Die Wencke - Wencke Myhre - E-Book

Die Wencke E-Book

Wencke Myhre

4,3
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In ihrer Autobiografie Die Wencke gibt Wencke Myhre nun erstmals tiefe Einblicke sowohl in ihr künstlerisches Leben als Sängerin, Schauspielerin und Entertainerin als auch in ihr privates Leben als Frau, Ehefrau, Mutter und Großmutter. Sie lässt ihre beispiellose Karriere Revue passieren, verrät viele Anekdoten und erzählt von der Beziehung zu ihren Fans. Erstmals spricht sie hier außerdem offen über ihr Elternhaus, ihre Kinder, ihre drei Ehen, den Selbstmord ihres zweiten Mannes und die glückliche Beziehung zu ihrem jetzigen Partner. Und sie redet über ihre Krebserkrankung, die der quirligen Künstlerin 2010 abrupt eine Zwangspause verordnet hatte: Mit ungebrochenem Lebenswillen hat sie sich danach wieder zurück auf die geliebte Bühne gekämpft. Die Wencke ist das berührende Porträt einer Frau, die alle Höhen und Tiefen des Lebens mit bewundernswertem Mut und Kraft meistert - angetrieben von der Liebe zur Musik, der Neugierde auf das Leben und der Freude daran, andere zu begeistern und immer wieder zu überraschen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Bewertungen
4,3 (16 Bewertungen)
10
1
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



WENCKE MYHRE

Die Wencke

AUTOBIOGRAFIE

In Zusammenarbeit mit Mona Levin

Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach

Mein lieber, guter Reidar, ich bin so froh und dankbar, dass gerade du mein Bruder bist. Du bist ein großer Teil meines Lebens und du bist derjenige, der weiß, dass ich kein Interesse daran gehabt habe, ein Buch über mich zu schreiben. Ich fühle mich noch immer mitten im Leben.

Dann merke ich, dass die Kinder erwachsen geworden sind und ihre Leben leben. Jetzt denke ich, dass es vielleicht wichtig ist, ihnen etwas über mein Leben zu erzählen. Das tue ich also für euch, meine geliebten Kinder – Kim, Dan, Fam und Michael. Hier ist Mamas Geschichte.

Wencke Myhre

Pause

»Pause, Myhre!« Der Oberarzt schaut mich mit einem ernsteren Blick an, als er es sonst zu tun pflegt. Doktor Gudbrand Skjønsberg ist ein Mann mit viel Humor, aber er lächelt selten. Jetzt sitzt er auf der Bettkante, sieht mich an und sagt: »Volles Programm. Chemotherapie und Strahlentherapie. Jetzt ist Pause.«

Ich war zur Teilnahme an einem Beobachtungsprojekt eingeladen worden, nachdem Mama an den Spätfolgen der Krebsbehandlung gestorben war, und war die letzten 20 Jahre zu routinemäßigen Kontrollen ins Radiumhospital, ein Krebszentrum an der Universitätsklinik Oslo, gegangen. Dieses Mal hatten sie zusätzlich einige Aufnahmen und Ultraschall gemacht sowie mehr Proben als gewöhnlich genommen. Und dann: »Hier ist etwas, das uns nicht richtig gefällt.«

Es ist der Sommer 2010 und ich bin bei Freunden in Trondheim, als das Handy klingelt. Ich stehe am Fenster mit Aussicht über das Meer. Die Stimme sagt: »Hier ist das Radiumhospital«, und in derselben Sekunde weiß ich, jetzt kommt es. »Das sieht nicht gut aus. Wir müssen das rausholen«, sagt die Stimme. Mein Körper fühlt sich seltsam an. Vor mir liegt das Meer in einem 180-Grad-Panorama, die Sonne lässt das Wasser glitzern und ich kann weit hinaus bis zum Horizont schauen. Diesen Anblick werde ich nie vergessen.

Von dem Augenblick an, als ich ins Radiumhospital komme, geht es Schlag auf Schlag.

Sie operieren, entfernen drei Lymphknoten – sie nennen sie »Wachposten« – und der eine ist nicht in Ordnung. Nach der Operation, während ich mich mental auf die Strahlenbehandlung vorbereite, kommt der Oberarzt mit seinem: »Pause, Myhre. Chemotherapie.«

Sie wollen mich über Nacht dabehalten, aber es ist unmöglich zu schlafen. Ich bitte die Nachtschwester um etwas zu schreiben und Papier, und als es Morgen wird, habe ich nicht eine Sekunde geschlafen, aber die Seiten sind voll. Ich habe all das Positive aufgeschrieben, das mir eingefallen ist, alles, was mir genau in diesem Moment in den Sinn gekommen ist. Ich werde nirgendwohin reisen, keine Koffer packen. Ich werde in meinem eigenen Bett schlafen, mit der Familie zusammen sein, mit den Enkelkindern spielen – zu diesem Zeitpunkt habe ich neun, ein zehntes ist unterwegs –, und das führt zu vielen positiven Gedanken.

Das Urteil ist gefällt und ich werde äußerst pragmatisch. Auf der Liste stehen: Rentenversicherung prüfen, finanzielle Situation klären, Regale aufräumen. Nicht in trübe Gedanken und destruktives Grübeln verfallen, positive Einstellung behalten. Dinge angehen, wenn sie anstehen, planen, was möglich ist. Mach dich hübsch, schminke dich, mach es dir gemütlich.

Ich schreibe und schreibe über all das Gute, das vor mir liegt. Ich brauche jetzt eine Pause und bin gezwungen, das Leben vom Nullpunkt aus zu betrachten. Zum Schluss: »Warum das Negative aufschreiben? Das muss ich angehen, wenn es kommt.«

Im Krankenhaus setzt man mir einen Portein, einen direkten Zugang zu den Blutadern beim Schlüsselbein. Am merkwürdigsten ist der Moment, als ich sie mit der roten Tüte kommen sehe, die Tüte mit dem Gift, das in mich hinein soll, durch die Nadel, intravenös. Mein ältester Sohn Kim und mein lieber Anders sitzen bei mir. Dann liege ich da und sehe, wie das rote Gift von mir Besitz ergreift. Wummm. Dann ist die Tüte leer. Jetzt gibt es keinen Weg zurück. Jetzt geht es los.

*

Die Erkrankung ist früh entdeckt worden und ich habe das Glück, dass bei mir eine brusterhaltende Operation möglich ist. Sie hinterlässt fast keine Narben. Aber mein Nervensystem bekommt ein paar Narben und während der Chemotherapie werde ich enorm unruhig.

Diese Rastlosigkeit, die intravenös in mich hineingepumpt wird, zusammen mit der Energie, die ich sowieso in mir habe, ist keine gute Kombination. Ich laufe auf und ab, hin und her, ohne überhaupt irgendetwas zustande zu bringen. Um einen Anfang zu machen, gehe ich spazieren, wenn es mir einigermaßen gut geht, aber nach und nach wird es weniger. Es ist gerade so, als würde der Körper mit jeder Behandlung in den Keller hinuntergezogen.

