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Der Autor setzt sich mit seinen Auslegungen für den jüdisch-christlichen Dialog ein. Er möchte vor allem Christen helfen, die hebräische Bibel besser zu verstehen, aber auch die hebräischen Wurzeln der Evangelien neu zu entdecken. Ouizemanns gut zu lesenden Auslegungen der Thora sind eine exzellente Möglichkeit für Christen, die jüdische Bibeltradition und Hermeneutik besser kennenzulernen. Ebenso mögen sich jüdische Leser durch die Lektüre in ihrem Verständnis der Thora und deren ethischem Reichtum bereichert fühlen.
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Seitenzahl: 910
Veröffentlichungsjahr: 2025
HAÏM OUIZEMANN
Die Wochenlesungen der Thora
Auslegungen der fünf Bücher Mose
Übersetzung aus dem Französischen und Layout durch Cathy Faes
«HERR, dein Wort bleibt für immer und ewig – so unverrückbar wie der Himmel hat es Bestand.» Psalm 119,89
Meinen Eltern gewidmet
Karin Hella Faes-Sorge
Urs Leander Faes.
Sie waren wundervolle, feine Menschen.
Dieses Buch widme ich Schwester Elsy Gasser, s.A. Die Freude am Bibelstudium und die respektvolle Freundschaft zwischen Juden und Christen hat sie mir zum wertvollen Erbe mitgegeben. Durch Shlomo Hizak, s.A., Gründer des AMI-Center Jerusalem, habe ich das Judentum schätzen gelernt. Die Liebe zum Land Israel ist Teil meines Lebens geworden.
Mein tiefer Dank gilt meiner Freundin Liliane Flückiger für ihre mutmachende Unterstützung. Danken möchte ich ganz besonders meiner Freundin Marianne Koupsky aus Wien. Als diplomierte Übersetzerin hat sie das Manuskript lektoriert und inhaltliche Klarstellungen gegeben. Danke auch Hans Fullin und Cora Peter für ihre wesentlichen Hinweise. Sehr dankbar bin ich Jürg Faes, mein vielseitig begabter Bruder, für seine Hilfe und Unterstützung beim Seitenlayout. Ganz herzlich möchte ich mich bei Pfarrer Christoph Hägele für seine wertvolle Hilfe bei der digitalen Buchherstellung bedanken.
«Gut steht’s, wenn Ratgeber in großer Zahl da sind». Sprüche 11,14.
Cathy Faes
Ich möchte meiner Freundin Cathy Faes meine tiefste Dankbarkeit aussprechen, ohne sie wäre dieses Buch nie entstanden.
Haïm Ouizemann
VORWORT
Dieses Buch ist die deutsche Übersetzung der Auslegung der 54 «Paraschot», der Wochenabschnitte der fünf Bücher Mose, durch Haim Ouizemann.
Die Original-Lektionen auf Französisch waren Teil der biblischen Kurse des «Campus biblique»®. Der «Beit Midrasch» widmet sich dem Ziel, das Licht der Thora mit all jenen zu teilen, die nach Wahrheit suchen. Alle Lektionen basieren auf mündlichen Lektionen. Dieser mündliche Charakter wurde in der schriftlichen Fassung beibehalten. Die Bibeltexte wurden gemäss der revidierten Elberfelder Bibel (ELB) zitiert.
Die vorliegende Einteilung der Wochenlesungen umfasst das Jahr von Oktober 2020 bis September 2021. Die Einteilung der Paraschot richtet sich nach dem hebräischen Festkalender, weshalb mehrere Wochenlesungen zusammengenommen wurden. Anhand einer oder mehrerer Fragen wurden Teilaspekte jeder Parascha beleuchtet.
Die gewählten Themen fokussieren sich auf die grundlegenden Lehren der Thora. Die Texterklärungen lassen neue Aspekte sehen; überraschende, teils neue Bedeutungen und Zusammenhänge ergeben sich. Jede Parascha lehrt uns ethische Lebenshaltungen. Uns Christen werden unsere jüdischen Wurzeln liebgemacht.
Die Betrachtung der Bibelstellen basiert auf dem hebräischen Text. Eine Grundkenntnis der hebräischen Sprache und ihrer Grammatik wäre von Vorteil, ist aber nicht zwingend notwendig. Die grammatikalischen Erklärungen fliessen vereinfacht in den Text ein, wo sie die Interpretation begründen und deren Sinn erhellen.
Haïm Ouizemann benützt eine rabbinische philologische Exegese-Methode. Sie basiert einerseits auf einer akribischen grammatikalischen Analyse des hebräischen Bibeltextes und anderseits auf der vergleichenden Auslegungsmethode, die Bibelstellen verknüpft. Meinen grossen Dank möchte ich Haïm Ouizemann aussprechen, der mir die Tiefe und Kraft der Thora aufgeschlossen hat. Die Thora in Hebräisch zu lesen und darüber nachzusinnen hat mir neue Glaubenshorizonte eröffnet. Diese Entdeckerfreude möchte ich mit allen, die Freude am Bibellesen haben, teilen.
Cathy Faes Basel, 9. März 2024
Bücher des Autors
Le secret de la pérennité d’Israël. Essai sur l’accomplissement de la vocation abrahamique d’Israël. Pour une éthique de l’Autre. Emeth Editions. 2016.
Vision hébraïque du Végétalisme, ou la réparation cosmique du monde. Orizons, 2017.
Brisures Régénératrices. TheBookEdition.com, 2021.
Méditations sur la Racine Biblique. TheBookEdition.com, 2022.
Manuel d’Hébreu biblique. Tome I. TheBookEdition.com, 2023.
Beiträge des Autors:https://israelmagazine.co.il - https://fr.timesofisrael.com
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Impressum
© Copyright by Haim Ouizemann, Aschkelon
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Copyright © by Haim Ouizemann; depositphotos.com
Bilder und Graphiken: Copyright © Haim Ouizemann. Bild S. 33: © istockphoto.com.
Bild S. 192: © Templeinstitute.org
Druck und Vertrieb: Tredition GmbH. www.tredition.com
ISBN: 978-3-384-26986-7
Cover
Titelblatt
Vorwort
Urheberrechte
1. Buch Mose Genesis – Bereschit
Das Verb BaR’a – erschaffen Die zwei Perspektiven der Schöpfung
Die Bedeutung von Noahs Namen
Kannte Abraham sein Ziel, als er Ur in Chaldäa verliess?
Die Gastfreundschaft von Abraham und Lot Vergleichende Analyse
Warum kaufte Abraham die Höhle in Hebron, um dort Sarah beizusetzen?
Warum verliert Esau sein Erstgeburtsrecht? Warum ist Jakob zum Erbe von Isaak und Abraham bestimmt?
An welchem Ort übernachtet Jakob? Was bedeuten die Steine, auf die Jakob seinen Kopf legt?
Wie gelingt es Jakob, seine Schwierigkeiten im Leben zu überwinden und seinen Bruder Esau wiederzufinden?
Josef auf der Suche nach Frieden Warum schickt Jakob Josef zu seinen Brüdern?
Haben Lebensprüfungen einen Sinn?
Warum war es ausgerechnet Juda, der vor Josef auftrat?
Hat Jakob Simeon und Levi verflucht? Woher wissen wir, dass Simeon für Josefs Verkauf verantwortlich war?
2. Buch Mose Exodus – Schemot
War Moses seit Geburt von Gott auserwählt worden?
Was ist das Ziel des Auszugs aus Ägypten?
Die Kinder Israel wurden zum Volk Israel. Wie wurde das Möglich?
Welches sind die zwei Ebenen des Vertrauens in Gott?
Die Zehn Worte / Die Zehn Gebote Gibt es Unterschiede zwischen 2. Mose 20 und 5. Mose 5?
Was ist die Bedeutung des Schabbatjahres (Schmitta) und des Jubeljahres?
Was unterscheidet die Stiftshütte vom Tempel in Jerusalem?
Was sind Urim und Tumim? Sind sie immer verlässlich?
Mose verteidigt Israel bei Gott Was ist das Geheimnis der 13 Eigenschaften der Barmherzigkeit?
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Stiftshütte und der Erschaffung der Welt?
3. Buch Mose Levitikus – Wa'Jikra
Wie heissen die Opfer? Wieviele gibt es? Was bedeutet der Ausdruck: «ein angenehmer Geruch für den HERRN»?
Warum heisst diese Parascha «Befehle»?
Wie Lässt sich der Tod von Aarons zwei Söhnen, erklären?
Worauf weist der Aussatz hin?
Was ist der Sinn der Heiligung?
Die Feste des HERRN
Jowel – Jubeljahr
4. Buch Mose Numeri – Bamidbar
Woher wissen wir, dass Mose in seiner Berufung erfolgreich war?
