Die Wirtschaft und das Unentgeltliche - Jörg Guido Hülsmann - E-Book

Die Wirtschaft und das Unentgeltliche E-Book

Jörg Guido Hülsmann

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Beschreibung

Unentgeltliche Güter spielen in einer freien Wirtschaft eine zentrale Rolle. Sie existieren nicht nur neben den Tauschgeschäften des Marktes. Vielmehr durchdringen sie den Markt und gedeihen und vergehen zusammen mit ihm. Es gibt ein angemessenes Gleichgewicht zwischen unentgeltlichen Gütern und anderen Gütern, die bezahlt werden müssen. Dieses Gleichgewicht ist nicht starr und eindimensional. Es ändert sich im Laufe der Zeit unter dem Einfluss der jeweiligen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Umstände. Es stellt sich in der Regel ein, wenn Menschen innerhalb der Grenzen ihrer Eigentumsrechte frei handeln können. Wird diese Handlungsfreiheit durch die Gewalt des Staates eingeschränkt, kann kein Gleichgewicht erreicht werden, und unentgeltliche Güter und Dienste leiden darunter. Sie leiden, wenn die Märkte aufgebläht, aber sie leiden noch mehr, wenn die Märkte unterdrückt werden.

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DIE WIRTSCHAFT UND DAS UNENTGELTLICHE

JÖRG GUIDO HÜLSMANN

DIE WIRTSCHAFT UND DAS UNENTGELTLICHE

Kostenlose Güter zwischen Kapitalismus und Staat

LANDTVERLAG

INHALT

Vorwort

Einleitung

Das rechte Maß

Selektiver Literaturüberblick

Caritas in veritate

Überblick

ERSTER TEIL:DAS WESEN UNENTGELTLICHER GÜTER

1. Unentgeltliche Güter

Verschaffen und Empfangen

Unentgeltlichkeit und Gerechtigkeit

Privates Eigentum und unentgeltliche Güter

Die Ursprünge unentgeltlicher wirtschaftlicher Güter

Ein Beweggrund menschlichen Handelns

Anmerkungen zum grundlos Bösen

2. Spenden

Hingabe

Unentgeltlichkeit

Gerechtes Handeln

Opfer

Falsche Spenden

3. Beweggründe für das Spenden

Liebe

Moralisches Risiko

Altruismus

Ungeliebte Geschenke

4. Gegenseitigkeiten

Schenkungsabfolgen

Beziehungen auf Gegenseitigkeit

Der Mantel der Preise

Geschenke nach Marcel Mauss

ZWEITER TEIL:UNENTGELTLICHE GÜTER IN EINER FREIEN WIRTSCHAFT

5. Die Ökonomie des Spendens

Spenden als Kategorie des menschlichen Handelns

Der subjektive Wert von Spenden

Spenden und die Marktwirtschaft

Spenden und Wirtschaftsrechnung

Die Wirtschaft des Teilens

6. Vorteilhafte Nebeneffekte des menschlichen Handelns

Reine Nebeneffektgüter

Materieller Nutzen der Muße

Kulturelle Allmende

Eigentümerschaft

Gute Beispiele

Die Fehler anderer Leute

Nebeneffekte des Tauschs

Nebeneffekte des Sparens

Willkürliche Übel als Folge von Marktaktivitäten

7. Das Gleichwertigkeitspostulat

Aristotelische Ursprünge

Ein neues Meson ist gefragt

Der lange Schatten des Aristoteles

Positive Externalitäten als Marktversagen

8. Natürliche Grenzen unentgeltlicher Güter

Verwelkende Spenden

Privatisierung

Quacksalber und Straßenräuber

Robuste Unentgeltlichkeit

DRITTER TEIL:UNENTGELTLICHE GÜTER UND DER STAAT

9. Interventionismus

Privatrechtliche Regierungen und der moderne Staat

Repressive und permissive Staatseingriffe

Interventionismus und unentgeltliche Güter

Die Vernachlässigung des Interventionismus

10. Der Staat als Anbieter unentgeltlicher Leistungen

Gesetzliche Monopole

Öffentliche Güter

Der Wohlfahrtsstaat

Der befähigende Staat

Fiskalische Illusionen

Selbstlose Repräsentanten des Staates

11. Bedrängte Spenden

Verarmte Haushalte

Nachlassende Großzügigkeit

Die Erschöpfung der Spendenquellen

Verdrängung privater Wohltätigkeit

Philanthropische Klüngelwirtschaft

Spenden heute

12. Interventionismus und Nebeneffektgüter

Privatisierung der kulturellen Allmende

Sterile Beispiele

Inflationskultur

Verflüchtigung der Eigentumssubstanz

Umgehungsstrategien

Unter dem Mantel der Stabilität

Nachwort

ANHANG

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Abbildungsverzeichnis

Für Nathalie

VORWORT

Liebe, Freundschaft und Leben sind unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch Sonnenschein, Wind, Fotosynthese und die Fruchtbarkeit des Bodens. Unentgeltlich sind die Gesetze der Natur, der Logik und der Mathematik. Unentgeltlich ist, dass sich viele Naturgesetze mit Mathematik beschreiben lassen. Unentgeltlich sind gute und schlechte Beispiele. Unentgeltlich sind Kultur und Zivilisation.

Selbst wenn wir die wirtschaftlichen Güter betrachten, die der Mensch im Schweiße seines Angesichts erzeugen muss, werden sie recht häufig ohne die geringste Gegenleistung erbracht und von anderen erhalten. Man denke an Essen und Kleidung für kleine Kinder, an Hilfe für Behinderte und gebrechliche Senioren, an religiöse Feiern, Geburtstagsfeiern, Wohltätigkeit, Erbschaften, öffentliche Schulen, öffentliche Gesundheitsfürsorge usw.

Unser Leben ist eigentlich voll von unentgeltlichen Gütern. Der Mensch kommt mittellos auf die Welt, und mittellos verlässt er sie auch wieder. Alle anfänglichen Gaben erhält er von anderen. Schließlich hinterlässt er anderen, was er im Laufe vieler Jahre angesammelt hat. Gaben am Anfang, Gaben am Ende. Dazwischen, inmitten all der Mühen und Schwierigkeiten, alles Feilschens und Tauschens, ein Leben voller Güter, die unentgeltlich hingegeben und empfangen werden.

Trotz der Allgegenwart unentgeltlicher Güter und trotz ihrer überragenden praktischen Bedeutung haben Ökonomen es versäumt, sie systematisch zu untersuchen. Zwar gibt es eine volkswirtschaftliche Literatur zu Geschenken, zum Wohlfahrtsstaat, zu externen Effekten und zu einer Handvoll verwandter Themen. Vor einem halben Jahrhundert hatte der amerikanische Ökonom Kenneth Boulding sogar skizziert, wie eine allgemeine ökonomische Theorie unentgeltlicher Güter aussehen könnte, wenn sich nur jemand die Mühe machen würde, sie auszuarbeiten. Doch eine solche Theorie gibt es bis heute nicht, trotz der Bemühungen von John Mueller, Catherine Gbedolo und einigen anderen. Großzügigkeit, Geschenke und unbezahlter Überfluss stehen immer noch vor den Toren der Nationalökonomie. Das vorliegende Buch soll sie hineinbringen.

Als ich begann, mich mit diesem Thema zu befassen, bestand mein Forschungsziel darin, einige ärgerliche Lücken in der Literatur zu schließen. Schenkungen, Philanthropie und der Wohlfahrtsstaat waren bereits in zahlreichen Texten behandelt worden. Andere wichtige Themen wurden jedoch vernachlässigt. Nur wenige Schriften hatten sich systematisch mit der unbeabsichtigten Produktion unentgeltlicher Güter durch gewinnorientierte Aktivitäten befasst. So gut wie keine hatte den Einfluss staatlicher Geldpolitik auf die Wirtschaft des Schenkens und auf die Nebeneffekte des Markttauschs thematisiert. Ich machte mich also daran, diese Bereiche zu studieren, wobei ich davon ausging, dass die Standardthemen gut genug behandelt worden waren, auch wenn mir nicht entgangen war, dass frühere Autoren in wichtigen Fragen wie dem Wohlfahrtsstaat und dem Wesen von Geschenken oft zu verschiedenen Auffassungen gelangt waren.

Als ich jedoch zu einem tieferen Verständnis der Sachfragen gelangte, dämmerte mir, dass ich die traditionellen Themen ebenso systematisch würde überarbeiten müssen wie die ursprünglichen Forschungslücken. Vor allem begann ich zu erkennen, dass unentgeltliche Güter und Märkte sich nicht nur ergänzen, sondern in einer symbiotischen Beziehung zueinander stehen. Sie befruchten sich gegenseitig. Um Märkte gut zu verstehen, muss man begreifen, warum und wie bestimmte wirtschaftliche Güter unentgeltlich übertragen werden. Umgekehrt ist es unmöglich, Geschenke und die unentgeltlichen Nebeneffekte des menschlichen Handelns angemessen zu würdigen, ohne zumindest einige Grundkenntnisse über Märkte und Staatseingriffe zu besitzen.

Diese Erkenntnis hat unmittelbare Auswirkungen auf die Volkswirtschaftslehre als wissenschaftliche Disziplin. Es ist seit Langem bekannt, dass sie nicht nur eine Theorie der Märkte ist. Seit mehr als einem Jahrhundert ist sie auch eine allgemeine Theorie des menschlichen Handelns. Ein weiterer Ausbau ist möglich – so meine These –, indem man die Grundsätze untersucht, nach denen wirtschaftliche Güter unentgeltlich übertragen und erworben werden. Denn diese Gesetzmäßigkeiten werfen ein neues Licht auf die Grundlagen der Nationalökonomie, auf Themen wie Freizeit, Sparen und Kapitalakkumulation, auf das Wesen von Rechts- und Geldsystemen und im Weiteren auf die Funktionsweisen von Markt und Staat.