Deutlich merke ich es jedes Mal, wenn ich all die Treppen im Radiumhospital nach oben laufe. Ich gehe immer zur Hintertür hinein, vorbei an all den Giftcontainern, denn da unten ist niemand, der mich sehen könnte. »Der Maulwurf kommt!«, gebe ich via Handy durch und dann kommt eine Krankenschwester nach unten und holt mich ab. Das Personal ist ganz fantastisch. Sie erlauben mir, etwas andere Wege zu gehen, und wir laufen die Treppe zusammen, den ganzen Weg nach oben. Das wird jedes Mal schwerer. Bei der letzten Chemotherapie muss ich einen Stopp einlegen und mich am Geländer festhalten, etwas ausruhen, aber ich will es schaffen.

In den ersten Nächten habe ich heftige Albträume. In einem davon befinden wir uns auf dem Holmenkollen, auf einer schmalen und hohen Wendeltreppe innen im oberen Teil der Sprungschanze, und sie ist proppenvoll mit Leuten. Alle wollen ganz nach oben. Es ist eng dort und ich habe einen PC unter dem Arm – ich, die, was Computer angeht, so hoffnungslos verloren ist. Auf dem Bildschirm leuchtet ein Bild von mir in einer Weihnachtsdekoration, ein Bühnenbild, das plötzlich heraus- und mir in Millionen klitzekleinen Stückchen in den Schoß fällt – Kulissen, Weihnachtsartikel, Menschen, Hunde, Bäume. Verzweifelt versuche ich, alle diese Splitter wieder im Bildschirm des Rechners zusammenzusetzen, aber sie fallen ebenso schnell wieder heraus, wie ich sie einsetze.

Weiter unten auf der Treppe kommt Frank Zappa auf einem Schlitten mit der dänischen Künstlerin Gitte Hænning auf dem Schoß, sie hat eine vollkommen langweilige Frisur, denke ich – ihre tollen, wie Stachel abstehenden Haare sind in sich zusammengefallen. Sie lacht sich kaputt, sitzt aber auf dem Schoß von Frank Zappa, der schreit: »Please, Mrs. Mayre! Please move on!«

Ich träume, dass das Meer zu Hause so hoch an der Hauswand emporsteigt, dass ich von der Küche aus direkt hineinschauen kann, und darin schwimmen Menschen, direkt bis an die Fensterbank heran. In einem anderen Traum bin ich das linke Außenrad eines Jumbojets, der auf dem alten Flughafen in Oslo-Fornebu landen soll. Entlang der Rollbahn verläuft eine Holzbrücke über einen Bach, die Brücke ist exakt so breit, dass das Rad des Jumbojets darauf Platz hat. In schwarzem Minirock, schwarzen Strümpfen und hochhackigen Schuhen laufe ich wie eine Verrückte, um das linke Rad und mich selbst auf der Holzbrücke zu halten. Der Kapitän landet an der Seite und ich schreie ihn an: »Du hättest doch auf der Rollbahn landen können, du Idiot, kannst du versuchen, auf die Bahn zu kommen, einfach drehen!« Das tut er, aber ich bin vom Laufen in den hohen Absätzen vollkommen fertig.

Nach und nach spüre ich, dass die Behandlung an mir zehrt. Jede Woche ist ein bisschen schwerer. In den Nächten träume ich. Die Traumphasen sind ziemlich anstrengend. Wenn ich mich unwohl fühle, kocht meine Schwiegertochter das Essen. Ich möchte gern essen, aber ich bringe nicht die Kraft auf, das Abendessen zu planen, mir ist nicht schlecht, aber ich bin nicht imstande, einkaufen zu gehen. Während jedes Therapie-Zyklus ist die Immunabwehr eine Woche lang am Boden und da tut es weh, die Enkelkinder nicht in der gleichen Art und Weise festhalten und umarmen zu können, wie ich es sonst zu tun pflege. Sie sind klein und verstehen nicht, warum sie nicht zu mir hereinkommen können, wenn sie ein bisschen verschnupft sind, sie schauen mich nur ein wenig verwundert an. Eine der jüngsten, Filippa, sitzt gern mit mir zusammen in dem kleinen Bürobau, sie malt und ich mache meine Sachen. Dieses Mal ist sie ein bisschen erkältet und ich muss Nein sagen – ein furchtbares Gefühl.

Ich mache etwas Neues: Verlege einige Treffen im Herbst nach draußen, mit allen Kindern, wir machen Lagerfeuer, braten Würstchen, hängen Laternen auf und wir spielen. Dort kann ich sitzen und es genießen, ihnen zuzuschauen.

Dann träume ich, dass jemand das ganze Grundstück vor dem Haus aufgegraben hat, dort, wo sich ein Swimmingpool befindet, und jemand hat einen gelben Ferrari unten im Becken geparkt und den Rest mit Erde aufgefüllt. Hier finden riesige Partys statt, eine Menge merkwürdiger Personen läuft herum, die Sicherheitsleute stehen unter Drogen. Ich kenne keinen von ihnen und als ich nach Hause komme und frage, was sie hier machen, hat es den Anschein, als wüssten sie nicht, dass dies mein Zuhause ist. In dem Albtraum werde ich von meinem Freund Remo Caprino gerettet – er schneit herein und fragt, ob ich mit zu einem Bootsausflug kommen will!

*

Denke ich im Nachhinein an dieses »Pause!« von dem ernsten Oberarzt, denke ich, dass es für alle, die davon betroffen sind, so sein muss. Große Veränderungen stehen an. In einem Leben wie dem meinen werden es auch viele Veränderungen, und das auf mehreren Ebenen.

Den letzten Auftritt, bevor die Behandlungen beginnen, habe ich am 7. August 2010 auf dem Marktplatz in Svelvik. Danach muss ich bekanntgeben, dass es in diesem Herbst keine weiteren Auftritte geben wird. Vor Svelvik will ich keine Pressemitteilung versenden, dem Publikum soll es erspart bleiben zu denken: »Die Arme.« Keiner versteht, warum ich im Anschluss niemanden sehen möchte, sondern einfach nur in ein Auto verschwinde, sobald die Vorstellung beendet ist.

Das Finale mit dem Svelvik Musikkorps ist Vi lever (Wir leben), der Marktplatz und die Treppe zur Kirche sind brechend voll mit Menschen und alle singen mit, und exakt in dem Moment, als der letzte Akkord ausklingt, beginnen die Kirchenglocken zu läuten. Ich weiß noch nicht, dass wir zu spät dran sind und die Glocken wegen eines anstehenden Kirchenkonzertes läuten. Ich bekomme Gänsehaut – Herrgott, läuten die Glocken für mich? Die Presse ist hinter mir her und als ich ins Auto steige, höre ich einen Journalisten fragen: »Wencke, stimmt es, dass du Krebs hast?«

In dieser Nacht versende ich eine Pressemitteilung über meinen Zustand.