Wer ist der Nasir? Inwiefern gleicht der Stand des Nasir dem des Hohepriesters?
Warum nennt die Bibel Mose «der demütigste aller Menschen»?
Was verlangt Mose von den zwölf Kundschaftern? Worin sündigten die Kundschafter?
Wer ist Korach? Woher rührte sein Aufstand her? Welche Gefahren zeigt die Haltung von Korach auf?
Warum bekam Mose keine Erlaubnis, ins Land Kanaan zu gehen?
Wie verwandeln sich die Flüche von Bileam in Segnungen?
Welche besondere Eigenschaft macht Mose zum grössten Führer?
Ermutigt die Bibel ein Gelübde abzulegen?
5. Buch Mose Deuteronomium – Dewarim
Vorstellung des 5. Buch Mose. Wie bringt Mose die Kinder Israel dazu, den göttlichen Willen auszuführen?
Warum liebt Gott sein Volk Israel? Woher stammt die Grösse von Israel?
Welche zwei Prüfungen bestehen die Kinder Israel vor Eintritt ins Land Israel?
Diener oder Sklave? Warum einem Meister sich verkaufen? Rechte des Dieners und Pflichten des Meisters
Wodurch wird die Stabilität der Königsmacht gefährdet? Wer verstösst gegen die drei Verbote und wer hält sie ein?
Was bedeutet die Mitzwa der Jungvögel? Was umfasst das Prinzip des Lebens? Wem gehört die Erde?
Was umfasst der Begriff «die Erwählung Israels»?
Was umfasst der Begriff «Teschuwa», Rückkehr zu Gott? Was sind die zwei grossen «Teschuwot»?
Wem schuldet Mose seine Grösse? Warum wird Mose angesehen als «der Grösste aller Propheten»?
Warum werden die Nationen eingeladen, Israel zu rühmen?
Inwiefern ist Mose der Fortführer der Patriarchen? Warum ist das Erbe der Patriarchen für Mose so wichtig?
Grammatikalische Begriffe
Glossar
Jüdische Exegeten
Französische Bibelübersetzer
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Titelblatt
Urheberrechte
Das Verb BaR’a – erschaffen Die zwei Perspektiven der Schöpfung
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1. Buch Mose Genesis – Bereschit
Paraschat BERESCHIT: 1. Mose 1,1 – 6,8
Das Verb BaR’a – erschaffen Die zwei Perspektiven der Schöpfung
Wir wollen mit der ersten Parascha beginnen.
Die Parascha «Bereschit» enthält drei grosse Themen:
− die Erschaffung der Welt;
− die zwei Perspektiven der Schöpfung;
− die Aufgabe von Adam.
1. Die Erschaffung der Welt
Wir befassen uns zunächst mit den drei Verben, die in dieser Parascha benutzt werden, um die Erschaffung der Welt zu beschreiben. In 1. Mose 1,21 steht «bara», [Gott] «erschafft», und in 1. Mose 1,24 steht «totzeh», «die Erde bringt hervor» [lebendige Wesen]. Was ist der Unterschied zwischen den Verben, die alle die Schöpferkraft beschreiben? Der Bedeutungsunterschied dieser Verben lässt sich grammatikalisch erklären.
1. , «bara» bedeutet eine Schöpfung exnihilo, aus dem Nichts. Es gab «ein Nichts», aus welchem Gott die Welt erschuf, die wir kennen. Dieses Verb wird nur für Gott gebraucht, es bezeichnet seine Vollmacht. Wir Menschen haben nicht die Fähigkeit, irgendetwas zu erschaffen.
2. , «jazar» bedeutet gestalten, prägen, formen. Wir nehmen ein Material und formen es, verändern es. Wir nehmen etwas, das bereits existiert und gestalten es. Von der gleichen Wurzel stammt das Wort , «tzur», Stein, Felsen sowie das Wort «tzurah», die Form.
3. , «assah» bedeutet tun, ausführen. Aber wenn das Verb im Bibeltext vorkommt, und ganz besonders so in der Genesis, dann bedeutet es wiederherstellen, wiedergutmachen. Das Verb zeigt, dass unsere Welt unvollkommen ist. Es ist an uns, sie zu verbessern, sie zu vervollkommnen.
Das Verb , «bet-resch-aleph», «bara», erscheint mehrmals: zuerst in 1. Mose 1,1; dann in 1. Mose 1,21 und in 1. Mose 1,27. Wir schauen uns den Vers in 1. Mose 1,27 genauer an. Der Vers 27 beginnt mit «wa-jibra Elohim et haadam», «und Gott schuf den Menschen». Grammatikalisch steht das Verb in der Wa-Yiktol-Form. Wir haben die Bedeutung des Verbes «bara» vorher erklärt. Nun wollen wir auch den versteckten Sinn dieses Verbes herausfinden. Wenn wir also davon ausgehen, dass «bara» eine Schöpfung ex-nihilo ist, dann stellt sich die Frage: Wie kann man diesen Vers verstehen? Es ist sehr wichtig, den Sinn des Verbs «bara» an dieser Stelle zu verstehen.
In den USA, und etwas weniger in Europa, gibt es eine sehr starke protestantische und evangelikale Bewegung, die sich gegen die Evolutionstheorie wehrt. In diesem Vers bekommen wir eine Antwort auf diese Weltanschauung. Wir alle haben in der Schule gelernt, dass die Erschaffung der Welt aus einer einzelligen Art kam, die sich vervielfachte und am Ende der Evolutionskette sei der Mensch gekommen. Der Mensch wäre also das Resultat einer kreativen Evolution. Aber das sagt der Bibeltext nicht, sondern er sagt, dass der Mensch ex-nihilo geschaffen wurde! Dennoch, und das wissen wir alle, gibt es in der Natur eine Form von Evolution, die nicht zu leugnen ist. Aber wenn es um den Menschen geht, gibt es keine fixfertige Antwort. Es bleibt ein Geheimnis – das Geheimnis der Erschaffung des Menschen. Der Bibeltext sagt hier, indem dasselbe Verb «bara» benützt wird, dass der Mensch genau gleich wie die ganze Schöpfung, die ihm vorausging, erschaffen wurde. Das heisst, der Mensch stammt nicht vom Affen ab – dennoch: Im Biologischen gehört der Mensch zur natürlichen Welt. Aber beim Menschen gibt es eine höhere Dimension. Denn der Mensch ist nicht das Produkt einer komplexen Evolution der Natur. Der Mensch wurde geboren, wie unsere Welt geboren wurde – beinahe auf «magische» Weise, oder besser gesagt, auf spontane Weise. Die Welt und die Natur waren erschaffen und da hinein hat Gott den Menschen gesetzt.
Grammatik-Einschub:
Regel um 1. Mose 2,18 korrekt lesen zu können:
Wir sehen in der Abbildung zwei Kamatz katan in „leowdah“ und in „le-shomrah“; die Silbe ist geschlossen und nicht akzentuiert, die Betonung liegt auf der Endsilbe. Daher wird das Kamatz nicht als «a», sondern als «o» gelesen.
«Und der HERR, Gott, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bebauen und ihn zu bewahren». 1. Mose 2,15
Das plötzliche «Erscheinen» des Menschen wird in 1. Mose 2,15 beschrieben. In diesem Vers steht: «Gott setzte den Menschen in den Garten Eden». Gott hat den Menschen ins Paradies «gestellt». Das Verb in der Grundform heisst im Hebräischen «lehaniach». Die Wurzel ist: , «noach». Diese Wurzel bedeutet «sich ausruhen».
Grammatik-Einschub:
, „wa-janichehu“, «und er setzte ihn». Wir sehen einen Patach unter dem Jud. Der Patach weist auf dieHifil-Form hin. Die Grundform im Paal ist «lanuach», «tellen»; «ruhen». Im Hifil ist die Grundform «lehaniach», mit einem Patach unter dem Hei. Im Text steht das Verb in der Wa-Yiktol-Form. Der Patach bleibt auch in dieser Verbform erhalten. Die Vergangenheitsform heisst: «hu heniach et ha koss al ha schulchan», «er stellte das Glas auf den Tisch».
Wenn also Gott den Menschen in den Garten Eden stellte, wo war er vorher? Adam war nicht im Garten, sondern er war eine neue Schöpfung, d.h. er war ausserhalb der geschaffenen Welt.
