Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka - E-Book

Die Wende im Leben des jungen W. E-Book

Frederic Wianka

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Beschreibung

Ein Wenderoman. Ein Berlinroman. Ein Künstlerroman. Ein Roman über eine lange Reise. Der Protagonist berichtet von den Verzweigungen seines Lebens, beginnend mit der Kindheit, seinem Heranwachsen in der DDR, einer Sozialisation für ein System, das es mit einem Mal nicht mehr gab. Von seiner Flucht in die Stadt, die niemals ist, die immer nur wird, die vor dem Ereignis des Mauerfalls verspätet erscheint. Zu spät für ihn? Ein Lebensbericht von reflektorischer Kraft. Die Erzählung eines nur vermeintlich Gescheiterten. Ein Roman in bildhafter Sprache, assoziationsreich und schwungvoll erzählt.

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Seitenzahl: 395

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Frederic Wianka

Die Wende

im Leben des jungen W.

Roman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://www.dnb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-96258-050-6

ISBN: 978-3-96258-054-4 (E-Book)

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 PalmArtPress

Verlegerin: Catharine J. NicelyPfalzburger Str. 69, 10719 Berlinwww.palmartpress.com

Umschlagkonzept: Marc Omar

Lektorat: Barbara HerrmannSatz/Gestaltung: Nicely MediaDruck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Hergestellt in Deutschland

Für Gerd Wick

Inhalt

Der Postillion e.V. im Rhein-Neckar-Kreis

Legende

Aus dem Programm von PalmArtPress

Nie wird jemand vor einer leeren Leinwand stehen, vor einem unbehauenen Stein oder einer Tüte Gips und sich anhören, welches Werk er jetzt sähe, wäre der Künstler seinerzeit nicht anderweitig beschäftigt gewesen …

Dienstag, 09. November

Lieber Ingo!

Heute morgen bin ich aufgewacht und mir war alles klar …

Kannst Du Dir vorstellen, einen Menschen zu hassen, ohne ihm je begegnet zu sein? Nur aufgrund seiner Post, die er amtlich beauftragt in regelmäßigen Abständen verfasst? Immer neue Auskunftsbegehren, die Deine Glaubwürdigkeit in Frage stellen, Dich bezichtigen, so dass Du Dich unwillkürlich selbst nach einer möglichen Täterschaft befragst? Schreiben, die Dich erreichen, während Du Dein einsames Frühstück zu dir nimmst? Du, eben noch sorglos, plötzlich den neuen Tag fürchtest und nach dem Öffnen des Briefes nur Zuflucht suchst? Vielleicht findest Du sie in Filmen. Stell Dir vor, manchmal sitze ich ganze Tage vor der Röhre und durchlebe die Schicksale phantasierter Menschen. So schön die kurze Fiktion ist, so schmerzlich wirkt die Leere des Abspanns, dass ich den nächsten Film einlegen muss. Vielleicht in Büchern, mit denen es Dir immer seltener gelingen will. Vielleicht mit dem Radio im Dauerbetrieb: Jingles, Werbung, Nachrichten. Ich höre nicht mehr hin. Was soll denn passiert sein, um das es besser stünde, wenn ich darum wüsste? Oder einfach nur im Bett liegend, das immer Deine Sorgen teilt, während Du stumm geworden zur Decke schaust und den Abend erwartest, mit ihm die Nacht, die nichtbürgerlichen Stunden. Die Zeit der Anderen, Zeit der eigenen Verwirklichung, Zeit derer, die kein Resümee brauchen, kein bürgerliches Tagwerk zur Selbstvergewisserung.

Oder, viel perfider, Du hast einmal einen guten Tag: Das Frühstück ist Dir nicht nur bloße Nahrungsaufnahme, sondern eine kleine Lust. Und irritierenderweise fallen Dir großväterliche Sprüche ein: Morgenstund' hat Gold im Mund … Aber unten im Haus schlägt die Tür. Du hörst den schnellen Schritt des Briefträgers, lauter mit jeder Treppe, die kurze Stille auf jedem Absatz, bis er Dein Stockwerk erreicht hat. Die Stille, wenn er Dein Türschild liest, Deinen Namen vergleicht mit dem des Adressaten auf dem gelben Umschlag, das Zustelldatum hastig einträgt. Nichts. Bis er schließlich die Klappe vom Postschlitz hebt. Bis der Brief von irgendwoher in Dein Heim fällt, auf den Dielen liegt, daliegt, die amtliche Ermahnung an Dich, die Dich wieder einmal erreicht hat, aus einer Stadt, die Dir nicht fremder sein kann. Die Dich aber nicht loslässt. Die immer präsent ist und vom ersten Brief an Teil Deiner Schuld. Du hörst noch die Klappe fallen und die sich im Treppenhaus abwärts windenden Schritte wie den hämischen Gruß aus einer fernen, längst vergangenen Zeit: Morgenstund' hat einen üblen Geschmack im Mund …

Verhandlung. Ich bin geladen, so die amtliche Variante. Das Erscheinen ist angeordnet, meines oder das einer vergleichsberechtigten Person, ordnungsgeldbewehrt mit bis zu 3.000 Euro. Ich schaue in meinen Kalender, als hätte ich eine Wahl. Der Termin ist weit hin, somit frei. Von dieser Seite kein Problem. Das allerdings war schon vorher klar. Und plötzlich packt mich eine rotzfreche Reisewut. Ich kann es kaum erwarten. Raus aus meiner Stadt, gen München, die heimliche Hauptstadt … Etwas Anderes weiß ich nicht. Nur Historie fällt mir ein: Hauptstadt der Bewegung. Und moralinsaures Paragraphenwerk: 218 auf jeden Fall, genauso 175, ein Freiheitsbegriff dagegen, der sich erschöpft in einem durchgetretenen Gaspedal jenseits der 130. Politikskandale versanden gut geschmiert … ein Volk macht den Strauß … ein Völkchen kollektiv überanstrengt von der eigenen Einkommensgröße … Fön im Kopf … Vage Bilder einer von der Kette gelassenen Freistaatlichkeit. Meine Wut tobt, meine Antipathie auch. Aber beides kippt bald in Ohnmacht zurück, und ich frage mich: Was wollen die dort eigentlich von mir? Der Nachhall echot mir so dröhnend wie hohl in den Ohren. Die Groteske erfährt mit der möglichen Antwort ihre Vollendung. Es lähmt mir den Verstand, weil ich nicht weiß, was es dabei nicht zu verstehen gibt. Und obwohl juristisch nur eine durchlaufende Nummer, bin ich zutiefst verletzt, meines Ausgeliefertseins wegen erschüttert, ja ich bin fassungslos, mir von diesen Herren Hochwohlgeboren – von verbeamteten Weißbiertrinkern Vorhaltungen machen lassen zu müssen, die so fern der hiesigen Wirklichkeit sind, der meinigen sowieso.

Die letzten Tage vor dem Prozess vergehen in Agonie. Ich bin wie gelähmt, kann nicht klar denken, schwanke wie ein Manisch-Depressiver in schnellen Wechseln. Meine Pole sind Wut und Traurigkeit. Schmal ist der Grat dazwischen, auf dem ich gar nichts fühle, denke oder will. Die Uhr hämmert ihre Sekunden in den Raum. Ich sehe vom Bett aus die Schatten der Fensterkreuze wandern. Der Kalender streift ein um das andere Tagesblatt ab. Meine vierundzwanzig Stunden haben keinen Rhythmus. Ich wache, wenn es dunkel ist, und schlafe, wenn die Schatten, langweilig geworden, am kürzesten sind, wenn sie geradeaus in mein Zimmer fallen, Kirchenkreuzen gleich in ihrem Versuch, bedrohlich zu wirken.

