschenwelt in drei Kontinenten darbieten, gab es im lateinischen Christentum des Mittelalters einen zweiten Typ von Weltkarten, der wiederum auf antike Lehren zurückgeht. Diese Karten unterscheiden mehrere Ökumenen, die aber untereinander nicht kommunizieren können, und teilweise auch bewohnte und unbewohnbare Erdteile. Der Stoiker Krates von Mallos, der sich um 168 v. u. Z. in Rom aufhielt, konstruierte einen Globus mit vier menschlichen Lebenswelten, die durch zwei sich im rechten Winkel schneidende Weltozeane voneinander getrennt sind. Die ‹Ökumene› ist dabei ‹unsere› eufrasische (europäisch-afrikanisch-asiatische) Welt im Norden, der im Süden die ‹Antökumene› und auf der Rückseite der Erdkugel (oder im Westen) die ‹Periökumene› und analog zur Antökumene der ‹Antichthonenkontinent› gegenüberstehen.[34] Dieses Konzept führte nach der Zeitenwende der Philosoph Macrobius weiter, als er im frühen 5. Jahrhundert Ciceros ‹Traum Scipios› (‹De re publica›, VI, 9–29) kommentierte. Macrobius konzentrierte sich auf eine Hemisphäre, die von einem Ozean durchschnitten war. Er unterschied (wie Krates) fünf Klimazonen. Zwei äußerste Streifen im Norden und im Süden galten ihm als kalt und unbewohnbar, während die mittig angeordnete Äquatorzone angeblich so heiß war, dass niemand sie passieren konnte. Nur die beiden Zwischenzonen seien bewohnbar und bewohnt; der trikontinentalen Ökumene im Norden entsprach im Süden der Lebensraum der ‹Antipoden› (‹Gegenfüßler›). Über 150 solcher Mappae Mundi sind in Macrobiusmanuskripten vom 9. bis 15. Jahrhundert sowie in Werken anderer Autoren gefunden worden.[35]

‹Mappa mundi› aus einer Sallust-Handschrift

Der im westlichen Christentum weitverbreitete Kartentyp gibt die Erde als Ökumene der drei Kontinente Asien, Afrika und Europa wieder; diese Wahrnehmung der Menschenwelt geht sowohl auf biblische Tradition (Genesis) als auch auf antike Lehren (Plinius d. Ä.; Augustinus) zurück.

Dass es bewohnte Teile der Erde geben sollte, die aber den Angehörigen der Ökumene unzugänglich waren, regte die Phantasie der Gelehrten an. In die eigentlich das Ganze der Welt und der Menschen repräsentierenden T-O-Karten drang die Vorstellung ein und schlug sich als vierter Kontinent nieder. Dieser erscheint etwa in Beatus-Handschriften und ist mit Antipoden oder Monstren bewohnt. In der Osmakarte wurde ein ‹Skiapode› (‹Schattenfüßler›) eingezeichnet, der sich mit einem riesigen Fuß vor den Sonnenstrahlen schützt. Berühmte Weltkarten des 13./14. Jahrhunderts rücken eine ganze Galerie von Monstren, also menschlicher Missgestalten oder halbmenschlichen, halbtierischen Phantasiewesen, an den Rand der bewohnten Welt. Möglicherweise sollten sie auf den Karten von London, Hereford und Ebstorf noch zur Ökumene gerechnet werden und der ‹terra incognita› (der ‹unbekannten Welt›) gegenüberstehen.[36]

Das lateinische Mittelalter kannte also neben den Abbildern der Welt mit drei Kontinenten, die im Sinne der Heilsgeschichte ganzheitlich-geschlossen war, kartographische Traditionen mit unbewohnten/unbewohnbaren und zugleich unerreichbaren Erdteilen, die teilweise besonderes Interesse erregten. Der Islam hat dagegen eine ganz andere Überlieferung hervorgebracht.[37] Bedingt durch die Expansion der Araber nach Norden und Osten kamen die Muslime früh mit persischer, indischer, chinesischer, syrischer und griechischer Wissenschaft in Berührung. Kalif al-Mamun (reg. 813–833) sorgte in Bagdad dafür, dass insbesondere die Schriften des Gelehrten Ptolemäus von Alexandria (gest. nach 160 u. Z.) über Astronomie, Geographie und Astrologie rezipiert wurden, die die Lateiner im Westen kaum kannten.[38] Hellenisierte muslimische Wissenschaftler und Philosophen übernahmen von Ptolemäus die Auffassung eines geozentrischen Universums mit einer meist auf neun begrenzten Anzahl von himmlischen Sphären und einer selbst kugelförmigen, aber nur teilweise bewohnbaren Erde. Nach dem Vorbild des Alexandriners wurde der bekannte beziehungsweise besiedelte Teil der Welt in sieben Klimazonen eingeteilt (wie man diese im Westen durch die Macrobius-Tradition kennt). Die vierte Zone wird oft hervorgehoben, weil sich dort Arabien, das Zentrum der muslimischen Welt, befand.[39] Ein anderes, weniger erfolgreiches Weltmodell übernahmen die Muslime von den Persern. Hier stand Iran im Mittelpunkt einer Reihe von sieben Kreisen, die Arabien und seine Nachbarn, aber auch China, Indien sowie die Länder der Türken und der Slawen bezeichnen. Auch die Gog und Magog, die im Koran erwähnt sind (Sure 18, 94–97), wurden repräsentiert.[40] Angeblich habe Alexander der Große diese unheilstiftenden Völker durch ein Bollwerk aus Eisen bis zum Ende der Zeiten abgeblockt.

Zonenkarte des Macrobius, Kommentar zu Ciceros ‹Somnium Scipionis›

Ein zweiter Typ lateinchristlicher Weltkarten des Mittelalters geht auf die Lehre des Macrobius, eines Philosophen des frühen 5. Jahrhunderts u. Z., zurück. Danach gibt es fünf Klimazonen, von denen aber nur die jeweils mittleren im Norden und Süden bewohnbar (und bewohnt) sind; die sie trennenden heißen Äquatorzonen können die Menschen niemals überwinden.

Arabische Klimaten-Karte

Die islamische Weltvorstellung war durch die Rezeption antiker Wissenschaft geprägt. Gemäß der Lehre des Ptolemäus von Alexandria (gest. nach 160 u. Z.) werden auf der gesüdeten Klimatenkarte zwei unbekannte von sieben bewohnten Zonen unterschieden. Die mittlere vierte von diesen zeigt oft Arabien als Zentrum der muslimischen Welt.