Was verstehen wir unter «Garten Eden»? Man kann ihn auf verschiedene Weisen verstehen. Einige sagen, es sei der «fruchtbare Halbmond», das ist ein verkürztes Verständnis des Textes; oder andere reden von einer globalen Vision und sagen es sei unser Planet Erde. Es ist wichtig für uns zu verstehen, dass der Bibeltext nicht von einer «oberen Welt» spricht, von himmlischen Sphären. Die Bibel spricht über Engel, aber ganz wenig über das, was nach dem Tod geschieht. Es gibt keine Metaphysik. Es gibt natürlich nachbiblische Kommentare von Weisen, die die Texte in all ihren vielen Facetten interpretieren. Wir wollen am Text bleiben und verstehen, dass das Paradies sich auf unserem Planeten Erde befand. So wie die Hölle sich auf unserem Planeten finden lässt, nämlich bei den grausamen Menschen, den zerstörerischen Kriegen, im furchtbaren Leid und in allen Schmerzen.
Was bedeutet das hebräische Wort «Eden»? Es kommt von der Wurzel «adin» und bedeutet «mild», «sanft», «fein»; «Wonne», «Hochgenuss». «Eden» ist der Garten der Wonnen. Dort gibt es keine Leiden, alles verläuft bestens.
Der Mensch arbeitet im Garten Eden («le-owdah u le-shomrah», «um zu bebauen und zu bewahren», 1. Mose 2,15). Warum stellt Gott Adam in den Garten Eden? Gott braucht einen Freund und Gefährten. Er braucht einen Mitarbeiter. Der Mensch nimmt Teil an der Schöpfung. Der Mensch wird die Welt fertigstellen. Wenn wir den Text sorgfältig lesen, dann sehen wir einerseits das Paradies, den «Gan Eden», und andererseits den Menschen. Der Mensch wurde geschaffen «exnihilo», und Gott setzte ihn in diesen Garten. Der Garten war statisch, er bewegte sich nicht. Es gab keinen Fortschritt ohne den Menschen. Erst mit dem Menschen konnte sich der Garten entwickeln. Aus dieser Feststellung entstehen gewiss sehr viele Fragen. Es gibt sehr viele Geheimnisse, die wir nicht verstehen. Das müssen wir zugeben. Es ist das Geheimnis der Schöpfung.
2. Die zwei Perspektiven der Schöpfung
Wir müssen festhalten, dass die Bibel kein wissenschaftlicher Text ist, auch wenn es Ähnlichkeiten gibt. Der Bibeltext will uns immer eine Wahrheit lehren. Die Bibel ist auch kein Bericht der Archäologie oder der Kunst – auch wenn wir beides darin finden können. Die Bibel ist ein Text der Geisteswissenschaft, der Lehre über Ethik und Lebensführung, über die religiöse Praxis; ihr Ziel ist es, uns als Menschen zu verbessern.
Wir können uns fragen: Wurde das Licht vor den Pflanzen erschaffen, oder wurden die Pflanzen vor dem Licht erschaffen? Welches ist die Reihenfolge? Die Wissenschaft antwortet: Zuerst war das Licht, dann die Pflanzen, aufgrund des Gesetzes der Photosynthese. Was sagt die Bibel?
Die Bibel sagt das genaue Gegenteil (1. Mose 1,12): «Die Erde brachte Gras hervor (…) und Bäume (…)». Dies geschah am dritten Tag. Übrigens: Am dritten Tag gibt es zwei Schöpfungen. Es ist das einzige Mal, wo es zwei Schöpfungen gibt. Normalerweise gibt es in jeder Periode nur eine Schöpfung – denn «Jom», «Tag», hat nicht den Sinn von 24 Stunden, so wie es in den USA evangelikale Bewegungen lesen; denn im Psalm 90,4 heisst es: «Ein Tag ist wie tausend Jahre». Auch im Psalm bedeutet «tausend Jahre» eine undefinierbare Periode.
Am vierten Tag heisst es: «Es sollen Lichter an der Wölbung des Himmels sein (…)». Die Sonne und der Mond wurden am vierten Tag erschaffen. Wie lässt sich das erklären? Es gibt keine Erklärung, man muss es gestehen. Wir sehen also, dass der Bibeltext kein wissenschaftlicher Text ist. Allerdings kann man mit viel Fleiss herausfinden, dass sich etwas im Text verbirgt. Dank seiner Studenten macht der Autor einen Vorschlag, den er mit viel Vorsicht vorlegt. Die Antwort steht in Kapitel 2.
Wir wissen, dass die Bibel an zwei Stellen über die Schöpfung berichtet. Es gibt eine einzige Schöpfung, aber sie wird unter zwei verschiedenen Aspekten beschrieben. Die eine Fassung ist der anthropozentrische Aspekt der Schöpfung (vom Menschen her betrachtet, 1. Mose Kapitel 2); die andere Fassung ist der theozentrische Aspekt der Schöpfung (von Gott her betrachtet, 1. Mose Kapitel 1). In 1. Mose 1 dreht sich alles um Gott, Er ist der Schöpfer von allem; der Mensch kommt erst am Schluss der Schöpfung, viel später als die Mücke.
Übrigens, die Einteilung der Kapitel eins und zwei ist eine christliche Einteilung, die nichts mit der logischen Textfolge zu tun hat. Eigentlich sollte Kapitel zwei erst bei Vers vier beginnen. Das Kapitel eins endet mit dem sechsten Tag. Was fehlt hier? Es fehlt ein Schöpfungstag. Der siebte Tag hätte unbedingt zu Kapitel eins gehören sollen. Die Verse eins bis drei in Kapitel zwei gehören logischerweise noch zu Kapitel eins.
3. Die Aufgabe von Adam
Was passiert in Kapitel zwei? Eine völlige Umdrehung der Schöpfung der Welt. Wer wird in den Vordergrund gerückt? Im Vers 5 wird es klar: «noch gab es keinen Menschen, den Erdboden zu bebauen». Warum gab es noch keinen Regen? Die Pflanzen hatten begonnen zu keimen, aber sie wuchsen nicht weiter, sie blieben dicht über dem Boden. Gott hatte mit seiner Schöpfung begonnen. Die Welt blieb statisch. Warum? Es regnete nicht. Der Regen ist notwendig für das Wachstum. – Hier versteckt sich eine sehr bedeutsame Vorstellung. Warum regnete es noch nicht? Weil es noch keinen Menschen gab, «we adam eyn».
Es ist wichtig zu lernen, dass das «we» nicht immer «und» bedeutet, sondern wie hier die zweite Bedeutung haben kann, nämlich: «weil». Das Bindewort gibt den Grund an. Es gibt einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen dem Menschen und dem Regen. Wir haben es bereits im Kapitel eins gelesen: Der Mensch wurde erschaffen «ex-nihilo», dann wurde er in den Garten Eden «umgesiedelt». Wozu? Um die Erde zu bebauen. Bevor Gott den Menschen in den Garten Eden setzte, hatte er schon begonnen zu erschaffen. Es gab Samen, und alles, was es im Garten brauchte. Wir wissen sehr genau, dass die Welt nur durch das Pflanzenreich Bestand hat. Deshalb ist der dritte Tag ein zentraler Tag in der Schöpfung. Es heisst auch zweimal: «…dass es gut war». Es gab zwei Schöpfungen. Der dritte Tag ist deshalb ein ganz besonderer, ein guter Tag. Deshalb liebt man den Dienstag, «jom schlischi», den dritten Tag, sehr in der jüdischen Tradition. Das leitet sich von 1. Mose 1,9-13 ab, wo der dritte Tag mit zwei Schöpfungen beschrieben wird (Erde und Meer; Kraut, Fruchtbäume und Samen).
Der Mensch ist noch nicht in den Garten gesetzt worde n, so gab es noch keinen Regen. Raschi, der grosse Bibelkommentator, sagt, dass es der Mensch war, der um Regen gebetet hat. Gott hätte doch ohne den Menschen regnen lassen können. Nein!
Gott will mit dem Menschen Zusammenarbeiten
Das ist ein Schlüsselprinzip in der Bibel. Wir lesen das auch bei den Propheten. Gott hätte doch die Menschheit auch ohne die Propheten retten können. Nein! Gott will mit den Menschen zusammenarbeiten. Dieses Prinzip wird bereits in der Genesis beschrieben. Gott will nicht ohne den Menschen regnen lassen. Gott will, dass der Mensch im Garten Eden lebt und ihn um Regen bittet. Das Gebet und die Arbeit des Menschen gehören zusammen. Im Garten Eden gab es zunächst «Dunst, der von der Erde aufstieg». Es gab eine Art Sprühregen, sodass die Pflanzen doch erhalten blieben. Es sind nicht die grossen Regengüsse, die «Regen des Segens». Diese Wahrheit findet sich wieder im Gebet «Schma Israel». Gott sagt: «Wenn ihr meine Anweisungen zum Leben befolgt, dann wird es euch nie an Regen mangeln». Dieses Versprechen steht schon ganz am Anfang der Bibel.