In jene Tage brach von außen nur noch das Klingeln des Telefons, das ich nicht mehr abnahm, die Besuche des Postboten, der mir weitere Briefe in die Wohnung warf, die ich nicht mehr öffnete, das eine oder andere Prospekt, das zwischen sie geraten war, Werbung für Dinge, die ich nicht mehr brauchen werde. Eine ungestörte Ruhe.

Dann, völlig unvermittelt, am Tag vor dem Prozess, stehe ich wie ferngesteuert auf und werfe den zur zweiten Haut gewordenen Morgenmantel in die Ecke. Ich schere mir den Wald aus dem Gesicht und fülle die längst in Vergessenheit geratene Reisetasche, mich laut fragend: Was trägt man in München vor Gericht? Mit Befremden erkenne ich mich wieder. Aber den Moment vor Augen, ich in einer von mir erwarteten Rolle, die nur ausgefüllt sein kann, von dem, der passend verkleidet dasteht, kann nicht anders, die Erfahrung hat es mich gelehrt: Ich begutachte jedes dem Schrank entnommene Stück nach Kriterien, die ich so wenig kenne wie München, nach Situationen, die ich nicht vorhersehen kann. Ich falle mit jedem weiteren Griff in die Schubladen aus den Wochen der Trance in meine Realität zurück. In jede Richtung präpariert und auf keine Eventualität vorbereitet, verlasse ich mit einer überschweren Tasche die Stadt, für die kommenden drei Tage.

Keine Reisen, hatte ich zu diesem Zeitpunkt längst beschlossen, weil ich nicht mehr fliehen will.

Du kennst mich gut. Du weißt um meine Art zu reisen. Ich habe mich nicht geändert. Warum auch, wenn die Züge im Unterschied zu damals im Stundentakt verkehren, ein Verpassen nahezu folgenlos bleibt. Den Streit aber, den Du jenen Sommer mit mir hattest, werde ich nie vergessen. Wie viele Jahre sind seitdem vergangen? Noch immer sehe ich Dich in der offenen Zugtür stehen, während der Schaffner von außen dagegen drückt, die baumelnde Kelle am Handgelenk. Wie er sie zu schließen versucht und es nicht schafft, weil Du von innen dagegenhältst mit einem so ernsten, von mir nie zuvor gesehenen Gesicht. Wie Du seine albernen Drohungen wortlos über Dich ergehen lässt, solange bis ich endlich angerannt komme, meinen Rucksack zwischen Deinen Beinen in den Zug schiebe, mit einem einzigen Schritt über alle Stufen hineinspringe, Du die Tür hinter mir zuziehst. Ich musste mich fast übergeben, so war ich gerannt. Ich hatte mich auf den Boden fallen lassen, während Du durch das Türfenster den Schaffner in seinem Versuch beobachtetest, die Fassung zurückzugewinnen, sein reichsbahnuniformiertes Selbstverständnis. Erst als ich das Trillern der Pfeife hörte und die Schaffnerkelle am Fenster vorbeischwenken sah, sah ich ein kurzes Lächeln in Deinem Gesicht. Bloß das sichtbare Zeichen Deiner Freude über den Streich oder darüber, dass ich es doch noch geschafft hatte? Ich wusste es nicht. Es erstarb sofort, als der Zug sich in Bewegung setzte und unter dem Bahnhofsdach hervorrollte, auf einem scheinbar unendlichen Gleis durch die tiefstehende Vormittagssonne, durch das Zucken der Giebelschatten. Du hattest meinen Rucksack genommen, so selbstverständlich als wenn er Deiner gewesen wäre, und warst im Zug verschwunden. Von vorn das wilde Singen der Taigatrommel und von der Seite die Sonne, die so schnell über die Dächer jagte, als hätte sie sich entschlossen, mit uns nach Ungarn zu reisen.

Den Zug nach München habe ich knapp verpasst. Mir bleiben somit zwei Stunden, die ich in einem Internetcafe darauf verwende, mir ein Zimmer zu buchen. Ich finde in einer St.-Stephan-Straße bei München eine bezahlbare Pension, die Zum Eber heißt. Weiß derselbige, wo das ist, denke ich, aber nach einer Stunde ungeahnter Mühsal und nie für möglich gehaltener Geschmacklosigkeiten ist mir das egal.

Den nächsten Zug erreiche ich in gelassener Ruhe. Er rollt aus seiner Röhre auf dem unterirdischen Bahnsteig ein. In einem fast leeren Abteil suche ich mir einen Platz, möglichst entfernt von anderen Reisenden. Ich wuchte meine Tasche in die Ablage und hänge die Jacke so, dass sie mir zwischen Kopf und Fenster als Kissen dienen kann. Der Sitz ist bequem, die Lehne verstellbar, und kaum dass ich sitze, fühle ich schon meine Müdigkeit. Es ist Mittag, seit Wochen die Zeit meines tiefsten Schlafs. Von irgendwoher kommt ein Piepen, ein Alarmton, der endet, als die Türen schließen. Ein Geräusch, tief und satt, als wolle es die zugrundeliegende Mechanik offenbaren. Stille im Zug. Kein Geräusch von außen. Das Neon ist durch die Tönung der Scheibe zum Licht einer südlichen Sonne verfälscht. Der Hauptbahnhof wie eine ferne Animation. Der Zug rollt lautlos an, ohne jedes Rucken, mit geschlossenen Augen unmöglich, Stillstand und Bewegung zu unterscheiden. Er verlässt die Tiefebene, gleitet in das Dunkel der Röhre. Er offenbart nur allmählich seinen Zweck – Bewegung, und verheimlicht bislang den Sinn seiner Konstruktion – Geschwindigkeit. Erst als er den Tunnel verlässt und in die Herbstsonne gleitet, die zerfetzt von Bäumen und Masten durch das Fenster zuckt, lässt sie sich erahnen. Aber weil mein Körper sie nicht spürt, schauen meine Augen genauer hin. Sie sehen Brachland rosten, junge Birken durch Schwellen brechen, Strauchwerk parallele Gleiskörper erobern, alles wie in einem zu schnell abgespulten Film. Zerfallende Waggons unter rostverschalten Brücken. Eine Tankstelle hoch über dem Zug, wie auf eine Klippe gebaut. Werbung für Produkte, die man nicht mehr kaufen kann, auf bröckelnden Fassaden, die so tun, als sei nur der straßenseitige Flaneur ein Betrachter – Hobrechts letzter Hinterhof … Ich sehe die Stadt aus der Perspektive eines Abreisenden.

Südkreuz wird erreicht, so die Ansage. Und ebenso unmerklich wie der Zug beschleunigt hatte, bremst er ab, schwebt in den sorglos errichteten Beton hinein. Seine Eisenhaut teilt kühn die graue Nachlässigkeit. Sie steht zur Weiterfahrt bereit zwischen allen Richtungen. Ja. Fort, denke ich. Weg von hier: Flucht – was für eine Möglichkeit. Ich war nie hier. Mit mir fährt die Erinnerung. Ich verwische meine Spuren. Ich lösche mich aus. Ich tilge die letzten Jahrzehnte, nichts bleibt von mir. Ich bin schuldlos, ich bin ungebunden, in nichts verstrickt, ohne Vergangenheit bin ich nur ich. Frei.

UNGARN. Du warst mit meiner Tasche verschwunden. Ich saß auf dem Boden. Mir war noch immer schlecht. Ich zitterte am ganzen Körper, meine Beine gehorchten mir nicht. Unter mir spürte ich die Drehgestelle in Weichen rasten. Sie schlugen hart in die Spur, bis in meinen Rücken hinauf. Ich sah meine Beine bei jedem der Gleiswechsel wackeln, die Sonne auf ihnen, ein Leuchten, das anfänglich nur ein Flackern war. Als die Häuser in lockerer Bebauung, flacher zudem und weniger nah dem Bahndamm standen, der in eine scheinbar grenzenlose Weite ragte, spürte ich ihre Wärme, bevor sie allmählich auch das Innere des Zugs aufheizte.