Während sich die Muslime durch die Schriften des Ptolemäus mathematisch belehren ließen, ging es ihnen, im Unterschied zu den okzidentalen Christen[41], kaum um religiös geprägte Kartenbilder der Welt; sie kannten aber, wie diese, unbewohnten Zonen. Für fromme Zwecke fertigten sie regionale Karten und Diagramme an, die sie für ihre Pilgerfahrten oder Gebete nach Mekka orientieren sollten. Eine besondere Tradition bildete der Iraner al-Balkhi (gest. 934) aus, der vor allem in Bagdad beziehungsweise im Irak forschte und lehrte.[42] In seinem geographischen Werk bemühte er sich nach einem fast zeitgenössischen Zeugen «vor allem um die Repräsentation der Welt durch Karten».[43] Zwar ist davon nichts erhalten geblieben, dafür sind aber die Arbeiten seiner Schüler und Enkelschüler seit dem späten 11. Jahrhundert überkommen. Es handelt sich um einen Satz von über zwanzig Bildern, die unter anderem dazu dienten, die Pilgerwege und Poststationen für die Verwaltung zu veranschaulichen. Die Zeichnungen sind je auf bestimmte Regionen beschränkt, die zusammengenommen das ‹islamische Reich› in seiner Ausdehnung während des 10. Jahrhunderts erfassen. Anderes, wie Andalusien, das kein Teil des abbasidischen Kalifats war, blieb unberücksichtigt. Man hat vom ‹Islam-Atlas› der Balkhi-Schule gesprochen, da der von Ptolemäus herrührende Anspruch aufgegeben war, die ganze bekannte Welt aufzuzeichnen; doch wird damit eher eine politische als eine religiöse Dimension akzentuiert. Zu den Kartenwerken der Schule fügte sich am Rande stets aber doch eine Weltkarte. In der Regel bildet der Ozean einen Kreis um die bewohnte Welt; als Meeresbuchten schieben sich von Osten der Indische Ozean und von Westen das Mittelmeer in die Ökumene vor.[44] Auch wenn hier die mathematische Lehre des Ptolemäus nicht angewandt wurde,[45] repräsentiert diese Karte bei allem Schematismus die trikontinentale Ökumene in der Wahrnehmung der geographischen ‹Realität›.

Diagramme der sieben Kishvars nach al-Biruni (gest. 1048 u. Z.)

Das persische Modell der Welt, das in Teilen der muslimischen Welt aufgegriffen wurde, rückt Iran ins Zentrum und ordnet diesem andere Regionen beziehungsweise Völker kreisförmig zu.

Wer also im globalhistorischen Interesse am mittelalterlichen Jahrtausend durch die kartographische Überlieferung besonders auf die Geschichte einer dreigeteilten Welt gelenkt wird, folgt keiner ausschließlich eurozentrischen Auffassung, sondern steht sowohl in lateinisch-christlicher als auch in muslimischer Tradition. Lateinische Christen hatten mit den Muslimen auch die ergänzende Annahme von Bereichen der Erde gemein, die unbekannt oder von Menschen unbewohnt waren, die Imagination beschäftigten und in den jeweiligen Weltbildern nicht verloren gehen sollten. Hier könnte also der Gesichtspunkt für die erforschende Darstellung der mittelalterlichen Globalgeschichte liegen.

Die Idee wird von anderen wissenschaftlichen Einsichten gestützt. In einem zu Recht viel beachteten Buch hat der Oxforder Archäologe Barry Cunliffe kürzlich die Geschichte Europas und Asiens als die Geschichte eines zehntausend Jahre alten Kontinents erzählt, dessen Achse der Steppenkorridor von der Großen Ungarischen Tiefebene bis zur Mandschurei bildete.[46] Der Kontinent ‹Eurasien› sei entstanden, als die ursprünglich gemeinsame Landmasse der Erde (Pangäa) in zwei Teile zerfiel (vor ca. 200–150 Millionen Jahren) und sich die östliche von beiden, Laurasia, in die Afrikanische, Arabische, Indisch-Australische und eben Eurasische Platte aufspaltete. Allerdings bewegten sich diese vier Platten danach wieder auf sich zu und schoben durch ihren Zusammenprall Gebirgszüge in die Höhe, die sich einem ostwestlichen Verkehr in den Weg stellten.[47] Unbestreitbar ist indessen, dass Eurasien und Afrika geographisch zusammengehören, so dass die mittelalterlichen Kartenzeichner mit ihren verschiedenen Darstellungen der trikontinentalen Ökumene als Einheit das Richtige getroffen haben. Selbst das alte System der sogenannten ‹Seidenstraße› verbindet nicht nur Asien mit Europa; die Landwege liefen nämlich keineswegs von China nur bis Persepolis oder Bagdad, sondern auch auf Hafenstädte wie Barbarikon und Tyrus zu, die am Arabischen und Mittelmeer Brückenköpfe nach Afrika bildeten.[48]

Auch die älteste Geschichte der Menschheit selbst bietet der mittelalterlichen Wahrnehmung und Darstellung einer dreigeteilten Welt und der darüber hinausgehenden Verbreitung menschlicher Siedlungen ein Fundament in der Sache. Nach dem überwältigenden Konsens der gegenwärtigen Forschung gilt als sicher, dass der ‹moderne Mensch›, der ‹homo sapiens sapiens›, ebenso wie seine hominiden Vorgänger, aus Afrika stammte und von hier aus auf verschiedenen Zweigen nach Europa und Asien migrierte.[49] Diese fundamentalen Wanderungen ereigneten sich in den letzten hunderttausend Jahren; bei ihnen wurden vor etwa der Hälfte dieser Zeit auf dem eiszeitlichen Kontinent Sahul auch Australien und Neuguinea erreicht.[50] Abgesehen vom hohen Alter dieser Besiedlung ist das deshalb wichtig, weil Sahul von seinem Nachbarkontinent Sunda mit Südostasien und Indonesien durch die Wasserstraße Wallacea getrennt war. Hatte der homo sapiens die Erde bisher trockenen Fußes erkunden können, so musste er hier mit Booten übersetzen. Als das Ende der Eiszeit um 13.000 v. u. Z. den Meeresspiegel steigen ließ, wurde Australien auch von Neuguinea sowie von Tasmanien im Süden getrennt. Seine archaische Bevölkerung (Aborigines) blieb seither bis in die Zeit der europäischen Entdeckungen isoliert, der Kontinent selbst unbekannt (dieses gilt selbstverständlich auch von Antarktika).[51] Die Besiedlung der pazifischen Inselwelt schritt indessen seit etwa 3500 v. u. Z. von Taiwan aus voran und dauerte während des mittelalterlichen Jahrtausends noch an.[52] Ähnlich wie mit Ozeanien verhält es sich mit den beiden Amerikas. Auch hier besteht Übereinkunft, dass die ersten Menschen von Asien herkamen, allerdings viel später als in Australien. Die wissenschaftlichen Datierungen schwanken; älteste Spuren stammen vielleicht aus etwa 10.500 v. u. Z.[53] Die ersten Kolonisten sind entweder über die Beringstraße zwischen Sibirien und Alaska vor Ende der Eiszeit hinübergewandert oder haben von hier aus die Pazifikküste des Nordens mit Booten angesteuert.[54]

Über all diese Wanderungen wussten die Christen und Muslime des Mittelalters nichts; von den Migranten Ozeaniens und Amerikas scheint keiner zurückgekehrt zu sein, um auf dem asiatischen Festland von ihren kühnen Fahrten über das weite Meer oder ihren Expeditionen im riesigen Amerika zu berichten. Oder sollte sich ihre Erfahrung auf verschütteten Wegen in den Imaginationen eines vierten Kontinents oder eines unzugänglichen, aber bewohnbaren Landes niedergeschlagen haben?