Wenn die Prinzipien der Unentgeltlichkeit zu den Grundsätzen der Nationalökonomie gehören, dann sollte es eigentlich auch möglich sein, das gesamte Fach von diesem Standpunkt aus aufzurollen. Der rote Faden wären dann die verschiedenen Wege, auf denen Güter innerhalb und außerhalb der Märkte unentgeltlich bereitgestellt und erhalten werden. Das vorliegende Buch versucht genau diesen roten Faden sichtbar zu machen. Es führt den Leser durch eine große Anzahl von Standardthemen der heutigen Mikro- und Makroökonomie. Es befasst sich mit Präferenzen, subjektivem Wert, Zeit, Freizeit, Eigentum und Eigentumsrechten, Geldtausch, Wirtschaftsrechnung, Irrtümern, Gewinnen und Verlusten, Information, Lernen, Sparen, Kapitalakkumulation, moralischem Risiko, externen Effekten, Marktversagen, Staatseingriffen, Monopolen, Staatsversagen, öffentlichen Gütern usw. Es unterscheidet sich jedoch von der Standardökonomie. Der Schwerpunkt liegt nicht darauf, wie und warum Güter produziert und getauscht werden und auf den Folgen und Grenzen des Tauschs, sondern darauf, wie und warum Güter ohne Bezahlung bereitgestellt und erhalten werden.

Der Anstoß zu diesem Buch kam von der Enzyklika Caritas in veritate (2009) von Papst Benedikt XVI. Meine ersten Überlegungen zur Ökonomie der Unentgeltlichkeit habe ich 2011 in einem Vortrag am Institut Coppet in Paris und dann ausführlicher in der Lou Church Lecture 2016 auf der Austrian Economics Research Conference in Auburn, Alabama, vorgestellt. Erste Überlegungen zur Wirtschaft des Teilens wurden 2017 auf der Jahrestagung der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften vorgestellt. Ein Forschungssemester im Winter und Frühjahr 2018, das ich am Grove City College und am Mises Institute verbracht habe, gab mir die Gelegenheit, die Lou Church Lecture grundlegend zu überarbeiten und zum ersten Entwurf eines Buchmanuskripts zu erweitern.

Ich danke der Universität Angers, dem Grove City College und dem Mises Institute für ihre Unterstützung. Ebenso erkenntlich bin ich den Herren Thomas Hoof und Andreas Lombard von der Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, die das vorliegende Werk mit offenen Armen empfangen und dank der sorgfältigen Arbeit von Herrn René Reinholz auch in schöner Form an die Öffentlichkeit gebracht haben. Mein besonderer Dank gilt meinen Gastgebern in den Vereinigten Staaten, Mark und Debra Reuber, Jeffrey Herbener, Shawn Ritenour, Paul Kengor und Jeffrey Deist. Meine Kollegen Mark Thornton, Walter Block, Michael Bauwens, François Facchini, Pierre Garello und Karl-Friedrich Israel haben mich unentgeltlich beraten. Mein Freund Anthony Deden hat seine knappe Zeit ausgiebig für Diskussionen über Eigentum, Vernunft und Compliance genutzt, die in dieses Buch eingeflossen sind. Noch mehr bin ich meinen Freunden David Gordon, Jeffrey Herbener und Reinhard Stiebler zu Dank verpflichtet, die großzügig ihre Zeit geopfert haben, um einen ersten Entwurf des Buches zu prüfen und ausführlich zu kommentieren. Und ich danke auch meiner lieben Frau, Nathalie, für ihre wertvollen Ratschläge und ihre Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Buches.

Jörg Guido Hülsmann

Angers, Frankreich, Juli 2023

EINLEITUNG

Gesellschaftliches Leben basiert auf Arbeitsteilung. Jeder Mensch produziert Waren oder leistet Dienste über seine eigenen Bedürfnisse hinaus. Jeder ist bestrebt, diesen Überschuss zu tauschen oder zu verkaufen. Jeder Mensch handelt, um bezahlt zu werden.

Diese Tatsache war schon immer ein Stein des Anstoßes. In der Antike arbeiteten nur Sklaven und andere Untergebene. Freie Männer arbeiteten nicht.1 Sie waren in ihren Familien und als Bürger aktiv. Sie saßen im Senat und zogen in den Krieg. Aber freie Griechen und freie Römer durften nicht arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben, und schon gar nicht mit der Absicht, Geld zu verdienen.2

Diese rigiden Vorstellungen hemmten die wirtschaftliche Entwicklung. Sie schlossen die Beteiligung der bestausgebildeten Männer von der marktorientierten Arbeitsteilung aus und schufen einen permanenten Konflikt zwischen den politischen und den wirtschaftlichen Eliten. Sie machten Erhalt und Wachstum des Wohlstands von der Sklaverei abhängig. Während sie die Konzentration des Reichtums in den Händen der politischen Elite und ihrer Verbündeten aus der Wirtschaft erleichterten, behinderten sie die Akkumulation von Kapital und verdammten somit die Masse der Bevölkerung zu Elend, kurzem Leben und Entmündigung. Gleichzeitig hat die marktfeindliche Moral weder Gier noch Geiz oder Neid beseitigt oder gedämpft. Sie hat diese Laster lediglich in andere Formen kanalisiert. Sie fanden ihren Ausdruck nicht nur auf den Märkten, sondern mehr noch im politischen Prozess.

Die politischen Systeme der Antike waren von tief verwurzelter Korruption geplagt. Politische Macht diente dazu, den Mächtigen und ihren Freunden Einnahmen zu verschaffen. Diese bedienten sich aller »Werkzeuge«, die wir aus der modernen Politik kennen, darunter Besteuerung, Verbote, Marktregulierung, Täuschung, Manipulation der Massen und die künstliche Aufblähung der Geldmenge. Genau wie in unserer Zeit wurden diese Eingriffe genutzt, um Vermögen von unten und von der Mitte der Bevölkerung an die Spitze der politischen Nahrungskette umzuverteilen. Und sie wurden genutzt, um aktuelle und potenzielle Konkurrenten zu unterdrücken. Im Laufe der Zeit wurde die Politik der antiken Welt immer eingriffslustiger.

Gleichzeitig wurde die politische Macht auch zur Eroberung und Ausplünderung fremder Länder genutzt. Das Römische Reich konnte so lange gedeihen, wie die innere Machtausweitung die äußere nicht behinderte. Als die Wirtschaft ab dem Ende des 2. Jahrhunderts zunehmend lahmte, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die militärische Macht Roms hinter die seiner Nachbarn zurückfiel. Das Reich ging unter, weil es mit den moralischen Voraussetzungen einer freien Wirtschaft nicht zurechtkam.

Die westliche Zivilisation nahm daraufhin einen neuen Anlauf, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen. Aus den Trümmern Roms erhob sie sich unter der Führung des christlichen Glaubens wieder (Seipel 1907; Belloc 1912; Stark 2015). Die katholische Kirche verherrlichte das Leiden aus Liebe zu anderen oder für eine gute Sache, wie ja auch Jesus Christus am Kreuz für seine Freunde und für die gesamte Menschheit gestorben war. Dementsprechend lehrte die Kirche auch, dass Arbeit lobenswert sei. Sie war eine Möglichkeit, ein gutes, ja sogar ein heiliges Leben zu führen. Manuelle Arbeit und niedere Tätigkeiten wurden nicht mehr verachtet. Ganz im Gegenteil: Der heilige Paulus wies die Gläubigen an, dass, wer nicht arbeiten will, auch nicht essen solle (2 Thess 3,10). Diese radikale Umkehrung der traditionellen Werte erstreckte sich auch auf das Streben nach Einkommen. Die Christen predigten, dass es richtig und gerecht sei, nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu arbeiten, um dafür bezahlt zu werden. Die kirchliche Lehre verlieh nicht nur dem Geldtausch, sondern auch den Gewinnen und sogar den Zinsen eine moralische Legitimität. Die grundlegende Moral, das Fundament aller sozialen und politischen Beziehungen, wurde überarbeitet. Diese Kulturrevolution wurde von den Benediktinermönchen und der Scholastik vorangetrieben und schließlich von der kirchlichen Hierarchie gestützt.3

Die Folgen waren tiefgreifend und weitreichend. Das mittelalterliche Europa erlebte eine nie dagewesene wirtschaftliche Entwicklung, die schließlich zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Renaissance führte. Das 11., 12. und 13. Jahrhundert waren geprägt von einer Vielzahl bahnbrechender technischer Innovationen und künstlerischer Errungenschaften. Wie Jacques Barzun es ausdrückte:

[…] in den 1 000 Jahren vor 1500 bildete sich eine neue Zivilisation aus ungewöhnlich schwierigen Anfängen heraus. Der Zerfall des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert hatte einige wenige Städte und viele isolierte Siedlungen zurückgelassen, die sich gegen die äußere Anarchie wehren mussten. Aber das Mittelalter bestand […] aus mehreren Zeitaltern. Zu seinen vielfältigen Errungenschaften gehören die Schaffung von Institutionen, die (mehrfache) Reformierung anderer, und nach Ansicht einiger Fachleute zeigte es der Welt auch zwei Renaissancen, bevor jene auftrat, die heute diesen Namen für sich allein beansprucht. Nach neuester Auffassung gab es allerdings nicht zwei solche Blütezeiten, sondern nur eine große, die von 1050 bis 1250 dauerte.4

Die Renaissance des Hochmittelalters wurde durch die Große Pest, den Hundertjährigen Krieg und die damit einhergehenden politischen Repressionen zunichte gemacht. Doch im 16. Jahrhundert setzte sie sich umso stärker fort und beschleunigte sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar noch. Zu diesem Zeitpunkt hatte eine neue Wissenschaft – Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre oder politische Ökonomie genannt – diese Entwicklung verstärkt. Die mittelalterlichen Scholastiker konnten sich nicht vorstellen, dass die Pro-Kopf-Produktion aller Individuen und aller Nationen gleichzeitig und dauerhaft steigen könnte. Die Nationalökonomen des 17. und 18. Jahrhunderts wussten jedoch, dass dies möglich war, und Adam Smith fasste die wichtigsten Gründe brillant zusammen. Er lehrte, dass Ersparnisse und Kapitalakkumulation die Quelle des Reichtums aller Nationen seien und dass Geldeinkommen die Arbeitsteilung steuere.

Ein Jahrhundert später wiesen die Ökonomen der Österreichischen Schule nach, dass dies insbesondere auch für die Einkommen aus Geldkapital gilt. Gewinne und Zinsen steuerten die intertemporale Verteilung der Ersparnisse und damit die Arbeitsteilung. Im Lichte dieser neuen Nationalökonomie stellte sich der Austausch von Gütern und Dienstleistungen nicht mehr als ein Nullsummenspiel dar. Er schien nicht mehr nur darin zu bestehen, Güter von einem Ort zum anderen zu verschieben. Geldpreise und Geldeinnahmen muteten nicht mehr als notwendiges Übel an. Sie waren nicht mehr eine Art Bestechung, die notwendig war, um die Mitarbeit von Wirtschaftssöldnern zu erhalten. Sie waren Elemente eines großen Mechanismus, der – wie eine unsichtbare Hand – die friedliche Zusammenarbeit der Menschen im Rahmen einer rationalen Wirtschaftsordnung lenkte.