Dann folgt im Vers 7 die Erschaffung des Menschen. Im hebräischen Text steht das Verb «jazar» und nicht «bara». Der Mensch wurde wie in einer Gussform geformt. Dann lesen wir in Vers 9, dass alles wächst und spriesst. Dieser Vers 9 ist sehr reichhaltig. Man könnte viel darüber sagen und ausdeuten. Das Verb «wa-jazmiach», wörtlich «er machte wachsen», ist eine Hifil-Form; in der Grundform heisst das Verb «lehazmiach». «Zemach» bedeutet Pflanze. Übrigens: Der Messias wird «zemach zedek», «Spross der Gerechtigkeit» genannt (Jeremia 33,15).
Im Kapitel zwei wird der Mensch ins Zentrum gerückt. Der Mensch wird am Anfang, in der Mitte und am Schluss genannt. Der Text spricht nur von ihm. Was zeigt uns das? Zunächst eine vielfache Lesart des Textes. Der Bibeltext ist nie einfach. Es gibt zwei Schöpfungsberichte, aber es gibt nur eine einzige Schöpfung und nur einen einzigen Menschen.
Die Schöpfung wird aus zwei verschiedenen Blickwinkeln beschrieben, aus mindestens zwei Perspektiven. Daraus erfolgt die Schwierigkeit des Textes. Wir sind diese mehrfache Deutung nicht gewohnt, wir hätten lieber einen wissenschaftlichen Bericht gehabt. Nun liegen uns zwei komplizierte Kapitel vor: Im Kapitel eins wachsen Gras, Kraut und Bäume ohne Problem; dann erscheint der Mensch – quasi als Produkt einer Evolution, nach der Mücke… Im Kapitel zwei hingegen steht es anders: Der Mensch ist im Zentrum.
Die Weisen lehren, dass wenn der Mensch sich nach den Ordnungen Gottes verhält, er zum Kapitel zwei gehört: Er wird «die Krone der Schöpfung» sein, «keter ha-beriah». Denn die Schöpfung wurde für den Menschen erschaffen. Wenn aber der Mensch sich nicht richtig verhält, dann wird er im Kapitel eins bleiben: Er kommt als Letzter in der Schöpfung.
Was auch noch als sehr wichtige Tatsache im Text ausgedrückt wird, ist der Begriff des freien Willens. Der Text enthält sehr viele Aspekte. Wenn wir die Propheten lesen, merken wir sofort, wie die Texte schwierig zu verstehen sind. Auch im Buch der Sprüche sind die Verse «verschlossen». Lesen wir aber die Schöpfungsberichte, haben wir den Eindruck, dass sie sich fast wie eine Kindergeschichte lesen lassen, vor allem in Deutsch oder Französisch. Es ist ein schöner, romantischer Text. Dem ist aber gar nicht so, die hebräische Sprache ist vielschichtig. Wo lässt sich der Begriff des freien Willens entdecken?
Es gibt zwei Tage in der Schöpfungsgeschichte, wo das Wort «es war gut» fehlt. Zuerst einmal am zweiten Tag. In Kapitel 1, 6-8 fehlt der Ausdruck «ki-tow». Geheimnis! Die Weisen lehren, dass jedes Mal, wo im Text die Vorstellung einer Trennung genannt wird (hebräisch «badal»: trennen, unterscheiden), das Verb immer etwas Böses andeutet, selbst wenn die Trennung für die Schöpfung notwendig war. Im Judentum wird die Vorstellung von Trennung als nicht gut beschrieben. Man liebt die Vereinigung, den Zusammenschluss, die Einheit. In den Versen 6-8 werden die Wasser von oben und von unten geschieden. Es war für die Schöpfung notwendig. Aber der Text will uns eine ethische Wahrheit lehren: Jedes Mal, wenn es eine Trennung gibt, ist es nicht gut.
Dann, am Schluss von Kapitel eins, wird die Erschaffung des Menschen beschrieben, kurz vor dem siebten Tag, dem Schabbat. Die jüdische Tradition lehrt, dass dies nur ein paar Stunden vor Schabbat-Beginn geschah. Das ist etwas schwierig zu verstehen. Es lehrt uns aber, dass der Mensch sich zwischen dem sechsten und dem siebten Tag befindet, nämlich an der Grenze des sechsten Tages und es fehlte nur ein Schritt bis zum Schabbat-Eingang. Das lässt ein Problem erahnen.
Zweitens endet Kapitel 1,27 ohne «ki-tow». Die Frage drängt sich auf: Warum steht nicht «es war gut»? Jede Periode wird mit «ki-tow» abgeschlossen. Dieses «es war gut» stellt den Stempel Gottes dar. Nach jedem «Blatt», das sich wendet, setzt Gott zuerst seinen Stempel, also einen Verschluss, so wie der königliche Stempel einen Brief verschloss. Was passiert im Vers 27? Wenn Gott bei der Erschaffung des Menschen «ki-tow» gesagt hätte, was hätte das dann bedeutet? Was hätte es für Adam und auch für die Menschheit bedeutet? Es hätte einen «Verschluss», das heisst eine Verneinung des freien Willens, bedeutet!
Was bedeutet der freie Wille des Menschen? Es bedeutet, dass der Mensch nicht als Marionette, nicht als Roboter und nicht als Engel geschaffen wurde. Wir sind keine Engel. Und auch keine Tiere. Der Mensch gehört sowohl zur irdischen als auch zur himmlischen Welt. Aber wir müssen unsere Leidenschaften zügeln. Wir müssen uns aus der irdischen Welt erheben, wir müssen herauswachsen. Wir dürfen nicht auf der Stufe von Tieren bleiben, obwohl es selbstverständlich viele Überschneidungen gibt zwischen dem Menschen und dem Tier.
Also sagte Gott nicht «ki-tow» bei der Erschaffung des Menschen. Der Mensch wäre einfach gut erschaffen worden, ohne eine Wahl zu haben, ohne Instinkt zum Bösen, ohne die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung und auch ohne inneren Fortschritt. Gott hat entschieden, dem Menschen zwei Impulse zu geben. Nun liegt es am Menschen die Welt, die er uns gegeben hat, zu meistern. Was für eine enorme Verantwortung! Es ist der Mensch, der der Welt den Stempel «ki-tow» aufdrücken muss.
Die Erschaffung des Menschen entspricht der Erschaffung der Ethik
Indem Gott den Menschen schuf, hat er die Ethik geschaffen. Die Erschaffung des Menschen entspricht der Erschaffung der Ethik. Das heisst, es obliegt dem Menschen, seine eigene Geschichte zu schreiben. Daher kommt auch die Verantwortung des Menschen. Hätte Gott «kitow» gesagt, wäre die Menschheit stecken geblieben: Es gäbe keine freie Wahl; wir wären zwangsläufig gut; wir wären programmiert. Dass dem nicht so ist, ist eine sehr erstaunliche Tatsache.
Der Mensch ist nicht programmiert! Erstaunlich, aussergewöhnlich! Gott ist ein Risiko eingegangen. Das ist das Abenteuer des Menschseins Gott gegenüber. Werden wir gemäss dem göttlichen Programm leben oder nicht? Es geht um unsere Verantwortung. Darin besteht die Aufgabe des Menschen: Werden wir fähig sein, dem Befehl zu folgen «le-owdah u leschomrah», «zu bebauen und zu bewahren»? Einerseits die Erde anbauen, andererseits sie erhalten. Beides zusammen ist sehr schwierig, das sehen wir heutzutage sehr gut. Sind wir fähig, zu bauen ohne zu zerstören? Das ist die Herausforderung, die dem Menschen von Gott gestellt wurde. Wir können nicht in die Steinzeit zurückkehren, das ist offensichtlich. Aber sind wir fähig zu handeln, um diese Welt zu verbessern, ohne ihr zu schaden?
Der Mensch und die Erde
Wie ist das Verb in 1. Mose 1,24 zu verstehen: «Die Erde bringe lebende Wesen hervor». Das Verb heisst: , «totze». Wir müssen uns eine grammatikalische Frage stellen. Das Wort «aretz», «Erde», ist weiblich. Im Hebräischen steht das Verb oft vor dem Hauptwort. Das Verb steht in der weiblichen Form, angezeigt durch den Buchstaben Taw. Die Wurzel des Verbs ist , «jud-tzadi-aleph», «jatza», hinausgehen. Einige denken, dass das Subjekt Gott (Elohim) sei. Dann hätte das Verb in der dritten Person Singular stehen müssen, mit einem Jud. Also kann Gott nicht das Subjekt des Verbs sein.