Da ich meine eigene Managerin bin, entscheide ich mich dafür, es Freunden und Geschäftspartnern persönlich mitzuteilen. Damit anzufangen bedeutet enorm viel Stress. Absagen, Erklärungen, Verschiebungen, Abbestellungen. Agenten, Musiker, Kostümdesigner, Reisebüros, Tourneeveranstalter. Die Erklärung vor der Norwegischen Arbeits- und Sozialverwaltung NAV, die meine Situation zum Glück verstehen. Wenn ich nicht arbeite, kommt absolut kein Geld herein. Rechnungen hingegen schon. Ich bekomme ein bisschen »das Zittern«.

*

Kim und Anders begleiten mich zur ersten Chemotherapie; Kim nimmt sich von der Arbeit frei und fährt mich zum Radiumhospital und wieder nach Hause, Anders holt und bringt, was ich brauche. Ich versuche, so normal wie möglich zu leben, gehe mit den Enkelkindern einkaufen, koche Essen. Alle der Reihe nach sind sie zu hundert Prozent für mich da, aber nach dem ersten Zyklus der Therapie bekomme ich eine Infektion mit Fieber und das bringt mir wieder einen Tag im Krankenhaus ein.

Von den Einstichen tun meine Adern weh. Der Port ist während der gesamten Therapie da, die Beutel werden direkt an diese eingesetzte Kanüle angeschlossen, sodass die Ärzte nicht immer wieder in mich hineinstechen müssen.

Diese roten Beutel haben andere Konsequenzen. Am Ende der ersten Chemotherapie verliert man die Haare. Nach drei Wochen merke ich es. Manche Menschen halten ein bisschen länger durch, aber als ich merke, dass sie beginnen auszufallen, fasse ich den Entschluss, dass ich das nicht miterleben will. In einer schlaflosen Nacht stehe ich auf, betrachte mich im Spiegel und greife mir in die Haare. Von der Kopfhaut löst sich ein großes Büschel. Mit meinem Hund Oscar als stummem Zuschauer ziehe ich all das Lose heraus und nehme für den Rest die Nagelschere. Setze ein Kopftuch auf und hoffe, dass mein Lebensgefährte nicht aufwacht. Am nächsten Morgen fahre ich zu Perückenmacher Thomas Høyer und bekomme die Perücke angepasst, die ich bestellt habe.

Gut vorbereitet bin ich, kann aber nicht so tun, als wäre es nicht entsetzlich. Nina Bull – Friseurin, Make-up Artist und gute Freundin, die mich normalerweise für Fotoshootings und Fernsehsendungen stylt – ist dabei und hält mir die Hand. Sie, die mir den Kopf rasieren soll, fragt, ob der Spiegel entfernt werden soll. Ich sage Ja und er wird auf den Boden gestellt, in einem Winkel, der es mir unmöglich macht, mich selbst zu sehen. Ich bin vollkommen aufgewühlt, als die Friseurin den Raum für einen Moment lang verlässt.

»Ich muss es sehen!« Der Drang in Richtung Spiegel ist unwiderstehlich und ich bin zu neugierig, um es sein zu lassen, beuge mich darüber und betrachte mich selbst von oben bis unten. Da kommen die Tränen. Mit blankem Schädel und rot geweinten Augen sehe ich aus wie ein Gemälde des norwegischen Malers Odd Nerdrum. Entlang der Wände befinden sich glänzende Schranktüren und ich sehe mich selbst in vollem Stereo und 3-D und plötzlich ist der norwegische Troll überall! Wir fangen an zu lachen und Nina macht ein Foto. Diesen merkwürdigen, Grenzen sprengenden Augenblick in meinem Leben muss ich einfach festhalten.

Als die Perücke richtig sitzt, habe ich meterlanges Haar bekommen und sehe aus wie Der Schrei von Edvard Munch. Das Haar wird geschnitten und dann fühlt es sich sehr gut an. Jetzt weiß ich auch, dass es tolle Perücken gibt, die einen Monat lang vollkommen fest sitzen können. Man schläft mit ihnen, man duscht mit ihnen – wie mit den eigenen Haaren. Das ist zeitraubend, aber ich fühle mich weniger unwohl. Die Haare sind sekundär, primär ist die Existenz. Aber mit Perücke fühle ich mich dennoch sicherer, nicht so verwundbar. Eitel sind wir alle.

Ich denke, jetzt wird es sicher ein Kurzhaarschnitt oder etwas anderes in der Richtung, ich werde es nehmen, wie es kommt. »Myhre«, sage ich im Auto zu mir selbst, »jetzt bist du 50 Jahre mit derselben Frisur herumgelaufen. Vielleicht hat das Publikum eine Veränderung verdient.« Ich werde wohl wie ein Dachs aussehen, denke ich, mit einem weißen Streifen auf dem Scheitel und zwei schwarzen an der Seite, der Möglichkeiten gibt es viele. Ich muss auf jeden Fall das Beste daraus machen.

Einen Vorteil, den ich im Gegensatz zu den meisten anderen habe, ist, dass ich mich in meinem Beruf so viele Male zuvor in derartigen Situationen gesehen habe. Der Schock ist für mich trotz allem wohl geringer. Auf der Bühne bin ich Povel Ramel gewesen, stand da mit Povels auseinanderstehenden Zähnen und komplett kahlem Kopf. In Sweet Charity habe ich mich jeden Abend selbst so gesehen: Wir ziehen Strümpfe über den Kopf, bevor wir Perücken aufsetzen. Ich habe doch dagestanden mit Bärten und Männerhaaren, als Kahlköpfige und Troll, als was weiß ich nicht und bin solche extremen Situationen gewohnt. Dennoch ist es seltsam, wenn ich keine Wahl habe. Die Grenzen, die ich im Leben erfahren habe, habe ich mir selbst ausgesucht, jedes Mal.

*

Ich traue mich nicht zu singen, im Moment traue ich mich nichts, denn allein der Gedanke an die Bühne entzündet ein Feuer in mir. Der Schalter muss vollkommen umgelegt werden. Ich wage es nicht einmal, Lieder zu hören. Höre ich etwas Gutes, bin ich sofort dabei, an Projekten zu arbeiten. Wenn Anders und ich unten im Musikraum sitzen und spielen und ich etwas Schönes höre, dann höre und sehe ich auch Show. Das Gleiche passiert, wenn ich etwas Neues einübe; ich höre den Klang des ungeschriebenen Arrangements, ich vernehme den Geruch der Bühne, ich sehe die Ausrichtung der Scheinwerfer. Es sein zu lassen gehört für mich zum Schwersten.