Die Ferne Ungarns war mir damals nicht begreiflich. Ich war nie zuvor soweit gereist. Du wohl auch nicht? Ich weiß es nicht mehr. Unsere Reise war ein unglaubliches Abenteuer. Fast eintausend Kilometer lagen vor uns. Auf dem Weg waren zwei Grenzen zu passieren. Ich hatte das naive Gefühl, frei zu sein. Ich durfte ein anderes Land sehen, andere Menschen treffen, andere Laute hören, andere Dinge essen, einen andersfarbigen Himmel sehen. Ich genoss das monotone Rattern der Gleise, das Baumkronenflackern der Sonnenstrahlen, das Auf und Ab der Telegraphenleitungen. Ich sah und spürte die Bewegung. Sie brachte mich weg von dort. Weg von was? Zu Beginn unserer Reise hatte ich noch keine Worte. Ich hätte es nicht beschreiben können. Ich wusste es nicht, ich fühlte ganz unbestimmt – die Energie eines Aufbruchs.

Wieder das Piepen, das darauffolgende Schnappen der Türen, der umsichtige Blick des Zugbegleiters, wie er heute wohl heißt. Und bevor er, allen Sicherheitsvorschriften genüge getan, die Fahrt des ICE freigibt und selbst einsteigen will, kommt ein Mann herangelaufen. Mit seinem Kurzreisegepäck zwängt er sich durch den enger werdenden Spalt dieser letzten offenen Tür. Ich weiß, es ist natürlich albern, aber er war mir in diesem Moment, seiner Verspätung wegen sympathisch. Die Abteiltür fährt zur Seite, und er tritt ein. Aber vielmehr war mir, als trete eine Frisur ein. Ich sah über der Lehne des Vordersitzes nicht mehr als seinen Kopf, die unspektakuläre, ja langweilige Physiognomie seines Gesichts. Die leichenähnliche Blässe. Die von Alkohol, Psychopharmaka oder sonstigen Substanzen aufgedunsenen Wangen. Die Augen, die dagegen tief in den Höhlen lagen. Sie waren so stumpf und glanzlos wie abgestoßenes Schildpatt, dass ich schlecht sagen kann, sie schauten hinter ihren dicken Gläsern hervor, durch das eckige Großgestell von ähnlicher Schwärze wie das mutmaßlich gefärbte Haar. Dieses stand trotz aller gekämmten Mühe wie elektrisiert von seinem Kopf ab, als wollte es nicht zu ihm gehören.

Die Tür ist längst hinter ihm zugefahren und allmählich nimmt sein Körper die Bewegungen des anrollenden Zuges auf. Er steht breitbeinig, wie ich mir vorstelle, und balanciert jeden Gleiswechsel, jedes sanfte Rucken und Schlagen. Seine leblosen Augen tasten derweil das Abteil ab, die leeren Sitze, die vier oder fünf anderen Fahrgäste, die keine Notiz von ihm nehmen. Schließlich sieht er mich, der ich tiefer in die Polster rutsche, mich schnell noch zu verstecken suche … Zu spät. Ich ahne schon, wieder einmal Opfer meiner Neugierde geworden zu sein, ebenso meiner selbstbezogenen Sympathiezuteilung. Mit einem übertriebenen Schwung wirft er den Riemen des einseitig getragenen Rucksacks auf die Schulter zurück und kommt geradewegs auf mich zu. Eine Sitzreihe vor mir bleibt er stehen, schaut mich an, einen kurzen Moment nur, aber mir ist, als musterte er mich, mit seinen matten Augen, durch geweitete Pupillen. Soll ich aushalten oder wegschauen? Wie reagiert dieser Mensch in dem einen oder anderen Fall? Aber wahrscheinlich ist es egal, die Neugierde hat mich meinen Fehler längst machen lassen. Ich frage mich bloß noch, jetzt auf andere Art interessiert, wie er ihn nutzen wird. Seine Augen lassen von mir ab, wandern zur Gepäckablage hoch, verweilen auf meiner Reisetasche. Mit erstarrtem Blick, so als erwecke sie seinen Unwillen, lässt er seinen Rucksack von der Schulter gleiten und macht sich mit sprunghaften Bewegungen daran, unter gleichzeitigen, kräftigen Stößen, sie in meine Richtung zu schieben, um schließlich seinen Rucksack über dem anvisierten Platz abzulegen. Dann aber setzt er sich nicht. Er bleibt stehen und schaut mich wieder an. Ich überlege bereits, wie viele Stunden die Fahrt nach München dauern wird, und ob es nicht klug wäre, mich für mein nachlässiges Abstellen der Tasche zu entschuldigen. Worte wie: Es tut mir leid für Ihre Mühe. Oder: Ich hätte daran denken müssen, dass ich nicht allein reise. Vielleicht: Hätten Sie doch etwas gesagt. Aber wären das Entschuldigungen gewesen? Ich hätte ihn möglicherweise noch provoziert. Immer weitere Varianten vorauseilender Demut schießen mir durch den Kopf. Ich sage keine. Sie scheinen mir alle übertrieben oder nicht schlüssig, schließlich weiß ich nicht, ob er tatsächlich etwas von mir will. Vielleicht erscheine ich ihm nur so komisch wie er mir, starre ich ihn doch genauso unverwandt an. Und während ich noch über die letzte, bestimmt beste Möglichkeit nachdenke, diese Situation aufzulösen, indem ich ihm einfach einen Guten Tag wünsche, öffnen sich seine Lippen. Sie ziehen die kaffeebraun verklebten Mundwinkel auseinander, legen tabakgelbe Zähne frei. Und hinter diesen, unerwartet mühelos, formt seine Zunge die Frage: „Können Sie auf mein Gepäck aufpassen?“ Wieder einmal zu keinem eindeutigen Ja oder Nein imstande, sage ich, dass das durchaus möglich sei, vorausgesetzt, ich schliefe nicht. Scheinbar zufrieden, ohne einen Dank, verlässt er das Abteil in Richtung Speisewagen. Ich stopfe mir Ohropax ins Ohr, ziehe die Jalousie runter, lehne den Kopf an meine Jacke und schließe die Augen.

Kennst Du den Schlaf in einem Zug mit seinen Träumen, die Dich in einem sanften Schweben davontragen, während Du Dich tatsächlich entfernst von allem, was in drückender Schwere wichtig war, so bestimmend, dass Du keinen Ausweg mehr gesehen hast? Du fährst auf ihm. Du spürst ihn unter Dir und fühlst ihn in Deinem Inneren. Mit der Ferne wächst der Abstand. Die Flucht gelingt – so gewiss wie Du zurückkommen wirst. Aber daran denkst Du nicht. Nicht, weil Du nicht willst, sondern weil Du es nicht kannst. Weil Du im Jetzt bist, auf diesem Weg ins Ungefähre. Weil alles schon entschieden scheint und in irgendeiner Abfolge läuft, die längst keinen Anfang mehr hat. Weich hüllte mich das Vibrieren ein, schwirrte von den Füßen durch den Körper in den Kopf, wattierte mein Gemüt und wog mich in den Schlaf … Ich hatte der Müdigkeit nachgegeben. Ich hatte nicht an die Kontrolle denken wollen. Ich, ein achtsam Reisender? Es hätte müdes Warten bedeutet, bloß weil jemand irgendwann sehen wollte, ob ich auch gezahlt hatte für meine Flucht.