Das rechte Maß

Dieses neue Verständnis ging mit gewissen Übertreibungen einher. Einige Autoren glaubten, dass der Marktprozess ein Allheilmittel sei, um den größten Nutzen für die größte Anzahl von Menschen zu erzielen. Einige hielten die Marktpreise für unfehlbare Wegweiser. Die Unternehmer bräuchten nur den Anweisungen des Marktes zu folgen – sie bräuchten nur nach Gewinn zu streben –, um das Beste zu tun, nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit. Milton Friedman, einer der größten Verfechter der wirtschaftlichen Freiheit im 20. Jahrhundert, verkörpert diese Tendenz. Sein berühmtester Presseartikel trug den vielsagenden Titel »Die soziale Verantwortung der Unternehmen besteht darin, ihre Gewinne zu steigern« (Friedman 1970).

Noch folgenschwerer war eine andere Übertreibung, nämlich der einseitige Blick auf den Markttausch als Mechanismus zur Organisation der Arbeitsteilung. Die Industrielle Revolution brachte nicht nur eine Steigerung von Produktion und Wohlstand. Gleichzeitig wurde der Markttausch immer wichtiger. Es war nur natürlich – und weitgehend richtig –, hier einen kausalen Zusammenhang zu sehen. Innerhalb bestimmter Grenzen führen wachsende Märkte tendenziell zu mehr Produktion und damit zu mehr Wohlstand.5 Die Versuchung war jedoch groß, die Bedeutung dieser Beziehung zu übertreiben, und genau das ist geschehen. Insbesondere die zunehmende Wertschätzung der marktgesteuerten Arbeitsteilung ging einher mit einer Vernachlässigung oder gar Verunglimpfung unentgeltlicher Güter als Ursache für die Schaffung von Wohlstand. Geschenke und andere unentgeltliche Güter schienen bloße Mittel zur Verteilung des gegebenen Wohlstands zu sein. Sie waren unfruchtbar (wenn nicht gar schädlich), was den Aufbau von Vermögen anging. Adam Smith vertrat die Ansicht, dass das Wachstum der Wirtschaft (ausschließlich) durch das Wachstum der Märkte bedingt sei, oder, wie er es ausdrückte, dass »die Arbeitsteilung durch die Größe des Marktes begrenzt wird«.6 Selbst Bettler, die letztlich auf Geschenke angewiesen waren, erhielten das, was sie brauchten, »durch Verträge, Tausch und Kauf«.7

Smith war zugegebenermaßen ein Extremfall. Die Worte »unentgeltlich« und »Geschenk« kommen in Wohlstand der Nationen jeweils genau einmal vor.8 Er erkannte zwar an, dass alle Einkommen aus menschlicher Arbeit und aus nichtmenschlichen natürlichen Ressourcen resultieren – sie sind die »jährlichen Erzeugnisse des Bodens und der Arbeit« –, aber der Wert dieser Einkünfte, der Reichtum, entspringe allein der menschlichen Arbeit. Nach Smiths Auffassung ist Reichtum die Fähigkeit, Arbeitsleistungen zu erwerben.9 Das bedeutet, dass unentgeltliche Leistungen per Definition von der ökonomischen Analyse à la Smith ausgeschlossen sind. Reichtum kann weder aus den unentgeltlichen Gaben der Natur noch aus den Nebeneffekten menschlichen Handelns entstehen. Er ist an ordnungsgemäß entlohnte Arbeit gekoppelt.

Daran hat sich im Großen und Ganzen bis heute nichts geändert. Die allgemeine Tendenz in den Wirtschaftswissenschaften bestand stets darin, unentgeltliche Leistungen so weit wie möglich außen vor zu lassen, wenn es darum geht, die Ursachen und Folgen des Wohlstands zu erklären. Selbst einige sehr angesehene Ökonomen, die wertvolle Erkenntnisse zur Ökonomie unentgeltlicher Güter beigetragen haben, betonten, dass die Untersuchung dieser Güter einfach nicht zur Volkswirtschaftslehre gehöre.10

Es ist jedoch unmöglich, unentgeltliche Güter vollständig aus der wirtschaftlichen Betrachtung auszuklammern. Ihr Vorhandensein ist eine so unbestreitbare Tatsache, dass man sich unwillkürlich darauf beziehen muss, wenn auch nur implizit. Die allgemeine Tendenz bestand daher darin, diese Tatsache zu verschleiern. Wenn heutige Ökonomen beispielsweise von »Konsumentenrente« sprechen, erkennen sie damit an, dass der Markttausch unentgeltliche Güter vermitteln kann, ohne jedoch das Wort »unentgeltlich« oder einen ähnlichen Ausdruck zu verwenden.

Die einseitige analytische Fokussierung auf Märkte führte die meisten Ökonomen zu der Überzeugung, dass ein Wachstum der Märkte immer und überall zu einem nachhaltigen Anstieg der Gesamtproduktion führt. Nach ihrer Auffassung ging es bei der Abwägung zwischen marktbestimmten und nicht marktbestimmten Tätigkeiten um das richtige Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch. Die Produktion als solche schien nicht betroffen zu sein. Sie konnte durch die Ausweitung der Märkte immer wieder angekurbelt werden.

Der bekannteste Ausdruck dieser Sichtweise ist heute die keynesianische Makroökonomie. Keynes und seinen Anhängern zufolge ist praktisch jede Ausweitung der Märkte, insbesondere der Arbeitsmärkte, aus gesamtwirtschaftlicher Sicht von Vorteil. Eine unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage schränke den Austausch von Waren und Dienstleistungen und damit die Arbeitsteilung ein. Glücklicherweise verfüge der Staat über verschiedene Instrumente, vor allem über die Notenpresse, um die Gesamtnachfrage zu fördern. Er könne Märkte schaffen, die ohne staatliche Eingriffe nicht existieren würden. Er könne die Größe der Märkte über das Niveau hinaus steigern, das sie in einer unbehinderten Wirtschaft erreichen würden.

Das einseitige Interesse an den Märkten ebnete den Weg für eine zweigleisige interventionistische Wirtschaftspolitik. Einerseits schienen staatliche Eingriffe erforderlich zu sein, um Märkte zu schaffen oder zu erweitern. Andererseits wurden Unternehmen gegängelt und der Wohlfahrtsstaat aufgebläht, um die Exzesse, die aus der Inflation der Märkte entsprangen, zu reparieren oder zu mildern. Obwohl diese Eingriffe in entgegengesetzte Richtungen gingen, bedingten sie einander. Die künstliche Förderung der Märkte führte zu Korruption, Gleichgültigkeit, Gier und Verantwortungslosigkeit. Sie vergrößerte die Kluft zwischen Arm und Reich und entfremdete Reiche von Armen, Junge von Alten, Nachbarn von Nachbarn. Diese Probleme dienten dann dazu, eine vermehrte staatliche Gängelung der Wirtschaft und »Sozialpolitik« zu rechtfertigen, was wiederum die soeben genannten Probleme noch verstärkte.

Die einseitige Konzentration auf die Vorteile der Märkte führte auch zu verschiedenen Reaktionen im wirtschaftlichen Denken, die ebenso einseitig und unheilvoll waren. Einige, die die Schwächen aufgeblähter Marktsysteme erkannten, hielten es für möglich und sinnvoll, Märkte ganz und gar abzuschaffen. Andere glaubten, dass freie Gesellschaften von Natur aus zum Materialismus neigten und dass nicht-marktwirtschaftliche Aktivitäten ohne staatliche Unterstützung nicht gedeihen könnten. Wiederum andere glaubten, dass nicht-marktwirtschaftliche Tätigkeiten mit dem Kapitalismus unvereinbar seien. Kurzum, ein Eingriff zog den nächsten nach sich, und eine theoretische Einseitigkeit führt zu vielen anderen.

Der einzige Ausweg aus diesem ermüdenden und zerstörerischen gegenseitigen Hochschaukeln von Einseitigkeiten besteht darin, ein richtiges Gleichgewicht herzustellen, vor allem auf der Ebene des Denkens, damit das richtige Gleichgewicht auch im Handeln gefunden werden kann. Das richtige Gleichgewicht zu finden bedeutet nicht, das Rad neu zu erfinden. Es stimmt, dass vieles von dem, was heute als Wirtschaftswissenschaft gilt, falsch oder irrelevant ist. Aber die Wissenschaft existiert. Sie ist unvollständig und ungeordnet. Um das Gleichgewicht herzustellen, ist es notwendig, über die Beziehungen zwischen Markt- und Nichtmarktaktivitäten nachzudenken. Um den Umfang und die Grenzen wirtschaftlicher Güter zu verstehen, die auf dem Markt getauscht werden, ist es notwendig, den Umfang und die Grenzen jener wirtschaftlichen Güter zu untersuchen, die es umsonst gibt. Ziel des vorliegenden Buches ist es, dies auf systematische Weise zu unternehmen.

Unentgeltliche Güter und Dienste spielen in einer freien Wirtschaft eine zentrale Rolle. Sie wirken sich nicht nur auf die Einkommensverteilung aus, sondern sind auch eine treibende Kraft von Produktion und Arbeitsteilung, von Sparen und Investitionen. Sie existieren nicht nur neben den Tauschgeschäften des Marktes. Vielmehr durchdringen sie den Markt selbst und gedeihen und vergehen zusammen mit ihm. Es gibt ein angemessenes Gleichgewicht zwischen unentgeltlichen Gütern und anderen Gütern, die bezahlt werden müssen. Dieses Gleichgewicht ist nicht starr und eindimensional. Es ändert sich im Laufe der Zeit unter dem Einfluss sich ändernder kultureller, politischer und wirtschaftlicher Umstände. Es stellt sich in der Regel ein, wenn die Menschen innerhalb der Grenzen ihrer Eigentumsrechte frei handeln können. Wird diese Handlungsfreiheit durch die Gewalt des Staates eingeschränkt, kann kein Gleichgewicht erreicht werden, und unentgeltliche Güter und Dienste leiden darunter. Sie leiden, wenn die Märkte aufgebläht werden. Aber sie leiden nicht weniger, wenn die Märkte unterdrückt werden.