Die Ski-WM im Februar ist ein Segen. Vinter og sne (Winter und Schnee), dem offiziellen WM-Song von 1966, wird bei der Eröffnungsshow auf dem Universitätsplatz in Oslo 2011 neues Leben eingehaucht und es wird via Fernsehen in die ganze skiinteressierte Welt übertragen. Sigurd Jansens Melodie zu Alfred Næss’ Text hat mich die ganzen Jahre über begleitet, ich kann sie in- und auswendig, ein Kinderspiel, und jetzt freue ich mich einfach nur. Anders nimmt einige kleine Veränderungen vor, Sigurd ist zufrieden. »Vinter og sne, en skiløper farer av sted …« (Winter und Schnee, ein Skifahrer läuft los …) – das Singen nimmt mich so gefangen, es ist wie Medizin.

Ein Song ist okay. Ich spreche mit dem Arzt und ich spreche mit der Arbeits- und Sozialverwaltung, alle sagen, das ist in Ordnung. Mit dem Rundfunkorchester, KORK, habe ich viele Jahre lang zusammengearbeitet, wir kennen einander und es ist unbeschreiblich schön, die Musiker bei den Proben und Aufnahmen im Store Studio wiederzusehen.

Zwei Tage zuvor habe ich meinen Hund verloren, Oscar. Er war eine Zeit lang krank gewesen und ist zu Hause in unseren Armen eingeschlafen. Ich fühle eine große Traurigkeit. Sitze oben im Technikraum des Store Studio, es ist ganz still. Alle Musiker haben das Studio verlassen, alle Stühle sind leer. Meine Stimme soll über die Musik gelegt werden. Ich rufe meinen Sohn Michael an und erzähle ihm, dass ich Vinter og sne einsingen soll, aber an Oscar denke und traurig bin. »Denk an den kleinen Adrian, der unterwegs ist!«, sagt Michael und damit bin ich wieder voll da und das Ganze mündet in eine Aufnahme.

Während der Sendung muss man mich beinahe zurückhalten, so viel Spaß macht es. Ich komme direkt von der Strahlenbehandlung und der Jubel, der mir beim Betreten der Bühne im bonbonrosa Kostüm von Moods of Norway entgegenströmt, ist grenzenlos herzerwärmend. Die Tränenkanäle schalten für einen Augenblick auf overdrive. Alle wissen, dass ich krank bin, und ich habe das Gefühl, dass sie mich an diesem Abend ein bisschen extra anfeuern. Ich kann eine Weile durchhalten, fühle keinen Schmerz und bekomme exakt den Kick, den Hauch Bühnenluft, der die große Gefahr darstellt. Die drei Minuten auf dem Universitätsplatz, vor einem Publikum von über 50.000 jubelnden Menschen, sind wie Vitamine für mich, aber auch eine Erinnerung daran, dass es ein großer Unterschied ist, ob man einen Titel präsentiert oder eine ganze Vorstellung.

Die Strahlenbehandlung und 27 Grad minus an diesem Abend machen mich für ein paar Tage ganz wirr. Ich verstehe, dass vor mir ein langsames Aufbautraining liegt – physisch und psychisch. Ich glaube, ich bin in Form, schaffe es aber nicht, mit dem Training zu beginnen. Ich warte auf den Frühling; wenn er kommt, habe ich das Schlimmste überstanden, bin sowohl mit der Chemotherapie als auch mit der Bestrahlung fertig. Bald bin ich fit for fight, glaube ich. In meinem Kalender habe ich etwas notiert, das die Lyrikerin Åse-Marie Nesse über diesen Zustand geschrieben hat:

»Wir Überlebenden

wir haben die Langzeitvorhersage im Blut

den Ewigkeitskalender an der Wand

wir haben vor, noch eine Weile hierzubleiben.«

*

Wenn ich Wörter wie »gesundgeschrieben« in der Zeitung lese, bekomme ich Angst. Ich habe das Gefühl, das Einzige, von dem man gesundgeschrieben werden kann, ist die Grippe. Fünf Wochen Bestrahlung rund um Neujahr 2011 hinterlassen im wahrsten Sinne des Wortes auch bei mir ihre Spuren, mit rotem Textmarker, auf Brust und Rücken. Ein Bereich dort ist vollkommen verbrannt, aber die roten Markierungen nach der Behandlung befinden sich in beruhigendem Abstand von den Stimmbändern. Die Ärzte haben versprochen, diese zu verschonen.

Die Prognosen sind gut, aber ich muss damit leben, kann diese Unruhe niemals ablegen. Sie wird das ganze Leben über bleiben.

1. Kapitel

Kindheit

Ich war drei Jahre alt, stand hinter den Stäben meines Gitterbettchens im Wohnzimmer meiner Großeltern und empfand eine unermessliche Freude, eine enorme Faszination. Das Scala Trio probte! Papas Trompete sprengte den Raum, die Trommeln schlugen schneller als mein Herz – mein Bett flog, ich musste mich festhalten, fühlte, dass ich schwebte, und jetzt hob es ab! Das machte so viel Spaß, dass ich mir in kindlicher Ekstase das Nachthemd über den Kopf zog. Als die Musiker lachten, schämte ich mich ein bisschen und ließ mich ins Bett fallen, aber das war schnell vergessen. Die Freude, jedes Mal, wenn Papa mit Akkordeon und Trompete einsetzte, begleitet von Schlagzeug und Gitarre, ist das Erste, an das ich mich in meinem Leben erinnern kann. Papas Trio hat immer bei uns zu Hause geübt, in dem Zimmer, in dem ich schlafen sollte.

Zuerst haben wir alle vier, Mama, Papa, mein zwei Jahre älterer Bruder Reidar und ich, im Wohnzimmer zu Hause bei meinen Großeltern im Osloer Stadtteil Torshov gewohnt, dem sichersten Ort der Welt. Meine Großeltern, Olga Elida und Johan August Gangestad, ursprünglich aus dem Gebiet um Skjeberg stammend, haben sich viel um mich gekümmert. Wenn Mama und Papa zu einem Auftritt unterwegs waren, habe ich oft im Doppelbett zwischen Großmutter und Großvater übernachtet. Sie hatten Sprossenfenster und eine große Standuhr. Die Lichter der Autos, die draußen entlang des Torshovparks vorbeifuhren, tanzten durch das Zimmer, warfen Schatten in die Uhr, während diese tickte und tickte und tickte. Es war der Inbegriff von Geborgenheit, dort zwischen ihnen zu liegen und der tickenden Uhr zu lauschen. Großmutter war eine fantastische Frau, warm und gut, und sie hatte immer einen Kuchen parat: Brot mit Zucker darauf. Sie hat sieben Kinder zur Welt gebracht, alle zu Hause, mit Großvater als Geburtshelfer. Die Puppe, die sie mir zu dieser Zeit gekauft hat, habe ich immer noch.