Bevor tatsächlich die Globalgeschichte des Mittelalters aus der Perspektive des christlich-muslimischen Westens untersucht und dargestellt wird, bedarf es indessen eines kritischen Vergleichs mit der Kartographie der asiatischen Gelehrten jener Zeit. Dabei ist vorab zu beachten, dass Asien der Begriff des Kontinents im westlichen Sinne fremd war; ‹Asien› selbst war eine europäische Erfindung.[55]

Welches Angebot macht also seine Überlieferung? Aus dem alten Indien fehlen alte Karten fast völlig; das erste Zeugnis, eine Halbplastik des mythischen Kontinents Nandīśvaradvīpa, datiert erst von 1199/1200 u. Z.[56] Ersatzweise kann man aber eine kosmologische Handschrift aus Birma heranziehen, die in der British Library in London aufbewahrt wird. Sie stammt zwar erst aus dem späten 19. Jahrhundert, gilt aber als Repräsentation uralter indischer Weltauffassungen. Eine Papierseite aus der Rinde des Maulbeerbaums zeigt auf großem Format eine schematische Darstellung der Welt, die auf die verschiedenen Religionen Indiens zurückgeht (Hinduismus, Jainismus, Buddhismus).[57] Seit dem frühen Mittelalter war der Buddhismus nach Birma vorgedrungen, hatte offenbar aber auch die Verbreitung anderer religiöser Lehren aus seinem Mutterland (Vishnuismus, Shivaismus) begünstigt.[58]

Weltkarte in der Tradition der Balkhi-Schule von 1272

Nach der Lehre des Persers al-Balkhi (gest. 934) suchten islamische Gelehrte die Welt durch Karten zu repräsentieren. Die bewohnte Erdhalbkugel ist vom Ozean umgeben; auf der Karte nimmt Europa (rechts unten) nur ein kleines Dreieck ein und ist durch das Schwarze Meer von Asien getrennt. Im Mittelmeer sind die drei Inseln Zypern, Kreta und Sizilien stark hervorgehoben, während der gerade, nach Süden (hier oben) weisende Kanal den Nil darstellt, der Afrika teilt. Von Osten (hier von links) her schiebt sich der Indische Ozean ins Bild mit drei Inseln im Persischen Golf.

In einem Kreis von mehr als 41 Zentimetern Durchmesser befinden sich ihrerseits mehrere konzentrische Kreise, die einen gelben (goldenen) Kern umschließen. Dieser steht für den Berg Sumeru, der die Achse der Erde und des Universums bildet. Die Zirkel, die ihn umgeben, stellen, durch rote, orangefarbene, dunkel- und hellgrüne Farbgebung unterschieden, einen Wechsel von Bergen und Ozeanen dar. Zwischen dem äußersten und dem ihm nächstliegenden Kreis ist das Gewässer stark verbreitert, so dass im Zwischenraum zahlreiche andere graphische Elemente verschiedener Formen, Farben und Motive Platz finden konnten. Am auffälligsten sind vier Inseln (oder Kontinente: ‹dvīpas›)[59] mit jeweils einem Baum und Inschriften. Nur eine von ihnen zeigt in einem keilförmigen Rahmen auch eine menschliche Gestalt, nämlich einen sitzenden Buddha in goldenem Gewand. Der ihm schattenspendende Baum heißt ‹jambū›; nach ihm wird die Insel oder der Kontinent ‹Jambudīpa› (Pali; Sanskrit: ‹Jambūdvīpa›), ‹Rosen-Apfel-Insel›, genannt. Der Kontinent kann für Indien stehen oder auch, wie hier, für Menschen unserer Art, denen eine entsprechende Gesichtsform zugeschrieben wird.

Während dem Londoner Bild eine eindeutige Orientierung fehlt, wird ‹Jambudīpa› in anderen Überlieferungen dieses Kartentyps im Süden angeordnet. Die drei anderen Inseln weisen nach den übrigen Himmelsrichtungen. Dem Buddha gegenüber liegt (im Norden) der Kreis des Kontinents ‹Uttarakuru›, zwischen beiden der halbkreisförmige ‹Pubbavideha› (im Osten) und der rechteckige ‹Aparagoyana› (im Westen). Obwohl diesen dreien keine menschliche Figur beigegeben ist, gelten sie als Länder mit menschlichen Wesen, deren Gesichter der Gestalt ihrer Kontinente entsprechen (also viereckig, rund, halbrund). Alle vier Inseln umgeben mehrere kleinere Inseln, die jeweils entsprechend geformt sind. Zwei besondere, orange und gelb kolorierte Kreise (linke Bildseite) dürften Sonne und Mond repräsentieren. Der äußerste Kreis wird ‹Cakkavāla/Cakravāla› genannt und stellt einen eisernen Ring dar, der das Universum zusammenhalten sollte.

Die Karte aus Birma-Myanmar kombiniert zwei kosmologische Lehren aus Indien, die auch separat dargestellt werden.[60] Die eine, die man der brahmanisch-hinduistischen Tradition zurechnet, zeigt die Weltachse (Berg Meru) mit den vier symmetrisch verteilten Kontinenten in der Form einer Lotosblüte sowie mit dem äußersten Ring ‹Cakkavāla›. Die andere gilt ebenfalls als hinduistisch, wurde aber offenbar besonders von Jainas verbreitet und variiert. Sie besteht aus dem ‹Jambūdvīpa› in der Mitte und sieben konzentrisch angebrachten Kontinenten, die je von einem Ozean eingeschlossen sind. Zu den indischen Lehren über die Welt, denen durch schematische Karten dieser Art Ausdruck gegeben werden sollte, gehörten Einsichten wie die in eine Vielzahl von Universen, die je um eine eigene Achse angeordnet und von einer großen Fülle verschiedener Lebewesen, Geistern, Bodhisattvas (tugendhafte Wesen), Tieren und Pflanzen bewohnt seien. Nirgends aber war in ihnen, was bemerkenswert ist, der Bereich der Menschen besonders hervorgehoben.[61] Dies entspricht allgemeinen anthropologischen Einsichten über Indien, wie sie vor 30 Jahren etwas essentialistisch formuliert wurden: «Tatsächlich gehört der Mensch zu den am stärksten in die Augen fallenden Zentralthemen des westlichen Denkens, und dieser Schwerpunkt scheint im indischen, speziell hinduistischen Denken bemerkenswerterweise zu fehlen. In Indien gibt es keine Tradition eines expliziten, ihn thematisierenden Nachdenkens über den Menschen als Menschen, keine Tradition von Versuchen, sein Wesen zu definieren und ihn von anderen Lebensformen abzuheben. Indien kennt nichts, was der westlichen Faszination vom Menschen als ‹rationales Tier›, als animal rationale bzw. Homo sapiens, vergleichbar wäre. Es kennt auch keine Betonung der Einheit der Spezies Mensch, keinen Begriff von einer einzigartigen Würde des Menschen, keine Proklamation von Menschenrechten, keinen menschlichen Herrschaftsanspruch über die Natur. Indien kennt ganz allgemein nichts, was der westlichen Tradition vergleichbar wäre, die ihre Wurzeln in altgriechischen und biblischen Quellen hat und über Renaissance und Aufklärung zum wachsenden Anthropozentrismus des modernen westlichen Denkens hinführt. In keiner religiösen Tradition Indiens findet sich die Vermutung, der Mensch allein besitze eine unsterbliche Seele oder eine unwandelbare persönliche oder spirituelle Identität.»[62]