Dies sind die zentralen Gedanken unseres Buches. Im Folgenden werden wir einige Bemerkungen zu der einschlägigen Literatur machen.

Selektiver Literaturüberblick

Wir haben bereits erwähnt, dass Adam Smith besonders hartnäckig daran festhielt, Arbeit als die ausschließliche Quelle wirtschaftlicher Güter bzw. des Wertes dieser Güter darzustellen. Die Natur selbst war in den Augen von Smith nicht das sprichwörtliche Füllhorn, sondern eine eifrige Magd, die Hand in Hand mit dem Menschen schuftete.11 Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die ökonomische Theorie der unentgeltlichen Güter in Wohlstand der Nationen einen frühen Tiefpunkt erreicht hatte. Von hier an konnte es nur noch aufwärtsgehen. Wie Jean-Baptiste Say (1861 [1803], S. 71) feststellte, hatte Smith die Position der Physiokraten auf den Kopf gestellt.12 Diese hatten argumentiert, dass menschliche Arbeit nie eine Netto-Wertschöpfung erbringe. In ihren Augen leistete dies nur die Natur, und zwar unentgeltlich.

Say selbst vertrat die Ansicht, dass Arbeit und Natur die eigentlichen Ursachen des Reichtums seien.13 Obwohl er unentgeltliche Güter von der politischen Ökonomie ausgeschlossen hatte, untersuchte er dennoch (wenn auch beiläufig) ihre Beziehungen zu Wert, Preisen und Einnahmen. Er erörterte auch die Vorzüge der unentgeltlichen Geldproduktion und des unentgeltlichen öffentlichen Dienstes, insbesondere der öffentlichen Verwaltung und der öffentlichen Schulen.

Say und Ricardo ebneten den Weg für Frédéric Bastiat, der eine Generation später diese Beziehungen viel systematischer untersuchte und sie zu einer neuen Philosophie der »sozialen Harmonien« verallgemeinerte. Auf seine Ideen werden wir in Kapitel 6 näher eingehen. Mehr als jeder andere Ökonom vor ihm untersuchte Bastiat die Rolle unentgeltlicher Güter in Gesellschaft und Wirtschaft. Er sah in diesen Gütern den Kern und die Grundlage materieller Fülle, der sich spontan aus einer auf Privateigentumsrechten basierenden Gesellschaftsordnung ergab. Catherine Gbedolo (2015, Kap. 1) bezeichnete ihn zu Recht als den Vater der Ökonomie unentgeltlicher Güter.

Die Marginalistische Revolution der 1870er-Jahre brachte dann einen Rückschlag. Das Wort »unentgeltlich« – obwohl es bei Say eine wichtige und bei Bastiat eine zentrale Rolle spielt – wurde in Mengers Grundsätzen und in Walras’ Elementen nicht ein einziges Mal verwendet. Das Thema wurde auch von Pareto, Wieser und allen anderen führenden Köpfen des neuen Ansatzes vernachlässigt.

Betrachten wir die wichtigsten englischen Autoren ein wenig genauer, um diesen Punkt zu veranschaulichen. In Jevons’ Theory of Political Economy wird das Wort »unentgeltlich« genau einmal verwendet, nämlich als der Autor die unentgeltlichen Früchte der Natur erwähnt, wobei er peinlich darauf besteht, dass diese Früchte nur »fast unentgeltlich« sind (Jevons 1871, S. 182). Wie Adam Smith war auch Jevons nicht der Meinung, dass diese Früchte wirklich unentgeltlich seien, und wir werden später sehen, dass er auch ein entschiedener Gegner aller Organisationen war, die Armenhilfe und andere unentgeltliche Dienste leisteten.

Liest man Adam Smith und Stanley Jevons, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die eifrige Vernachlässigung und sogar Verunglimpfung unentgeltlicher wirtschaftlicher Güter ein charakteristisches Merkmal der britischen politischen Ökonomie seien. Anders jedoch Alfred Marshall, der im Einklang mit kontinentalen Vorläufern die Bedeutung der »freien Gaben der Natur« anerkannte und betonte. Er verwendete diesen Ausdruck in seinen Principles sogar achtzehnmal und bezeichnete damit jenes Einkommen, das aus den freien Gütern der Natur stammt (siehe Marshall 1920 [1890], S. 74). Marshall erklärte, dass die Themse, ein kostenloses Geschenk der Natur, mehr zum englischen Wohlstand beigetragen habe als alle Kanäle zusammen und vielleicht mehr als alle Eisenbahnen des Landes (ebd., S. 59). Marshall betonte auch die Tatsache, dass der Marktaustausch positive Auswirkungen auf Außenstehende haben kann. In diesem Zusammenhang vermied er jedoch jegliche Verwendung des Wortes »unentgeltlich« und seiner Ableitungen.14 Die unentgeltlichen Vorteile, die das Handeln einer Person für andere Personen schafft, sind in Marshalls Sprache »externe Ökonomien« oder, im heutigen Jargon, »positive externe Effekte«.

Sein Schüler Pigou verfiel dann wieder in die traditionelle Gewohnheit der britischen Ökonomen, jeden Hinweis auf unentgeltliche Güter und Dienstleistungen unter den Teppich zu kehren, jedenfalls soweit es um das normale Funktionieren einer Marktwirtschaft ging. In seinem berühmten Werk Economics of Welfare entwickelte er das Marshall’sche Konzept der externen Ökonomien weiter. Doch genau wie Marshall vermied er in diesem Zusammenhang sorgfältig jede Verwendung des Wortes »unentgeltlich« und seiner Ableitungen. Wenn es um die Marktwirtschaft im Allgemeinen ging, erwähnte er die Geschenke der Natur kaum (Pigou 1932 [1920], S. 28). Im Gegensatz dazu untersuchte Pigou eingehend die verschiedenen Möglichkeiten des Staates, eine wohlfahrtssteigernde Politik zu betreiben, indem er Geschenke aus Steuergeldern bereitstellt (vgl. ebd., S. 722 ff.), ein Thema, das wir in Kapitel 10 etwas ausführlicher behandeln werden.

Unter dem Strich war der neue marginalistische Ansatz kein Segen für die Ökonomie der unentgeltlichen Güter, obschon er es hätte sein können und sollen, sondern ein bedauerlicher Rückschlag hinter das, was Bastiat und andere bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht hatten.

Es gibt gute Gründe, die dieses Scheitern erklären könnten. Der marginalistische Ansatz war ein entscheidender Durchbruch in der Preistheorie. Zwei Generationen von Ökonomen waren mit der Aufgabe beschäftigt, seine Implikationen zu verinnerlichen und ihn auf verschiedene Bereiche der Marktanalyse anzuwenden, zum Beispiel auf Faktorpreise, Geld, Konjunkturanalyse und internationalen Handel.

Diese unvermeidliche anfängliche Konzentration auf Marktphänomene wurde durch den gleichzeitigen Versuch verstärkt, mathematische Modellierungen in die Wirtschaftswissenschaften einzuführen. Solche Modellierungsversuche wurden durch die Hypothese, dass alle Marktteilnehmer ausschließlich von dem Wunsch nach Geldgewinn getrieben werden (Homo oeconomicus), erheblich erleichtert. Erleichtert wurden sie auch durch die ausschließliche Konzentration auf hypothetische Gleichgewichtssituationen, in denen die Kosten gleich dem Preis waren, sowie durch das Postulat, dass alle wirtschaftlichen Güter entweder getauscht oder als Geschenke übertragen wurden. Aber gerade diese Art der Modellierung führte zu einer Spannung zwischen Modell und Realität. Sie erschwerte es, unentgeltliche Güter und Markttausch unter ein gemeinsames theoretisches Dach zu bringen.

Der Schwerpunkt jeder mathematischen Argumentation liegt unweigerlich auf den quantitativen Dimensionen eines Problems. In den Wirtschaftswissenschaften hat dieser Schwerpunkt die Aufmerksamkeit von der Untersuchung subjektiver Werte, menschlicher Absichten und anderer Ursachen des menschlichen Handelns, die keine numerische Dimension haben, abgelenkt. Bedauerlicherweise haben sich der intellektuelle Horizont und der Werkzeugkasten der Volkswirtschaftslehre mit der immer ausschließlicher werdenden Übernahme des mathematischen Denkens dramatisch verengt. Heute dreht sich die Ausbildung von Doktoranden der Wirtschaftswissenschaften in der Regel um die Erstellung und Interpretation quantitativer Daten. Alle anderen Fragen der ökonomischen Analyse werden bestenfalls in Nebenfächern behandelt. In der Regel werden sie in benachbarte Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Anthropologie oder Rechtswissenschaft verwiesen.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Trend im Hinblick auf unser Thema besonders schädlich ist. Es ist in der Tat unmöglich, sich mit der Ökonomie unentgeltlicher Güter zu befassen, ohne Grundkenntnisse über subjektive Werte, Eigentumsrechte, soziale Handlungen und die erkenntnistheoretischen Probleme der Sozialwissenschaften zu besitzen (um nur diese Themen zu nennen). Unsere Theorie des Spendens, die wir in Kapitel 2 vorstellen werden, stützt sich an zentraler Stelle auf die Unterscheidung zwischen Zweck- und Wirkursachen, eine Unterscheidung, die allen Gelehrten des 19. und sogar des frühen 20. Jahrhunderts vertraut war, heutigen Ökonomen aber fast vollständig unbekannt ist.

Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser mathematischen Transformation und begrifflichen Verarmung der HauptstromÖkonomie war die Österreichische (oder Wiener) Schule, die den traditionellen realistischen Ansatz der Wirtschaftswissenschaft weitgehend beibehielt. Carl Menger und seine Schüler lehnten die mathematische Modellierung menschlichen Handelns aus Prinzip ab. Sie konnten daher auf die willkürlichen und lebensfremden Annahmen über menschliches Verhalten verzichten, die für die Konstruktion der mathematischen Modelle so bequem, wenn nicht gar notwendig waren.