Die Mutter meines Vaters, Inga Myhre (geborene Høiby), war von einem anderen Kaliber. Ein wildes Original aus dem Gudbrandstal, Sennerin und Zockerin. Sehr speziell. Sie liebte das Leben, spielte mit den Männern Poker und interessierte sich leidenschaftlich für Pferde. Ihre Wohnung in der Thorvald Meyers Gate in Oslo quoll über von Zeitschriften über Trabrenn- und Galoppsport, es war kaum möglich, hineinzukommen. Meine Großmutter väterlicherseits behielt immer ihren Hut auf. Sie hob alte Garnspulen auf, sammelte Zigarettenstummel und rauchte sie durch die Spulen, bis diese vollkommen braun wurden. Im Kino hatte ich gesehen, dass Zigarettenmundstücke lang und schwarz sein und elegant mit von Seidenhandschuhen bedeckten Fingern gehalten werden sollten. Großmutters Mundstücke waren etwas komplett anderes. Wenn sie zu Besuch kam und übernachten sollte, breitete sie alte Zeitungen aus, bevor sie sich auf das Sofa legte, mit den Beinen draußen und dem Hut auf dem Kopf. Sie war der Ansicht, dass es nicht notwendig war, wegen einer Nacht Bettwäsche schmutzig zu machen.

Wenn wir sie besuchten, vergaß sie, Essen für uns zu machen, dachte aber daran, uns Spukgeschichten zu erzählen. Großmutter wettete auf der Trabrennbahn Bjerke, sie konnte in der einen Nacht Häuser gewinnen und diese in der nächsten verlieren. Sie war ein ziemliches Reibeisen. Während einer Tour zum Moltebeerensammeln auf dem Ringsakerfjell lief sie – bekleidet mit Gummistiefeln, Kleid und langen Hosen darunter, schwere Kupferkessel und Eimer für die Beeren schwenkend – direkt in eine Herde wilder Pferde hinein und jagte sie für uns fort. Die Tiere wieherten und stellten sich auf die Hinterbeine, verstanden aber, wer das Sagen hatte, und zogen von dannen.

Großmutter hatte vorgeschlagen, dass ich Ingunn Florry heißen sollte. Sie dachte, Ingunn Florry, immer eine Pferdelänge voraus, sei ein toller Pferdename, der auf mich übertragen werden müsse. Stattdessen hieß ich Trulte, bis ich fünf Jahre alt war. Erst dann wurde ich getauft und mein Name wurde zu Wenche Synnøve Myhre. Da hatten Mama und Papa den Film En herre med bart (Ein Gentleman mit Bart) gesehen und ich wurde nach der Schauspielerin Wenche Foss benannt. Mein Name wird im Norwegischen tatsächlich mit ch geschrieben, im Deutschen wurde später ck daraus.

Den Mittelnamen Synnøve sollten alle Mädchen in der Familie tragen, Mama hieß Reidun Synnøve. Die Jungs heißen Armann, mit Betonung auf der ersten Silbe. Papa hieß Kjell Armann und mein Bruder heißt Reidar Armann.

Als ich endlich getauft werden sollte, wurden alle ungetauften Kinder der Familie gesammelt und am gleichen Tag getauft. Auf diese Weise war es am günstigsten. Zur Taufe nähte Großmutter für mich ein hellblaues Kleid – ich erinnere mich gut daran, dass ich auf dem Küchenhocker stand, während sie es absteckte, und dass ich eine Puppe bekam, damit ich ruhig war. In der Kirche marschierte ich direkt zum Altar und auf den Pfarrer zu und sagte mit kraftvoller Stimme: »Ich soll Wencke heißen!« Kein: Wie soll das Kind hier heißen? Der Pfarrer und die ganze Gemeinde lachten.

Zu Hause bei meinen Großeltern gab es immer Musik. Großvater sang und spielte Geige und ab und an bekam ich die Erlaubnis, die Geige zu halten. In den Kriegsjahren konnte Papa keinen Unterricht nehmen, aber unmittelbar nach dem Krieg war er Gardist und spielte in der Garde Trompete. Morgens und abends spielte er Hornsignale und wenn wir ihn fragten, was er da spielte, erklärte er es mit einem Lied: »Der Kapitän hat Scheiße in der Hose, der Kapitän hat Scheiße in der Hose! Papier, Papier, Papier!«

Zudem hatte er sich selbst das Akkordeonspielen beigebracht und in den dürftigen Nachkriegsjahren war die Musik sowohl Abendarbeit als auch notwendige Einnahmequelle. Mama war jung und lebenslustig, liebte Alice Babs und kannte einen Trick, wie man mit zwei Esslöffeln Rhythmen klimpern konnte. Nicht alle haben eine Mutter, die sich am Abend verkleidet und mit zwei Löffeln als Rhythmusinstrument tanzt. Auch sie war musikalisch, war allen voran aber für all das Praktische zuständig. Wenn der Abend kam, wurde es lustig, und Feste wurden gefeiert, wie sie fielen. Sie waren jung, sie waren fröhlich und sie hatten eine fünfjährige Okkupation, eine dunkle Zeit, hinter sich.

Großvater war auch Holzschnitzer, sprach Esperanto, war Philatelist und kompletter Antialkoholiker – ein zuverlässiger, christlicher Mann. Bei Tisch machten wir oft Wortspiele. Als Vierjährige zählte ich all solche Wörter auf, die sich auf gewisse Endungen reimten. Großvater war so empört, dass er hinter mir herrannte, als ich mich auf den langen Gang in Richtung Bad davonmachte. »Du kleine Wencke, so etwas darfst du nicht sagen!« Ich habe nie Schläge bekommen, auch nicht, als wir wieder ins Wohnzimmer kamen und ich alle seine Briefmarken vom Tisch pustete.

Er war es auch, der das erste Foto von mir gemacht hat. Ich bin an seinem Geburtstag geboren, dem 15. Februar, und an einem solchen Doppeltag, meinem dritten Geburtstag, nahm er mich mit in ein Studio, in dem wir zusammen fotografiert wurden. Den Rahmen für das Foto hatte Großvater selbst geschnitzt. Er sang im Oslo Sporveiskor, dem Chor der Osloer Verkehrsbetriebe, und eigentlich hatte er den großen Rahmen für ein Bild des Chors gefertigt. Als er starb, war ich erst 13 Jahre alt. Ich fragte Großmutter und die Geschwister meiner Mutter, ob ich den Rahmen bekommen könne, und versprach, gut darauf aufzupassen. Das Foto von mir und Großvater war winzig klein, aber ich habe es auf die Maße des Rahmens vergrößern lassen. Andere Bilder von mir in dem Alter gibt es nicht. Hinter dem Foto von uns beiden befindet sich noch immer das Bild vom Chor.

Um Frau und sieben Kinder zu versorgen, hatte Großvater als Straßenbahnfahrer gearbeitet. Mama und Papa »mussten« heiraten, wie es hieß, als sie gerade mal 18, 19 Jahre alt waren. Großvater besorgte Papa einen Job, zuerst als Schaffner und dann als Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben. Papa konnte alles fahren, was Lenkrad oder Steuerknüppel hatte, und er war es auch, der in all den späteren Jahren unseren Tourbus fuhr. Papa war ein toller Kerl, ein Multitalent und eine Quelle an Ideen. Er konnte eigentlich alles, spielte viele Instrumente, war gut im Zeichnen – er gewann einen Wettbewerb für das beste Design des Umsteigetickets der Verkehrsbetriebe – und er war ein echter Allround-Entertainer. Die Musik war das, wofür sie lebten, aber tagsüber fuhren sie Straßenbahn und Bus, damit wir etwas hatten, von dem wir leben konnten.