Mit dem Buddhismus gelangten die indischen Lehren und Muster über China nach Korea und Japan.[63] In Japan hatte die einheimische Religion keine geographischen Karten hervorgebracht, sondern sich ganz auf die Vorstellung einer vertikalen Achse von Himmel, Erde und Unterwelt konzentriert. Mit dem Buddhismus drang die Lehre vom Berg ‹Sumeru› (japanisch: ‹Sumi› oder ‹Shumi›) auf einer scheibenförmigen Erde und mit sieben Wasser- und Bergkreisen ein. Die älteste überlieferte japanische Weltkarte steht für einen besonderen Typ und wird ‹Karte der Fünf Indiens› (‹Gotenjiku zu›) genannt.[64] Der Priester Jūkai hat sie 1364 u. Z. geschaffen; sie zeigt den ‹Rosen-Apfel-Kontinent› in der Gestalt eines auf den Kopf gestellten Eies, die moderne Betrachter an die geographische Form Indiens erinnert. Die Karte ist reich beschriftet und macht Berge, Flüsse, Städte und Länder kenntlich. Viele Ortsnamen verweisen auf den Bericht des chinesischen Mönchs Xuanzang, der Indien zwischen 629 und 645 bereiste. In Erinnerung an den frommen Pilger diente die Karte zur religiösen Erbauung und wird deshalb in Kopien in alten japanischen Tempeln bis heute aufbewahrt. Nach Auffassung der Forschung sollte die ‹Gotenjiku›-Karte zugleich das Ganze der von Menschen bewohnten Welt darstellen; allerdings war Japan am rechten (nordöstlichen) Rand außerhalb der Umfassungslinien appliziert.

Im Allgemeinen wird angenommen, dass die ‹Gotenjiku›-Karte chinesische Vorbilder hatte, auch wenn diese Herkunft durch kein Zeugnis belegt werden kann; gegen die herrschende Lehre spricht auch, dass China auf der Karte am östlichen Ende sehr bescheiden vermerkt ist (von gleicher Dimension wie Nepal und Tibet). Vielleicht hat deshalb ein Professor der Columbia University in New York Recht, der eine koreanische Erfindung geltend macht. Der erste schriftliche Hinweis (von 1154) auf diesen Kartentyp scheint jedenfalls aus Korea zu stammen.[65] Korea zeichnet sich im Übrigen durch eine reiche, anderthalb Jahrtausende währende Produktion von geographischen Karten aus, die das meerbetonte Land mit seinen Küstenlinien, Flüssen und Bergen ‹natürlich› erfassen sollte. Das Interesse dieser Kartographen beschränkte sich nicht einmal auf die eigene Heimat, sondern schloss die Nachbarländer und sogar die weiter entfernte Welt ein.[66] Als 1392 die Koryŏ-Dynastie durch den Militär Yi Sănggye abgelöst wurde, setzte sofort eine neo-konfuzianische Reform ein. In diesen Kontext gehört eine Weltkarte von 1402, die älteste ihrer Art in ganz Ostasien.[67] Die ‹Karte der eingeschlossenen Länder und Regionen historischer Reiche und Hauptstädte› (‹Honil kangni yŏktae kukto chi to›), von der es noch drei Kopien in Japan gibt, beruhte auf chinesischen (Regional-)Karten und zeigt klare Grenzlinien Afrikas und der Arabischen Halbinsel sowie Europa immerhin in Umrissen. Die um die einhundert Namen, die diesem eingeschrieben sind, harren noch der wissenschaftlichen Untersuchung.

Aus China selbst sind aus der Zeit vor dem 17. Jahrhundert keine Weltkarten oder kosmologischen Diagramme überliefert; vermutlich hat es diese auch gar nicht gegeben. Chinas Selbstauffassung ‹aller, die unter dem Himmel› (‹tianxia›) leben, dürfte ebenso wie die weitgehende geographische Isolation der chinesischen Kultur dazu beigetragen haben, dass sich die Kosmographen des Landes kaum für eine Darstellung der ‹ganzen› (oder: anderen) Welt interessierten.[68]

Wie die Kartenüberlieferung aus Asien zeigt, kannte das Mittelalter auch hier eine Pluralität von Kontinenten, die von Menschen bewohnt waren und neben unerschlossenen ‹Inseln› standen. Die Prominenz anderer Geschöpfe als Bewohner der Erde unterscheidet die asiatische Überlieferung hingegen signifikant von der westlichen der Christen und Muslime. Eine Globalgeschichte auf dieser Grundlage könnte sich kaum auf die Menschenwelt beschränken, sondern müsste eine Geschichte der Geschöpfe der Welt sein.

In der folgenden untersuchenden Darstellung rückt also die Menschenwelt der drei Kontinente in den Vordergrund; sie bildete schon in der mediterranen Antike eine gedachte Einheit und kann als ‹trikontinentale Ökumene› oder ‹Eufrasien› bezeichnet werden.[69] Gleiche Aufmerksamkeit gilt den menschlichen Welten in den anderen bewohnten Zonen der Erde, den ‹realen› Entsprechungen der von den Kartographen imaginierten Fremde.

II.

DIE WIRKLICHKEITEN DER FREMDE

1.

Die beiden Amerikas

Amerika war während des sogenannten Mittelalters eine Welt für sich.[1] Geologisch gesehen handelt es sich bei Nord- und Südamerika um zwei Kontinente, die erst die Bildung des Isthmus von Panama vor rund 3 Millionen Jahren geographisch vereinigt hat.[2] Allerdings ist der Doppelkontinent geographisch nach außen nicht so klar abgrenzbar, wie seine Trennung von Asien durch den Pazifik und von Europa und Afrika durch den Atlantik suggeriert; im Norden scheiden ihn nämlich nur schmale Wasserbecken von seinen Nachbarn. Die Beringstraße zum asiatischen Westen ist etwa 82 Kilometer breit; dies entspricht nur der Länge des modernen Panamakanals. Im Pleistozän, zwischen 13.000 und 10.000 v. u. Z. oder früher, konnte die Beringstraße sogar zu Fuß überquert werden. Ebenfalls im amerikanischen Norden sind der arktischen Festlandsküste viele Inseln vorgelagert; über sie konnte man nach Grönland gelangen, allerdings nirgends ohne eine Überquerung von Meeresarmen.[3] Während des Mittelalters geriet Grönland erstmals in die Reichweite europäischer Siedler, aber die ‹Dänemarkstraße› nach Island bemaß sich doch auf fast 300 Kilometer. Dagegen betrug der Abstand zwischen dem amerikanischen Ellesmere Island und Grönland nur rund 30 Kilometer.[4] Geographisch und geologisch gesehen gehört die ‹grüne Insel› eindeutig zu Amerika statt zu Europa. Im Süden werden die Großen und Kleinen Antillen zu Amerika gerechnet; Kuba ist jedoch von Florida einerseits und der mittelamerikanischen Halbinsel Yucatán andererseits durch Wasserstraßen von 100 bis 200 Kilometern Breite getrennt.