UNGARN. Wie lange wir schon gefahren waren, von Schwerin eine halbe Stunde weg oder länger, ich weiß es nicht mehr. Ich hatte wieder Kraft geschöpft, auch die Übelkeit überwunden, bis auf ein flaues Gefühl, als ich aufstand. Ich wusste nicht, ob es Folge der Anstrengung war oder die Ungewissheit, ein Vorbote des Wagnisses, in das wir uns hineinbegeben hatten, wir unerfahrenen Reisenden. Mich bewegte nicht die Frage, was passieren könnte, die Reise schien gefahrlos. Es war die Sorge, was mit uns geschehen würde, das Sehnen nach dem Unbestimmten, ob es uns gleichsam widerfahren würde. Noch rollte der Zug durch die liebliche Unaufgeregtheit Mecklenburgs (Bezirk Schwerin, wie unser Republikteil hieß. Ein Wort, das schon so fern klingt.) Alles war mir so vertraut in diesem welligen Moränenland mit seinen dahingeworfenen Hügeln, die keine Ketten bilden wollten, den vielen Tälerteichen, denen das Seegewordensein verwehrt geblieben war, den trotzigen Morgennebeln über den größeren Wassern, seinen Buchenwäldern, dicht und dschungelgleich. Aber schon bald, wir hatten Wittenberge kaum hinter uns gelassen, war alles das nicht mehr, nur noch sandige, vom Gleis geteilte Fläche. Von trockenen Äckern zuweilen unterbrochen, standen Birken und in Forsten geometrisch ausgerichtete Kiefern. Dammwild drängte scheu im Lichtungssaum, wo es vorher noch frei gestanden. Ungleich trockener schien die Sonne, brannte herab auf das, was schon hätte Fremde sein können, wenn das Leben dort nicht das gleiche gewesen wäre.

Du hattest bewegungslos auf Deinem Platz gesessen, den Kopf auf die Hand gestützt und in die Landschaft geschaut. Ich hatte nicht einmal ein Zucken Deiner Augen bemerkt, als ich die Abteiltür aufgezogen und mich auf den Platz gegenüber gesetzt hatte. Deine sichtbare Verärgerung war mir allzu vertraut, so wie Dir die Enttäuschung über meine Unzuverlässigkeit, die Dir mein Zuspätkommen wieder einmal bestätigt hatte. Aber ich hatte es geschafft, dank Deiner Hilfe. Und ich spürte wie tief unsere Freundschaft war. So wie ich mich heute, während ich das schreibe, an dieses Empfinden wieder erinnere, so wenig ich mir Deines Interesses daran sicher sein kann.

Wie ein unausgesprochenes Einvernehmen hattest Du bald Dein Buch genommen und zu lesen begonnen, während ich, Heim- und Fernweh zugleich empfindend, aus dem Fenster schaute. Wir tauschten nur einen verstohlenen Blick, wenn ich, von der einen Seite Brandenburger Fläche müde geworden, zur anderen sah. Oder Du, zu einer kurzen Pause gezwungen, eine Seite in Deinem Buch umblättertest. Wir saßen uns wortlos gegenüber, bis Du, ohne von Deinem Buch aufzuschauen, meintest, der Schaffner habe bestimmt frieren müssen, als der jugendliche Wind ihm die Mütze vom kahlen Kopf geblasen hatte. Erst damit fiel mir wieder ein, ich hätte mich nie mehr daran erinnert, wie ich hinter dem Schaffner über seine auf dem Bahnsteig liegende, wie ein Nachttopf offene Schirmmütze gesprungen war. Wie ich im Flug das Bein noch streckte, um nicht hineinzutreten. Und wie ihr vorheriger Träger mit beiden Händen gegen die Tür drückte, während ich meinen Rucksack in den Zug warf. An sein glühendes Gesicht, dieses Krebsrot, das sich von dort ausgehend über den kahlen Kopf zog, das einen wunderbaren Kontrast in dem weißen Haarkranz fand, den sein Alter ihm noch gelassen hatte.

Du warst versöhnt, wie ich jetzt wusste. Vielleicht warst Du es schon mit dem Spaß, den der Schaffner Dir mit dem albernen Streit um die Tür bereitet hatte, bloß weil sein Zug aufgehalten worden war. Nur weil Du ein republikweites Räderwerk um seine Planmäßigkeit zu bringen drohtest, in Deinem Wunsch nicht ohne mich zu reisen. Du, ein Einzelner, und einmal nicht das System mit seinen allgemeinen Unzulänglichkeiten selbst. Ich bin mir auch sicher, dass Du Dich nicht aus Zorn so schnell von mir abgewendet hattest. Vielmehr konntest Du Dir das Lachen nicht verkneifen, wolltest aber nicht auch noch dankbar sein, hast Dich umgedreht und bist zum Abteil gegangen, mit meinem Rucksack in der Hand.

Wir fuhren bis Berlin in wortloser Beredsamkeit. Deine Augen waren auf das Buch gerichtet, während meine sich ausruhten an der Tristesse der Mark – ein Wort, das ich damals nicht kannte, in seiner Bedeutung nicht kennen musste. Noch waren alle Grenzen unerreichbar fern und am Horizont zeichnete sich nur der glockenhafte Dunst Berlins ab. Bald schon tauchten wir hinein. Endlos die lückenhaften Häuserzeilen, die sich auftaten, die verrußten Fassaden, die abgebrochenen Balkone. Und immer wieder zerschossenes Mauerwerk, wie zur Deckung mahnend, auch dort, wo nicht nach dem ersten Anruf scharf geschossen wurde. Unverhofftes Grün zwischendurch. Große, weite Parks. Klein und parzelliert hingegen, aber ebenso menschenleer das aussteigerhafte Schrebergartenidyll. Eingezäunte, heile Welten mit Wochenendobdach und Sonnenterrasse, mit Schirmen und aufgeblasenen Wasserbecken, mit grünem Obst an den Bäumen. Es war noch nicht reif, um schon gepflückt und eingekellert zu werden von dem, der den Lauf der Natur sieht, mit ihm den nächsten Winter, der nicht in dieser, seiner eigenen Welt war, nicht an diesem Vormittag. Der improvisierend oder bummelnd oder den Feierabend einfach abwartend sich gerade an einen größeren Plan verschwenden musste.

Mit der S-Bahn von Lichtenberg zum Hauptbahnhof. Dort stiegen wir zu: Dresden, Prag, Bratislava, Budapest. Die exotischen Namen auf den Zugtafeln steigerten meine Vorfreude auf die erreichbare Ferne. Auch wenn ich es vorher gewusst hatte, so fühlte ich erst in dem Moment, als wir den Zug bestiegen: Wir fahren tatsächlich ganz woanders hin.