Wenn der Satz grammatikalisch korrekt wäre, hiesse es , «sie wird hervorbringen». Das Verb ist ein Hifil (hervorbringen machen). In der Hifil-Form wird das Jud der Wurzel zu einem Waw, gemäss der grammatikalischen Regel. Im Text aber steht ein Tsere unter dem Tzadi: - das ist eine Jussiv-Form, eine grammatikalische Befehlsform. Es gibt einige Verben in dieser Form im Bibeltext. Diese Form drückt einen starken Wunsch oder einen Befehl aus. Beispiel: «ja’asse shalom», «Möge [Gott uns] Frieden schenken». Die wörtliche Übersetzung heisst also: «Möge die Erde lebende Wesen hervorbringen». Die Wichtigkeit der Grammatik wird uns bewusst.
Das bedeutet also, dass die Erde eine Form von Autonomie hat. Denn, auch wenn der Mensch sie bebaut, könnte die Erde nichts hervorbringen. Das bedeutet, dass Gott seine Lebensenergie in die Erde eingesetzt hat. Die Erde antwortet dem Menschen; es gibt eine enge Verbindung zwischen dem Menschen und der Erde. Diese Tatsache werden wir sehr oft in der Bibel antreffen.
Das 1. Buch Mose, die Genesis, ist voll von diesen Schlüsselbegriffen. Wenn wir diese gut kennen, können wir die Propheten viel besser verstehen. Was wir hier lesen, geschah bei der Rückkehr von Israel aus dem Exil in sein Land. Der erste Mensch wurde ins Exil geschickt. Israel wurde ins Exil geschickt, das mahnen alle Propheten wegen der Verfehlungen der Israeliten.
Das ist aber nicht das Ende! Israel ist ins Land zurückgekehrt.
Das Land Israel ist sozusagen das Mikro-Labor, wie es eigentlich auf der Welt aussehen sollte. Israel musste ins Exil, so wie Adam auch verbannt wurde. Wenn Israel zurückkehrt, bringt das Land Früchte wie von selbst (siehe Jeremia). Vor der Rückkehr von Israel gab das Land den Nationen gar nichts. Die Nationen besassen das Land durch Gewalt und die Erde antwortete nicht. Es fehlte die enge Verbindung zwischen dem Land und Israel. Die Früchte sind für Israel reserviert. Die Propheten reden in ihren Verheissungen in Bildern von ländlicher Schönheit, von Gärten mit belaubten Bäumen. Sobald Israel wieder anfing das Land zu bebauen, war die Erde glücklich, als ob die Erde eine gewisse Eigenständigkeit hätte, dem Menschen Antwort zu geben. Wenn der Mensch richtig handelt, antwortet die Erde. Wenn der Mensch Blut vergiesst, Raub verübt, verschliesst sie sich.
Paraschat NOACH: 1. Mose 6,9 – 11,32
Die Bedeutung von Noahs Namen
Wir fahren fort mit der zweiten Parascha des 1. Buch Mose.
Das Thema, das wir beleuchten wollen, betrifft Noah. Wir werden die Bedeutung seines Namens entdecken und eine Idee von der hebräischen Sprache bekommen. Auch die weiteren Paraschot sollen uns dazu Lust geben. Wir beginnen mit 1. Mose 6,9.
Was bedeutet «Noach»? Es bedeutet: «sich ausruhen». Das ist die allgemein bekannte Bedeutung von Noahs Namen. Die Wurzel ist , «nun-waw-chet», «nuach». Die Grundform heisst «lanuach», «sich ausruhen». Im Bibeltext finden wir jedoch eine grosse Überraschung: Der Name « Noach» kommt nicht von dieser Wurzel her. «Noach» hat nämlich zwei Bedeutungen. Um den Zusammenhang zu verstehen, müssen wir die vorangehenden Verse von 1. Mose 6,6-8 lesen. Es ist wichtig, den Text auf Hebräisch zu lesen; wir werden im Folgenden verstehen warum.
In 1. Mose 6,6 sagt Gott: «Und es reute den HERRN, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in sein Herz hinein». Das hebräische Verb heisst: , «wa-jinachem». Die Wurzel ist , «chet-waw-nun», «chun». Die Bedeutung dieser Wurzel ist vielseitig. Sie bedeutet: bereuen, auf seinen Entscheid zurückkommen; ebenfalls: zurückkehren, im Sinne von «teschuwa», innere Umkehr. Das Verb bezeichnet eine Umkehr von Gottes Entscheid, auf Hebräisch auch «Teschuwa Gottes» genannt. Dieser Ausdruck «Teschuwa Gottes» erscheint im Zusammenhang mit der Sünde vom Goldenen Kalb. Mose trat im Gebet für das Volk ein, und Gott kehrte seinen Entschluss um (wörtlich: Er tat «teschuwa»). Dort steht genau diese Wurzel, und zwar hat sie einen positiven Sinn. Die Bibel bedient sich der menschlichen Sprache. In 1. Mose 6,7 sagt Gott: «denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe»; da hat das Verb einen negativen Sinn. Gott tut es leid, den Menschen gemacht zu haben. Gott wird sehr traurig (wörtlich: «es schmerzte ihn in sein Herz hinein»). Der Mensch war seine wunderbare Schöpfung, nun muss er ihn zerstören. Ein Drama.
Im Vers 7 heisst es: , «nichamti», «ich bereute es». – Und plötzlich, im Vers 8, erscheint ein Mensch, Noah, quasi aus dem Nichts. Vers 8: «we-Noach maza chen be-eynay Adonai», «Noah aber fand Gunst in den Augen des HERRN». Es gibt ein Wortspiel mit den hebräischen Buchstaben der Worte und (noach und chen). Das wird Alliteration genannt. Wenn wir die Buchstaben von umkehren, erhalten wir , Gnade. Was ist die Wurzel vom Hauptwort ? Das ist wichtig, denn so werden wir sehen, dass der Name von eine weitere Bedeutung enthält.
Die Wurzel kann entweder «chun»oder«chanan» sein. Die Wurzel «chanan» bedeutet begnadigen. Der Eigenname «Jochanan» bedeutet «Gott gibt Gnade». Gratis heisst auf Hebräisch «be-chinam», wörtl«mit Gnade» (französisch «gratuit»; gratuit kommt von gracieux, gnädig; im Französischen kann «t» durch «c» ersetzt werden). «Chanan» ist eine Gabe, ein Angebot. Die Bewegung kommt also von oben nach unten. Die Gnade kommt von Gott. Das ist der erste Grund, warum Noah auserwählt wurde: Gott war gnädig.
Was stimmt nun? Wir hatten gesagt, dass der Name von Noah von der Wurzel «lanuach» kommt, was «sich ausruhen» bedeutet. Was hat aber die Geschichte von Noah mit Ruhe zu tun? Man erklärt, dass Noah nicht aktiv, sondern eher passiv war. Gott sagte ihm alles, was er tun sollte. Noah wurde nicht von sich aus aktiv wie Abraham. Es gibt jedoch einen wichtigen Bibelvers, wo der Name von Noah erklärt wird, und zwar mit einem Verb, das eine andere Bedeutung hat als «Ruhe».
Wir gehen zu diesem wichtigen Vers in 1. Mose 5,29:
«Lamech zeugte Noach und gab ihm diesen Namen, weil er sagte: Dieser wird uns trösten (…)».
Grammatik-Einschub
«wa-jikra et», das ist biblisches Hebräisch. Im Yvrit kann man es nicht so sagen; man benützt das Pronomen «le»: «likr‘o-le», «jemanden rufen». In diesem Vers bedeutet «wa-jikra et»: «er nannte ihn Noach». Im Yvrit bedeutet «likr’o-et», etwas lesen.
1. Mose 5,29 ist also ein wichtiger Vers, um die Bedeutung des Namens von Noach zu verstehen, denn die Bibel gibt einen Grund bei der Namensgebung von Noah an. Wir lernen also eine zweite Bedeutung kennen.
Die Wurzel des Verbs «jenachamenu» (eingekreist im obigen Vers) ist «nacham». Dieses Verb muss uns erstaunen. Denn es gibt ja kein «mem» im Namen von Noach! Die Wurzel «nacham» bedeutet: trösten! «Tanchumim» sind Beileidsworte. Der Prophet Nachum heisst «Trost». Nachum und Noach haben die gleiche Bedeutung. Beim Propheten hat man das «mem» beibehalten.
«noach» bedeutet «trösten».
Warum kam Noah als Tröster? Weil Gott bereute: «wa-jinachem Adonai» (1. Mose 6,6). Die Wurzel «nacham» hat sowohl einen negativen Sinn, «bereuen», als einen positiven Sinn, «trösten».
Wenn Gott negativ denkt, muss der Mensch positiv denken! Es gibt ein Gleichgewicht. Sehr oft meinen wir, dass wir diejenigen sind, die negativ denken oder tun, und Gott wendet es zum Guten. Hier aber steht es ganz anders! Gott hat auf der ganzen Erde sich nach einem Menschen auf die Suche gemacht, und er fand nur Noah. Warum hiess er «Noach»? Weil er Gott bereuen machte, was er beschlossen hatte. Das ist der Ausgleich. Ein einziger Mensch kann die ganze Menschheit retten!