Die ersten Siedler von Asien her drangen zunächst von Norden nach Süden, später in der Arktis auch von Westen nach Osten vor. Umstritten sind neben dem absoluten Beginn auch die Dauer beziehungsweise der Rhythmus der Immigrationen. Als älteste Spuren menschlicher Siedler gelten Funde aus Monte Verde im südlichen Chile.[5] Hierhin und nach Südamerika überhaupt kamen die ersten Kolonisten offenbar von der pazifischen Küste aus, denn die Populationen in den Anden sind mit denen in Mittelamerika genetisch eng verwandt.[6] Die Karibik wurde von Mittel-, aber auch von Südamerika aus erfasst.[7] Danach stießen die Pioniere von den Anden und den karibischen Inseln nach Amazonien und den östlichen Landmassen überhaupt vor; Keramikfunde in der Umgebung des heutigen Rio de Janeiro stammen aus der Zeit um Christi Geburt.[8] Oft diskutiert, aber letztlich immer verworfen wurde eine Einwanderung amerikanischer Ureinwohner von Melanesien, Polynesien, Australien, Afrika, China oder dem Mittleren Osten aus; dafür gibt es nämlich ebenso wenig einen Beweis im menschlichen Erbgut, wie für eine Migration von ‹Native Americans› in die pazifische Inselwelt.[9] Sehr viel später, im 13. Jahrhundert u. Z., dürften allerdings polynesische Segler die Süßkartoffel und vielleicht auch den Flaschenkürbis von Südamerika in ihre Heimat eingeführt haben.[10]

Wie die nord-südlichen Vorstöße sibirischer Menschen Hunderte von Generationen vorher, erfasste eine west-östliche Einwanderung von Asien aus die amerikanische Arktis erstmals um 3000 v. u. Z.;[11] etwas später griff sie bis nach Grönland aus.[12] In gleichen Etappen drang die ‹Thule-Migration› von Inuit während des ersten nachchristlichen Jahrtausends vor.[13] Sie führte vielleicht auch zur ersten Begegnung von ‹Amerikanern› und ‹Europäern›; denn als die Wikinger um 1000 in Grönland anlangten, könnten sie auf Paläoeskimos sowie auf Inuit gestoßen sein.[14] Kurz darauf siedelten sich die Skandinavier auch in Vinland (Neufundland) an, wurden hier aber schon nach einem Jahrzehnt von den Ureinwohnern wieder vertrieben.[15]

Bis weit in die Moderne hinein waren für Aufbau und Pflege weiter Beziehungsnetze brauchbare Wege zu Wasser und zu Lande entscheidend. Im Unterschied zur arktischen Region im äußersten Norden sahen sich die südlicher lebenden ‹Amerikaner› bei der Erschließung ihres Doppelkontinents auf eine Fortbewegung zu Lande verwiesen. Begegnung, Kommunikation und Austausch wurden durch einen fast völligen Mangel an Zug- und Lasttieren (Pferde, Ochsen, Esel, Kamele) erschwert. Das Rad war zwar bekannt, nicht aber der Wagen. Erhebliche Entfernungen zwischen den Siedlungsarealen und geologische Verwerfungen bedingten meist eine isolierte Lebensführung kleinerer oder mittelgroßer Gruppen. Die Amerikas stellen sich als eine Großregion von vielen ‹Welten› mit eigenen Sprachen und kulturellen Eigenheiten dar.

Der Ungunst der Verhältnisse haben nur wenige Völker getrotzt. Im südamerikanischen Andengebiet konnten für den Transport leichterer Lasten Lamas eingesetzt werden; Karawanen mit diesen Tieren, die die Ökonomien der Hochebenen und die pazifischen Küstenregionen miteinander verbanden, soll es schon um 2000 v. u. Z. gegeben haben.[16] In die gleiche Zeit wird auch die älteste Stadt Amerikas an der Küste Perus datiert, die Caral heißt.[17] Während des frühen Mittelalters errichteten zwei Erobererstaaten in den Hochländern von Peru und Bolivien ein Transport- und Fernhandelsmonopol;[18] sie zeichneten damit den Inka ihren Weg vor, die um 1400 u. Z. von der Stadt Cuzco aus ihr Reich geradezu durch ein Straßensystem von mindestens 24.000 Kilometern regierten.[19] Abgesehen von dieser weitläufigen und bestens ausgebauten Verkehrsinfrastruktur im Andengebiet ist auch im Chaco Canyon im heutigen US-amerikanischen Bundesstaat New Mexico eine planmäßige Anlage von Landstraßen nachgewiesen. Diese wird in die Zeit zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert eingeordnet, griff auch in die Seitentäler des Trockentals aus und umfasste nach heutigem Ermittlungsstand mehr als 300 Kilometer. Allerdings ist umstritten, ob diese schnurgeraden Wege, die Höhenunterschiede durch Treppen überwanden und bis zu zehn Metern breit sein konnten, überhaupt einem Warentransport oder nicht eher kultischen Zwecken dienen sollten.[20] Weniger gut bekannt als die Straßen der Inka und des Chaco Canyons sind die Landstraßen in Mittelamerika; archäologische Spuren finden sich besonders im Maya-Tiefland.[21] Die längste dieser ‹Sakbe› genannten Straßen erstreckt sich über einhundert Kilometer; ähnlich wie im Chaco Canyon ist sie auffällig gerade ausgezogen und ebenfalls rund zehn Meter breit. Deshalb spricht man analog zu der nordamerikanischen Anlage von einer ‹Prozessionsstraße›.[22]

Cahokia als Zentrum der Mississippi-Kultur

Der Mississippi mit seinen Nebenflüssen war im mittelalterlichen Jahrtausend eine wichtige Verkehrsachse Nordamerikas. Das urbane Zentrum Cahokia wurde im 11./12. Jahrhundert die größte Stadt des American Bottom.

Was den Verkehr zu Wasser betrifft, so hat der Mississippi mit seinen Nebenflüssen im östlichen Nordamerika ein bedeutendes Kommunikationsgeflecht gebildet; seit ca. 900 u. Z. wurde dies auch für größere Bevölkerungsverschiebungen genutzt.[23] Im 11. und 12. Jahrhundert stellte Cahokia das größte, weitausstrahlende Zentrum im American Bottom dar.[24] Von hier gingen Verbindungen zur mexikanischen Golfküste einerseits, zum großen Seengebiet und nach Wisconsin im Norden, den Appalachen im Osten und den Ouachita Mountains im Westen andererseits.[25] Allerdings lässt sich eine Flussschifffahrt nach dem Stand der Forschung bisher nur erschließen.[26] In Mesoamerika führte eine Reihe von verkehrsgünstigen Gewässern ins Landesinnere; sogar der Transport von schweren Gütern (Basaltblöcken) lässt sich nachweisen,[27] aber die Bedeutung dieser Flüsse wird von anderen Forschern auch bestritten.[28] Wichtiger und gut bezeugt ist der Kanu-Verkehr entlang der mexikanischen Golfküste und um die Halbinsel Yucatán, der sich seit dem Postclassicum (ca. 950–1159) verdichtete.[29] Vom Wasser her kann an der Pazifikküste auch die Athapaskan-Sprache verbreitet worden sein.[30]