In unserem Abteil saßen vier Männer, alte Männer, mit der geringen Zahl unserer Jahre gesehen. Sie saßen in derben Sachen, die niemals Mode gewesen sein konnten. Sie beugten ihre wettergegerbten Gesichter über Pergamente auf den Schenkeln, teilten Salami und Brot. Einer hatte ein Glas zwischen seine Beine geklemmt und fischte mit bloßen Fingern Paprikastreifen heraus. Wir hatten sie gestört, als wir mit dem Gepäck zwischen ihnen hindurch zu unseren Plätzen wollten. Sie aber, stehend nun und viel kleiner als wir, das Paprikaglas und die Pergamentpakete auf den Armen, wünschten uns freundlich Guten Tag. Die beiden Worte waren so akzentreich gesprochen, dass ich glauben musste, sie sprächen sonst kein Deutsch, sie hätten diese aus Höflichkeit dem bereisten Land gegenüber gelernt. Kaum dass wir unser Gepäck verstaut hatten und saßen, baten sie uns, mit ihnen zu essen. Ihre schwieligen Hände hatten bereits Brot abgebrochen, mit einem Taschenmesser Salami geschnitten, waren wieder in das Glas gefahren. Wir schüttelten irritiert den Kopf, sagten in verunglückter Höflichkeit Njet und solche Albernheiten, worauf sie sich erst fragend anschauten, dann wie auf Kommando in lautes Lachen fielen. Einer hieb dem Anderen auf die Schulter, dass dieser nach Luft ringend vornüber sank. Der Dritte hatte die Lehnen gegriffen, als müsste er sich noch im Sitzen festhalten. Und der Vierte rief immer wieder ein Wort, womit er das Gelächter weiter befeuerte. Bald klang es erschöpft, bloß noch wie ein Kichern oder Schnarren am Gaumen. Er schüttelte den Kopf, als ob er etwas nicht verstehen könne, während auch seine Freunde sich allmählich zu beruhigen schienen. Mittlerweile war er aufgestanden, hatte ein Pergament auf das Fensterbrett zwischen uns gelegt, von allem etwas darauf getan und uns mit einer auffordernden Handbewegung eingeladen. Dann nahm er einen Koffer von der Ablage, balancierte ihn unter gefährlichem Schwanken auf seinen Platz neben mir, durchwühlte den Inhalt, buddelte sich durch Wäsche, Bücher, Hefte. Meine neugierigen Augen versuchten vergeblich die Titel zu lesen. Auf einem Buch sah ich vier Bilder: einen Acker, viermal – gepflügt, gesät, in vollen Ähren, dann abgeerntet. Einen Mähdrescher auf dem Deckel eines anderen, eine Betriebsanleitung wie mir schien. Zwischen ihnen holte er eine Flasche hervor, ohne Etikett, mit einem Ploppverschluss, gelbschimmernd der Inhalt und vier Plastebecher, die auch zum Zähneputzen gedacht sein konnten. Zwei gab er uns und goss sie voll. Ein Geruch von Frucht und Alkohol breitete sich aus. Für sich und seine Freunde füllte er die beiden anderen. Wir stießen an. Sie sagten eggeschegge. Wir antworteten mit einem Prost. Ein fruchtiges Brennen in meiner Kehle. Ich rang nach Luft. Njet Wodka! lachten sie. Sie gossen nach und stießen wieder an, um sogleich auf ein Weiteres nachzuschenken … Schnell spürte ich den Zwetschgenschnaps. Bald wollte er mir die Zunge lösen, mich gesprächig machen in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich blieb stumm, bis auf den Trinkgruß, in ihrer oder unserer Sprache, den ich erwiderte, dankbar, etwas sagen zu können. Sie hatten begonnen schneller zu reden, sich gegenseitig zu unterbrechen, scheinbare Stichworte fielen, auf die stets ein Lachen folgte. Sie schienen gelöst oder befreit. Von Pflicht und Druck? Es war, als wenn nicht wir in den Urlaub führen, sondern sie. Der Ungar, der die Flasche aus dem Koffer geholt hatte, war wieder aufgestanden. Er ging die zwei Meter zwischen uns in kurzen, zackigen Schritten auf und ab. Er redete zwischen Tür und Fenster, warf die Arme hoch bei jedem Richtungswechsel, breitete sie aus und schlug mit der Faust nach unten, womit er seine Worte unterstrich, als stünde ein Tisch vor ihm oder ein Pult. Dann wieder streichelten seine Hände etwas Rundes zu Worten, die beinah zärtlich klangen. Er schnupperte verzückt mit geschlossenen Augen, führte seine Nase darüber hinweg, bis er die Augen aufriss und sich wie ein vom Glück bedachter Hungernder dieses imaginierte Rund in den Rachen schob, dabei mit den Zähnen schlug und Geräusche von sich gab wie ein wildes Tier beim Beutemachen, angefeuert von den Freunden. Wir schauten erschrocken zu, so plötzlich und unverständlich war uns dieser Spaß. Dann setzte er sich und fasste mich bei der Schulter. Sein Lachen schüttelte mich, es steckte an. Mir fiel sein Buch mit dem Mähdrescher ein und eine alte Schlagzeile der Aktuellen Kamera: Erntekapitäne auf großer Fahrt … Und je mehr ich lachte, desto mehr lachte er … desto stärker wurde das Rütteln an meiner Schulter. Und aus der Ferne wie ein neues, noch fremdes Motiv, in Schleifen der Wiederholung immer lauter, höre ich mir verständliche Worte, während das Lachen in immer weiterer Ferne ausklingt, kaum noch hörbar ist, erstirbt … Kein Traum dauert ewig, die meisten sind kurz, die schönen besonders: „Ihr Ticket bitte!“ Rütteln. „Hallo!“ Wieder Rütteln. „Fahrausweiskontrolle! Das Ticket bitte!“ Nur mit Widerwillen finde ich zurück, öffne die Augen und sehe benommen die Hand des Zugbegleiters an mir zerren. „Zeigen Sie mir Ihren Fahrausweis“, höre ich ihn sich wiederholen, mit lauter Stimme, in ansteigender Hysterie, ähnlich eines soeben scheiternden Pädagogen. Ich, das renitente Kind, lache still vor mich hin, die Arme über dem Bauch verschränkt, und sehe wie von fern das um Haltung ringende Gesicht. Er lässt mich los, steht aufrecht im Gang, er redet bereits von einer letztmaligen Aufforderung, dann von der allerletzten und der Bundespolizei, von zu tragenden Einsatzkosten und einem Beförderungsverbot, wenn ich nicht unverzüglich meinen Fahrausweis zeige oder wenigstens den Personalausweis. Ungarn, so heißt es, war die lustigste Baracke im Ostblock. War es deshalb unser Ziel gewesen? Hattest Du die Idee, dorthin zu reisen? Du? Ausgerechnet nach Ungarn? Wieso nicht, wirst Du sagen. Ja, ich gäbe Dir recht, auch wenn wir in jenem Sommer fuhren. Denn alles, was passieren sollte, war so unvorstellbar fern, ferner als heute, Jahrzehnte danach.

„Gut. Wenn Sie nicht anders wollen …“, sagt der Zugbegleiter schließlich, dreht sich weg und will gehen. Ich finde langsam in die Gegenwart zurück und sehe hinter ihm das Gesicht des Mannes, dessen Gepäck ich im Schlaf vernachlässigt hatte, seine von einem Grinsen zu Strichen gespannten Lippen, die gedunsenen Wangen zu den Ohren hin verblüffend straff, die Augen schmal wie Schlitze. Ein Gesichtsausdruck als schaute ich in eine Clownsmaske von grotesk überzeichneter Schadenfreude. Ich rufe dem Zugbegleiter hinterher, dass er mein Ticket sehen könne. Von meiner Stimme erschrocken, erinnere ich mich an das Ohropax. Der Zugbegleiter scheint über den Fortlauf seiner Arbeit erfreut. Der Andere hingegen, der aufgestauten Schadenfreude überführt oder um das erhoffte Spektakel betrogen, bläht seine Wangen auf und lässt die gestaute Luft mit dem Trotz eines pubertierenden Zöglings aus allerbestem Hause verpuffen. Gouvernantenhaft dagegen die folgende Drehung des Kopfes, mit der er sich abwendet, die sogleich den ganzen Körper erfasst und ihn mit dem Schwung maßloser Enttäuschung in den Sitz vor mir befördert.