«Noach» bedeutet also nicht «sich ausruhen», sondern «trösten»! Es geht nicht um Pazifismus. Noah ist ein Tröster! In der deutschen Übersetzung ist diese Beziehung nicht sofort ersichtlich (1. Mose 5,29): «und nannte ihn Noah und sprach: Der wird uns trösten in unserer Arbeit und der Mühsal unserer Hände auf dem Acker, den der HERR verflucht hat». (Elberfelder) In der rabbinischen Literatur wird Noah nicht sehr gut beurteilt, vor allem im Vergleich zu Abraham. Noah war aber ein Gerechter. Wenn wir von der Wurzelbedeutung «Tröster» ausgehen, so sehen wir die wahre Bedeutung seines Namens: Noah war der einzige Mensch, der unseren Planeten rettete. Warum konnte er die Erde retten? Nicht weil er passiv blieb, sondern weil er sittlich rein, gerecht, untadelig war (wörtlich: «ein sittlich tadelloser Mensch», «isch tamim»; 1. Mose 6,9). Abraham musste seinen Charakter formen lassen. Wir alle sind unvollkommen, im Gegensatz zu Noah. Er ist ein untadeliger Mensch, ohne schlechte Gedanken, ein Mensch der Reinheit. Wäre er es nicht gewesen, hätte Gott alles zerstört. Ein wahres Drama spielte sich ab.
Welchen Vergleich kann man zwischen Noah und Mose machen? Als die Israeliten das Goldene Kalb machten (2. Mose 32), wollte Gott das ganze Volk auslöschen. Aber Mose widersprach dem Verdikt: «Nein – eher lösche mich selber aus deinem Buch des Lebens». Mose begann intensiv zu beten, zu flehen; es war ein mächtiges Gebet. Und da steht die gleiche Wurzel: «nacham» – denn es gelang Mose, dass Gott sich gereuen liess.
Wir lesen in 2. Mose 32,12: «Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden?Kehre dich abvon deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst».
Mose sagt zu Gott: «Lass dich gereuen», «hinachem». Grammatikalisch ist es eine Nifal-Befehlsform. Nifal ist eine Passivform.
Mose flehte zu Gott: «Ich bitte dich, dass du deinen Entscheid bereust, Israel zu vernichten». Dieses Bereuen nennt man die «Teschuwa Gottes». Mose setzte sich für das Volk Israel ein; er stellte sich dabei auf das Verdienst von Abraham, Isaak und Jakob, auf den Bund Gottes mit ihnen. Gott gab ihm Antwort.
In 2. Mose 32,14 steht: «Dagereute den Herrn das Unheil, von dem er gesagt hatte, er werde es seinem Volk antun»
Die Wurzel «nacham» hat hier die Bedeutung von «gereuen». Mose konnte Gott umstimmen. Mose zeigte dieselbe innere Kraft wie Noah, und doch gibt es einen Unterschied. Noah handelte aus ganz natürlichem Impuls. Er wurde moralisch untadelig geboren, darin lag sein Verdienst. Gott erwählte Noah, dieser hatte um nichts gebeten. Mose hingegen musste kämpfen. Mose flehte zu Gott, Noah nicht. Noah wurde erwählt, Gott setzte ihn und die Tiere in die Arche und liess alle wieder hinausgehen, nachdem die Wasser sich zurückgezogen hatten. Mose hingegen musste sich um die Rettung des Volkes Gottes bemühen; er bat Gott von sich aus inständig um Gnade. Woher nahm er diese Zuversicht? Von wem hatte Mose solch ein Bittgesuch gelernt? Er hat es von Abraham gelernt. Irgendwie war Noah eigentlich gescheitert, denn er hatte sich nicht im Gebet für die Welt eingesetzt. Noah rettete die Menschheit nicht, weil er um Erbarmen gefleht hatte. Mose hingegen bat um Erbarmen, so wie schon Abraham es getan hatte. Trotzdem war Noah ein sehr wertvoller Mensch. Der Trost steht schon in Noahs Namen. Diese Haltung von Trost finden wir sowohl bei Abraham als auch bei Mose. Gott wollte sein Recht walten lassen - was uns als Unheil erscheint – und Mose wehrte sich. Mose, wie er sich in 2. Mose 32 für das Volk einsetzt, war doch anders als Noah.
Zusammenfassend haben wir zwei Bedeutungen für den Namen von Noah gesehen:
Erstens, «chanan», Wurzel «chun», «Gnade finden».
Wir müssen verstehen, dass die Gnade nie an Verdienst gebunden ist. Noah hat um nichts gebeten, aber Mose stellte sich auf das Verdienst der Erzväter und auf den Bund. Immer wenn Gott mit seinem Volk einen Bund schloss, gab er einen «Stempel», ein «Siegel». Das Siegel wird im Bibeltext bezeichnet mit «er schwor bei sich», «nischba’eti bach». Es ist kein Schwur, der durch einen Engel festgemacht wurde. Der Bund gleicht einem Ehevertrag. Was bedeutet denn «bach», «bei sich»? Es bedeutet, dass auch wenn Israel Fehler macht und sündigt, so ist doch der Bund unwiderruflich, ewig, Zeit überdauernd, und keine Nation kann sich an Israels Stelle setzen. Warum? Weil Gott selber den Vertrag unterzeichnet hat.
Wie gesagt, war Noah untadelig. Abrahams Leben war anders. Abraham kam aus einer heidnischen, finsteren Welt. Er musste alles verlassen und musste Mühen auf sich nehmen. Abraham kam aus Ur in Chaldäa, «Ur-Chassdim». Was bedeutet das Wort «Ur-Chassdim»? «Ur» ist ein aramäisches Wort und bedeutet «Feuer». «Chassdim» ist auch Aramäisch und bedeutet auf Hebräisch «ka-scheddim», «wie Dämonen» («schedd» bedeutet «Teufel»). Abraham kam also «vom Feuer der Dämonen», das heisst, er kam aus einem Land, in dem man die Teufel verehrte, die Sternenwelt, die dunkeln Mächte. Abraham traf eine Wahl – nach einer inneren Besinnung, einer geistlichen Entwicklung – und er entschied sich dafür, den Euphrat zu überqueren, seine Heimat zu verlassen und wegzugehen. Deshalb wird er als «Awraham ha-Ywri» bezeichnet, «der, der überquert».
Bei Noah geschieht alles durch Gnade. In der jüdischen Tradition liebt man dieses Konzept nicht so sehr, was einer der Unterschiede zum Christentum ist. Die göttliche Gnade, die Christen betonen, kommt bei Noah und auch beim Propheten Hesekiel vor. Das findet sich in der Bibel demnach sehr selten. Die jüdische Tradition betont, dass der Mensch die Belohnung verdienen muss.
Zweitens, «nacham», gereuen / trösten.
Gott erwartete selbstverständlich von Mose, dass er sich für sein Volk einsetzen und bei Gott vorstellig würde. Mose beherrschte seine Aufgabe meisterhaft. Er war in guter Schule gewesen. In 2. Mose 3, beim Brennenden Dornbusch, nahm Gott ihn in die «Prophetenschule». Mose wusste genau, wie und wann er reden sollte. Er war wie ein Advokat, der jedes seiner Worte zu wählen weiss. Jedes seiner Worte war abgewogen. Das ist das Amt eines Propheten.
Diese Wurzel «nacham» finden wir noch an anderen Orten. Zum Beispiel bei Jona. Gott gereute es, Ninive zu zerstören.
Paraschat LECH-LECHA: 1. Mose 12,1 – 17,27
Kannte Abraham sein Ziel, als er Ur in Chaldäa verliess?
Wir kommen zur dritten Parascha des 1. Buch Mose.
Die Frage, die wir uns stellen ist die folgende: Wusste Abraham, wohin er gehen sollte, als er Ur in Chaldäa verliess?
Wir beginnen mit dem klassischen Vers aus dem Kapitel 12: «Und der HERR sprach zu Abram:Geh ausdeinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will».
Die Übersetzung von «lech-lecha», «geh aus», bereitet Schwierigkeiten. «lech-lecha» wird mit «geh aus» oder «entferne dich» wiedergegeben. Im Hebräischen bedeutet dieser Befehl wörtlich: «lech-lecha», geh zu dir (hinein); oder: «geh für dich», d.h. für dein Wohl. Das lernen wir aus Raschis Kommentar. In seiner Exegese versteht er «lech-lecha» als «geh für dich». Raschi betont die Bedeutung des Buchstabens «lamed»; er gibt ihm den Sinn von «bischwilcha», «für dich».