Zwischen Nord-, Mittel- und Südamerika hat es vermutlich sporadische Berührungen gegeben; ein zwingender örtlicher oder zeitlicher Nachweis ist bisher aber nicht geführt worden. Der Maisanbau, der zuerst wohl in Mesoamerika oder/und in Ecuador entwickelt wurde, erreichte nach allgemeiner Annahme den Norden als Exportgut[31]; ob die Kanus der mittelamerikanischen Siedler den Mississippi hinauffuhren, um Waren zu tauschen, lässt sich allerdings nicht ermitteln. Vielfach angenommen, aber unbeweisbar ist auch ein historischer Zusammenhang zwischen den rätselhaften Erdhügeln (‹mounds›) in Nordamerika und den Stein-Pyramiden Mesoamerikas.

a) Der Norden

Für den Norden werden im Hinblick auf die ‹Native Americans› zehn Kulturareale unterschieden, die durch besondere geographische und klimatische Verhältnisse sowie eigene kulturelle Traditionen bestimmter Menschengruppen gekennzeichnet sein sollen; der oft große Abstand zwischen den Siedlungsinseln spricht hier vielleicht mehr als anderswo für eine Grenzziehung zwischen ‹Kulturen›. Die maßgeblichen archäologischen und sprachgeschichtlichen Befunde, die manchmal durch retrospektive Aufzeichnungen der Kolonisationsepoche ergänzt werden, lassen für das mittelalterliche Jahrtausend nur selten Rückschlüsse auf annähernd datierbare Wandlungsprozesse oder gar Ereignisse zu.[32] Ausgenommen davon waren die Arktis, der Südwesten sowie der mittlere Osten.

Die nordamerikanisch-arktische Zone bildete während der ganzen Periode gewiss einen eigenen Kulturkreis. Die Paläoeskimos jagten ländliche und marine Säugetiere (wohl aber noch nicht Wale und Walrösser), sie bekleideten sich mit Tierhäuten und nutzten kajakartige Boote; vermutlich verfügten sie aber noch nicht über größere Boote und Schlitten. Ihre Migration beruhte deshalb vor allem auf Fußmärschen.[33] Die auf sie folgenden Inuit, Träger der Thule-Kultur, haben sich weiterentwickelt; sie wohnten in halbunterirdischen Häusern und benutzten große, offene Boote aus Häuten (‹umiaks›) sowie später auch Hundeschlitten. Die Jagd erstreckte sich jetzt auch auf große Meeressäuger, ferner auf Robben, Fische, Landsäuger und Vögel. Ihre Handelsbeziehungen und sonstigen Kontakte erfassten den arktischen Raum; Konflikte mit ihren Nachbarn trugen sie vielleicht schon kriegerisch aus.[34]

Im Südwesten, in den Gebieten der heutigen Bundesstaaten Utah und Arizona, siedelten seit vorchristlicher Zeit (mindestens seit 400) die ‹Korbmacher›. Sie verwendeten zunächst noch keine Keramik, flochten aber Körbe in einer bestimmten Wulsttechnik; im trockenen Klima der Region haben sich Überreste gut erhalten.[35] Die ‹Basketmaker› bauten schon Mais an, den sie nach der Ernte in steinverkleideten Vorratsgruben lagerten; sie kannten Kürbis und Zucchini und gingen mit Speerschleudern auf die Jagd. Seit etwa 100 u. Z. wohnten sie in ‹Grubenhäusern›, rund drei Jahrhunderte darauf übernahmen sie auch die Keramiktechnik. Skelettfunde mit Kopfverletzungen sowie Bestattungen ganz ohne Köpfe lassen auf gewaltsame Auseinandersetzungen schließen.

Um 700 u. Z. treten die ‹Ancestral Puebloans› in Erscheinung; wie die ‹Korbmacher› lebten sie erst in Häusern, die in die Erde eingegraben waren.[36] Ihr kulturelles Netzwerk hatte auf dem Colorado-Plateau sein Zentrum und verband Hunderte von Siedlungen in der ‹Four Corners Region› der Vereinigten Staaten (Utah, Arizona, New Mexico, Colorado) miteinander; Chaco Canyon war eines ihrer Schwerpunkte.[37] Der Name der Population ist vom Spanischen ‹pueblo›, also aus dem Wortschatz der neuzeitlichen Eroberer[38], entlehnt und bezieht sich auf die auffällige Wohnform der Eingeborenen in Dörfern. Gebräuchlich ist auch die Bezeichnung ‹Anasazi›, die spätere Mitbewohner des Landes, die Navajo, benutzten und ‹Vorfahren unserer Feinde› bedeutet.[39]

In den beiden ersten Pueblo-Perioden (bis 1130) nahm die Bevölkerung stark zu, bedingt wohl durch ergiebige und gleichmäßige Regenfälle, die die Landwirtschaft gedeihen ließen; auch an Immigrationen anderer Gruppen ist zu denken, zumal die Vorratshaltung in Töpferware eine weitsichtige Versorgung erlaubte. Wichtigste Lebensmittel waren wiederum Mais und Kürbis, daneben Bohnen und Sonnenblumen. Während des ‹Goldenen Zeitalters› zwischen etwa 900 und 1130 u. Z. erhöhten sich die Erträge des Bodens und die Dichte der Bevölkerung noch einmal; zur Tierzucht gehörte der Truthahn. Offenbar pflegten die ‹Anasazi› auch Fernhandel und entwickelten von Ort zu Ort besondere Architekturformen. Statt halbunterirdischer Erdhütten bezogen sie jetzt freistehende Wohnhäuser. Die ‹Pueblos› waren planmäßig angelegte Häuserkomplexe aus Stein oder Lehmziegeln, die teilweise Hunderte oder gar Tausende von Menschen beherbergen konnten. Die größten Gebäude umfassten 200, manche sogar bis zu 700 Zimmer. Für aufwändige Architektur wurde Holz benötigt, das vor Ort meist mangelte und über größere Entfernungen (durch menschliche Lastenträger) herangeschafft werden musste. Die Ausdehnung der Beziehungen durch Handel oder Geschenkaustausch sowie den Luxus und Reichtum vor Ort belegen Funde von Musikinstrumenten, Edelsteinen, fremden Keramiken und Ritualgerätschaften, mindestens in den vornehmsten Häusern. Alle Räume und Häuser waren auf ‹kivas›, offene Plätze, ausgerichtet, die vermutlich zu kultischen Handlungen dienten. Das größte bekannte Bauwerk ist ‹Pueblo Bonito› im Chaco Canyon; es hatte etwa 800 Räume mit über 30 Kivas.[40] Die Nutzung ist mit der Zeitspanne von 823 bis 1126 genau datiert.[41] Vielleicht diente die Anlage aber gar nicht als ständiger Wohnsitz, sondern nur zu periodischen religiösen Ritualen, zu denen die Menschen über das weitverzweigte Straßensystem als Pilger heranzogen. Um den Zeremonien Glanz zu verleihen, verwandte man Türkise, die wie ‹Macaws› (Papageien) und Meeresmuscheln von weither eingeführt worden sein müssen. Die schriftlose Kultur artikulierte sich im Gelände von Pueblo Bonito durch Petroglyphe, also Felsritzungen, die mit Bezügen auf die Gestirne, besonders den Sonnenzyklus, astronomische Einblicke erkennen lassen.