Ich fummele das Ohropax aus den Ohren und suche in den Jackentaschen nach dem Ticket. Mir war, als hätte ich es dorthin gesteckt. Ich greife in meine Gesäßtaschen, wo es auch nicht ist, während der Zugbegleiter meiner Suche bereits in der Art zuschaut, als hätte er doch nur dieses Schauspiel erwartet. Zunehmend peinlicher nimmt sich meine Selbstabtastung aus. Noch einmal durchsuche ich meine Jacke, meine Erinnerung an den Ticketkauf bereits in Zweifel ziehend: Vielleicht war es bloß ein Traum gewesen … Bis mir endlich einfällt, es in die Reisetasche getan zu haben. Nun sehe ich auch den Zugbegleiter enttäuscht, dies neben seiner wiederholten und gleichzeitigen Erleichterung. Sogleich gleiten die Laserstrahlen seiner Apparatur über mein Ticket. Der Scan weist mich in der Tat als ordentlichen Fahrgast aus. Er reicht das Ticket zurück und wünscht mir in einem Ton als sei es bloße Vorschrift eine gute Weiterfahrt. Ohne mein eventuelles Dankeschön abzuwarten, wendet er sich dem nächsten Fahrgast zu, welcher vom Geschehen abgelenkt, längst sein Laptop hat unbeachtet vor sich hinflimmern lassen. Ich setze mich, forme aus meiner Jacke wieder das Kopfkissenbündel, knete das Ohropax und stecke es mir in die Ohren, dankbar für die Weltabgeschiedenheit von dieser Seite. Ruhe. Nur noch dumpf und wie aus der Ferne höre ich das Rascheln einer Zeitung vom Sitz vor mir, das hektische Fliegen ungelesener Blätter …

Die Kontrolle war wie in einem Traum abgelaufen, der Schlaf hatte mich nicht ganz verlassen, ihm wollte ich mich wieder anvertrauen. Ich schloss die Augen und war allein. Aber der Schlaf war nicht sehr tief. Und ob es Zufall war oder ob er auf ein sicheres Indiz gewartet hatte, mein eigenes Schnarchen störte nur einmal kurz meine Ruhe, flackern plötzlich Blitze durch meine Lider. Stroboskopartig zuckendes Licht reißt mich aus dem Schlaf. Erschrocken sehe ich die Sonne durch Baumwipfel hasten, teils streicht sie über ihnen hinweg, teils bricht sich in ihnen das Licht. Er hatte die Jalousie hochgeschoben. Ich schiebe sie wieder runter. Sofort greift seine Hand danach, tabakgelbe Finger mit schwarzen Nägeln im Gegendruck. Mein verdoppelter Unwille stoppt die Jalousie auf halber Höhe, bevor sie die Sonne wieder freigeben wird. Durch das Wachs in meinen Ohren höre ich die eigene Stimme verzerrt wie die eines Fremden: „Zum Lesen reicht das Licht.“ „Ich bin Filmemacher und will was von der Landschaft sehen“, sagt er laut genug für meine Ohropax. Oder für alle Reisenden in unserem Abteil. Im Augenwinkel, schräg über den Gang hinweg, bemerke ich eine weitere Unterbrechung der Bildschirmarbeit. Eine Hand, die von der Tastatur lässt, die irritiert oder in Selbstvergewisserung die Krawatte auf Bauchmitte schiebt und glattstreicht.

„Filmemacher … Warum erzählen Sie mir das?“

„Und Sie? Was machen Sie? Träumen?“

Nicht nur diese Frage, seine Erscheinung vor allem war es, die mich erkennen ließ, dass im Festhalten an einem falschen Selbstbildnis die Möglichkeit eines kuriosen, zuweilen tragischen Scheiterns liegt.

Die Freude über die Tage, die folgen sollten, hatte mich gefangen, dass sie enden würden, daran wollte ich nicht denken. Oder ich konnte es nicht. Diese Erfahrung fehlte mir, zwei Wochen ohne Eltern, der erste Urlaub mit einem Freund. (Auf Sommerfrische, wie sie immer sagten und die stolzen FDGB-Heimaufenthalte meinten. Rennsteig, Binz oder Oberwiesenthal - Intelligenz bevorzugt im Arbeiter- und Bauernstaat.) Die sich jährlich wiederholenden Wochen hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt als eine nicht enden wollende Abfolge von Spaziergängen. Tägliche, tagfüllende Wanderungen, auf denen er mit der Karte in der Hand immer vorweg geschritten war, ein unbeirrbarer Eroberer, seine Nachhut keines Blickes würdigend. Ich lief am Ende, beladen mit Fotoapparat, Fernglas und Proviant, den von ihm geschnitzten Spazierstock nutzlos unter den Arm geklemmt oder fest in der Hand, einem Sturmgewehr beim Angriff gleich. Zwischen uns, im freien Raum wie ein Melder zwischen zwei Truppenteilen, ging meine Mutter einsam entschlossen ihr eigenes Tempo. Wenn sie schneller wurde, rückte sie zu ihm auf, ging sie langsamer, fiel sie zu mir zurück. Die Hoffnung ein Bindeglied zu sein, zwischen ihm und mir, hatte sie längst aufgegeben. Unsere Wanderungen verbanden in täglicher Steigerung meiner Langeweile Museen, Kirchen, Höhlen, Ruinen, Aussichtspunkte. Und stets hatte ich die Ausrüstung bereitzuhalten. Fotoapparat und Fernglas hingen mir an zu langen Lederriemen vom Hals herab, bedrohlich nah dem Schritt. Gekreuzt darüber und einen Arm hindurch gesteckt, lag der Riemen der Brottasche, damit beides beim Gehen nicht allzu sehr hin und her schlug, dass beides gebremst wurde vom Gewicht der belegten Brote, Äpfel, Kohlrabis oder was ich sonst in dieses peinliche Relikt aus meinen Kindergartenzeiten zu stopfen hatte. Wenn er auf diesen Wanderungen plötzlich stoppte und so reglos dastand, als könnte die kleinste Bewegung einem imaginären Feind unsere Anwesenheit verraten, wenn er wortlos, vor Wichtigkeit fast platzend, irgendwohin schaute, auf eine Lichtung, einen Fluss, eine Straße, einen Steinbruch oder sonst etwas Belangloses, das bloß deshalb von Bedeutung war, weil es auf einmal vor ihm lag, dann wartete er, bis wir aufgerückt waren, bis er unvermittelt seine Hand nach hinten strecken und das Fernglas von mir verlangen konnte. Sofort legte ich den Spazierstock zu Boden, hob den Riemen der Brottasche über den Kopf, klemmte sie mir zwischen die Beine, entwirrte die beiden anderen Riemen und gab es ihm. Er, nun mit dem Fernglas vor den Augen, die Ellenbogen parallel zum Horizont, beobachtete die Landschaft, um meiner Mutter, der gelernten Fotografin, ein geeignetes Ziel zuzuweisen. Damit sie, ob Weitwinkel oder Fokus, es festhielte, zum Beweis der Schönheit unseres Urlaubsortes. Aber ich, der hinter ihm stand, die Hände längst am Fotoapparat, bereit ihn meiner Mutter zu geben, wenn er als ausreichend erachtete, was er sah, stellte mir seine ausgestellten Ellenbogen als Flügel vor. Ich sah ihn von geheimnisvollen Winden in die Luft gehoben, auf Höhe der Baumwipfel in die Weite getragen, wo ihn der Zauber meiner Phantasiewelt stets verließ.

