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Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte am Ende einer Welt - poetisch, melancholisch und von berührender Intensität. »Ein poetisches Debüt von stiller Kraft und berührender Intensität.« literaturcafe.de
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Seitenzahl: 71
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wenn alles stillsteht,
lernt die Zeit neue Schritte.
Margaret Sinclair
Ankunft
Treffen
Wanderung
Beckenrand
Fragmente
Nahrung
Andere
Friedhof
Verfall
Zimmer
Entscheidung
Rückkehr
Der Bahnhof hat schon lange keine Züge mehr gesehen. Sie weiß das, ohne sich daran zu erinnern, wann der letzte hier gehalten hat. Das Wissen sitzt in ihren Knochen, wie die Kälte, die selbst an warmen Tagen nicht aus ihren Gliedern weicht. Sie sitzt auf der Bank, die jemand in den Farben gestrichen hat, die einmal freundlich gewesen sein mögen. Jetzt blättert das Gelb ab und gibt rostiges Metall darunter frei.
Tauben spazieren über den Asphalt der Bahnsteige, picken nach Krümeln, die es nicht gibt. Die Bewegungen der Tiere sind geschäftiger als ihre eigenen. Sie beobachtet eine Taube, die den Kopf zur Seite neigt und sie mit einem runden Auge ansieht. Das Auge ist dunkel und ohne Fragen. Sie nickt der Taube zu, eine höfliche Geste, die ihr in diesem Moment zwischen Tag und Nacht natürlich erscheint.
Die Morgendämmerung kommt langsam über die Dächer der Stadt. Licht sickert zwischen die Wolken und zeichnet Schatten auf den Beton. Sie spürt die Veränderung nicht als Wärme auf der Haut, sondern als eine Verschiebung in der Qualität der Luft. Alles wird sichtbarer und gleichzeitig weicher, als würde die Welt durch eine matte Scheibe betrachtet.
Ein alter Mann in einem zerknitterten Anzug ist vorbeigekommen. Das mag vor Stunden gewesen sein oder vielleicht gestern. Zeit bewegt sich anders hier, in kleinen Wellen statt in geraden Linien. Er hat sie nicht angesehen, aber seine Schritte haben sich verlangsamt, als er an ihr vorbeigegangen ist. Vielleicht hat er gespürt, dass sie da ist. Vielleicht ist es nur die Art, wie Menschen gehen, wenn sie müde sind.
Sie hebt die Hand und betrachtet ihre Finger. Die Haut ist blasser als früher, und die Adern schimmern bläulich durch. Wenn sie die Hand bewegt, geschieht es mit einer bewussten Langsamkeit, als müsste sie jeden Muskel einzeln daran erinnern, was zu tun ist. Es ist nicht unangenehm. Es ist wie das Erlernen einer neuen Sprache, einer Sprache des Körpers, die sie nie zuvor gesprochen hat.
Das Geländer neben der Bank ist an mehreren Stellen durchgerostet. Sie streicht mit der Fingerspitze über eine der rauen Stellen und spürt die Struktur des Metalls unter der Fingerkuppe. Früher hätte sie sich vielleicht Sorgen über Tetanus gemacht oder den rostigen Staub von der Haut gewischt. Jetzt bleibt sie mit dem Finger auf dem Rost liegen und lässt zu, dass sich die Textur in ihr Gedächtnis einschreibt.
Ein Blatt fällt von einem Baum, der neben dem Bahnsteig wächst. Es ist ein großes gelbes Blatt, das sich in der stillen Luft dreht und schließlich auf den Gleisen landet. Sie folgt seinem Fall mit den Augen, verfolgt jede Wendung. Als es aufkommt, regt es sich noch einmal kurz im Wind und dann liegt es still.
Sie steht auf. Das Aufstehen dauert länger als früher, aber es schmerzt nicht. Ihre Beine tragen sie sicher, nur eben langsamer. Sie geht zu dem Blatt und hebt es auf. Es ist noch nicht ganz trocken, und die Adern sind deutlich sichtbar. Ein kleiner Riss verläuft vom Stiel zur Spitze. Sie faltet das Blatt vorsichtig zusammen und steckt es in die Tasche ihres Mantels.
Der Mantel ist grau und zu groß für sie. Sie kann sich nicht daran erinnern, wo sie ihn bekommen hat, aber er hält sie warm, auf eine Art, die nichts mit Temperatur zu tun hat. Er ist wie eine Hülle, die sie von der Welt abgrenzt, ohne sie zu isolieren. Wenn sie die Arme bewegt, raschelt der Stoff leise.
Sie kehrt zu der Bank zurück und setzt sich wieder. Die Tauben sind näher gekommen. Eine sitzt jetzt auf dem Geländer und putzt sich das Gefieder. Die anderen bewegen sich in kleinen Kreisen um ihre Füße herum. Sie beugt sich vor und flüstert: »Ich habe nichts für euch.« Ihre Stimme klingt rauer als früher, aber sie funktioniert noch. Die Tauben scheinen das zu verstehen. Sie bleiben, aber sie erwarten nichts.