Raschi interpretiert den Befehl «lecha» mit: «für dein Glück und dein Wohlergehen».
Das heisst, dass es kein Glück ausserhalb vom Land Israel gibt. Was heisst das? Die Berufung von Abraham kann sich nicht ausserhalb von Israel erfüllen. Dasselbe gilt für alle Nachkommen von Abraham; die Verheissung kann sich weder in New York noch in Paris noch in der Schweiz erfüllen. Abraham bekam von Beginn an die Verheissung, dass er zu einer grossen Nation würde, und das würde vom Land Kanaan aus geschehen.
Wieso wusste Abraham, dass sein Ziel Kanaan war? Es heisst ja: «… in ein Land, das ich dir zeigen werde». Die Annahme, dass Abraham nicht genau wusste, wohin seine Reise ihn führen würde, wird von den Rabbinern unterstützt. Wir können aber im ganzen Kontext dieses Abschnittes sehen, dass dem nicht unbedingt so war. Der Bibeltext erwartet von uns, dass wir die Antwort kennen: Im vorherigen Kapitel 11 steht geschrieben, was im Kapitel 12 nicht mehr erwähnt ist.
In 1. Mose 11, 31 lesen wir: «Da nahm Terach seinen Sohn Abram und Lot, den Sohn seines Sohnes Haran, und seine Schwiegertochter Sarai, die Frau seines Sohnes Abram, und führte sie aus Ur in Chaldäa, um ins Land Kanaan zu ziehen. Und sie kamen nach Haran, und wohnten dort».
Interessant – und wir vergessen diesen Vers oft. Terach wird allgemein schlecht dargestellt. Eigentlich müsste er rehabilitiert werden. Denn er ist derjenige, der ins Land Kanaan aufbricht. Das müssen wir uns merken, wenn wir die Geschichte Abrahams lesen. Viele Kommentare, «Midraschim», versuchen, Abraham von seinem Vater zu trennen, was gemäss dem Text nicht richtig ist. Wer verliess Ur? Terach. Terach machte den ersten Schritt, nicht Abraham.
Terach machte den ersten Schritt. Abraham vollendete den Weg.
Wir müssen uns vorstellen, dass es eine ganze Stammesfamilie war, die aus Ur in Chaldäa wegging. So steht es im Bibeltext, und das hat seine Wichtigkeit. Was allerdings stimmt ist, dass Terach sich in Haran niederlässt. Aus einem Grund, den wir nicht kennen, wird die Familie später nicht mehr erwähnt, nur Abraham wird weiterziehen. Darüber gibt es zahlreiche Midraschim, denn es gibt einige mögliche Hypothesen, warum die Familie sich in Haran niederliess. Was ist passiert? Wollte die Familie in Haran bleiben? Die Bibel gibt uns einen Anhaltspunkt zur Lösung, nämlich im darauffolgenden Vers 32: «Und Terach wurde zweihundertundfünf Jahre alt und starb in Haran». Wir müssen alle Verse lesen, so finden wir ein Lösungselement: Die ganze Sippe blieb in Haran, weil Terach dort starb. Das ist eine mögliche Erklärung, warum die Familie nicht weiterzog, sondern nur Abraham weiterging, vielleicht nach innerer Überzeugung. Oder, und das ist sehr wahrscheinlich, weil er auf dem Weg seines Vaters weitergehen wollte. Die Bibel lässt vieles offen. Ein anderer Midrasch sagt, dass Abraham als junger Mann seinen Vater und seine ganze Familie beeinflusst hat. Terach ist also nicht nur ein Heide gewesen, wie vielfach angenommen wird. Wie dem auch sei, Terach hat den ersten Impuls gegeben, nicht Abraham.
Haran: Dieser Name hat eine sehr negative Bedeutung. Wir haben die Bedeutung von «ur chassdim» gesehen, nämlich «das Feuer der Dämonen». Es ist bekannt, dass im damaligen Mesopotamien das Feuer in der Zauberei benutzt wurde.
Was bedeutet der hebräische Name «charan»? Die Wurzel ist: (im Wörterbuch findet sich die Wurzel mit einem Hei: ). «chara» bedeutet «in Zorn geraten». Speziell weist das Wort auf den Zorn Gottes hin. In der Bibel wird der Zorn Gottes so beschrieben, als ob «Feuer» aus der Nase austritt, der Zorn «entbrennt». Haran bedeutet also gemäss Raschi: der Ort des göttlichen Zornes, , «charon af». Es ist das Feuer, das aus der Nase («af») strömt; es ist der göttliche Zorn, der die Welt erschüttert. Haran war kein guter Ort, es war ein Ort des Götzendienstes, über dem der Zorn Gottes lag. Es war das Verdienst von Abraham, dass er sich davon lossagte. Er hat den Weg, den sein Vater begonnen hatte, vollendet.
Grammatik-Einschub.
Im Kapitel 12, Vers 9, steht im hebräischen Text «haloch», übersetzt mit «immer weiterziehend». Was ist das für eine grammatikalische Form? Das Verb ist «halach», ein sehr spezielles Verb. Das Hei der Wurzel «entspricht einem Jud. Es ist ein sog. «p-jud» Verb. Die Verbform «haloch» ist ein infinitiv absolutus. Welche ist seine Bedeutung? Es bedeutet: «Du sollst gehen».
Es ist ein göttliches Gebot, das heute noch gilt: Wer nach Israel reist, erfüllt eine Mitzwa. Denn es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Reise, eine Spazierfahrt.
Die Tatsache, dass man in Israel zu Fuss geht, das Land durchwandert – das lernen wir eben vom göttlichen Befehl «lech-lecha» – das bezeichnet eine innere Bewegung. Abraham kennzeichnet sich im Gegensatz zu Noah durch sein aktives Wesen.
Abraham zeichnet sich durch seine Initiative aus.
Das haben wir in der Parascha «Noach» gelernt. Abraham ist nicht passiv, er kämpft sich durch.
Dieser Kampf, dieses Ergreifen von Initiative finden wir auch bei den Propheten, und natürlich auch bei Mose. Sie alle lebten immer dieselbe Bestrebung für das Gute aus. Israel ging aus Ägypten fort, die Propheten fuhren fort in ihren Aussagen.
Der infinitiv absolutus enthält die Idee einer Aufforderung. Ein bekanntes Beispiel steht in den Zehn Geboten: «schamor we sachor». Das wird üblicherweise übersetzt mit: «Hüte und gedenke», also mit einer Befehlsform.
Das würde im Hebräischen aber heissen: «Schemor we sechor». Beide Verben stehen aber im infinitiv absolutus, denn beide Verben tragen einen Kamatz, das ist nicht unwichtig. So steht es auch bei «haloch».
Die Bedeutung ist kein Befehl, sondern ein Ruf, eine Einladung: «Es ist an dir [den Sabbat zu hüten und dich zu erinnern]».
Wir sahen also in dieser Parascha einige Bibelverse, die einfach zu sein scheinen, aber die tiefgründig sind. Der Bibeltext ist kein einfacher Text. Man muss den Kontext berücksichtigen, die Grammatik und den Platz eines Wortes beachten, so wie wir es in diesen Betrachtungen tun.
Paraschat WAJERA: 1. Mose 18,1 – 22,24
Die Gastfreundschaft von Abraham und Lot Vergleichende Analyse
Wir sind bei der vierten Parascha aus dem 1. Buch Mose angelangt.
Dies ist ein sehr berühmter Text; es wird erzählt, wie Abraham seine Gäste empfängt, die Geburt von Isaak wird angekündigt und es wird berichtet, dass die Engel Lot gewarnt haben. Wenn möglich, ist es hilfreich die Bibelstellen auf Hebräisch zu lesen. Der Fokus liegt auf speziellen Worten, sodass die Bedeutung des Textes noch besser erkennbar wird. Wir betrachten zuerst die ersten Verse aus dem Kapitel 18 und konzentrieren uns besonders auf den Begriff der Gastfreundschaft. Wir wollen die Gastfreundschaft von Abraham mit der Gastfreundschaft von Lot vergleichen. Wir tun das anhand verschiedener Bibelstellen aus den Kapiteln 18 und 19.