Einmal aber ist mir alles durcheinandergeraten. Ich war aus seinem Schatten getreten und stand neben ihm. Ich hielt das Fernglas fest, während ich den Riemen des Fotoapparats über den Kopf hob und talwärts schaute. Vor mir die Tiefe, die meine Augen verzweifelt absuchten: Ein friedlich scheinender Bach zerschnitt das steile Massiv, waghalsiges Fachwerk ränderte die Ufer, ein klappriges Wasserrad drehte sich, wie sich seiner Bestimmung erinnernd. Türme von Holzscheiten, wo die letzten Freiflächen gewesen waren. Nirgends ein ordentlicher Platz für den erträumten Absturz. Enttäuscht glitt mir der Riemen aus der Hand, und der Fotoapparat schlug auf den Fels. Als ich das abgebrochene Objektiv auf dem Boden vor mir sah, daneben den Apparat mit der geborstenen Fassung, das schwarze Loch, in das dieses unergiebige Tal hatte gebannt werden sollen, überlegte ich, ob es noch sinnvoll sei, ihm das Fernglas zu geben. Ich muss gleichgültig ausgesehen haben. Aber vielleicht war mir auch eine heimliche Freude anzusehen: Kein Absturz – keine Urlaubsfotos. Meine Genugtuung war so schlicht, wie seine Reaktion darauf. Meine Mutter hatte neben uns gestanden und kurz seiner Wut zugesehen, bevor sie etwas sagte. Ich weiß nicht, ob sie erst überlegen musste, wem ihre Abneigung in diesem Moment galt, ihrem Mann oder mir. Schließlich hatte ich ihren Fotoapparat fallen lassen, ein Erbstück ihres Meisters. Materiell ersetzbar in einem antiquarischen Land. Ideell aber ein Verlust, der wenigstens so schwer wog, wie ihre kleine Illusion eines Familienlebens mit seiner Aufgabenteilung, die, von mir zerbrochen, vor ihr lag.

UNGARN. Bei Wehlen bin ich aufgewacht. Dresden hatten wir verschlafen. In meinem Mund der durch trockenes Schlucken nicht zu unterdrückende Geschmack meines ungeübten Magens. Meine Gedanken kreisten ausschließlich um den brennenden Durst, hilflos im Bedenken, den Weg zum Speisewagen nicht schadlos zu überstehen. Schnarchgeräusche in verschiedenen Rhythmen erfüllten die schlechte Luft. Meine Augen hielten sich in Sprüngen an fernen Punkten fest, unten zog das Elbtal vorüber. Bergesgrün wechselte mit Überhängen aus Granit, Häuser dort, wo Platz war, Gemütlichstes aus Fachwerk und Stein. Meinen Augen drängte sich eine Landschaft auf, die in ihrer Romantik, ihrem Wechselspiel aus Urwuchs und Lieblichkeit nicht passen wollte zu unserer Republik. Allmählich füllte sich das Tal mit vermehrter Bebauung, mit zweckgebundenem Grau, dem gewohnten Alltag, einem freudloseren Verlauf der Zeit, seinem Zehren von Substanz in bleichenden Jahrzehnten. Bad Schandau kündigte sich an, der letzte Halt in jenem Land. Der Zug rollte in einer Verbreiterung des Tals aus. Wie eine Terrasse hing der Bahnhof an den Berg gebaut. Jenseits des Bahnsteigs gefiel sich die Elbe in einem funkelnden Spiel. Hinter ihr lag das zierliche Städtchen, das mittels einer Brücke mit der Hälfte der Welt verbunden war.

Die Luft schien marmoriert. Eine trockene, flirrende Hitze über dem heißen Stein, geteilt von schwachen Böen, vom Fluss aufwärts geblasen, leicht kühlend und etwas feucht. Ich lehnte über dem heruntergezogenen Fenster. Ich sah einzelne Reisende sich nach ihren Koffern bücken, wenige standen zu zweit, den Abschied im Gesicht. Ich sah eine Gruppe, vier oder fünf, die Rucksäcke schultern, irritierend lustig in der ganzen Szenerie. Abseits sah ich ein Paar in stummer Umarmung, bis er sich losriss. Sie, die tränennasse Hand für ein Winken ausgestreckt. Er, eine verzweifelte Frage auf den unbewegten Lippen. Und ich sah mich in meiner Erinnerung, meinem Wunsch zu dieser Reise ausgeliefert, seiner wochendauernden Prüfung. Und an beiden Enden des Bahnsteigs sah ich eine Gruppe, vier Mann jeweils, zwei in einem dreckigen Grau und daneben zwei in modrigem Grün. Die letzten, die zustiegen.

Der erste Grenzübertritt in meinem Leben, und eine Visumskontrolle, und ich weiß nicht, wo er stattgefunden hat. Kein Hinweis, nur andere Bahnzeichen mit einem Mal. Der Zug schlängelte am Fluss entlang, unten die Schleppkähne, oben mäanderte eine gewaltige Festung mit, ein poröses Herrschaftszeichen anderer Zeiten, kurz vor Decín. Im Abteil herrschte ein verkaterter Unwille, ein stetes Beinverhaken, ein fortgesetzter Schlafversuch, gestört vom Ausrollen des Zuges. Unser Wagen stand unter dem Bahnhofsdach, in günstig fallendem Schatten, ein kühlendes Dunkel, die Sonne schien unseren müden Augen unerwartet wie ein fernes Licht. Dein bleiches Gesicht, kurz dem Fenster zugewandt, dem Bahnsteig und dem Treiben dahinter: Fernzugreisende, Prag als Ziel, Bratislava oder noch viel weiter. Du hattest Deine Lippen gespitzt, als wenn Du etwas sagen wolltest. Ich hob fragend die Schultern, wartete und ließ sie sinken, als Dein Mund sich wortlos wieder schloss, als Du Dir den Schweiß aus dem Gesicht wischtest. Ein Pfiff, der Ruck der Lokomotive, Dein Kopf fiel gegen das Polster. Ich öffnete das Fenster, solange bis der Fahrtwind zu heftig schlug. Der Zug war aus der schmalen, zwischen die Berge gezwängten Stadt gerollt. Parallel zum Fluss, der sich mit ihr diese Enge teilte, trieben wir in das Tal eines breit zerschnittenen Gebirgsmassivs, in ein Land hinein, das noch viel älter aussah als unseres. Die Sonne spielte Seitenwechsel in jeder Kurve. Manchmal konnte ich aus einem schattigen Tal auf sonnenbeschienene Berge sehen. Das Schwarzgrün der Wälder unten, die Wipfel auf den Kuppen wie goldbetupft – eine Märchenwelt mit guten und mit düsteren Geschichten.

Die Elbe verließ uns, unser Begleiter. Sie bog ab und kam wieder. Oder war es schon die Moldau? Wieder Berge zu den Ufern. Plattenbauten obenauf, irritierend hässlich wie eitrige Nasenpickel … belle vue für alle, dachte ich, bis ich sah, der Ausblick war verschenkt, dem Standard geopfert, parallele Reihen zur Kuppe hin. Und kein Fenster an den flusszugewandten, schmalen Seiten kümmerte sich um ihn.

Wir hatten Prag erreicht. Eine Stadt wie ein ungeputztes Mittelalter, in einer vernebelten Gegenwart gefangen, verraucht, verrußt, grauverschleiert, ohne jeden Sinn für Fassade. Mit einer letzten Dieselwolke, in der letzten engen Kurve von unserem Wagen aus zu sehen, bremste der Zug in den Bahnhof hinein, unter ein Dach aus rußbelegtem Glas. Das Gedränge auf dem Bahnsteig verdoppelte sich mit dem Öffnen der Türen. Ein Strom auf der Treppe, aus dem Bahnhof hinab, in die die goldene Sonne schluckende Stadt. Hektische Gesichter im Gang vor dem Abteil, auf der Suche nach freien Plätzen. Ein verstopfender Gegenverkehr, zur Seite gedreht und schlankgemacht. Auf den Knien vorweggestoßene Koffer. Längst war der Zug wieder angerollt, Kolín entgegen, Brünn oder Bratislava. Die Lokomotive schickte ihren Fanfarenstoß der Ebene entgegen, flach und ausgewaschen, in ein agrarisches Land voraus …

Viele denkbare Wege zwischen Nord und Süd, alles verbindend, zwischen Ost und West, bis an die Grenze eines undenkbaren Weiter-weg. Das Ziel vor Augen, bekannt oder nicht, wie durch ein unbeirrbares Stundenglas vorausgesehen, über die dorrende Weite hinweg, über totes Gras und dürstende Äcker. Weg über Staub und Sand. Verrieselnd … Zugfahren erzwingt Gelassenheit, der Zeit ergeben und dem Gleis. Richtung, kein Einfluss darauf.