Um 1130 erfasste ein tiefgreifender Klimawandel mit einer dreihundertjährigen ‹Großen Dürre› Nordamerika. Von den Auswirkungen blieb die Pueblo-Kultur nicht verschont; der Fernhandel scheint zurückgegangen zu sein, während sich die Bauern durch Entwicklung neuer Bewässerungstechniken mit Dammbau und Terrassierung zu behelfen versuchten. Trotzdem wurden vormals fruchtbare Gebiete in Kalifornien, Nevada, Utah und Colorado zu Wüsten oder Trockensteppen. Andererseits bedrängten nachrückende Gruppen der Nachbarregionen die Eingesessenen. Vielleicht hängt damit auch die vermehrte Nutzung von Felswohnungen zusammen, die nur über riskante Klettertouren oder Seilschaften zu erreichen waren. Natürliche Felsüberhänge, die Schutz boten, wurden bevorzugt (‹Cliff Dwellings›).[42] Menschliche Überreste im Boden aus dieser Zeit weisen nicht nur auf innere oder äußere Konflikte, sondern sogar auf Kannibalismus hin. Seit etwa 1270 u. Z. verließen die Ancestral Puebloans ihre Siedlungen und zogen zum Rio Grande, in die Sierra Madre del Norte oder auf die Black Mesa. Ihre Nachkommen oder mindestens Tradenten ihrer Kultur leben indessen noch heute in Arizona und New Mexico.

In denselben Regionen haben sich zwischen 200/300 bis zum Auftreten der Spanier um 1540 auch die verwandten Mogollon- und Hohokam-Traditionen entfaltet; allerdings wurden kultureller Austausch und kulturelle Sonderung im Südwesten durch natürliche Barrieren – Flüsse und Gebirge, besonders den Grand Canyon – sowie verschiedene Klimazonen beeinflusst.[43] Bemerkenswert ist die hoch entwickelte Landwirtschaft mit künstlichen Bewässerungssystemen und einem breiten Ensemble von Kulturpflanzen; teilweise scheinen diese aus Mexiko eingeführt worden zu sein (neben Mais, Bohnen und Kürbis u.a. Baumwolle, teilweise auch Gerste und Amarant). Neuerdings wurde im Gebiet der Hohokam (mittleres und südliches Arizona) entdeckt, dass nicht nur Siedlungen sowie Felder in der Umgebung der Dörfer benutzt wurden; besondere, abgelegene Plätze wurden anscheinend nämlich für spezialisierte Tätigkeiten aufgesucht. Es könnte sich also um eine teilweise schon arbeitsteilige Gesellschaft gehandelt haben. Auffällig sind größere Platzanlagen innerhalb der Siedlungen; für sie hat man in der Forschung auf das aus Mexiko bekannte Ballspiel geschlossen, diese Vermutung teilweise aber wieder verworfen. Die Hohokam errichteten Erdhügel mit Plattformen, die ebenfalls an mexikanische Analogien erinnern. Vor etwa 1100 siedelten sie vorwiegend im Bewässerungsgebiet des Salt Rivers, verschoben aber bis um 1450 ihre Kanalsysteme an den Gila River. Nach offenbar klimatisch bedingten Umsiedlungen im 12. Jahrhundert hatte die Hohokam-Tradition zwischen 1350 und 1375 ihre Vitalität verloren; gegen Ende des ‹Mittelalters› kehrten die Menschen indessen wieder an den Salt River zurück. Anscheinend wurden die Angehörigen der Hohokam dabei dominiert oder aufgesogen durch die Stämme der Pima oder O’Odham, die jenen auch den Namen gaben;[44] denn ‹Hohokam› bedeutet etwa ‹diejenige, die verschwunden› oder ‹aufgebraucht› sind. Mit den Hohokam und Pima in näherem Austausch standen die Angehörigen der sogenannten Patayan-Kultur, die zwischen ca. 700 und 1550 entlang des Colorado-Flusses von der Gegend um die heutige Stadt Kingman (Arizona) bis zum Grand Canyon identifizierbar sind.[45] Die Patayan bauten keine großen Gebäude, waren aber als Händler, Jäger und Sammler mobil; für ihre Landwirtschaft entwickelten sie wiederum eine künstliche Irrigation (Bewässerung).

Im Osten Nordamerikas sind die Gesellschaften der Ureinwohner vor allem durch Erdhügel (‹mounds›) gekennzeichnet, die über einen Zeitraum von 5000 Jahren errichtet wurden; die älteste Stätte dieser Art ist Watson Brake in Louisiana. Sie besteht aus elf Erhebungen und wird auf ein Alter von etwa 5400 Jahren geschätzt (d.h. entstanden ca. 3400 v. u. Z.).[46] Diese ‹mounds› wurden wohl als Grabstätten und zu kultischen Handlungen gebaut. In die Zeit des Mittelalters hinein ragt die ‹Woodland-Kultur›, seit ca. 1000 v. u. Z. bis ca. 1000 u. Z., vom Oberlauf des Mississippi bis zur südlichen Atlantikküste von Florida.[47] Abgesehen von den Erdhügeln waren hier Keramikgebrauch und Ackerbau verbreitet, obgleich die nomadische Lebensweise von Jägern und Sammlern weiter praktiziert wurde. In der Mittleren Woodland-Periode (200 v. u. Z. – 400 u. Z.), also parallel zur europäischen Periode der ‹Antike›, ist der Anbau von Mais nachweisbar.

Etwa zur selben Zeit entfaltete sich im Ohio- und Mississippi-Tal die ‹Hopewell-Tradition›; die Wissenschaftler bezeichnen damit weniger eine besondere Kultur oder gar einen geschlossenen Herrschaftsraum als eine weitausgreifende Interaktionssphäre von Austausch (‹Hopewell exchange system›).[48] Unter den Handelsgütern, die aus dem ganzen Gebiet der heutigen USA zusammenkamen, befanden sich Muscheln aus dem Golf von Mexiko, Glimmer aus North Carolina, fossile Haizähne von der Chesapeake Bay, Kupfer aus Michigan und von der Keweenaw-Halbinsel sowie Obsian vom Yellowstone. Aus diesen und anderen Materialien schufen die Hopewell-Menschen eine Fülle von Kleinkunstwerken, die meist in Gräbern gefunden wurden. Berühmt ist die ausgeschnittene ‹Mica hand› (Glimmerhand) von Ross County (Ohio); sie misst etwa 30 Zentimeter in der Länge und 15 Zentimeter in der Breite und war wohl zum Vorzeigen in der Öffentlichkeit geschaffen worden. Mannigfach erhalten sind auch Pfeifen in der Gestalt von Vögeln und Ottern sowie andere Statuetten. Seit etwa 200 u. Z. scheint der Fernhandel zurückgegangen zu sein, dafür nahm der Ackerbau weiter zu. Neben Mais, der jetzt überall verbreitet war, wurde zunehmend Tabak angebaut. In der Späten Woodland-Periode bis etwa 700 entstanden am oberen Mississippi zwischen Prärien und Seengebiet gigantische figürliche Mounds (‹effigy mounds›) in Tierform; nachgebildet wurden auf diese Weise Vögel, Bären, Panther, Reptilien, also Eidechsen und Schlangen, vereinzelt sogar Menschen. Über die Funktion dieser ‹mounds› (Erdformationen) diskutiert die Wissenschaft noch. Um 500 liefen die Produktion der Kleinkunst und die Errichtung der Hügel aus; Palisadenwälle und Gräben deuten auf kriegerische Ereignisse als historische Zäsuren hin. Aus dem Norden eingewanderte Gruppen scheinen die Begräbnisstätten der Hopewell-Tradition aber übernommen zu haben; erst um 1650 riss diese endgültig ab, als Irokesen mit holländischen Gewehren die Region eroberten.