Eine Zeit lang wohnten wir in dem kleinen Haus meiner Großmutter väterlicherseits auf dem Grefsenplateau. Wir nannten es »Hütte« und dort gab es ein Plumpsklo mit Ratten und Mäusen. Jahrelang gingen wir auf dieses Plumpsklo, auch in der Zeit, in der wir im Winter dort wohnten – bevor ich sechs Jahre alt wurde –, und da war es meine größte Verzweiflung, wenn ich nachts auf Toilette musste. An der Küchendecke befand sich eine Luke mit einer Treppe hinauf zu einem Dachboden, auf dem wir alle vier schliefen. Ab und an waren Reidar und ich allein zu Hause. Reidar war Babysitter und wenn ich die Leiter hinunter musste, begann er, etwas aus einem unheimlichen Hörspiel zum Besten zu geben: »Ååse auf der ersten Stufe, Ååååse auf der zweiten Stufe …«, und ich bekam solch eine Heidenangst, dass ich es nie aufs Plumpsklo hinaus schaffte. »Ååååse …« und ich tastete mich wieder nach oben und machte in die Hose.

Am Sonnabend, wenn Mama und Papa ins Kino gingen, bekam jeder von uns eine Tüte mit Süßigkeiten. Reidar und ich saßen jeder an seinem Ende des Küchentischs, mit dem Finger zog er einen unsichtbaren Strich auf der Tischdecke und der galt auch unter dem Tisch. Ich musste mit den Beinen auf meiner Seite bleiben. »Jetzt essen wir die Süßigkeiten auf!«, sagte er und tat so, als würde er ein Bonbon nach dem anderen essen – »Mmmm! Lecker!« –, während ich meine Portion in mich hineinstopfte. Doch er hatte überhaupt nichts gegessen und anschließend ließ er sich viel Zeit damit, Karamelle und Schokolade zu lutschen und zu naschen, ausgiebig genoss er die Gummibärchen, während ich weinte.

»Jetzt werden wir malen«, sagte Reidar und lehrte mich, zwei Engel zu zeichnen, die mit ausgebreiteten Flügeln nebeneinanderstanden, sodass der eine Flügel den anderen kreuzte. »Gib das Mama, wenn sie nach Hause kommt!« Das tat ich, mit den Worten, die Reidar mir beigebracht hatte. »Mama, ich habe ein Bild für dich gemalt. Das sind zwei Engel, die ficken.«

Auf der Hütte bekam ich meinen ersten Hund, einen Schäferhund, der Bento hieß und auf mich aufpasste, wenn kein anderer Zeit hatte. Er hatte immer Hunger und eines Nachts fraß er Papas komplette Uniform der Verkehrsbetriebe auf, die in der kleinen Küche zum Trocknen über dem Ofen gehangen hatte. Von der Mütze war lediglich der Schweißriemen übrig. Es zeigte sich, dass die Uniform nicht das ideale Hundefutter war. Im Verlauf der frühen Morgenstunden kam sie absolut überall wieder heraus. Als wir aufstanden, hatte Bento das ganze Haus verdreckt und der Gestank war entsetzlich. Papa, der mit einem Schweißriemen dastand, war verzweifelt, Mama konnte nur lachen.

Im Alter von vier bis fünf Jahren war ich am Nachmittag oft für ein paar Stunden allein, mit einem Proton-Aufnahmegerät mit Tandberg-Lautsprechern als Babysitter. Das hatten wir eines Tages gekauft, als wir uns zum Preiselbeersammeln aufgemacht hatten und das Wetter schlechter geworden war und Papa der Ansicht gewesen war, wir sollten stattdessen etwas Schönes im Stadtteil Sandaker kaufen. Er brachte mir bei, wie ich etwas vom Radio aufnehme und es wieder abspiele, und besonders der Wetterbericht begeisterte mich. Meine Eltern waren für einige Stunden weg und als sie nach Hause kamen, hörten sie bereits im Flur meine Stimme in unverkennbarem Bergenser Dialekt: »Die Küste Lindesnes-Stavern, äußerer Oslofjord. Wind aus Ost, zum Teil auffrischender Wind, über den Tag hinweg zunehmender Wind, über den Abend hinweg ansteigend zu starkem Wind.« Das tagesaktuelle Wetter saß nicht nur perfekt, es wurde auch im Dialekt des Meteorologen vorgetragen. Vielleicht wurde gerade so mein Gehör für Töne und Sprache trainiert.

Meine Kindheit war von der Art, wie Astrid Lindgren sie in ihren Büchern beschrieben hat. Wir hatten kein Geld, aber es gab auch nicht viele Verbote oder viel Schelte, wenn etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. Wir waren eine locker geführte Familie und unsere Fantasie konnte in Frieden erblühen. Ich war vollkommen verrückt nach Puppen und machte aus allem Puppen. Eines warmen Sommertages lag ein großer Dorsch auf der Arbeitsplatte in der Küche und guckte mich mit seinen reizenden Dorschaugen an. Ich zog ihm eine rosafarbene Jacke und eine Mütze an, legte ihn in meinen Puppenwagen und fuhr den ganzen Tag mit ihm spazieren, damit er schlafen konnte. Mama konnte nicht begreifen, wo das Abendessen abgeblieben war, und glaubte letztendlich, die Katze hätte es geholt. Erst im Laufe des Abends, als es anfing, aus dem Puppenwagen äußerst verdächtig zu riechen, dachte jemand daran, dort hineinzuschauen – und da lag der Dorsch bekleidet mit rosa Haube und Jacke.

Reidar

Reidar, mein Bruder, war so dünn, dass er ins Gebirge sollte, um etwas auf die Rippen zu bekommen. Eigentlich war er bei einer guten Freundin von Mama und Papa abgestellt worden, als sich für sie aber eine unerwartete Ferienmöglichkeit auftat, schickte sie ihn einfach zu ihren Freunden weiter, den Tataren in Dal in Råholt. Das Scala Trio auf Skjermertoppen war in der Kommune Dal ein Begriff und Papa kannte die Leute, die dort wohnten, gut. Die Freundin sagte anschließend, hätte sie einen Brief geschickt, dann wäre dieser nicht angekommen, bevor der ganze Urlaub vorüber gewesen sei. Eines Tages rief die Polizei bei Papa an und sagte, dass sein Sohn auf dem Rücken eines Pferdes sitzend dort über das Land reite. Papa war vollkommen ruhig, als wir dorthin fuhren, und da saß Reidar ohne Sattel, braun gebrannt und sicher auf dem Rücken eines Pferdes. Er hatte einen Sommer lang mit den Tataren gelebt und einen Riesenspaß gehabt. Er hatte jede Sekunde genossen.