Die Schriften des Menger-Anhängers Ludwig von Mises ebneten dann den Weg für die Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie des menschlichen Handelns, die Mises »Praxeologie« nannte. In seinem Denken lag der Schwerpunkt zwar immer noch auf der Ökonomie der Märkte, aber dieser Schwerpunkt war nun Teil einer weiter gefassten Konzeption.15 Die Theorie von Mises enthielt fast alle Elemente, die notwendig waren, um das dringend benötigte Gleichgewicht wiederherzustellen, auf das wir bereits hingewiesen haben. Es stimmt, dass er keine Theorie unentgeltlicher Güter ausgearbeitet hat. Er lieferte jedoch einen allgemeinen Rahmen für eine solche Theorie sowie mehrere wichtige Elemente einer Ökonomie der Unentgeltlichkeit. Dazu zählen insbesondere seine Kritik der Politik unentgeltlicher Kredite, seine Konzeption unternehmerischer Gewinne und Verluste und seine Erörterung der gesellschaftlichen Bedeutung genialer Schöpfer. Mises entwickelte auch die Theorie des Interventionismus, insbesondere des monetären Interventionismus, die er von den klassischen Ökonomen übernommen hatte und die von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Auswirkungen staatlicher Politik auf unentgeltliche Güter ist, wie wir weiter unten noch genauer sehen werden. Das vorliegende Buch baut auf den Grundlagen auf, die er vor siebzig Jahren geschaffen hat. Wir werden zeigen, dass das Mises’sche Denkgebäude als Grundlage für eine allgemeine Theorie des Wesens, der Formen, der Ursachen und der Folgen unentgeltlicher Güter geeignet ist.

Trotz ihrer Bedeutung war die Österreichische Schule immer eine Minderheitsbewegung in der Wirtschaftswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Die Mehrheit war dem positivistischen Modellierungsansatz verpflichtet, den wir gerade erwähnt haben. Es war unvermeidlich, dass dieser Hauptstrom für seine analytischen Unzulänglichkeiten zur Rechenschaft gezogen wurde und dass andere Disziplinen versuchen würden, jene Aspekte des menschlichen Handelns abzudecken, die in den Modellen nicht berücksichtigt wurden. Was unentgeltliche Güter anbelangt, so kam die bedeutendste Herausforderung zunächst von der Anthropologie.

In den Jahren 1923/24 legte der französische Anthropologe und Soziologe Marcel Mauss eine Studie über Geschenke in primitiven Gesellschaften vor, die er anschließend zu einer Reihe allgemeiner Überlegungen über Geschenke und ihre Rolle im Vergleich zu Märkten verallgemeinerte. Er behauptete, dass es streng genommen etwas wie ein reines Geschenk gar nicht gebe. Und genauso wenig gebe es etwas wie einen reinen vertraglichen Tausch. In der realen Welt basierten alle sozialen Beziehungen auf Gegenseitigkeit, aber die jeweiligen Verpflichtungen könnten durch die Tauschpartner nicht endgültig und abschließend bestimmt werden, sondern seien durch generationenübergreifende Sitten und Konventionen geregelt. Jede individuelle Tauschhandlung sei Teil eines sozialen Geflechts aus Ansprüchen und Verpflichtungen. Sie könne Verpflichtungen daher in keiner Weise endgültig erfüllen, sondern vollziehe sich stets im Rahmen einer unabgeschlossenen und unabschließbaren Gegenseitigkeit. Wir werden diese Ideen in Kapitel 4 erörtern.

Mauss’ Buch hatte großen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen von Anthropologen und Soziologen.16 Wie Marcel Mauss und Émile Durkheim (der Schwiegervater von Mauss) versuchten die meisten dieser Autoren eine Theorie des menschlichen Handelns in bewusster Opposition zur Ökonomie zu entwickeln. Dieser erfolglose Versuch wurde nicht zuletzt durch die Abneigung gegen die politischen (marktfreundlichen) Implikationen der Ökonomie motiviert.

Das paradigmatische Beispiel für diesen Literaturstrang ist Marshall Sahlins’ brillantes Buch Stone Age Economics von 1974. In einer an Rousseau erinnernden Argumentation behauptet der Autor, dass Knappheit keine universelle Bedingung des menschlichen Lebens, sondern erst in jüngster Zeit weit verbreitet und wichtig geworden sei: »Das markt-industrielle System schafft Knappheit, in einer Art und Weise, die völlig beispiellos ist, und in einem Ausmaß, das nirgendwo sonst annähernd erreicht wird« (Sahlins 2017 [1974], S. 4, unsere Hervorhebung). Im Gegensatz dazu habe im Zeitalter der Jäger und Sammler ein »ursprünglicher Wohlstand« (ebd., S. 27, 38) geherrscht. Diese hätten einen Überfluss an Tieren, Vegetation und Materialien wie »Stein, Knochen, Holz, Haut« genossen, Güter, die einfach da waren und aus denen sich »jeder frei bedienen konnte« (ebd., S. 10). Unsere primitiven Vorfahren hätten im Überfluss gebadet, weil ihr Konsum maßvoll war und nicht künstlich durch Werbung und Konkurrenz um Reichtum und Macht angeregt wurde (vgl. ebd., S. 76, 103, 121 et passim).

Es erübrigt sich, diese fantastischen Behauptungen zu kommentieren. Es sei lediglich unterstrichen, dass Historiker und Anthropologen die Dinge richtiggestellt haben. Steinzeitliche Gemeinschaften waren keine glückseligen Paradiese des Überflusses, der Muße und der Großzügigkeit. Sie waren ständig in Kriege verwickelt, nagten regelmäßig am Hungertuch und litten hilflos an Krankheiten und hoher Kindersterblichkeit.

Andere Autoren leugnen das Problem der Knappheit zwar nicht, versuchen aber eine neue Ökonomie zu entwickeln, die auf einer Synthese zwischen den Lehren von Mauss und der traditionellen Ökonomie beruht, ohne jedoch die marktwirtschaftlichen politischen Schlussfolgerungen der Standardökonomie zu übernehmen. Ein interessanter und repräsentativer Fall ist François Perroux (1960, 1963, 1981).

In seinem Werk Économie et Sociétés (1960) lässt Perroux die Volkswirtschaftslehre à la Henry Hazlitt (S. 5) und Ludwig von Mises (S. 9) beiseite und macht sich daran, die Disziplin auf der Grundlage einer Interpretation von Adam Smith, John Stuart Mill, Karl Marx und Léon Walras neu zu begründen. In seinen Augen bestand die Kardinalsünde der konventionellen Ökonomie darin, sich allzu einseitig nur auf den Markttausch zu konzentrieren, den er als einen Austausch von gleichwertigen Werten verstand. Die Ökonomen hatten es versäumt, den entscheidenden Einfluss von zwei anderen Kräften zu berücksichtigen, nämlich von Zwang und Geschenken, die zur Korrektur von Marktversagen erforderlich sind. In der realen Welt, so argumentiert Perroux, gebe es keinen Austausch von Äquivalenten. Alle Pläne und Maßnahmen, die auf dieser Prämisse beruhen, seien zum Scheitern verurteilt. Aber das Problem höre hier nicht auf, denn der freie Markt verfüge über keinen Korrekturmechanismus. Er sei eine krebsartige Institution (une institution envahissante, S. 130), die dazu neige, die aus ihren eigenen internen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen resultierenden Probleme zu verbreiten und zu verstärken. Es sei daher notwendig, die Rolle von Zwang und Geschenken erneut zu betonen, und Perroux untersucht Geschenke in enger Anlehnung an den Mauss’schen Ansatz (S. 156–176 et passim).

Sein Buch ist immer noch ein Lehrstück dafür, wie man eine Theorie unentgeltlicher Güter nicht aufstellen sollte, sowohl was den Inhalt als auch was den Stil betrifft. Perroux’ Kardinalfehler war der Versuch, die Volkswirtschaftslehre von Grund auf durch ein eklektisches Sammelsurium von Erkenntnissen, Modellen und Hypothesen zu ersetzen, die aus verschiedenen (und oft inkompatiblen) theoretischen Rahmenwerken stammen. Zu den Autoren, die in diesem konzeptionellen Mischmasch nicht vorkamen, gehörten seine Landsleute Say und Bastiat, von denen er einiges über unentgeltliche Güter hätte lernen können. Perroux warf der Volkswirtschaftslehre zu Unrecht ihren methodologischen Individualismus vor, und ebenso irrig war seine Auffassung, dass unentgeltliche Güter nur mithilfe eines methodologischen Holismus (Kollektivismus) in die Wirtschaftswissenschaften einzugliedern wären. Er verachtete die Arbeiten der HauptstromÖkonomen, aber genau wie diese verwechselte Perroux die Nationalökonomie mit Modellierungsübungen. Wie Pareto, Marshall und Wieser unterschied er fälschlicherweise zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Beweggründen. Und er zeigte nicht das geringste Bewusstsein für die besonderen Probleme, die der staatliche Interventionismus aufwirft.17

Ein weiterer Autor, der Mauss’ Geschenktheorie mit Durkheims Theorie der organischen Solidarität und der Armenökonomie verband, war Richard Titmuss, der Pate des britischen Nationalen Gesundheitsdienstes (siehe Hughes 1991, S. 18). Im Gegensatz zu Perroux hatte Titmuss nie eine formale Ausbildung in Wirtschaftswissenschaften erhalten. Er war ein Autodidakt, der im Alleingang die akademische Disziplin der Sozialverwaltung oder Sozialpolitik schuf. In seinem Buch The Gift Relationship. From Human Blood to Social Policy (1970) sprach er sich kategorisch gegen Blutmärkte jeglicher Art und Größe aus. Blut müsse einfach in Form von Blutspenden zur Verfügung gestellt werden.

Seine Argumentation stützte sich im Wesentlichen auf einen Vergleich des amerikanischen Gesundheitssystems (wo etwa ein Drittel aller Blutspender bezahlt wurde) mit dem Gesundheitssystem in England und Wales, das sich ausschließlich auf unbezahlte Freiwillige stützte. Er führte drei Hauptargumente an.