Die Parascha beginnt in 1. Mose 18,1 mit dem Verb , «Wajera», «und es erschien». Dieses Verb gibt der Parascha ihren Namen. Die Wurzel dieses Verbs ist: , «resch-aleph-jud». Grammatikalisch ist es ein «lamed-jud» Verb. Im Wörterbuch findet man das Verb mit Hei statt mit Jud, weil im Wörterbuch nicht die Wurzel dargestellt wird, sondern die dritte Person männlich Einzahl in der Vergangenheitsform. Das Verb steht hier im Nifal, in der Passivform. Wörtlich: «Gott hat sich sichtbar gemacht», mit anderen Worten «ER ist erschienen». Abraham sitzt am Eingang seines Zeltes, bei der Hitze des Tages. Wir lesen, dass er vorher die Beschneidung an sich selber durchgeführt hat. Er ist noch müde und sollte sich doch im Zelt erholen, aber er sitzt draussen. Auch diese Tatsache zeigt einen Unterschied zu Noah: Noah ist in der Arche eingeschlossen und hat Mühe, wieder herauszukommen. Gott sagt ihm: «Geh hinaus». Gott gibt ihm den Anstoss aus der Arche raus zu gehen. Bei Abraham geschieht das Gegenteil. Abraham sitzt draussen, nicht im Zeltinnern. Warum?
Im Vers 2 steht die Antwort. Wir verstehen es viel besser auf Hebräisch als in einer Übersetzung. Abraham sitzt am Eingang seines Zeltes, wörtlich «an der Öffnung», , «petach» (des Zeltes). Dass sein Zelt offen ist, das gibt uns eine erste Antwort. Das Wort «petach» zeigt an, dass Abraham ein offener Mensch ist. Das ist es, was uns interessiert, nämlich die Haltung von Abraham, sein Bewusstsein gegenüber seinem Nächsten.
«Er erhob seine Augen». Das Verb drückt die Idee von Höhe, Vergebung, Ertragen.
Im zweiten Vers steht: «er erhob seine Augen und sah und siehe, drei Männer standen vor ihm; sobald er sie sah, lief er ihnen vom Eingang des Zeltes entgegen und verneigte sich zur Erde».
Dieser Satz vervollständigt, was wir im ersten Vers gelernt haben. In diesem einen Vers sind alle Tätigkeitswörter sehr auffällig: In einem Satz kommen vier Verben vor, welche eine Bewegung zeigen. Diese Verben sind: «jissa», «er erhob» – «wa-ja’r»/«wa-ja’r», 2mal, «er sah» (weiter unten werden wir Raschis interessante Erklärung sehen) – «jaroz», «er lief» (die Wurzel ist: «ruz», ein «ayin-waw» Verb) – «jischtachu», «er verneigte sich»: insgesamt also fünf Verben.
Diese Verben zeigen eine rasche Abfolge. Abraham handelt sofort. Diese Häufung von Verben und ihre Abfolge zeigt uns die Haltung von Abraham gegenüber seinen Gästen. Der Bibeltext spricht von Menschen, der Midrasch, die rabbinische Exegese, spricht von Engeln. Wir bleiben bei der wörtlichen Lesart. Abraham reagiert schnell. Im ganzen Kapitel 18 fällt die Geschwindigkeit der Handlungen auf. Abraham ist eilfertig, begeistert; das zeigt die Art, wie er seinen Gästen begegnet. Daher sagen uns die Weisen, dass beim Ausführen einer Mitzwa Eilfertigkeit und Freude geboten ist. Wenn man zu lange darüber nachdenkt, ob eine Mitzwa auszuführen ist, verliert sie an Wert. Eine Mitzwa ist eine göttliche Anordnung, sie soll ausgeführt werden. Das Überlegen ist vernunftlastig; das heisst, dass wir der Mitzwa ein menschliches Element hinzufügen. Das geht nicht, sie muss als göttlicher Befehl ausgeführt werden. Abraham wird aktiv, weil drei Männer kommen. Von diesen drei Männern weiss man weder wer sie sind (Identität, Herkunft, Ursprung) noch ihre Namen.
, «hineh», «siehe». Warum ist dieses kleine Wort so wichtig? Es ist sehr wichtig, weil es ein göttliches Eingreifen ausdrückt, das unerwartet eintritt. Die drei Menschen erscheinen plötzlich und gehen weg, wie sie gekommen sind. Immer, wenn «hineh» steht, geschieht etwas Plötzliches, Überraschendes. Um dieses Ereignis zu verstehen, müssen wir den Ausdruck «wa-jissah eynaw», «er erhob seine Augen», betrachten. Der Vers hätte sehr gut ohne diesen Zusatz beginnen können: «Abraham sitzt am Eingang des Zeltes und sieht…». Warum steht im Text dieser Ausdruck: «er erhob seine Augen»? Warum beschliesst Abraham, der sich von seinen Schmerzen erholt, sich vor sein Zelt hinzusetzen? Seine Haltung scheint zu sagen, dass er mit seinem Blick Unbekannte einlädt, die noch nicht da sind. Er lädt sie innerlich ein, er erwartet, dass unbekannte Männer vorbeikommen. Abraham ist aktiv! Noch bevor die drei Männer erscheinen, ist er schon aktiv, noch sitzend. Durch seinen Blick lädt er die Menschen, wer immer sie seien, zu sich ein. Der Ausdruck «er erhob seine Augen» ist nicht nur eine Kopfbewegung, sondern bedeutet, dass Abraham gewissermassen innerlich zu beten beginnt, damit Menschen kommen, die er einladen kann. Es ist nicht so, dass sie vorbeigehen, dann erst bemerkt er sie und lädt sie zu sich ein. Gar nicht. Indem der Text «wa-jissah eynaw» hinfügt, wird betont, dass Abraham – indem er «seine Augen aufhob» – sich innerlich bereit machte.
Das Verb «wa-jissah» drückt die Idee von Höhe, Erhebung, Vergebung, Ertragen, Aufheben aus. Das wird auch an anderen Stellen klar, wo dieser Ausdruck vorkommt. Abraham ist bereit, den Anderen einzuladen, und zeigt dies bereits durch den Blick. Und tatsächlich kommt es zu einer konkreten Einladung. Es ist nicht so, dass ich mich verpflichtet fühlen muss, Menschen zu mir einzuladen, weil sie zufällig vorbeikommen. Nein, Abraham sucht Menschen, damit er sie einladen kann. Indem Abraham «seine Augen aufhob» zeigt seine Haltung, dass er willig ist zu helfen und zu stärken.
Es steht: «schloscha anaschim», «drei Männer». Sie haben keinen Namen. Wirklich? Sie haben doch einen Namen, nämlich «anaschim»! Die Einzahl von «anaschim» ist , «enosch», Mensch, Menschheit. Enosch war der Sohn von Seth. Seth war der dritte Sohn von Adam und Eva, nachdem Kain seinen Bruder Abel ermordet hatte. Enosch ist der Vater der ganzen Menschheit (1. Mose 5). Abraham beweist Menschlichkeit. Für Abraham ist es nicht wichtig, wer «die Menschen» sind, woher sie kommen, zu welcher Gemeinschaft sie gehören, welches ihre Herkunft ist. Abraham sieht im Gesicht dieser Männer die ganze Menschheit. Deshalb heisst es: «Durch dich werden gesegnet werden alle Familien der Erde». Warum Familien? Weil diese Männer einen Namen haben. Welchen Namen? Menschheit!
In der französischen Übersetzung gibt das Wort «personnages» einen ganz anderen Eindruck. «Personne» bedeutet ursprünglich «maskiert». Das ist gar nicht das, was das Hebräische ausdrückt. Die hebräische Sprache drückt das Eigentliche aus, sozusagen die Essenz. Übrigens: Die Zahl drei zeigt die Stärke an. Die Bedeutung der Zahl drei findet man auch im Prediger. Die Zahl drei kommt sehr viel bei Mose vor: Sein Name hat drei Buchstaben; er gehört zu Levi – drei Buchstaben; er war der dritte Sohn; er ging dreimal auf den Berg Sinai; usw. In Prediger 4,12 steht: «(…) zwei werden ihm widerstehen, und eine dreifache Schnur wird nicht so schnell reissen». Unser Vers ruft ein konkretes Bild hervor: Wenn zwei unterwegs sind, können sie überfallen werden; man sollte mindestens zu dritt sein. – Jetzt verstehen wir besser, warum sie zu dritt zu Abraham kamen: Sie waren ja in der Wüste unterwegs, da gab es Gefahren. Sie kamen als Nomaden der Wüste, in der grössten Hitze. Im Midrasch spricht man von drei Arabern. Zusammenfassend stellen wir fest, dass Abraham für die Andersartigkeit offen ist, für jemand Fremder. Auch seine Frau Sarah ist so.
Wir wollen nun einen Vergleich mit seinem Neffen Lot machen. Wir gehen zu 1. Mose 19, 1-2. Am besten ist, beide Abschnitte nebeneinander aufzuschlagen. Welchen Unterschied gibt es zwischen Abraham und Lot, was ihre Gastfreundschaft betrifft?
Zunächst ist es der Ort, wo sie sitzen. Lot sitzt am Tor der Stadt Sodom, und Abraham sitzt am Eingang seines Zeltes