Ein verständigendes Nicken aus einem gedehnten Moment der Langeweile heraus, schon hatte einer der Ungarn das Abteil verlassen. Gefühlte Stunden später kam er zurück, die Hände mit Bierflaschen voll, weitere klemmten unter seinen Armen. Er klopfte mit dem Kopf seinen dösenden Freunden auf unserer Seite der Scheibe. Aufgeblasene Wangen, Prusten, ein lachender Fingerzeig, erst dann öffneten sie ihm die Tür. Ein Bier für jeden, wie aus einem Bauchladen gereicht. Der Ungar ging nochmals herum, öffnete mit seiner Flasche die anderen, der letzten drückte er den Kronkorken wieder auf, hebelte mit der so verschlossenen Flasche die eigene auf. In der Mitte stießen wir an. Wir tranken und lauschten dem beginnenden Gespräch in unverständlichen Lauten, während in flacher Langeweile eine Landschaft vorüberzog, in welcher die errichtete Staatsidee ihre Ödnis nirgends verbergen konnte. Plötzliche Stille. Alle Augen waren auf uns gerichtet. Der Ungar, der das Bier gebracht hatte, beugte sich vor, stieß wieder mit uns an und trank. Er fragte etwas, wie beauftragt sah er aus, sein Bier im Nachhinein wie umgewidmet, wie zu einer weiteren vertrauensbildenden Maßnahme. Er versuchte es wieder, mit anderen Worten, nicht gewohnt unverstanden zu sein, zeigte auf unsere Taschen, zeigte in Fahrtrichtung. Er hob zu seinem fragenden Gesicht die Schultern: „Magyarország? Hungary? Balaton? Budapest?“ Mit unserem Ja leuchteten seine Augen. Eine stille Freude stand in dem gegerbten Gesicht, ein kleiner Stolz vielleicht über unsere Wahl. (Fünfzig Prozent die Chance von dort aus gesehen, im Zug zwischen Prag und Bratislava. Die Wahrscheinlichkeit auf anderen Wegen war auch nicht geringer, damals im Allgemeinen.) Er schlug seinem Nachbarn aufs Knie, trank mit ihm und den Anderen. Er befeuerte die Ausgelassenheit sowie das Durcheinander der Stimmen mit verschmitzten Erklärungen, zu denen er seine Hand durch die Luft schnellen ließ, dabei zupackte wie beim Fliegenfangen. Ein Anderer hatte sich inzwischen aus der allgemeinen Heiterkeit gelöst, war aufgestanden und strich seinerseits mit der flachen Hand durch die Luft, langsam wie ein Dirigent vor dem ersten Ton, als wolle er sein Orchester zur Ouvertüre bitten. Aus der Brusttasche der eigentümlichen Mischung aus Arbeitsjacke und Jackett zog er einen Notizblock. Er räusperte sich energisch. Mit angelecktem Finger blätterte er schon beschriebene Seiten um, die Augen aufmerksam auf jedem Blatt, genüsslich auf jeder Notiz. Am ersten leeren Blatt angelangt, holte er umständlich einen Stift aus den Tiefen der anderen Brusttasche, der Rücken wie ein Buckel gebeugt, während er drohend mit dem Block in der Luft wedelte. Bisher hatte er kaum etwas gesagt, bei jedem Scherz aber still in sich hineingelacht. Er war mir auch seines weniger stark gegerbten Gesichts wegen aufgefallen, trotz des Alters, das er mit seinen Kollegen annähernd zu teilen schien. Vielleicht auch weil er zuvor so aufrecht saß, als ob er gelernt hatte, seine Haltung kontrollieren zu müssen, dass dies von Vorteil sei. Völlig gelöst aber, überhaupt nicht mehr steif, stand er jetzt, die Abteiltür im Rücken, und notierte mit dem Stift, den er mehrmals angehaucht hatte, mit dem gespielten Husten eines Lungenkranken, etwas in den Block, das er laut mitlas, die schielende Grimasse eines Deppen aufgesetzt, eine dicke Zunge silbenformend, träge und sperrig zwischen den Zähnen. Er sprach in so langsamen Worten, dass ein gespieltes Einschlafen folgen musste, ein leichtes Vornübersinken, von einem Schnarchen begleitet … Plötzlich ein erschrecktes Aufwachen. Wilde, orientierungslose Augen, ein verwirrtes Luftschnappen wie ein Verschlucken, ein Geräusch zwischen Hecheln und Grunzen. Zwei oder drei Darbietungen des ganzen Spiels folgten, wobei jedes erneute Aufwachen weniger erweckend schien, wobei er mit jedem vorherigen Schnarchen ein Stück weiter vornübergesunken war. Bis zur letzten Wiederholung, mit der er im rechten Winkel gebeugt dastand, mit hängenden Armen, endlich stumm, und sich anhörte wie ein glücklich schnarchendes Schwein. Das Lachen überschlug sich, als ihm letztlich in den sich provokant darbietenden Hintern getreten wurde. Eine Andeutung nur, begleitet aber von deutlichen Flüchen, die selbst wir als solche verstanden hatten. Der so Verhöhnte war dabei hochgeschreckt. Er fand mit ernster Miene in die korrekte Darstellung seiner Rolle zurück, bereit zu einem unerbittlichen Notat. Er blätterte vor und zurück, zeigte jedem eine freie Seite seines Blocks, darauf ein väterliches Nicken zu einer strengen Frage und der immer gleichen Aufforderung, der der Befragte eifrig Folge leistete: Eine unterwürfige Haltung vor der Antwort, eine kurze Äußerung in devotem Ton, ein Satz oder zwei, sachlich zwar, aber deutlich beeindruckt vorgebracht … Die gespielten Varianten waren mit Mühe eingefügt in den Versuch, sich ein bitteres Lachen zu verkneifen. Er schrieb alles mit, nahm sich Zeit für seine Notizen. Er fragte in ernstem Ton nach, unterbrach eine langwierige Antwort mit verneinendem Zeigefinger, stellte zur Bestätigung einem Anderen die Kontrollfrage. Schließlich folgte ein in Spiralen abgesenkter Punkt. Dann verstaute er den Block in seiner Jackentasche … Ein Schwein zu einer unerbittlichen Autorität gewandelt, mit spitzem Mund und hochgezogenen Augenbrauen. Bevor er sich setzte, um im Folgenden wieder aus dem Fenster zu schauen, mit wieder durchgedrücktem Rücken und einem herablassenden Gesicht, welches Unnahbarkeit ausdrücken sollte, das daneben auf seltsame Art entrückt schien – eine pastorale Ferne, hatte er sich auf die Brust geklopft, dorthin, wo er seine Notizen verwahrte, für wen auch immer gedacht. Stille.

Der Eindruck einer perfekt gespielten Rolle. Ein beredtes Schweigen der Kollegen, die zusammengesunken dasaßen, die schwer atmeten, die mit schwitzenden Händen über die Schenkel wischten oder über eine nasse Stirn, über großen Augen, ahnend oder wissend. Die an seinen Augen vorbei in der vorüberziehenden Fläche die Weite suchten. Und vielleicht war ich nicht der Einzige, der hinter ihrem stumpfen Glanz eine aufgebrochene Erinnerung verbarg:

SCHWERIN. Meine Mutter fürchtete die Wahrheit. In den Morgenstunden jeden Sonntag gingen wir nach St. Nikolai, die alten Pflaster der Puschkinstraße entlang, den Gottesdienst zu erfahren, ich hüpfend an ihrer Hand, sie den Demmlerplatz in weiter Ferne wissend, stumm an Markt und Dom vorbei …

Mit einem Eisen breche ich die verschlossene Schranktür aus dem Rahmen.