Erstens: »Ein privater Markt für Blut birgt für den Empfänger ein viel größeres Risiko von Krankheit, chronischer Behinderung und Tod« (ebd., S. 157). Titmuss wies auf verschiedene Probleme des Blutmarktes in den USA hin. Vor allem zeigte er, dass in Zeiten der Blutknappheit, die zu steigenden Blutpreisen führte, die zusätzlich auf den Markt gebrachten Blutkonserven systematisch von schlechterer Qualität waren als die älteren Blutkonserven. Er kam zu dem Schluss, dass ein rein spendenbasiertes System der Blutversorgung einem marktbasierten System vorzuziehen sei. Bezahlte Blutspender seien tendenziell »zurückhaltender und weniger bereit, eine vollständige Krankengeschichte offenzulegen und Informationen über kürzliche Kontakte mit Infektionskrankheiten, kürzliche Impfungen und über ihre Ernährungs-, Trink- und Drogengewohnheiten zu geben, die sie als Spender disqualifizieren würden« (ebd., S. 151). Zweitens behauptete er, dass das marktwirtschaftliche System »den Ausdruck des Altruismus unterdrückt, den Gemeinschaftssinn untergräbt, wissenschaftliche Standards senkt und sowohl persönliche als auch berufliche Freiheiten einschränkt« und dass es »denjenigen, die am wenigsten in der Lage sind, sie zu tragen, immense soziale Kosten aufbürdet – den Armen, den Kranken und den Unfähigen« (ebd., S. 245 f.). Und drittens, selbst wenn ein Blutmarkt nur in einigen Regionen eingeführt würde, in anderen jedoch nicht, würde er für Letztere dennoch Probleme schaffen, da er letztlich auch auf ihre Vorräte zurückgreifen würde.

Titmuss’ Argument war jedoch mit verschiedenen Fehlern behaftet (siehe Arrow 1975 [1972]; Shearmur 2001). So hatte er zum Beispiel leichtfertig angenommen, dass die Käufer von Blut, aus welchen Gründen auch immer, nie zwischen besserem und schlechterem Blut unterscheiden würden. Denn wenn sie dies täten, würden sich die unterschiedlichen Blutqualitäten in unterschiedlichen Preisen niederschlagen, und Blut von unzureichender Qualität würde überhaupt keinen Käufer finden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Verfahren zur Auswahl von Blutspendern politisch umstritten sein könnte, da die Spender »normalerweise private Informationen (über Drogenkonsum und Sexualpraktiken) preisgeben müssen, Informationen, die die soziale Identität und nicht nur die individuelle medizinische Vorgeschichte berühren« (Steiner 2003, S. 151). Er hatte auch nicht den zunehmenden Bedarf an Blutprodukten (insbesondere an Plasma und seinen Derivaten) vorausgesehen, die länger haltbar sind als das Blut für Transfusionen. Alle seine Überlegungen drehten sich um das statische Szenario des Bluttransfusionsbedarfs. Er konnte sich nicht vorstellen, wie neue Technologien die Nachfrage und das Angebot von Blut revolutionieren und wie die Märkte denjenigen helfen könnten, die sich mit diesen neuen Realitäten auseinandersetzen müssen. Nicht zuletzt hatte Richard Titmuss es versäumt, die Risiken einer rein spendenbasierten Blutversorgung richtig einzuschätzen, und er versäumte es auch völlig, die Fallstricke der von ihm bevorzugten staatsorientierten Lösung zu untersuchen, die darin besteht, die Verwaltung der Blutbanken und die Auswahl der Blutspender öffentlichen Bürokratien zu übertragen.18

Einige von Titmuss’ Argumenten verdienen eine sorgfältige Prüfung. So ist es zum Beispiel richtig, dass die Entwicklung von Märkten die Motivationen vormaliger Spender verändern kann, und es ist auch richtig, dass sich solche Veränderungen kulturell verfestigen können. Das Anerkennen dieser Tatsachen ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Verurteilung der Blutmärkte und einer Befürwortung des Gesundheitssozialismus. Sein Buch The Gift Relationship hat es nicht geschafft, ein solides Argument für Letzteren zu liefern, nicht zuletzt weil es nicht auf einer soliden Theorie der Spenden beruhte.

Ähnliche Irrtümer sind vielen anderen Autoren unterlaufen, die, ohne sich auf Mauss und Durkheim zu stützen, versucht haben, unentgeltliche Güter in das Denkgebäude der Volkswirtschaftslehre einzugliedern.19 Ein Beispiel ist das Buch Schenkende Wirtschaft von Bernhard Laum (1960), eine deskriptive Studie über die Rolle von Schenkungen in der menschlichen Wirtschaft sowie über die historischen Veränderungen dieser Rolle vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Laum argumentiert, dass in der mittelalterlichen Wirtschaft das Schenken im Mittelpunkt stand. Erst in der Neuzeit sei es auf eine zweitrangige Position hinter der Produktion und dem Austausch zurückgestuft worden. Dieser Wandel findet nicht den Beifall des Autors. Laum hält sie eher für einen Rückschritt als für einen Fortschritt.

So weit, so gut. Das Problem ist, dass Laum nicht erklärt, warum dieser Wandel stattgefunden hat. Er erklärt auch nicht, warum die stärkere Verbreitung des Schenkens im Mittelalter der modernen Situation vorzuziehen sein soll. Aber man kann keinen historischen Prozess wirklich verstehen, ohne die Kräfte zu kennen, die ihn antreiben, und dann ist es auch nicht möglich, zu brauchbaren Schlussfolgerungen zu kommen.

Veranschaulichen wir uns dieses Problem anhand einer der zentralen Behauptungen von Laum. Er argumentiert, dass das gemeinsame Essen mit Gästen die archetypische Form des Wirtschaftens sei. Im Mittelalter habe es noch im Mittelpunkt gestanden und sei auch mit öffentlichen oder halb öffentlichen Banketten zelebriert worden, sei dann aber mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Mit anderen Worten: Die Wirtschaft sei früher konsum- und geschenkzentriert gewesen.20 Heute hingegen stünden Produktion und Austausch im Vordergrund, mit entsprechenden Auswirkungen auf unsere Sprache.

Nehmen wir einmal an, dass Laum die Tatsachen richtig wiedergegeben hat. Dann führt das immer noch nicht weiter, weil er uns nichts über die zugrunde liegenden Ursachen sagt. Warum war die mittelalterliche Wirtschaft in Europa stärker auf den Konsum ausgerichtet als die moderne?

Laum unterstellt, dass die damaligen Zeiten eine freudige und altruistische Mentalität zum Ausdruck brachten, während die heutige Mentalität egoistisch und geizig sei, weil sich unser Denken und Handeln ganz um Produktion und Austausch drehe. Dies ist jedoch ganz offensichtlich nicht die ganze Geschichte. Bei den üppigen Banketten des Mittelalters kamen relativ kleine Gruppen von Wohlhabenden und Mächtigen sowie deren Bedienstete zusammen, während die bäuerliche Bevölkerung oft hungerte. Außerdem waren jene üppigen Mahlzeiten eine Folge der mittelalterlichen politischen Organisation (vgl. Hüllmann 1805, S. 88 ff.). Die Provinzen wurden durch die Delegation von Oberherren an Vasallen regiert. Eine solche Delegation konnte widerrufen werden, und die Stellung der Vasallen war daher fragil. Wenn ihr Herr ihnen einen Besuch abstattete, waren sie verpflichtet, ihn zu empfangen, und sie hatten ein großes Interesse daran, ihn gut zu empfangen. Könige und militärische Führer erschienen oft mit großem Gefolge (und Truppen) und erwarteten dann uneingeschränkten Zugang zu allen Ressourcen des Landes, einschließlich Essen und Trinken. Ihr Konsum war in der Regel exzessiv, da sie versuchten, das Maximum an materiellen Vorteilen aus diesen kurzen Aufenthalten herauszuquetschen. Sie konnten nicht erwarten, viel Geld mitzunehmen, da der Geldverkehr noch in den Kinderschuhen steckte. Sie versorgten sich daher so gut wie möglich mit Speisen und Getränken. Um die Vasallen vor den möglicherweise ruinösen Folgen zu schützen, wurden schließlich die genauen Vorräte, die einem reisenden Oberherrn übergeben werden mussten, sowie die Qualität und Quantität der Speisen und Getränke, die bei den Banketten serviert wurden, offiziell geregelt.

Mit anderen Worten: Die großen Bankette des Mittelalters dürfen nicht als Ausdruck von Geselligkeit und Altruismus missverstanden werden. Sie waren nicht einmal Geschäftsessen. Sie waren Teil des Tributs, der an den Herrscher zu zahlen war. Sie waren eine tödliche Bedrohung für die arbeitende Bevölkerung. Es war eine große Erleichterung, als sie schließlich in der Renaissance und in der Neuzeit verschwanden. Und die wachsende Hinwendung zu Produktion und Austausch war nicht weniger heilsam.

Wenden wir uns nun wieder den Schriften zu, die für unsere Untersuchung unentgeltlicher Güter am hilfreichsten waren. Wir konnten uns dabei unter anderem auf Philosophen wie Thomas von Aquin, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion stützen. Sie haben das Wesen des Spendens und des Schenkens untersucht und damit in gewissem Maße unsere eigene Analyse vorbereitet, die sich jedoch stärker auf die Ursachen und Folgen wirtschaftlicher Güter konzentriert. Aber auch in diesem engeren Bereich wurde ein Philosoph – Josef Pieper – zu einer äußerst wichtige Inspirationsquelle. Wir haben nicht nur aus seinen bekannten Studien über die Tugenden einigen Nutzen gezogen, sondern auch und vor allem aus seiner kurzen Monografie über das Wesen und die soziale Rolle der Muße und des Opfers, die er unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel Muße und Kult veröffentlichte. Unsere ökonomische Theorie des Spendens baut auf den Grundlagen auf, die er in diesem Werk dargelegt hat.21

Wir haben bereits erwähnt, dass Frédéric Bastiat und die Österreichische Schule einen entscheidenden Einfluss auf unser Denken ausgeübt haben. Neben ihnen gebührt Kenneth Boulding ein weiterer Ehrenplatz. Im Gegensatz zu Laum, Titmuss und vielen anderen liefert Boulding in seiner kurzen Monografie über die wirtschaftliche Rolle von Transferzahlungen – oder Zuschüsse, wie er sie auch nannte – eine echte ökonomische Analyse unentgeltlicher Güter. Sie ist in ihrer Struktur unserer vorliegenden Schrift nicht unähnlich. In The Economy of Love and Fear. A Preface to Grant Economics wird zwischen freiwilligen und erzwungenen Transfers unterschieden (vgl. Boulding 1973, S. 3). Erstere sind typische Auswirkungen von »Liebe«, während Letztere der »Angst« entspringen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung behandelt Boulding alle wichtigen Elemente der ökonomischen Analyse unentgeltlicher Güter. Vor allem geht er auf die entscheidende Frage der unbeabsichtigten Unentgeltlichkeit ein, die in den Werken von Bastiat eine wichtige Rolle gespielt hatte, ohne jedoch auf diesen berühmten Vorgänger zu verweisen.