Aus der ‹Woodland-Kultur› abgeleitet wird die ‹Mississippi-Kultur› im American Bottom und überhaupt im südöstlichen und mittleren Nordamerika (ca. 1000–1500 u. Z.).[49] Gekennzeichnet ist sie durch territoriale Abgrenzungen mit Verteidigungswällen und unterschiedliche Siedlungsformen: Dörfer, Weiler und Städte. Größtes städtisches Zentrum war Cahokia am mittleren Lauf des Mississippi (seit 1050/1100); die Metropole erreichte Ende des 12. Jahrhunderts den Höhepunkt ihrer Bedeutung, brach aber schon im 13. Jahrhundert ein. In den Ruinen der Stadt erhebt sich der Monk’s Mound, die größte Erdpyramide Nordamerikas (heutige Basis: 220 × 170 Meter, Höhe bis zu 30 Metern, 700.000 Kubikmeter Erde; ursprünglich wohl noch gewaltiger).[50] Die oberste Plattform dürfte zeremoniell, tiefergelegene Terrassen werden auch für herrschaftliche Gebäude genutzt worden sein. Umgeben war der nach späteren Mönchssiedlern benannte künstliche Berg von mindestens 60 kleineren Erdhügeln; das Vorbild des Monk’s Mound scheint indessen durch Kolonienbildung oder Nachahmung weithin ausgestrahlt zu haben (‹Mississippianisierung›). Cahokias Netzwerk des Handels war natürlich vor allem durch die Lage der Stadt am Fluss begünstigt. Obwohl Formen zentralisierender Herrschaft anzunehmen sind, spricht die Forschung lieber von einem ‹Häuptlingstum› als von einem ‹Staat›.[51] Untergegangen ist die Mississippi-Kultur im 15. und 16. Jahrhundert; verantwortlich waren zunächst wohl eine verfehlte Nutzung der Natur (Waldrodung, exzessive Jagd), dann aber die Invasion der Europäer, also gewaltsame Unterwerfung und eingeschleppte Krankheiten (seit 1528).

Aufs Ganze gesehen, bildete Nordamerika während der Zeit des ‹Mittelalters› keine Einheit; obwohl gelegentliche Beziehungen des Austauschs und immer wieder Migrationen von Gruppen anzunehmen sind[52], haben die ‹Indianer› weder ein alle einschließendes Gemeinschaftsbewusstsein entwickelt noch ihrem Lebensraum eine Gesamtbezeichnung gegeben.[53] Im Vordergrund der kulturellen Leistungen standen immer noch die Erschließung des riesigen Landes und die Festsetzung der Menschen von Ort zu Ort, nicht die innerkontinentale, geschweige denn globale Vernetzung.

b) Mesoamerika

Ein Raum, dem erheblich größere Kohärenz zugeschrieben wird, war ‹Mesoamerika›; damit wird eine Kulturregion bezeichnet, die die südlichen zwei Drittel des modernen Mexiko, ferner zur Gänze die staatlichen Räume von Belize, Guatemala und El Salvador sowie den Westen und Süden von Honduras, Nicaragua und Costa Rica umfasst haben soll.[54] Um welche Dimension es sich handelt, zeigt der Vergleich mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien; diese drei Staaten der Gegenwart erreichen nämlich nicht einmal zusammengenommen den gleichen Umfang. Das mittelalterliche Jahrtausend hatte chronologisch gesehen Anteil an der mesoamerikanischen ‹klassischen Periode› (ca. 250 bis 900) und umschloss das folgende ‹Postclassicum› bis zur spanischen Eroberung des Aztekenreiches (1521). Das Schlüsselereignis war hier aber schon der Übergang von der ländlichen Siedlungsweise in autonomen und gleichrangigen, durch Handel verbundenen Dörfern zu städtischen Gesellschaften mit überlokalen Herrschaften (ca. 1200 bis ca. 500 v. u. Z.) gewesen.[55] Mesoamerika unterschied sich also von seinem Nachbarn im Norden durch eine fortschreitende Differenzierung der Lebensweisen und eine Hierarchisierung politischer Ordnung. Mit der selbstständigen frühen Ausbildung städtischer Machtzentren trat es, wie einige Historiker euphorisch schrieben, berühmten alten Kulturen zur Seite;[56] andere Gelehrte urteilen nüchterner.[57]

Typologischer Ausgangspunkt waren jedenfalls Häuptlingsherrschaften; sie hatten in größeren Dörfern mit pyramidalen Tempelanlagen ihren Mittelpunkt und waren durch eine Reihe kleinerer, abhängiger Siedlungen umgeben. Den Ansatz staatlicher Strukturen markieren dann aufwändige öffentliche Bauten, die von den Regierungen arbeitsteilig organisiert waren; dazu kamen eigene Heere oder die Anwerbung von Söldnern sowie vielleicht auch die Erhebung von Steuern.[58] Ein Königtum legitimierte sich durch die Verehrung seiner Ahnen und repräsentierte durch Paläste. Die Staaten erster Generation entstanden zwischen 200 v. u. Z. und 100 u. Z. und verteilten sich über das Becken von Mexiko und das Tal von Oaxaca bis zum Becken von Chiapas.[59]

Bedeutendster Stadtstaat des frühen Classicums war Teotihuacán, hervorgetreten seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Sein Aufstieg zur größten städtischen Zentrale des Alten Amerika mit 150.000 bis 200.000 Menschen zur Zeit seiner größten Blüte dürfte auch dadurch bedingt gewesen sein, dass schon früh Menschen aus weit entfernten Gebieten gewaltsam im Stadtgebiet angesiedelt wurden. Das etwa zwanzig Quadratkilometer große Areal war durch eine zentrale Straßenachse von drei Kilometern Länge, der sogenannten ‹Straße der Toten›, bestimmt, die eine Ost-West-Straße kreuzte.[60] Am Nordende der Magistrale wurden Pyramiden errichtet, die der Verehrung von Sonne und Mond gewidmet waren: «Die gesamte Anlage Teotihuacáns lässt eine gezielte Planung erkennen, und das Volumen an Bauleistungen deutet auf das Vorhandensein politischer Institutionen hin, die diese Arbeit mobilisieren und überwachen konnten. Dennoch können wir über die politische Struktur von Teotihuacán kaum Aussagen machen. Das Fehlen einer Schrift beschränkt uns auf die Interpretation archäologischer Befunde und der reichhaltigen Ikonographie Teotihuacáns.»[61] Da die agrarisch nutzbaren Flächen im Umland begrenzt waren, müssen Nahrungsmittel zur Versorgung der vielköpfigen Bevölkerung über beträchtliche Distanzen herangeschafft worden sein. Die Fernhändler, die von der Stadt aus ihre Geschäfte betrieben, wurden durch militärische Garnisonen geschützt, die offenbar auch Aufgaben der Grenzsicherung übernahmen.[62] Ökonomische Grundlage der Stadt bildete wohl die handwerkliche Produktion, etwa von Werkzeugen aus vulkanischem Glas (Obsidian), hochwertigen Töpfereiprodukten und Steinskulpturen.