Im Sommer darauf war ich an der Reihe, in die Ferienkolonie geschickt zu werden, dieses Mal die der Verkehrsbetriebe. Ich war Kind Nummer 14. Auch da bekamen meine Eltern einen Anruf, allerdings aus dem Grund, dass es mir dort so überhaupt nicht gefiel, ich nur weinte und unglücklich war. In diesem Sommer hatte ich gerade den Lotussitz gelernt und bei einem Ausflug saß ich still im Gras, ohne dass sich jemand um mich kümmerte. Als alle nach Hause gingen, kam ich nicht weg; ich konnte die Beine nicht voneinander lösen. Niemand bemerkte, dass ich fehlte, und als alle Kinder gegangen waren, wurden die Kühe wieder auf die Wiese gelassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie schließlich angefangen, nach mir zu suchen, und waren ganz froh, mich zu finden, immer noch im Lotussitz, aber zu Tode erschrocken und von Kühen umringt.

Reidar war das Beste, das ich hatte, wir sind so eng aufgewachsen und die Geschwisterliebe war groß. Sie ist mit den Jahren nicht weniger geworden. Reidar erinnert sich an alles aus unserer Kindheit und ist ein prächtiger Geschichtenerzähler. Ich bin ein paar Jahre jünger als er, aber ein Ereignis werde ich nie vergessen. Ich war fünf Jahre alt, saß auf der Arbeitsplatte in der Küche, Mama war dabei, das Essen zu kochen, und es war der Tag, bevor Reidar in die erste Klasse in der Schule kommen sollte. Da höre ich Papa kommen, schreiend mit dem dünnen, kleinen Jungen in den Armen, Mama lässt fallen, was sie in den Händen gehalten hat, und ruft – »Nein, nein, nein!« – ich erinnere mich an Schreie, Verzweiflung und Stöhnen. Reidar hatte oben in einem Baum gesessen und mit dem Messer in seine Richtung gedreht geschnitzt. Das Messer war weggerutscht, direkt in das linke Auge gegangen und hatte einen Schnitt über seiner Pupille verursacht.

Drei Wochen lang lag Reidar im Ullevål-Krankenhaus. Ich habe ihn jeden Tag besucht und sehe ihn noch vor mir in dem großen Krankenhausbett mit einer Art Sieb auf dem Auge, mit einem Pflaster darüber. Ich erinnere mich an die Worte »Cortison« und »4000-Kronen-Spritze« – eine unbegreifliche Zahl –, aber er verlor das Sehvermögen auf dem Auge. Am unglaublichsten ist, wie fantastisch Reidar vom ersten Moment an damit klargekommen ist. Er bewältigte die ganze Situation spielend und ich vergaß innerhalb kürzester Zeit, dass er nur ein Auge hatte. Er machte selbst Scherze darüber und sagte, er ähnle ein wenig Marty Feldman.

Nach einigen Wochen fing Reidar mit der Schule an und sozial lief es richtig gut – auch dort war die Musik Türöffner. Für die Schule interessierte er sich nicht besonders und schwänzte oft. Einmal kam er mit einem großen Schnitt am Kopf nach Hause. Er war bei der Probe der Blaskapelle gewesen und hatte vor einem hohen Schrank gesessen. Auf dem hatte eine Tuba gelegen, die war heruntergefallen und hatte sich beinahe über den Kopf meines Bruders gestülpt.

Wir hatten außerdem Besuch von der Polizei und der Feuerwehr, als Reidar mit dem Luftgewehr alle Straßenlaternen über Kjelsåsmyra kaputt geschossen hatte oder ganz oben in der Felswand hinter unserem Block hing und mit Hilfe eines Sprungtuches wieder heruntergeholt werden musste.

Wo Reidar ist, ist immer Action, aber er ist der gutmütigste Mensch der Welt und hat immer auf seine kleine Schwester aufgepasst – das tut er bis heute. Genau wie Papa sagt er »a’Wencke« – ah, die Wencke –, und wenn Reidar »a’Wencke« sagt, da strahlen sein ganzes Gesicht und seine Stimme vor Liebe.

Der erste Auftritt

Mama und Papa waren so jung, als sie geheiratet haben. Sie waren so sehr damit beschäftigt, Geld zusammenzukratzen, um uns zu versorgen, und lebten so intensiv, dass es das Natürlichste der Welt war, uns Kinder überallhin mitzunehmen. Geld für einen Babysitter hatten sie nicht. Oft war ich mit bei Papas Auftritten und lag auf einer Luftmatratze hinter der Bühne. Das war mein Spielplatz und mein Bett und dort saß ich und hörte Papa die merkwürdigsten Lieder singen. Ich erinnere mich noch immer daran. »DENNN … draußen auf Nøtterøy gibt es die prächtigsten Weiber der Welt – das sind nicht Frisur und Schminke, das sind Oberschenkel und Schinke’, ja, das Beste, was es gibt …!« Sie spielten auch Jazz und Schlager wie Tulpen aus Amsterdam, es war von allem etwas dabei. Gegen 23 Uhr versuchte ich, auf die Bühne zu kommen, und wurde von Papa, der mich bat, ins Bett zu gehen, fast umgeschubst. Als ich aber sieben Jahre alt war, bekam ich endlich die Erlaubnis, in der Halle der Verkehrsbetriebe in Bjølsen selbst einige Lieder zu singen.

Das war mein erster bezahlter Job – ich bekam fünf Kronen, was etwa 65 Cent entspricht. Ich sang Lieder für Erwachsene, die mir Papa beigebracht hatte, wir hatten sie auf dem Küchenboden eingeübt. Als ich auf eins und drei mit den Fingern schnipste, reagierte Papa sofort: »Nein! Du musst auf zwei und vier mit den Fingern schnipsen!« Ich wusste nicht, wovon er redete, und machte vergnügt damit weiter, auf eins und drei mit den Fingern zu schnipsen. »Nein, nein, nein! Auf keinen Fall! Zwei und vier, zwei und vier!« Er machte so lange weiter, bis ich den Zwei-und-vier-Rhythmus drin hatte, brachte mir einige Tanzschritte bei – ich sollte immer stehen, breitbeinig, die eine Hand in der Hüfte, zum Beat wippen und mit der anderen Hand mit den Fingern schnipsen. Papa klebte zwei leere Konservendosen zusammen, füllte sie mit trockenen Erbsen, malte sie weiß an und rollte sie in Glitzerzeug ein – das waren die Rhythmusinstrumente. Tsjukkatsjakka, tsjukkatsjakka, tsjukkatsjakka – das gab ein Maracas-Feeling. Jetzt sind diese Dosen Teil der Ausstellung, die 2011 im Museum Rockheim in Trondheim eröffnet wurde.

Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir in eine eigene Wohnung in Kjelsås, im Kurveien 47. Da hatte Papa schon längst erkannt, dass mein Bruder und ich Talent hatten. Er unterstützte uns vom ersten Tag an, übte aber niemals unnötigen Druck auf uns aus. Alles, was ich wollte, war doch auftreten, und Papa verstand meine Spielfreude und Musikalität.

In dieser Zeit fing ich an zu schlafwandeln, stand in der Nacht auf und öffnete die Wohnungstür zum Treppenhaus. »Jetzt ist a’Wencke wieder im Schlaf spazieren gegangen«, sagten die Nachbarn, als sie die weit offen stehende Tür sahen. Papa musste das Akkordeon vor die Tür stellen, damit ich nicht herumwanderte. Wenn er nachts nach Hause kam, schlurfte ich oft zu Mama und Papa, die mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch saßen. Ich nahm einen Hocker, kletterte darauf, zog das Schubfach vom Küchenschrank mit dem Besteck darin auf, drehte mich um, setzte mich auf den Rand und pullerte in die Schublade. Dann ging ich zu meinem Bett, holte meine Decke und legte mich in die Badewanne.

Papa liebte es zu lesen. Sein Bücherregal war zum Bersten mit Büchern gefüllt. Als Reidar und ich eines Abends allein zu Hause waren, während unsere Eltern im Kino waren, entdeckten wir, dass ein Buch ein Stück herausgezogen war, exakt so weit, dass es unvermeidlich war, es nicht zu bemerken. Mor, hvor kommer jeg fra? (Mutter, wo komme ich her?) hieß das Buch und auf diese Weise wurden bei uns zu Hause viele unausgesprochene Fragen beantwortet. Da verstand ich auch, was die Engel getan hatten.

Eine Engelsstimme hatte ich nicht. Im Mädchenchor der Kjelsås Schule war mir die dritte Stimme zugeteilt worden, ich stand ganz hinten und brummte. »Nora Brockstedt ist die Beste, sagte die 11-jährige Wencke Myhre, süß und munter mit herrlich lebendigen Augen, 3. Stimme im Kjelsås Mädchenchor«, war in einem kleinen Zeitungsinterview zu lesen. Bereits da war Nora Brockstedt ein Idol.

Während ich in die Grundschule ging, brauchte ich nur ein Instrument zu erwähnen und schon bekam ich es von Papa. Geige war meine erste Wahl, als ich sieben Jahre alt war, Reidar spielte auf dem Konservatorium bereits Klarinette und war tüchtig. Wenn ich durch das Sumpfgebiet nach Kjelsås zum Geigenunterricht ging, geschah dies jedoch mit Grummeln im Magen. Nicht wegen des Sumpfes oder der Geige, sondern weil ich den Geruch von Makrele in Tomate verabscheute, der aus dem Geigenkasten des Lehrers aufstieg. Der Geruch kam von seinen geschmierten Broten und ich hörte schließlich auf zu spielen, weil ich Geige mit Makrele in Tomatensauce verband.

Von da an klebte ich lieber alte Schuhkartons zusammen, auf die ich Klaviertasten gezeichnet hatte, und spielte Luftklavier darauf, mit dem Radio bis zum Anschlag aufgedreht. Mit vollem Körpereinsatz spielte ich Count Basie, sang Scat wie Ella Fitzgerald – in der vokalen Improvisation ohne Worte war sie unübertroffen. Da wollte mir Papa ein Klavier kaufen, aber das konnte ich verhindern. Für solche Extravaganzen gab es bei uns kein Geld. Das Wichtigste war für mich sowieso, mich wegzuträumen.

In Kjelsås wohnten wir in der dritten Etage eines vierstöckigen Blocks, in dem um zehn Uhr abends Ruhe herrschen sollte. Aber wir übten bis weit in die Nacht hinein: Reidar mit der Klarinette, Papa mit dem Akkordeon und ich habe gesungen. Immerzu sagten wir, jetzt müssen wir versuchen, still zu sein. Als wir mit dem Proben fertig waren, klopfte es über und unter uns an die Decke und das bedeutete, sie wollten, dass wir weiterspielten. »Reidun und Kjell, nehmt die Kinder und setzt euch in den Hausflur!« Der gesamte Treppenaufgang saß dort und sang mit uns Weihnachtslieder und Schlager, die Leute kamen mit Kaffee heraus und hörten uns beim Üben zu. Im Flur gab es ein unverwechselbares Echo, das Papa liebte.

Er fing an, uns in seinem Weihnachtsorchester, dem Nisse-Orchester, einzusetzen, und wir spielten oft in Bjølsen, wo er für die Unterhaltung bei den Weihnachtsbaumfesten zuständig war. Damals konnten diese Feste bis weit in den Februar oder März hinein stattfinden und wir konnten dabei jedes Jahr 35 bis 40 Auftritte absolvieren. Bei jedem Weihnachtsbaumfest bekam ich fünf Kronen, legte sie in einen Schuhkarton und sparte auf mein erstes DBS-Fahrrad – das kostete 265 Kronen. Das Nächste war eine Singer-Nähmaschine, die jetzt auch auf dem Dachboden steht. Ich kann mich nicht dazu durchringen, sie wegzuwerfen. Auf ihr habe ich alle meine Kostüme genäht, in denen ich aufgetreten bin, oft von Spanien inspiriert und überaus geschmacklos.

Große Plastiktüten mit Süßigkeiten und Papierhut waren bei einem Weihnachtsbaumfest die obligatorische Gabe an jedes Kind. Ich sammelte einige ein und nahm sie mit nach Hause und dann machten wir im Keller ein eigenes Weihnachtsbaumfest für den ganzen Block, mit Süßigkeitentüten und Hüten für alle. Das sprach sich herum und es kamen weitere Kinder und Erwachsene aus den Nachbarblöcken, und in dieser Gemeinschaft herrschte eine ganz eigene warme Atmosphäre.

Papa, Reidar und ich fuhren auch in alle Krankenhäuser, zum Blindenverband, ins Altersheim und ins Gefängnis Botsen – wir konnten acht bis neun wohltätige Auftritte an einem Tag haben und als wir fertig waren, ging es nach Hause zum Hausaufgabenmachen. In Botsen traten wir in einer Art Amphitheater auf, mit Löchern in der Wand hinter uns, durch die die Wachmänner schauten, um zu kontrollieren, dass alles ordentlich vonstattenging. Wenn Papa kam, hieß es immer: »Hei Kjell, wie geht es dir!« Und »Heihei Robert! Wie geht es dir!« gab er als Antwort. Papa war im ganzen Land bekannt und er kannte alle Leute. Egal ob es beim Weihnachtsbaumfest, beim Scheunentanz oder in Botsen war, riefen die Leute: »Da kommt der Myhre!« Reidar hat das übernommen und überall, wo ich bin, kommt die Frage: »Wie geht’s deinem Bruder?«