Ein Zug wird nicht kommen. Das weiß sie mit der gleichen Sicherheit, mit der sie weiß, dass der Tag anbrechen wird. Aber sie wartet trotzdem, nicht auf den Zug, sondern auf etwas anderes, etwas, das sie nicht benennen kann. Es ist ein Gefühl, das irgendwo zwischen Erwartung und Erinnerung liegt, ein Gefühl, das ihr sagt, dass dieser Ort wichtig ist, auch wenn sie nicht versteht, warum.
Das Licht wird heller. Die Schatten auf dem Beton verändern ihre Form und wandern langsam über den Bahnsteig. Sie schließt die Augen und hört auf die Geräusche: das leise Gurren der Tauben, das Knacken der alten Holzbohlen unter der Bank, wenn sie ihr Gewicht verlagert, das ferne Rauschen des Windes in den Bäumen jenseits der Gleise.
Als sie die Augen wieder öffnet, ist etwas anders. Nicht sichtbar anders, sondern anders in der Art, wie die Luft sich anfühlt. Sie dreht den Kopf und sieht hinüber zu dem anderen Ende des Bahnsteigs. Da ist eine Bewegung, noch nicht scharf, noch nicht nah genug, um mehr zu sein als eine Ahnung von jemandem, der sich nähert.
Sie faltet die Hände im Schoß und wartet.
Er kommt über den Bahnsteig, trägt einen Mantel, der für ihn ebenso zu groß ist. Seine Schritte sind gleichmäßig, aber ohne Eile, als hätte er alle Zeit der Welt oder als wüsste er nicht mehr, wofür Eile gut sein könnte. Der Mantel ist dunkelblau und an den Rändern ausgefranst. Seine Hände verschwinden in den Ärmeln.
Sie sieht ihn nicht direkt an, aber sie nimmt ihn wahr, wie man eine Veränderung in der Temperatur wahrnimmt oder den ersten Regentropfen auf der Haut. Er ist da, und plötzlich ist der Bahnsteig nicht mehr leer, auch wenn außer den Tauben und ihnen beiden niemand zu sehen ist.
Er bleibt etwa zehn Schritte von ihrer Bank entfernt stehen. Nicht, weil er zögert, sondern weil der Abstand richtig zu sein scheint. Sie wendet den Kopf und sieht ihn an. Sein Gesicht ist schmal und blass, die Augen sind dunkel. Er sieht sie ebenfalls an, aber sie starren sich nicht an. Es ist mehr ein Betrachten, ein ruhiges Feststellen der Anwesenheit des anderen.
»Es ist früh«, sagt er, und seine Stimme ist leise, aber klar.
»Oder spät«, antwortet sie.
Er nickt, als verstünde er, was sie meint. Vielleicht versteht er es auch. Zeit funktioniert anders, wenn man nicht mehr auf Uhren angewiesen ist, wenn der Tag nicht mehr in Termine und Verpflichtungen eingeteilt ist.
Er geht zu der Bank und deutet mit einer Handbewegung darauf. »Darf ich?«
Sie nickt. Es ist genug Platz für zwei, auch wenn sie beide ihre großen Mäntel tragen. Er setzt sich, lässt einen kleinen Abstand zwischen ihnen, nicht aus Höflichkeit, sondern weil es sich natürlich anfühlt.
Eine Weile sitzen sie schweigend nebeneinander. Die Tauben haben sich an seine Anwesenheit gewöhnt und kehren zu ihren Spaziergängen über den Asphalt zurück. Eine der Tauben, eine mit einem rötlichen Schimmer im Gefieder, kommt näher und bleibt vor seinen Füßen stehen.
»Sie erwarten nichts«, sagt sie.
»Die Tauben?«
»Sie warten einfach nur. Sie hoffen nicht, sie planen nicht. Sie sind da.«
Er betrachtet die Taube vor seinen Füßen. »Vielleicht ist das einfacher.«
»Einfacher als was?«
»Als das, was wir früher waren.«
Sie versteht, ohne nachfragen zu müssen. Früher war ein großes Wort, das viel zu viel beinhaltete und gleichzeitig nichts Greifbares. Es war ein Zustand, an den sie sich erinnern konnten, ohne ihn wirklich zu verstehen.
Er greift in seine Manteltasche und zieht eine zerdrückte Zigarette heraus. Sie ist verbogen und der Tabak rieselt teilweise heraus, aber sie ist noch rauchbar. Er hält sie ihr hin.
»Ich rauche nicht«, sagt sie, dann korrigiert sie sich: »Ich rauche nicht mehr.«
»Ich auch nicht. Aber ich habe sie dabei.«
Sie nimmt die Zigarette und betrachtet sie. Das Papier ist gelblich und weich von der Feuchtigkeit in seiner Tasche. »Keine Streichhölzer?«
Er schüttelt den Kopf. »Aber das ist nicht wichtig.«
Sie hält die Zigarette zwischen den Fingern und führt sie zu ihren Lippen, ohne sie anzuzünden. Das Papier ist rau gegen ihre Lippen. Es schmeckt nach altem Tabak und ein bisschen nach Staub. Sie reicht sie ihm zurück, und er tut dasselbe, hält sie an die Lippen und atmet den Geschmack ein, ohne zu rauchen.