Der thematische Umfang von Bouldings Arbeit geht über die unentgeltliche Bereitstellung wirtschaftlicher Güter hinaus. Nicht alle Zuschüsse sind bedingungslose Geschenke. Seine Entscheidung, sich auf Zuschüsse zu konzentrieren, scheint zumindest teilweise von dem Bestreben geleitet gewesen zu sein, seine theoretischen Überlegungen mit dem verfügbaren statistischen Material zu verbinden (vgl. ebd., 1973, S. 2). Wir sollten auch darauf hinweisen, dass Boulding sich nicht ausreichend darum kümmert, die Bedingungen, unter denen unentgeltliche Güter entstehen, sowie die Formen, die sie annehmen können, zu untersuchen. Vor allem untersucht er nicht systematisch die Auswirkungen von Staatseingriffen auf die Bereitstellung unentgeltlicher Güter. Trotz dieser Mängel ist sein Buch jedoch eine hilfreiche Quelle, auf die wir uns auf den folgenden Seiten wiederholt stützen werden.

Ein weiterer Literaturstrang, der uns gute Dienste geleistet hat, befasst sich mit der ökonomischen Analyse des Wohlfahrtsstaates oder, allgemeiner ausgedrückt, der Ökonomie erzwungener Transfers. Während sich nur wenige Ökonomen für die Untersuchung der freiwilligen Bereitstellung von unentgeltlichen Gütern interessieren, gibt es viele wertvolle Diskussionen des Wohlfahrtsstaats, sowohl von seinen Befürwortern als auch von seinen Gegnern. Die wichtigsten Autoren in diesem Bereich der Literatur sind Beveridge, Pigou, Jouvenel, Mises, Rothbard, Seldon, Cogan, Bartholomew, Dalrymple, Habermann und Rhonheimer. Wir werden im dritten Teil der vorliegenden Arbeit auf ihre Schriften Bezug nehmen.

Der Anstoß dazu, dieses Buch zu schreiben, ging jedoch nicht von meiner Lektüre Bouldings oder Piepers aus. Auch nicht von Say, Bastiat, Mises, Laum oder Perroux, obwohl ich mit ihren Schriften seit Langem vertraut bin, was sich jetzt wieder als sehr nützlich erwies. Vielmehr ließ ich mich von der Enzyklika Caritas in veritate (Liebe in der Wahrheit) von Papst Benedikt XVI. aus dem Jahr 2009 inspirieren. Darin lenkt der Heilige Vater die Aufmerksamkeit auf das, was er das »Prinzip der Unentgeltlichkeit« nennt. Er argumentierte, dass sich dieses Prinzip in den göttlichen Gaben der Liebe und der Wahrheit manifestiere, ohne die menschliches Leben und echte Brüderlichkeit nicht möglich seien. Benedikt wies darauf hin, dass das Prinzip der Unentgeltlichkeit auch das Wirtschaftsleben präge und es viel gründlicher als heute gestalten würde, wenn man ihm nur die Möglichkeit gäbe, sich ungehindert zu entwickeln. Und er rief alle Menschen guten Willens auf, die große Herausforderung anzunehmen, »im Denken und Verhalten zu zeigen, […] dass in den wirtschaftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik der Gabe als Ausdruck der Brüderlichkeit ihren Platz im normalen Wirtschaftsleben finden können und müssen« (CV 36).

Als Caritas in veritate veröffentlicht wurde, hat der Verfasser dieser Zeilen die Herausforderung nicht angenommen. Er war mit anderen Dingen beschäftigt und tat, was Professoren in solchen Fällen häufig tun: Er reichte die Arbeit an einen Doktoranden weiter. Daraufhin machte sich Sr. Catherine Gbedolo daran, dieses vernachlässigte Gebiet zu erforschen. Im ersten Teil ihrer Dissertation, die sie im Juni 2015 erfolgreich verteidigte, befasste sie sich mit der Geschichte des französischen und deutschen ökonomischen Denkens und diskutierte die Werke von Frédéric Bastiat, Pierre-Joseph Proudhon, Marcel Mauss, Bernhard Laum, François Perroux und anderen Vorreitern auf diesem Gebiet. Im zweiten Teil skizzierte Dr. Gbedolo dann einen ökonomischen Ansatz für die Untersuchung unentgeltlicher Güter, der auf den besten Elementen aufbaut, die sie in den Arbeiten ihrer Vorgänger gefunden hat. Unser vorliegendes Buch entwickelt und erweitert die allgemeine Logik dieses zweiten Teils und behandelt die englische Literatur zu unserem Thema ausführlicher.

Caritas in veritate

Es ist angebracht, Caritas in veritate kurz vorzustellen. Ebenso ist es angebracht, den Leser darauf hinzuweisen, dass wir in unserem Buch, insbesondere im ersten Teil, häufig auf biblische Quellen und theologische Ideen Bezug nehmen werden. Der Zweck dieser Anspielungen ist nicht, ihre Autorität für unsere Behauptungen zu beanspruchen, sondern zu zeigen, wie sich die engere ökonomische Sichtweise in die umfassenderen Konzeptionen der christlichen Theologie und Philosophie einfügen kann. Es ist unsere, wenn auch unvollkommene Antwort auf Benedikts Herausforderung.

Benedikt weist darauf hin, dass der Mensch ohne Liebe nicht in der Lage ist, die Natur, andere Menschen und sich selbst zu bejahen, zu verstehen und zu bewältigen. Ohne Wahrheit können die Kräfte der Natur nicht gebändigt, können individuelle und gesellschaftliche Konflikte nicht gelöst werden. Die Fähigkeit, zu lieben und die Wahrheit zu erkennen, ist angeboren, doch weder das eine noch das andere ist das Ergebnis einer menschlichen Entscheidung. Sie können weder verordnet noch hergestellt werden. Die Wahrheit kommt zu uns, ohne dass wir sie wollen. Sie kommt von außen, in Form von Einsicht, von Erfindung, von Intuition. Ebenso ist die Liebe zu Gott und zu unseren Mitmenschen weder das Ergebnis menschlichen Handelns noch menschlicher Planung. Wir können diese Liebe nicht durch einen bloßen Willensakt in uns erzeugen; wir müssen sie unentgeltlich von unserem göttlichen Schöpfer empfangen.

Das Prinzip der Unentgeltlichkeit, das uns vor allem in dieser göttlichen Form begegnet, manifestiert sich auch in der materiellen Welt. Es betrifft nicht nur die geistigen, ätherischen und höchsten Güter wie Liebe, Hoffnung, Glaube und Wahrheit. Es geht auch um wirtschaftliche Güter. Das Wirtschaftsleben beruht in vielerlei Hinsicht auf unentgeltlichen Leistungen, und eine Wirtschaft ist nur dann wirklich blühend und wahrhaft menschlich, wenn sie diese Unentgeltlichkeit nicht behindert und sie sich voll entfalten lässt.

Caritas in veritate entfaltet dieses Thema in einigen Details. Die Botschaft ist stark und klar, was die spirituelle Dimension des Prinzips der Unentgeltlichkeit anbelangt. Sie hört auf zu überzeugen, bleibt aber spannend und anregend, sobald der Heilige Vater sich der Anwendung in der materiellen Welt zuwendet, insbesondere in der von Knappheit geprägten Wirtschaftswelt. Dort finden wir Aussagen wie die folgende:

Darüber hinaus ist es nötig, dass Räume für wirtschaftliche Tätigkeiten geschaffen werden, die von Trägern durchgeführt werden, die ihr Handeln aus freiem Entschluss nach Prinzipien ausrichten, die sich vom reinen Profitstreben unterscheiden, aber dennoch weiter wirtschaftliche Werte hervorbringen wollen (CV 37).

Im darauffolgenden Absatz führt er dies näher aus:

Es bedarf daher eines Marktes, auf dem Unternehmen mit unterschiedlichen Betriebszielen frei und unter gleichen Bedingungen tätig sein können. Neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen sollen auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein können. Aus ihrem Zusammentreffen auf dem Markt kann man sich erhoffen, dass es zu einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen kommt und dass in der Folge spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet wird. Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, dass jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen (CV 38).

In den Augen eines professionellen Ökonomen sind diese Aussagen vage und teilweise falsch. Es ist vage, von »Räumen für wirtschaftliche Tätigkeiten«, »wirtschaftlichen Werten« und »einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen« zu sprechen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Markt besonders vorteilhaft ist, wenn Unternehmer und ihre Firmen »unter gleichen Bedingungen« arbeiten, und dass Märkte auf der Logik des Äquivalenzprinzips beruhen.

Es wäre verlockend, den wirtschaftlichen Inhalt der Enzyklika Zeile für Zeile zu kommentieren. Aber das wäre eine sterile Übung. Eine Enzyklika ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Ihr Ziel ist es nicht, in eine Art Wettbewerb mit Ökonomen, Soziologen, Physikern, Historikern oder Medizinern einzutreten, wenn es um die Erklärung der materiellen Mechanismen unserer Welt geht. Der Grundgedanke von Caritas in veritate ist die Aufforderung zum Nachdenken und zum Handeln im Hinblick auf das Prinzip der Unentgeltlichkeit. Es gibt viele offene Fragen zu den Erscheinungsformen dieses Prinzips in der materiellen Welt: Was ist das konkrete Wesen der Unentgeltlichkeit? Welches sind ihre Formen? Was sind ihre Ursachen und Folgen? Welchen Umfang hat sie heute, welchen könnte sie in Zukunft haben, und welchen sollte sie haben?

Das erste größere Werk, das sich mit diesen Fragen in Anschluss an Benedikt XVI. auseinandersetzte, war John Muellers Redeeming Economics. Rediscovering the Missing Element (2010). Der Autor bewundert Adam Smith, Ludwig von Mises und Gary Becker. Er kritisiert sie nicht für das, was sie getan haben, sondern für das, was sie nicht getan haben. Er behauptet, dass ihre Unzulänglichkeiten für die moderne Ökonomie, die Mueller als »postscholastische« Ökonomie bezeichnet, endemisch seien und durch eine Rückbesinnung auf die Schriften des heiligen Augustin und des heiligen Thomas von Aquin behoben werden könnten.

Der erste Teil von Muellers Buch führt den Leser durch seine Sicht der Geschichte des ökonomischen Denkens, von Aristoteles über die Kirchenväter und die Scholastiker bis hin zur klassischen und neoklassischen Ökonomie. Mueller behauptet, dass sich die Ökonomen, beginnend mit Adam Smith, zu einseitig auf Probleme im Zusammenhang mit Produktion und Markttausch konzentriert hätten, während sie es versäumten, eine angemessene Theorie des Konsums und der Verteilung, einschließlich der Geschenke, zu entwickeln. Durch die Rückbesinnung auf die Erkenntnisse der Scholastiker könne dieses Defizit jedoch in Form eines neuen Paradigmas behoben werden, das er »Neoscholastische Ökonomie« nennt. In den folgenden Teilen seines Buches wendet Mueller seine theoretischen Konzepte auf die Analyse der Haushaltsökonomie (Ehe, Kindererziehung, Ausgabenverhalten) und die Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen (Protektionismus, Staatsversagen, Arbeitslosigkeit und Inflation) an.

Redeeming Economics enthält wertvolle Einsichten und Überlegungen, die für eine Theorie unentgeltlicher Güter relevant sind. So unterstreicht Mueller beispielsweise die Behauptung des heiligen Augustinus, dass das oberste Ziel aller menschlichen Handlungen die Liebe zu Menschen und nicht zu Dingen ist. Er weist auch zu Recht darauf hin, dass »keine Schule der modernen Ökonomie, einschließlich der Österreichischen Schule, eine angemessene Theorie persönlicher Geschenke hat«.22 Eine solche Theorie liefert Redeeming Economics aber ebenso wenig wie eine allgemeine Theorie unentgeltlicher Güter. Noch viel weniger ebnet das Buch den Weg für eine grundlegende Neuausrichtung oder Reform der Wirtschaftswissenschaft. Sein grundlegender Fehler besteht darin, das falsche Ziel anzuvisieren. Die postscholastische Ökonomie leidet nicht darunter, dass sie die Konsum- und Verteilungstheorien vernachlässigt hat. Es stimmt, dass diese Teile der Ökonomie heute etwas weniger präsent sind als früher. Aber sie sind vorhanden.23 Die gegenteilige Behauptung ähnelt auf unheimliche Weise der marxistischen Behauptung, dass die »bürgerliche« Ökonomie mit der produktiven Funktion des Konsums nicht zurechtkäme.24 Und auch die Einführung einer »adäquaten Theorie der persönlichen Geschenke« erfordert keine vollständige Überarbeitung der Wirtschaftswissenschaften, soweit es um den realistischen Ansatz der Österreichischen Schule geht. Hier ist das Fehlen einer solchen Theorie eher ein Mangel der Unterlassung als der Unvereinbarkeit.25

* * *

Wenn Mueller das falsche Ziel anvisiert hat, welches Ziel ist dann das richtige? Nach unserem Dafürhalten lohnt es sich, die zentralen wirtschaftlichen Thesen von Caritas in veritate aufzugreifen und mit bestimmten Elementen der volkswirtschaftlichen Analyse, die sich bereits in anderen Bereichen bewährt haben, zu bearbeiten. Insbesondere wollen wir daher die Auswirkungen der Tatsache untersuchen, dass es unmöglich ist, einen Markt für Unentgeltlichkeit zu schaffen und ebenso unmöglich, eine »Haltung der Unentgeltlichkeit« gesetzlich zu verankern (siehe CV 39). Dieser Gedanke wird uns dazu führen, den Akt der Spende als eine eigene wirtschaftliche Kategorie zu identifizieren.

Darüber hinaus werden wir den Gedanken vertiefen, dass der Grundsatz der Unentgeltlichkeit in der normalen wirtschaftlichen Tätigkeit und insbesondere in der gewerblichen Tätigkeit vorhanden sein kann (CV 36). Wir werden zeigen, dass die normale Wirtschaftstätigkeit von verschiedenen Nebeneffektgütern durchdrungen ist, die anderen Menschen ohne die geringste Gegenleistung zugutekommen. Und das gilt auch für den Marktprozess. Sparen, Geldhorten, Investitionen, kommerziell betriebene Forschung und Entwicklung neuer Produkte schaffen erhebliche unbeabsichtigte Vorteile für Dritte. Und gerade weil sie unbeabsichtigt oder spontan sind, werden sie normalerweise nicht erkannt. Mit den Worten Benedikts:

Die Liebe in der Wahrheit stellt den Menschen vor die staunenswerte Erfahrung des Geschenks. Die Unentgeltlichkeit ist in seinem Leben in vielerlei Formen gegenwärtig, die aufgrund einer nur produktivistischen und utilitaristischen Sicht des Daseins jedoch oft nicht erkannt werden. (CV 34)

Überblick

Unser Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil stellen wir die Grundlagen einer allgemeinen Theorie unentgeltlicher Güter vor und erörtern deren Wesen und wichtigste Formen. Zu diesem Zweck stützen wir uns nicht nur auf die wirtschaftswissenschaftliche Literatur, sondern auch auf philosophische, soziologische, anthropologische und theologische Quellen. Wir werden auch ihre Ursachen und Folgen untersuchen, soweit diese Ursachen und Folgen mit dem letztendlichen Zweck von Spenden zusammenhängen, der darin besteht, andere Menschen besserzustellen oder eine gute Tat um ihrer selbst willen zu tun.

Im zweiten Teil befassen wir uns mit der eigentlichen Ökonomie unentgeltlicher Güter. Wir werden die verschiedenen Wege analysieren, auf denen unentgeltliche Güter aus menschlichem Handeln resultieren. Genauer gesagt werden wir untersuchen, wie sie durch freiwilliges menschliches Handeln entstehen, das nicht durch institutionellen Zwang behindert wird. Zunächst werden wir uns mit der Ökonomie des Spendens und insbesondere mit den Wechselbeziehungen zwischen Spenden und Markttausch befassen. Anschließend wird untersucht, wie ungehindertes menschliches Handeln, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Marktwirtschaft, positive Nebeneffekte für andere Menschen erzeugt. Wir werden auch die Gründe erörtern, warum solche Nebeneffekte – und damit auch unentgeltliche Güter im Allgemeinen – in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur traditionell unterschätzt und vernachlässigt wurden.

Im abschließenden dritten Teil schließen wir den Kreis unserer Untersuchung, indem wir die Annahme aufgeben, dass alle Eigentumsrechte grundsätzlich respektiert werden. Dies wird es uns ermöglichen, die Auswirkungen staatlicher Eingriffe auf unentgeltliche Güter zu studieren – wie sie dann erzeugt werden, in welchen Mengen und Formen und zu wessen Gunsten. In diesem Zusammenhang werden wir herkömmliche Themen wie die Theorie der öffentlichen Güter und die Theorie des Wohlfahrtsstaats wieder aufgreifen. Wir werden auch den sogenannten Philanthrokapitalismus und andere Fragen im Zusammenhang mit der Zivilgesellschaft und mit NGOs erörtern. Unser besonderes Augenmerk gilt jedoch den Folgen staatlicher Eingriffe in die Geldordnung, einem entscheidenden Problem, das in der Literatur über unentgeltliche Güter fast völlig vernachlässigt wurde.

Unser Hauptziel liegt darin, eine systematische Darstellung der Ökonomie unentgeltlicher Güter zu präsentieren. Wir haben die Besprechung der Literatur äußerst knapp gehalten, um die Darstellung von Themen zu vereinfachen, die ohnehin oft schon kompliziert genug sind.

Die folgenden Seiten enthalten insbesondere auch eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen unentgeltlichen Gütern und Privateigentum (Kapitel 1), eine Studie über das Wesen von Spenden, in der der Unterschied zwischen ihren Wirk- und Zweckursachen hervorgehoben wird (Kapitel 2), eine kritische Überprüfung der Theorie von Marcel Mauss und anderer Argumente, die dazu dienten, die Möglichkeit oder Wünschbarkeit reiner Geschenke zu verwerfen (Kapitel 4), eine Analyse der gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Märkten und Spenden (Kapitel 5), eine systematische Untersuchung der positiven Nebeneffekte menschlichen Handelns (Kapitel 6), eine Diskussion der historischen Gründe, aus denen Ökonomen in Bezug auf unentgeltliche Güter in die Irre geführt wurden (Kapitel 7), und eine gründliche Kritik der Auswirkungen staatlicher Interventionen (Dritter Teil). Der Hauptbeitrag dieses Buches besteht unserer Ansicht nach jedoch darin, die Theorie der unentgeltlichen Güter in das Gesamtgefüge der Volkswirtschaftslehre zu integrieren.

ERSTER TEIL:DAS WESEN UNENTGELTLICHER GÜTER

1.

UNENTGELTLICHE GÜTER

Bislang haben wir den Begriff »unentgeltliche Güter« lose im Sinne von Geschenken und ähnlichen Gütern verwendet, die ohne Bezahlung erhalten werden. Dies entspricht der Bedeutung des Adjektivs »unentgeltlich«, die wir im Sprachgebrauch und in den gängigen Wörterbüchern finden. Ein unentgeltliches Gut ist keine Gegenleistung. Es wird nicht als Entgelt für etwas erhalten, das der Empfänger tut oder getan hat. Es ist keine Zahlung, kein Preis, keine Belohnung, kein Tribut usw. Es »kommt daher« ohne einen offensichtlichen guten Grund. Man erhält es umsonst. Es ist kostenlos.

Es lohnt sich aber auch, einen Blick auf die entsprechenden französischen und englischen Wörter zu werfen. Hier finden wir in gratuit und gratuitous nicht nur die soeben dargelegte Bedeutung des deutschen Wortes »unentgeltlich«, sondern auch noch eine weiter gehende bzw. allgemeinere Bedeutung. In diesem weiteren Sinn bedeuten die Wörter gratuit und gratuitous auch »grundlos«. Sie bezeichnen etwas, das jemand »ohne triftigen Grund« tut, erhält oder erfährt.26

Diese zweite Bedeutung schließt die erste als Sonderfall ein. Wenn ich etwa eine Kartoffel von einem Verkäufer zu einem bestimmten Preis erhalte, dann erhalte ich sie nicht unentgeltlich, sondern eben aus dem »guten Grund«, dass ich sie gegen Geld eintausche. Bekomme ich dagegen eine Kartoffel ohne Bezahlung, dann scheine ich sie unentgeltlich zu erhalten, denn es scheint keinen guten Grund zu geben, warum ich sie überhaupt erhalten sollte. Mit anderen Worten: Güter, die unentgeltlich erworben werden, sind auf den ersten Blick ohne guten Grund erworben.